Bauchgefühl von Norrsken (Ein Ass im Bett) ================================================================================ Kapitel 1: 1994-09-20 --------------------- Über das Gelände der Einrichtung läutete die Glocke im tiefen Ton und rief zum Appell auf. Die Kinder aus allen Einheiten begaben sich auf den großen Vorhof der Klosterkirche und standen in Reih' und Glied. Hinter der Spitze des Glockenturms tauchte die Sonne den Himmel in Rot zur Abenddämmerung. Das Training war für diesen Tag beendet und während die Ausbilder die Anwesenheit kontrollierte, wurden die Aufgaben verteilt, die bis zum Abendbrot zu erledigen waren. Yuriy ging mit Boris und zwei anderen Kindern die blechernen Arenen vom Platz tragen, um sie zu polieren und über Nacht im Schuppen zu verstauen. Das Schleppen war mühselig, doch es war eine der angenehmeren Aufgaben, mit der sich die Zeit bis zum Essen gut überbrücken ließ. Immer zu zweit trugen sie eine Arena und stapelten sie provisorisch. Mit jedem weiteren Schritt hatte Yuriy das Gefühl, dass sein Magen lauter knurrte. Das Mittagessen hielt nur selten bis zum Abend vor. Doch er wusste, wie er es am besten ignorieren konnte. Das hatte er bereits auf der Straße gelernt. Sobald alle Arenen im Schuppen standen, schrubbte jeder mit einem Lappen über die Bowl. Dabei verlor Yuriy sich gerne in Gedanken. Er betrachtete die feinen Kerben im Metall und rekonstruierte vor seinem inneren Auge die Laufbahnen der Beyblades und wie die Kollisionen verlaufen waren. So etwas fiel ihm leicht und die Zeit vergaß er darüber. Die anderen Drei nutzen die Gelegenheit zum Schwatzen, denn die hatten sie nur selten. Yuriy war es einerlei, ob er an solchen Gesprächen teilnahm. Er hatte selten etwas beizutragen und es interessierte ihn nicht. Außerdem war es den anderen Kindern offensichtlich unangenehm, selbst wenn er nur teilnahmslos dabei stand. Für Yuriy war es letztendlich nur wichtig, dass die Arbeit darüber nicht vernachlässigt wurde, sodass sie zeitig zum Abendbrot kamen. Sie kamen trotz Unterhaltung zügig voran und wurden frühzeitig fertig. Entgegen ihrer Erziehung, liefen sie jedoch nicht gleich zum Hauptgebäude, um sich dort zu melden, sondern blieben im muffigen Schuppen. Yuriy setzte sich auf einen Sprungkasten und hatte von dort eine gute Sicht durchs Fenster auf den Vorhof. Sollte ein Ausbilder ihre Arbeit kontrollieren wollen, würde es mitbekommen und konnte Bescheid geben. Es gab nicht viel außer diverser Sport- und Trainingsgeräte, trotzdem fanden die Kinder für sich eine Beschäftigung. Sie teilten den Schuppen in Gebiete auf, die es zu erobern galt. Ihre Ausrüstung bestand dabei aus Besen und Harken. Ihr Abenteuer daraus, durch einen Tunnel zu kriechen, über einen Abhang zu hangeln und zum Schluss auf einem Gebirge zu rasten. Zwischen dem Sprungkasten, auf dem sie saßen, und Yuriy stand ein Turnbarren. Die letzte Hürde. »Wer es schafft, erobert Schloss und Zarentochter«, entschied einer der Jungs über den Abschluss ihres Abenteuers. »Meinst du damit Yuriy?«, fragte Boris. Seine Kumpane unterdrückten ein Prusten und tauschten vielsagende Blicke. Yuriy behielt den Blick stur aufs Fenster gerichtet, konnte aber in der Spiegelung sehen, wie sie feixten, weil sie glaubten, er bemerke es nicht. Über seine Stirn zogen sich kleine Fältchen ob der unbedarften Frage von Boris, die einen Scherz auf seine Kosten mit sich brachte. Im nächsten Moment wackelte seine Sitzgelegenheit unter ihm und er kam nicht umhin, nach dem Ursprung zu schauen. Boris, der eben noch bei den geschwätzigen Jungen war, hatte sich neben ihn auf den Kasten geschwungen. Sein Grinsen erinnerte mehr an ein Zähnefletschen und brachte das Kichern zum Verstummen. Yuriys Mundwinkel zuckte leicht. Es wurde zum Essen geläutet und das Abenteuer wurde mit Boris als Sieger beendet. Yuriy ging mit ihm vor, während die beiden anderen Jungen wenige Schritte hinter ihnen lagen. Nachdem ihnen der Spaß vergangen war, lagen ihre Blicke stechend auf Boris. Der schien es – im Gegensatz zu Yuriy – nicht zu bemerken oder aber ignorierte es völlig. »Armselig«, nuschelte einer von ihnen und gewann so doch ihre Aufmerksamkeit. Boris blieb stehen und wandte sich mit gerunzelter Stirn zu ihm um. »Was?« Trotz seiner jugendlichen Stimme hörte Yuriy ein Knurren heraus. Möglichst gelassen zuckte der Junge mit den Schultern und schob seine Hände in die Hosentaschen. »Eine Zarentochter, die keiner will, ist armselig.« Yuriy war neben Boris stehen geblieben und betrachtete die beiden Jungen mit ihrem hämischen Grinsen. Die Worte galten ihm, auch wenn er nicht verstand, wieso. Boris schien es ähnlich zu gehen. Seine Augen verengten sich und er straffte die Schultern. »Wer ist armselig?