So eisig die Nacht von ReptarCrane ================================================================================ Kapitel 5: Chapter 5 -------------------- In Filmen sah es einfacher aus, Menschen zu erschlagen. Tasha war nicht sonderlich kräftig, aber dennoch war sie überrascht gewesen, dass Kenneths Kopf nicht beim ersten Schlag zerplatzte wie eine Wassermelone, sondern lediglich ein unappetitliches Knacken von sich gab, gefolgt von einem benommenen Stöhnen. Es brauchte ganze vier Schläge, bis er endlich aufhörte zu zucken, und sein Kopf zumindest ansatzweise so zertrümmert anmutete, wie Tasha es sich in irgendeiner entfernten Ecke ihres Hirns ausgemalt hatte. Und nun stand sie hier, die mit Blut befleckte Vase noch immer in der Hand. Betrachtete den Leichnam vor sich mit einer gewissen Faszination, während sie versuchte, zu begreifen, was sie da eben getan hatte. Und warum. In ihrer Vorstellung waren Menschen, die andere Leute töteten, stets getrieben von übermächtigen Emotionen. Wut, Hass, Rache, vielleicht auch bloß die pure Freude am Morden, wer wusste das schon… sie jedoch hatte rein gar nichts empfunden. Sie hatte doch auch gar keinen Grund gehabt, Kenneth zu töten; ja, er hatte auf sie geschossen, aber sie hatte nicht bloß einmal, sondern sechs mal auf ihn eingeschlagen, eine Handlung, die wohl kaum als Selbstverteidigung im angemessenen Rahmen anzusehen war. Und sie spürte nicht das kleinste bisschen Reue. Ihr Mann, von dem sie doch bis heute Nacht noch geglaubt hatte, dass sie ihn über alles liebte, lag tot vor ihr, ermordet durch ihre eigene Hand, und sie empfand rein gar nichts. …Nein. Nein, das war nicht richtig. Da war etwas, das sie verspürte, aber das war falsch, falsch, falsch, falsch; so ziemlich das Letzte, was sie in dieser Situation spüren sollte, sie musste sich irren… „Nein, Tasha! Das ist schon richtig so!“ Die Stimme des Wendigos jagte ihr einen weiteren Schauer über den Rücken, und mittlerweile empfand sie diese äußere Kälte als ausgesprochen angenehm. Sie passte hervorragend zu der Kälte, die sich immer weiter in ihrem Körper ausbreitete. Aber was die Kreatur sagte, stimmte nicht. Konnte nicht stimmen! Denn was sie empfand, als sie den zertrümmerten Schädel ihres Mannes musterte, war… „Es stimmt, Tasha. Du hast Hunger! Und daran ist überhaupt nichts verkehrt!“ Ein weiterer Schauer lief über Tashas Haut, und einen Augenblick lang war sie wie erstarrt. Sie wollte schreien, den Wendigo anbrüllen, ihm sagen, dass er verschwinden sollte, sie endlich zufrieden lassen… Aber dafür war es zu spät. Vorhin hatte sie überhaupt nicht darüber nachgedacht, was genau das Auftreten dieses Monsters eigentlich zu bedeuten hatte. Sicher, sie hatte sich gefürchtet, aber nicht für lange, und dann hatte sie einfach getan was er verlangt hatte, als wäre es das Normalste der Welt, einer Kreatur aus uralten grausamen Geschichten zu gehorchen… Aber da war noch mehr als das, woran sie sich vorhin erinnert hatte. Noch andere Dinge, die ihre Großmutter ihr über dieses Wesen erzählt hatte, in den Geschichten, die Tasha so oft den Schlaf geraubt hatten. „Der Wendigo hat ein Herz aus Eis, Tasha. Er lebt dort, wo es kalt ist, und ernährt sich von Moos… nun ja, zumindest, wenn er nichts Besseres findet! Aber seine Leibspeise ist Menschenfleisch!“ Menschenfleisch. Oh Gott. Dieser köstliche Anblick… „Manchmal verirren sich Wanderer in den Bergen im Schneesturm. Sie finden nicht zurück, und das einzige, was sie zu Essen finden, sind ihre Begleiter! Aber es ist eine Sünde, Menschen zu essen, und darum werden sie bestraft! Sie dürfen niemals mehr zurückkehren, denn sie sind Monster. Und ihr Herz ist aus Eis, und sie irren durch die Berge auf der ewigen Suche nach…“ Menschenfleisch. Köstliches, köstliches Menschenfleisch. „Aber manchmal reicht es auch aus, wenn man sich einfach bloß verirrt, Tasha. Wenn man durch den Schnee irrt, und plötzlich seinen Namen hört, eine Stimme, die nichts menschliches an sich hat…“ Hungrig. So hungrig. „Manche würden es vielleicht als Glück bezeichnen, denn der Wendigo tötet einen nicht, sondern ruft einen. Und dieser Ruf bewirkt, dass man zu einem von ihnen wird!“ Oh Gott, dieser Anblick! Dieser köstliche Anblick! „Aber ich denke nicht, dass es Glück ist, wenn man zu einem Wendigo wird. Wendigowak sind Bestien, ohne jegliche Emotionen, getrieben vom Hunger. Ich denke, dass zu sterben die bessere Alternative ist!“ Das waren die Worte gewesen, mit der Grandma ihre Geschichte beendet hatte, und Tasha hatte sie angeblickt, vollkommen verunsichert, was sie davon halten sollte. Den Tod als die bessere Alternative anzusehen hatte ihr niemals ganz eingeleuchtet. Doch andererseits hatte ihr die grauenhafte Vorstellung des Wendigos immer wieder aufs Neue Angst eingejagt, wenn Grandma wieder von ihm erzählte - und das hatte sie oft getan, obgleich Tashas Mutter dies, wenn sie davon mitbekam, auf der Stelle unterband. Und nun war Tasha hier. Stand vor dem Leichnam ihres Ehemannes und betrachtete die Masse aus Blut, Knochensplittern und Hirnmasse, spürend, wie das Verlangen in ihr immer und immer stärker wurde… „Es ist richtig, Tasha! Es ist genau richtig!“ Der Wendigo flüsterte nun nur noch, und selbst das war im Grunde noch eine viel zu starke Beschreibung für den leisen Hauch, der seine Stimme war. Aber das machte nichts, vielmehr schien diese geringe Lautstärke den Bann, den das Wesen auf Tasha ausübte und der sie dazu gebracht hatte, das zu tun, was sie getan hatte - zwei Menschen ermordet in einer Nacht, großer Gott, das war nicht ich, das war dieses Ding, bitte glaub mir! - noch zu verstärken. Ein weiteres mal bewegte Tasha sich, ohne es selbst zu registrieren; als hätte sie einen kurzen Filmriss gehabt kniete sie plötzlich auf dem Boden vor Kenneth, unfähig, sich zu erinnern, wie sie hier hergekommen war, und ohne etwas dagegen tun zu können, streckte sie ihre Hand aus nach der undefinierbaren, matschigen Masse, die eins sein Schädel gewesen war. In ihrem Hinterkopf hallte immer wieder die wispernde Stimme des Wendigos: „Es ist richtig, Tasha! Es ist vollkommen richtig! Tu es! Es ist richtig! Es ist…“ Als Tasha aufbrach, brach draußen bereits die Dämmerung an. Es war ein hastiger Aufbruch, und sie hinterließ blutige Fußabdrücke auf dem Boden, die sich draußen im Schnee jedoch sehr bald verloren. Es schneite noch immer, und so würden auch ihre Spuren bald überdeckt sein, und niemand würde ihr folgen können, zumindest nicht, bevor sie Suchhunde anforderten, und auch die sollten ihre Spur bald verlieren, wenn