« Die beiden Jungen wichen einen halben Schritt zurück, bevor der Knabe, der sich bisher ruhig verhalten hatte, eine Antwort wagte: »Der Gewinner ohne Preis und der Preis, den keiner will.« Dieses Kontra holte aus Yuriy nichts als einen müden Augenaufschlag. Dass sie wegen eines albernen Spiels in ihrer Ehre gekränkt waren und einen Streit inszenierten, zeigte ihm, wie kindisch sie waren. Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte er sich zum Gehen. Immerhin hatte die Glocke bereits einmal geläutet und sie hatten sich in der Haupthalle zu versammeln. Doch Boris hielt ihn am Arm zurück. Irritiert runzelte er die Stirn und blickte über die Schulter zu seinem Freund. Er dachte, dass Boris‘ Augen eine gräuliche Färbung hatten, aber aus der Nähe betrachtet waren sie doch eher mintgrün. Das Atmen fiel ihm schwer, weil seine Nase platt gedrückt wurde, und bei der Kollision ihrer Lippen schmeckte er Blut. Dieser Trotzanfall endete abrupt, als Yuriy und Boris an den Krägen voneinander gerissen wurden. »Was glaubt ihr, was ihr hier treibt?!«, zischte der Ausbilder und obwohl es eine Frage war, wussten alle vier, dass keiner zu Antworten hatte. Yuriys Nackenhaare stellten sich auf, als er grob von dem Erwachsenen mitgezerrt wurde und die beiden Jungen, mit denen er heute den Dienst teilen musste, sahen ihm und Boris mit aufgerissenen Augen nach. Das Abendbrot würde für sie ausfallen. Kapitel 2: 2001-01-10 --------------------- Im Dunkel war sein Blick starr hinauf gerichtet. Seine Augen hatten sich an den Lichtmangel gewöhnt, doch viel zu sehen gab es an der grauscheinenden Decke nicht. Es war eine leere Aussicht. Vom Fenster aus, hörte er den Rahmen unter dem pfeifenden Wind knacken. Vom Nachtisch aus ertönte das Ticken seines Weckers. Es waren die einzigen Geräusche neben seinen eigenen Atemzügen. Es fühlte sich ungewohnt für ihn an, in einem Zimmer für sich alleine. Ohne das leise Murmeln seiner Zimmergenossen oder das Rascheln der Bettwäsche. Da waren nur der Wind und die Uhr und es war so viel lärmender als das Schnarchen von Ivan. Zu Beginn hatten er und seine drei Kameraden sich immer gemeinsam in einem ihrer Zimmer zusammengefunden für die Nacht. So hart und unbequem es auf dem Boden zwischen Kommoden und Schreibtisch war, so viel angenehmer war es ihnen, als alleine in einem eigenen Zimmer zu schlafen. Die Erzieher hatten diese Marotte von ihnen über mehrere Wochen geduldet, doch inzwischen setzten sie sich dahingehend durch, dass die Jungs jeder im eigenen Zimmer im eigenen Bett schlief, um zur Ruhe zu kommen. Yuriy brachte die Ruhe wenig Erholung. Es fiel ihm schwer, sich daran zu gewöhnen. In den Einzelgesprächen mit den Erwachsenen erwähnte er es trotzdem nicht. Auch gegenüber den anderen verlor er kein Wort, trotzdem wusste er, dass es ihnen ähnlich erging. Ganz selten passierte es ihm, dass er nach einer besonders ruhigen Nacht in seinem eigenen Zimmer am Nachmittag auf der Couch im Sitzen über ein Buch einschlief. Darüber ärgerte er sich zwar, doch die neue Umgebung gab ihm die Sicherheit, dass diese Unachtsamkeit keine Folgen mit sich brachte – außer vielleicht einer weiteren Nacht mit wenig Schlaf. Sein Blick schweifte zur Wand an seinem Bett und für einen kurzen Augenblick wünschte er sich, dass Ivan sein Zimmernachbar wäre, da die Wände dünn genug waren, um dessen Schnarchen wenigstens dumpf hören zu können. Leises Klopfen ließ das Bedauern verschwinden. Wach? Yuriy schlug mit den Fingerknöcheln in kurzen und langen Intervallen gegen die Wand, um die Nachricht zu erwidern. Ja. Keine Antwort und Yuriys Blick ging wieder zur Decke. Die Gewissheit, dass Boris neben ihm ebenso wach lag, wie er selbst, hatte ihm häufiger Trost gespendet, was ihn selber überraschte. Doch dieses eine Mal, war ihm dieses Bewusstsein unangenehm. Wie um eine zweite Mauer hochzuziehen, drehte Yuriy sich auf die Seite mit dem Rücken zur Wand. Ihm war warm und der Stoff seines Schlafanzuges kratzte ihm unangenehm auf der Haut. Dieses Unwohlsein hatte ihn in der Vergangenheit schon ein paar Mal heimgesucht. Nicht allzu regelmäßig, trotzdem zu genüge, dass es ihm lästig war. Yuriy vergrub das Gesicht in seinem Kissen. Das Atmen fiel ihm durch den Stoff schwer, doch gab ihm das ein Gefühl von Kontrolle, während er seine Hand in seine Shorts führte und das steife Glied mit den Fingern umschloss. In immer schneller werdenden Bewegungen rieb seine Hand den Schaft auf und ab, übte Druck aus und konzentrierte die Hitze in seiner Lendengegend, bevor sie in einer Welle über seinen Körper hinweg strömte. Jeder seiner Muskeln spannte sich an und er biss sich auf die Wange, um verräterische Geräusche zu unterdrücken, die durch die dünnen Wände getragen werden könnten. Die Glieder wurden ihm schwer und die Hitze in seinem Körper flaute auf eine ertragbare Temperatur ab. Seine Hand säuberte er mit einem Taschentuch von seinem Nachttisch. Die Nächte in seinem eigenen Zimmer waren für ihn nicht erholsam und er gewöhnte sich nur sehr langsam an die neue Wohnsituation. Aber in diesen lästigen Augenblicken sah er einen kleinen Vorteil darin, die Nacht alleine zu verbringen. Ebenso war es mit der Schwere, die sich über ihn legte und ihn kurz darauf einschlafen ließ, obwohl immer noch der Wind pfiff und die Uhr tickte. Kapitel 3: 2005-02-08 --------------------- Auf dem niedrigen Wohnzimmertisch, von dem sie selber mit Sandpapier die Oberfläche abgewetzt hatten, um den Dreck der Vorbesitzer zu entfernen, sammelten sich Krümel von Knabberkram und Ränder von Gläsern und Flaschen. Die Aussicht darauf am nächsten Morgen alles wieder in Ordnung bringen zu müssen, um auf einen unangekündigten Besuch der Betreuer vorbereitet zu sein, ließ Yuriys Augenbraue zucken. Er hatte Boris mit einem frostigen Blick zu verstehen gegeben, was er davon hielt und war sicher, dass sein Freund ihn verstand, aber bewusst ignorierte. Zu einer anderen Zeit wäre ihm das nie passiert. Es ließ Yuriy mit den Zähnen knirschen. »Das ist ein denkwürdiger Moment«, erklärte Boris mit einem zufriedenen Grinsen und erhielt zustimmendes Nicken von Ivan und Sergeij. »Den man nicht bei dir feiern konnte, weil …?«, fragte Yuriy und musterte seinen Kameraden von der Seite. »Dein Geburtstag ist.« Zufrieden über seine Argumentation nahm Boris einen großzügigen Schluck vom Vodka. Für Yuriy fühlte es sich nach einer willkommenen Ausrede an, die Boris davor bewahrte in seiner eigenen Wohnung im Chaos zu versinken. Allerdings war ihm auch bewusst, dass sein Freund immer viel Wert darauf legte, dass sie wichtige Ereignisse, wie Geburtstage, wenn möglich, gemeinsam verbrachten. Und diesmal kamen gleich diverse Ereignisse zusammen. Ein glücklicher Zufall für Boris. Die Gruppe stieß an auf die Stellenzusage für Sergeij. Sobald er die Prüfungen an der Milizhochschule bestanden hatte, würde er im öffentlichen Dienst anfangen. Das erste Eigenheim von Boris und Yuriy war ebenfalls ein Grund zum Feiern, auch wenn alles recht provisorisch mit Möbeln vom Sperrmüll eingerichtet war – es erfüllte seinen Zweck und fühlte sich wohnlich an. Zu guter Letzt war es Yuriys Volljährigkeit, doch trotzdem, nachdem er offiziell Alkohol trinken durfte, verzichtete er strickt. Ivan nahm sich gerne seiner überschüssigen Gläser an. Obwohl Yuriy der Trunkenheit nichts abgewinnen konnte und auch für eine Runde um den Block über längere Zeit von Boris bearbeitet werden musste, lehnte er sich auf dem Sofa zurück in die durchgesessen Polster und beobachtete seine munteren Kameraden, deren Zungen sich durch den Alkohol lösten. Diese drei Kerle waren wohl die einzigen, deren Gesellschaft er in jedem Zustand schätzen würde. Nachdem sie jahrelang jeden Tag miteinander verbracht hatten, kam es selten dazu, dass sie zu viert beisammen waren. Sergeij hatte ein Zimmer in der Nähe der Hochschule und Ivan war zu einer Verwandten in eine andere Stadt gezogen. Schließlich hatten Boris und er sich auf die Suche nach ihrer ersten eigenen Wohnung gemacht. Unwillkürlich wanderte Yuriys Blick zu seinem Freund, der lauthals über einen dreckigen Witz von Ivan lachte. Dass sie im gleichen Block auf unterschiedlichen Etagen je eine Wohnung für sich gefunden hatten, war Boris‘ verdienst. Keine Wohnung konnte seinen Ansprüchen genügen. Immer hatte er etwas auszusetzen gefunden. Es wurde zu einer Geduldsprobe für Yuriy, doch zuletzt musste er sich eingestehen, dass es das Beste für sie beide war. Boris fing seinen Blick auf und blinzelte die Trübheit aus seinen Augen weg. Sein Grinsen erinnerte ihn noch immer an das Blecken von Zähnen, das nur durch die Grübchen in seinen Wangen gemildert wurde. Zumindest war das seine Erklärung dafür, wieso manche Menschen meinten, dass dieses Grinsen sympathisch war. »Jetzt in unserer eigenen Bude können wir endlich selbst über unseren Besuch bestimmen.« Yuriy lupfte eine Augenbraue, unterließ jedoch einen Hinweis darauf, dass seine Selbstbestimmung über Besuch in genau diesem Moment aktiv untergraben wurde. Das Zucken im Mundwinkel seines Freundes verriet ihm, dass er dabei bestimmte Vorstellungen hatte. Er griff nach der offenen Flasche und schenkte Yuriy ein, bevor er bedeutungsschwer das Wort an ihn richtete. »Wird Zeit, dass wir für dich wen finden, der dein Bett wärmt.« Mit einem leichten Stoß seines Ellbogens reichte er ihm das Glas. Yuriy nahm es entgegen, um es in der gleichen Bewegung an Ivan weiterzugeben. Der hob es zum Toast, den Yuriy mit seinem Glas Wasser erwiderte und in Ruhe einen Schluck trank, bevor er zu einer Erwiderung ansetzte. »Ich hatte nicht geplant, mir einen Hund anzuschaffen.