die Flocken in dieser Intensität weiterfielen. Mit schnellen Schritten legte Tasha den Weg zur Straße zurück, wandte sich dort nach rechts, folgte der Kennedy Lane hinab bis zur Creek Street, und schlug dort den Weg in den Duma Forest ein. Auf ihrem Rücken trug sie einen Rucksack. Es war ein altes Teil, das einmal Kenneth gehört hatte, er hatte es zum Wandern mitgenommen oder wenn er mit seinen Kumpels Zelten gegangen war. Nun allerdings würde er ihn wohl kaum mehr brauchen. Es war die Idee des Wendigos gewesen, sich ein wenig Proviant mitzunehmen, und Tasha hatte das für eine ausgesprochen gute Idee gehalten. Momentan war ihr Hunger gestillt, doch das würde nicht ewig so bleiben, und wer wusste schon, wann sie das nächste Mal etwas Gescheites zu essen bekommen würde… der Gedanke daran, Moos tu essen, behagte ihr jedenfalls ganz und gar nicht. Es war faszinierend, wie sehr sie sich mit ihrem neuen Schicksal abgefunden hatte. Ihr gesamtes Leben - wobei ihr Zustand in den letzten Jahren, die sie im Grunde eingesperrt verbracht hatte, nüchtern betrachtet wohl kaum als „Leben“ zu bezeichnen gewesen waren - hatte sich in dieser einen Nacht grundlegend verändert. Sie war eine Mörderin. Eine Kannibalin. Ein Monster. Und nichts davon regte sie ernsthaft auf. Ja, irgendwo in ihrem Kopf, in den tiefsten, verborgensten Windungen ihres Gehirns, gab es diese leise Stimme, die protestierte, die forderte, aufzuhören, sich zu wehren gegen dieses Monster, das sie so schnell in seine Gewalt gebracht hatte… doch diese Stimme besaß keinerlei Macht. Das einzige, was sie hatte bewirken können, war, Tasha schließlich zum Aufbruch zu bewegen, vorrangig unter dem Vorwand, dass man sie finden würde, wenn sie nicht endlich verschwand. Tasha, die mittlerweile kaum noch etwas anderes empfand als dumpfe Kälte, die keinerlei Emotionen wie Angst oder Verwirrung mehr zuließ, hatte dieser Argumentation zugestimmt, und nun war sie hier, im Schnee auf dem Weg in die Tiefen des Waldes, und verdammt, sie fühlte sich so gut wie seit Langem nicht mehr! Vielleicht war in ihr in dieser Nacht irgendetwas zerbrochen. Sehr wahrscheinlich sogar war dies der Fall, was sie getan hatte, sprach schließlich Bände. Es gab wenige klaren Momente, in denen der Wahnsinn einen Augenblick von ihr zurückwich und ihr erlaubte, die Dinge wieder durch ihre eigenen Augen zu sehen; den Augen von Tasha, und nicht denen des Monsters, das sie erblickte, wenn sie sich einmal in einer spiegelnden Oberfläche betrachtete und das sich mit jedem Mal weniger von der Kreatur unterschied, die sie in jener Nacht aufgesucht hatte. Und mit Ausnahme eben dieser wenigen klaren Augenblicke gab es keine Sekunde, in der sie Reue empfand. Die leise Stimme, die früher einmal ihr Selbst gewesen war, vermochte nichts zu tun, um sie zu erreichen. Und so wurde Tasha, in diesem Zustand aus emotionsloser Kälte, auch niemals bewusst, dass der eigentliche Grund dafür, dass sie das Haus so früh verlassen hatte, Angst gewesen war. Angst, die dieser letzte, menschliche Teil von ihr bei dem Gedanken daran empfunden hatte, was geschehen würde, wenn sie die Treppe nach oben ins Obergeschoss ging. Was sie getan hätte, hätte sie dort ihre Kinder vorgefunden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)