« Wie erwartet, quittierte Boris die Bemerkung mit einem Augenrollen. »Ich dachte an weniger haarig und dafür mehr kurvig«, konkretisierte er sein Anliegen. Yuriy spürte die Blicke von Ivan und Sergeij auf sich ruhen, ließ sich dies aber nicht anmerken und blinzelte langsam. Er tat Boris nicht den Gefallen, zu verstehen, und Boris tat ihm nicht den Gefallen, nachzugeben. Ein Brummen vibrierte in Boris‘ Kehle, als er sich bequem auf dem Sofa drehte, um sich seinem Freund zuzuwenden. Seinen freien Arm legte er locker über die Lehne, während er mit dem Glas in der Hand den Zeigefinger gegen Yuriys Brust tippte. »Du kannst doch nicht als alte Jungfer sterben wollen.« Warum nicht?, dachte Yuriy bei sich, aber sagte es nicht. Ihm war bewusst, dass sein Gegenüber ihn ungläubig ansehen würde, wenn er sagte, dass er sich wenig für Sex begeistern konnte. Wie er Boris kannte, würde ihn das zu einem Loblied auf den Beischlaf beflügeln, also blieb er lieber still. Sein Schweigen nahm Boris zum Anlass weiterzusprechen. »Maria hat da ein paar echt süße Freundinnen, von denen ich mir sicher bin, dass-« »Boris.« Yuriy betrachtete seinen Freund eingehend, sah das enthusiastische Leuchten in seinen Augen, das einen Plan visualisierte, von dem er kein Teil sein wollte. Mit einem gedehnten Atemzug befeuchtete er seine Lippen. »Du solltest dich auf deine eigene Beziehung konzentrieren, damit die einmal nicht in einem Desaster endet.« Die romantischen Verwirrungen seiner Kameraden hatten Yuriy nie interessiert. Bei Ivan und Sergeij bekam er auffallend wenig mit und könnte nicht sagen, ob sie derweil jemanden im Herzen trugen. Bei Boris war es allerdings anders. Hier war sein Interesse zwar ebenso gering, doch Boris‘ ungeschicktes Händchen führte mit einer erstaunlichen Zielsicherheit zu einem Schauspiel großer Emotionen, das niemand ignorieren konnte, der mit ihm unter einem Dach lebte. Derartige Verwicklungen gehörten nicht zu den Dingen, die Yuriy in seinem Leben anstrebte. Ein Ausdruck von Empörung zeichnete sich auf Boris‘ Gesicht ab, doch bevor er zu einer Rechtfertigung ansetzen konnte, wurde er von Ivans hämischen Kichern abgelenkt. »Er hat recht«, gluckste Ivan und leerte sein Glas. »Man könnte meinen, du nimmst ein Teeniedrama als Vorlage für dein Liebesleben.« »So schlimm ist es nun auch nicht«, schaltete sich Sergeij ein und sprang Boris zur Seite. »Jelena war wirklich ein nettes Mädchen.« »Oh ja, sie konnte einem wirklich sehr nett ihren Willen aufzwingen. Unausstehlich wurde sie erst, wenn sie ihn nicht bekommen hat. Bin immer noch beeindruckt, dass du ihr im Schlaf nicht den Hals umgedreht hast.« Anerkennend hob Ivan das leere Glas in Boris Richtung. Dann begann er zu grübeln. »Wie hieß noch mal die, die du über Nacht eingeschleust hast und sich morgens im Bad verbarrikadiert hat?« »Irina …«, brummte Boris mit zusammengezogenen Augenbrauen. Ivan ließ ein weiteres Glucksen verlauten. »Stimmt. Die entgleisten Gesichter von Veselov und Smirnov waren filmreif!« Diesmal blieb Sergeij ruhig und Boris ertrug den Spott auf seine Kosten mit einem vollen Glas Vodka. Obwohl Ivan schon länger bei seinen Verwandten lebte, hatte er genug mitbekommen, um Anekdoten wie diese aufzufrischen. Yuriy fragte sich, welche wichtigen Informationen Ivan dafür vergessen hatte. »Du trinkst eindeutig nicht genug, wenn du so viel schwätzen kannst«, meinte Boris schließlich, als Ivan dabei war, sich an Lena zu erinnern, und schenkte seinem Kameraden mit gebleckten Zähnen nach. Yuriy lehnte sich auf dem Sofa zurück und fühlte sich in seinen Ansichten bestätigt. Mit einem Blick auf Boris, der sich ihm wieder zuwandte, nachdem er Ivan vorläufig zum Schweigen gebracht hatte, ahnte er, dass er noch nicht raus aus dem Thema war. »Also selbst wenn es ein bisschen chaotisch war-« »Ein bisschen«, echote Yuriy und hob eine Augenbraue. Boris quittierte die Unterbrechung mit einem Knurren. »Auch wenn es am Ende chaotisch war, würde ich es wieder tun.« Die Ansichten seines Freundes brachten ihn dazu, die Stirn in Falten zu legen. Das Warum lag ihm auf der Zunge, doch er ließ sie unausgesprochen. Er musste nicht jede Sichtweise von Boris hinterfragen, nur weil er sie nicht teilte. Mit einem Schluck von seinem Wasser schluckte er die Frage herunter und erklärte das Thema für sich als beendet. Mit ihrer nächsten Runde begann Sergeij von den bevorstehenden Prüfungen zu erzählen und wie die Vorbereitungen und das Training liefen. Yuriy rechnete es ihm hoch an, dass er sich trotz der hohen Anforderungen, die an ihn gestellt wurden, sich die Zeit nahm für ihre Zusammenkunft. Ivan berichtete von seinen jüngeren Cousinen, die es laut seiner Aussage faustdick hinter den Ohren hatten, und Yuriy fiel es schwer, sich vorzustellen, wie jemand sein mochte, den Ivan als verschlagen deklarierte und ob es sich dabei um das Ergebnis seines Einflusses handelte. Je länger der Abend ging, desto leerer wurde der Vorrat, den Boris herangetragen hatte. Sie stießen gemeinsam zum letzten Mal in dieser Nacht an, dann machte Yuriy sich auf, um das Lager für seine Gäste aufzuschlagen. Ivan genügten Decke und Kissen mit denen er sich in der Ecke zwischen Stehlampe und Geigenfeige zu einem Knäul zusammenzurollen, während Sergeij sich mit dem Wohnzimmerteppich begnügte, da seine langen Glieder über den Rand des Sofas hinaus ragen würden. Als hätte Boris sich den Schlafplatz auf dem Sofa in einem harten Kampf verdient streckte er die Arme und bettete sie auf der Rückenlehne. Theoretisch hatte er den kürzesten Heimweg, doch auch wenn er nur ein Stockwerk drüber wohnte, stand es für Yuriy nicht zur Debatte, dass auch nur einer seiner Kameraden heimgeschickt wurde. Er warf jedem Decken und Kissen zu und nahm erneut Platz auf dem Sofa. Mit der einkehrenden Ruhe entspannten sich Yuriys Glieder und er sank langsam zurück in die Polster. Die Präsenz seiner Kameraden und die Stille wirkten beruhigend auf ihn und für einen Augenblick schloss er die Augen, um den Moment in Gänze zu genießen. »Pennst du auch hier?« Boris‘ Stimme war ruhiger und dunkler als zuvor, als wollte er die fragile Atmosphäre nicht zerstören. Kurz dachte Yuriy über die Antwort nach. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich auf engem Raum zusammenraufen. Schlussendlich schüttelte er sachte den Kopf. »Ich gehe gleich nach nebenan.« Boris ließ ein Brummen verlauten. Yuriys Blick ging durch den Raum, sah Ivan, dessen Blick an die Decke geheftet war, als gäbe es dort ein Geheimnis zu entschlüsseln, und Sergeij, der die Arme bereits über die Augen legte und morgen sicherlich das eine Glas zu viel bereute, und den Tisch voll mit Krümeln und Rändern von Gläsern und leeren Flaschen, die dicht beieinanderstanden. Aber das war etwas, worum er sich morgen früh kümmern wollte. »Yura?« Mit einem Blinzeln lag sein Blick auf Boris neben sich, der gerade zum Fenster hinaus schaute. »Ich muss mir keine Sorgen um dich machen, oder?« Yuriy spürte ein Ziehen an seinen Mundwinkeln. Die Worte seines Freundes waren aufrichtig, weshalb er das aufkommende Amüsement ignorierte. »Wieso solltest du das?« Boris wandte sich ihm zu und hatte die Augenbrauen zusammengezogen, als dachte er über eine schwierige Gleichung nach. »Jetzt mal ehrlich; wurdest du überhaupt schon mal geküsst?« Ein wenig überraschte es Yuriy, dass Boris dieses Thema erneut aufgriff, jedoch dieses Mal ohne jeden Schelm im Nacken. Die Ernsthaftigkeit hinter dieser Frage, löste den Abwehrmechanismus. Fremde gingen diese Dinge nichts an, aber mit Boris hatte er schon immer alles teilen dürfen. Seine Antwort hielt sich schlicht. »Ja.« Boris‘ Stirn glättete sich und seine Augen weiteten sich ein Stück, dass ihm wieder dieses Mintgrün auffiel. »Echt?« Diesmal missglückte es Yuriy, sich zu beherrschen, und ein Schmunzeln lag auf seinen Lippen. »Von dir«, ergänzte er seine Aussage, um dem Gedächtnis seines Freundes auszuhelfen. Der Überraschung folgte Unglaube. Mit gesenkten Blick begannen seine Augen hin und her zu huschen. In ihm arbeitete es. Mühsam versuchte er, die verlorene Erinnerung hervorzuholen. »Wann soll das- oh!« Boris sah zu ihm auf, die Augen riesig, fast manisch. »Das ist deine einzige Kusserfahrung?« »So sieht es aus«, schloss Yuriy mit absoluter Gelassenheit und unterstrich dies mit einem Schulterzucken. »Fuck.« Die Stimme von Boris wurde rau. Yuriy musterte sein Gesicht und meinte darin Reue zu lesen, was für ihn keinen Sinn ergab und ihn irritierte. »Das war richtig scheiße.« »Stimmt.« Ihm wurde klar, dass Boris an die Folgen dachte, die dieser kindische Trotz damals mit sich gezogen hatte, doch es lag soweit zurück, dass Yuriy dieser Sache keine Bedeutung mehr beimessen wollte. »Du hast mir fast eine Kopfnuss gegeben und unsere Zähne haben sich berührt«, betonte er kritisch. Der vorangegangenen Reue folgte ein ungläubiges Blinzeln, wie er es selten bei Boris beobachten durfte. Er öffnete den Mund, als wollte er darauf etwas erwidern, doch schloss er ihn gleich wieder, ohne einen Ton zu sagen. Es verging ein stiller Augenblick, der nur von Ivans leisen Schnarchen gestört wurde, bis schließlich die Grübchen in Boris‘ Wangen hervortraten. »Das kann ich so nicht stehen lassen.« Yuriy begriff nicht sofort, doch als Boris sich zu ihm vorbeugte, seine Augen ihn fixierten wie Beute und er so dicht vor ihm innehielt, dass er seinen Atem auf der Haut spürte, verstand er, welcher Unsinn ihm durch den Kopf ging. Abwartend erwiderte er den Blick, schlug die Augen nieder und war erstaunt darüber, wie sanft sich diese rauen Lippen auf seine legen konnten. Boris strich mit dem Daumen über die Kontur seines Unterkiefers, zog ihn mit der Hand in seinem Nacken näher an sich heran und übte einen angenehmen Druck auf ihn aus, dass Yuriy unbewusst den Atem anhielt. Ihm kam es vor, als passten sich ihre Lippen einander an. Zwischen kurzen Atemzügen konnte er den Alkohol schmecken, von dem er sich nun fragte, ob Boris vielleicht ein Glas zu viel hatte. Er legte eine Hand auf die Brust seines Freundes und spürte, wie sein Herz heftig dagegen schlug. Yuriy kam es wie eine Ewigkeit vor, in der Boris an ihm heftete, bevor er langsam wieder etwas Raum zwischen sie brauchte. Seine Lippen fühlten sich geschwollen an und er unterdrückte den Drang, sich mit dem Arm drüber zu wischen. Der Blick von Boris war forschend als suche er in Yuriys Gesicht nach einer Antwort auf eine Frage, die sie beide noch nicht kannten. Schließlich zeigte sich ein süffisantes Grinsen. »Und?« Yuriy schätze sich glücklich, dass er nicht zu den redseligsten Genossen gehörte, denn so fiel es Boris nicht auf, dass seine stupide Frage ihm für einen Moment die Sprache verschlug. Unwillkürlich befeuchtete er seine Lippen. »Immerhin kein Schleudertrauma«, antwortete er trocken. Boris fiel das Grinsen aus dem Gesicht und er quittierte die blöde Antwort auf eine ebenso blöde Frage mit einem Schlag gegen Yuriys Schulter. Das war für ihn das Zeichen, sich schlafen zu legen und er wünschte seinem Freund eine gute Nacht, bevor er aus dem Wohnzimmer ins Schlafzimmer ging und sich für die Nachtruhe umzog. Innerlich schüttelte er den Kopf, als er das eben Geschehene noch einmal Revue passieren ließ. Boris hatte die absurdesten Einfälle, wenn ihm niemand Einhalt gebot, aber was sagte es über ihn aus, wenn er ihn gewähren ließ? Er legte die Hand auf seine Brust und fühlte seinen Herzschlag. Ruhig und beständig und kein Vergleich zu den wilden Schlägen in Boris‘ Brust. Mit einem tiefen Atemzug schloss er diese Frage unbeantwortet und legte sich ins Bett. Am Morgen würde er früh aufstehen und ohne Rücksicht auf seine Kameraden das Wohnzimmer wieder herrichten. Kapitel 4: 2006-12-31 --------------------- Der Plan für den Abend hatte anders ausgesehen. Yuriy machte die abendliche Runde mit Lyca und hütete mit ihr die Wohnung, während Boris, Ivan und Sergeij in einer nahe gelegenen Bar vorglühten. Bevor es null Uhr wurde, wollten sie zurück sein, sodass sie zu Neujahr gemeinsam vom Balkon das Feuerwerk beobachten konnten. Es war für die junge Hündin das erste Silvester, das sie bei Boris verbrachte, weshalb er sie ungern alleine ließ. Gleichzeitig hatte er seine Kameraden nicht enttäuschen wollen, indem er die Kneipentour absagte. So war für Yuriy der logische Schluss, Lyca zu übernehmen - zumal die Hündin sich bereits in den letzten Monaten als angenehme Gesellschaft herausgestellt hatte. Er hatte seine Kameraden an Boris' Wohnungstür verabschiedet, machte das Stroganoff vom Vortag in der Mikrowelle warm und verbrachte den Abend zusammen mit Lyca auf dem Sofa vor dem Fernseher, während er mit der einen Hand in seinem Buch umblätterte und die andere meditativ über Lycas Kopf strich. Er genoss die Ruhe, solange sie anhalten sollte. Wenn seine drei Kameraden spät am Abend wiederkämen, war abzusehen, dass es weit lebhafter zugehen würde. Darauf war er mental eingestellt. Letztendlich kam es sehr viel früher zum Ende seiner Ruhe, als er erwartet hatte. Gegen halb elf klingelte sein Handy. Auf dem Display erkannte er Ivans Nummer und nahm den Anruf entgegen. Es kam selten vor, dass Ivan anrief. Lieber schrieb er Textnachrichten, was Yuriy begrüßte - auch, dass er nicht auf jede Nachricht eine Antwort erwartete. Sein Nacken prickelte, noch bevor er sich am Handy meldete. »Komm her! Boris läuft Amok und wir-« Den Rest des Satzes bekam Yuriy nicht mehr mit. Lyca reckte den Kopf und spitze die Ohren, als ihr Sitter hochschnellte, die Wohnung in großen Schritten durchquerte und sich im Vorbeigehen Boris' Parker griff, bevor die Wohnungstür hinter ihm zuknallte. Er hasste es, dass er seine Aufgabe vernachlässigte, doch es galt in diesem Augenblick Prioritäten zu setzen. Seine drei Kameraden hatten in einer Bar bei ihnen im Viertel vorglühen wollen. Er begleitete sie nur selten, kannte aber den Weg und war mit einem Sprint in zehn Minuten dort. Vor dem Lokal befand sich eine Traube Menschen, aus der Sergeij herausragte. Yuriy steuerte direkt auf ihn zu, schob sich forsch an Schaulustigen vorbei und sah, wie Boris auf einen zweiten Kerl einschlug, während der erste bereits benommen am Boden lag. Die Knöchel an seiner Hand glänzten rot. Sergeij bemerkte ihn erst, als er direkt neben ihm stand. »Wir müssen schleunigst weg«, erklärte er eindringlich. Yuriy nickte, beobachtete Boris, der wie von Sinnen einen Schlag nach dem nächsten setzte. Boris hatte schon immer viel Kraft und mit seinem Boxtraining wusste er diese gezielt einzusetzen, doch in diesem Augenblick ließen sich keine überlegten Treffer erkennen. Es war willkürliche Zerstörungswut, mit der er rohhaft zuschlug. Sergeij hatte die nötige Kraft und Ausbildung, um Boris festzuhalten, aber um ihn aufzuhalten, brauchte es Yuriy. In einem günstigen Moment ging er zwischen die Prügelnden und machte sich vor allem für Boris bemerkbar, indem er ihn am Kragen packte und seinen Blick fixierte. Als der ihn erkannte, hielt er lange genug in seiner Bewegung inne, dass Sergeij ihn mit festem Griff packen konnte. Inbrünstig stieß er einen Wutschrei aus, versuchte aber nicht, sich zu befreien, wie er es noch vor wenigen Minuten getan hätte. Den Typen am Boden schenkte er keine weitere Beachtung. »Weg hier!«, zischte Ivan zu ihrer Rechten und lotste sie aus der Menschenansammlung heraus und über Nebenstraßen zurück zu ihrem Block. Es gab niemanden, der ihnen folgte, trotzdem hielten sie nicht an und blickten nicht zurück. Erst als die Haustür hinter ihnen ins Schloss fiel, konnte Yuriy seine Kameraden aufatmen hören. Er selbst atmete ruhig, trotzdem fühlte er den kalten Schweiß seinen Rücken hinunterlaufen. Sein Blick ruhte auf Boris und er bemerkte, dass sich die Anspannung aus dessen Körper gelöst hatte. Mit einem Nicken gab er Sergeij die Versicherung dafür, ihn wieder loslassen zu können. Schlaff kam Boris auf seinen Beinen zum Stehen und schwankte gefährlich, dass Sergeij ihn vorsorglich an den Schultern fasste. »Die Treppen schaffst du selber?«, fragte Yuriy mit forschendem Blick. »'Türlich«, nuschelte Boris ihm grimmig entgegen und ging wie zur Demonstration die Treppen hinauf zu seiner Wohnung. Yuriy konnte die Blicke von Sergeij und Ivan auf sich spüren, die eine gewisse Ratlosigkeit ausstrahlten. Sie waren alle nicht zum ersten Mal in dieser Situation und glaubten auch nicht, dass es das letzte Mal sein würde. Ohne sich an sie zu wenden, folgte er Boris hoch. Erst auf seinem Stockwerk machte er halt. »Ihr wisst, wo alles steht?«, fragte er pro forma. Sergeij holte die Wohnungsschlüssel aus seinen Hosentaschen und gab den für Boris' Wohnung an Yuriy weiter. »Wenn was ist, gib' Bescheid.« Er nickte und ging einen Stock höher, auf dem Boris bereits vor seiner Wohnung auf ihn wartete. Die Stirn hatte er gegen die Tür gelehnt und von innen war ein Kratzen zu hören. Das Schloss klickte auf und Lyca bewegte sich in dem schmalen Flur um die eigene Achse, bevor sie auf Yuriys Anweisung hin in ihr Körbchen verschwand. Seinen Freund dirigierte er hingegen ins Badezimmer und setzte ihn auf dem Klo ab. Er ging vor ihm auf die Knie und begutachtete die blutverschmierten Hände. An seiner Linken waren die Fingerknöchel aufgeplatzt und das Weiß von Knochen war zu erkennen. Das sah er nicht zum ersten Mal und so ging er wie gewohnt in die anliegende Küche und holte aus dem Kühlfach eine Packung Eis, um die er ein Handtuch wickelte. Zurück im Bad reichte er den provisorischen Behelf an Boris und setzte sich neben ihn auf den Rand der Badewanne. Im Raum breitete sich Stille aus, während sie darauf warteten, dass die Blutung stoppte. »Hast du keine Fragen?« Boris‘ Stimme war rau. Er wagte nicht, aufzuschauen und konzentriert sich auf das Bündel Eis auf seinen Wunden. »War denn diesmal etwas anders?«, entgegnete Yuriy ohne eine Miene zu verziehen. Es bedurfte keiner Antwort, doch nun da Boris‘ Blick klarer wurde, schien er das Bedürfnis zu verspüren sich mitzuteilen. »Ich hab nicht zu viel getrunken«, stellte er mit gefestigter Stimme klar, ohne dass Yuriy ihm einen Vorwurf gemacht hätte. »Das kannst du Vanja und Seryoga fragen.« »Das muss ich nicht.« Boris kannte seine Einstellung zu Alkohol und welche Hintergründe es hatte. Und Yuriy kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass es nicht am Kontrollverlust durch Alkohol lag, dass er wie ein Berserker auf einen Gegner losging. Es war ein Resultat ihrer Vergangenheit und Boris lernte noch, damit umzugehen. Boris hob den Kopf und sah Yuriy direkt an. Ob ihm noch etwas auf der Seele lag oder er einfach vom Alkohol gedrängt war, sich mitzuteilen, konnte er nicht einschätzen. Schlussendlich beließ es Boris dabei und schwieg erneut. Als sie beide übereinkamen, dass die Blutung an seiner Hand zurückging, holte Yuriy die Panthenolcreme und Bandagen. Er legte wie schon dutzende Male zuvor den Verband um Boris‘ Hand und erwischte sich dabei, wie er darüber nachdachte, ob er etwas hätte verhindern können, wenn er dabei gewesen wäre. Wütend über diesen sinnlosen Gedankengang zogen sich seine Augenbrauen zusammen und Boris gab mit einem zischenden Laut zu verstehen, dass er den Verband etwas zu schroff festzog. Als Yuriy das Ende des Verbands sicherte, bemerkte er, wie sich in Boris Schultern Spannung bildete und musterte ihn mit gerunzelter Stirn. »Kannst du mal nach Lyca sehen?«, bat ihn sein Freund mit einem schmalen Lächeln. »Ich denke, ihr wird es gut gehen.« Die Sorge um die Hündin erschien ihm in diesem Augenblick absurd. Boris blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an, das Lächeln gequält. »Ja, aber - könntest du bitte gehen? Ich glaube, ich muss kotzen.« Es gab nicht viel, durch das sich Yuriy Ivanov überrumpelt wurde, doch diese Information ließ ihn erst die Augen weiten und anschließend die Nase rümpfen. Steif erhob er sich und verließ das Bad nicht ohne die Türe hinter sich zu schließen. Davon wollte er nichts mitbekommen. Als er ins Wohnzimmer kam, erhob Lyca sich aus ihrem Körbchen und trabte ihm entgegen. Yuriy ahnte, dass sich das Mädchen um ihren Menschen sorgte, und schätze diese Eigenschaft an ihr sehr. Er strich durch das dichte Fell und kraulte sie hinter den Ohren, bis sich ihr ganzer Körper schüttelte, weil sie mit ihrem Schwanz wedelte. Es dauerte, bis sich die Badezimmertür hinter ihm wieder öffnete. Lyca lief an Yuriy vorbei zu Boris hin, der vor ihr in die Hocke ging. Die Begeisterung, mit der sie über sein Gesicht leckte, bescherte ihm ein Lachen, das in einem herzhaften Gähnen mündete. »Bis Neujahr schaff ich nicht mehr.« Er strich sich mit der Hand durchs Gesicht, versteckte ein weiteres Gähnen und wirkte insgesamt furchtbar abgekämpft. Yuriy nickte ergeben. Nach dieser ungeplanten Aktion wollte er auch lieber ins Bett. Das neue Jahr konnten sie auch noch morgen früh begrüßen. »Pennst du bei mir?«, fragte Boris und sah aus großen Augen zu ihm auf. Darüber hatte sich Yuriy bisher keine Gedanken gemacht. Eine Etage tiefer war seine eigene Wohnung mit seinem eigenen Bett. Sergeij und Ivan hatten sich sicherlich im Wohnzimmer einquartiert. Doch die Art wie Boris ihn ansah, ließ ihn bei der Antwort zögern. »Ich meine; pennst du bei mir?«, wiederholte er seine Frage und zog seine Stirn in Falten. Yuriy haderte nur kurz. Wenn Boris ihn so fragte, gab es eigentlich nur eine Antwort für ihn. Vorher musste er jedoch eins geklärt haben. »Hast du eben die Zähne geputzt?« Die Frage ließ ihm mit den Augen rollen. »Sicher!« »Gut.« Sie machten sich nebeneinander für die Nachtruhe fertig. Yuriy holte sich aus dem Kleiderschrank von Boris ein Shirt zum Schlafen, um sich anschließend im Bad Gesicht und Zähne zu waschen. Derweil füllte Boris den Wassernapf und warf die dreckigen Klamotten in die Wäschetonne im Schlafzimmer, um sich nur in Shorts ins Bett zu schmeißen. Yuriy bemerkte einen leichten Duft von Minze, als Boris sich nicht einfach neben ihn legte, sondern halb auf ihn drauf und zufrieden seufzte. Das Gewicht auf seiner Brust war ihm so vertraut wie das Ziehen einer Reißleine, obwohl es schon eine Weile her war, dass sie so beieinanderlagen. Langsam fielen ihm die Augen zu und als um Mitternacht das neue Jahr eingeläutet wurde, schliefen beide tief und entspannt. Kapitel 5: 2007-01-01 --------------------- Das erste, was er bewusst wahrnahm, war das prasselnde Geräusch von Regen gegen die Fensterscheibe. Danach bemerkte er einen herben Duft und wurde sich Boris' Nähe mit einem tiefen Atemzug gewahr. Ihre Decke lag zerwühlt über sie verteilt und ein kühler Hauch strich über seinen Rücken, während sein Gesicht warm in der Halsbeuge seines Freundes vergraben lag. Auf ihm ruhte das Gewicht von Boris' Arm, wodurch es ihm erschwert wurde, die Decke zu richten. Brummend schob er sich dichter an den warmen Körper heran und spürte ein weiches Seufzen sein Ohr streifen. Es zog in Form eines Prickelns über Yuriys Nacken, seine Wirbelsäule hinab und ließ ihn die Stirn kräuseln. Nochmals wurde er sich dem Geruch und der Wärme um sich bewusst und schlug die Augen auf, als sein Körper auf unangebrachte Weise darauf reagierte. Einen Moment war ihm kalt, dann stieg in seinem Körper eine Hitze hoch, die ihm das Gefühl gab zu verglühen. Sein Mund war trocken, der Kiefer angespannt. Angestrengt zog er die Brauen zusammen in dem aberwitzigen Glauben, er könnte seinem Blutkreislauf irgendwelche Befehle geben. Mit der richtigen Atmung ließ sich eine Menge Kontrolle über den eigenen Körper herstellen, doch ohne die mentale Verfassung, war das Vorhaben zum Scheitern verurteilt – und die Präsenz, die von Boris auf ihn wirkte, machte es ihm unmöglich. Er brauchte Abstand, schob sich mühselig von ihm weg, bis der Arm auf der Matratze lag und er sich umdrehen konnte. Die Decke hatte er egoistischerweise mitgezogen. Fahrig strich er sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Es würde sich nicht einfach klären, wenn er hier liegen blieb, zumindest nicht so schnell. Die Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen war keine Option. Frustriert kaute er auf der Innenseite seiner Wange, gab sich Mühe, das Pulsieren in seinem Körper zu ignorieren. Eine kalte Dusche würde am schnellsten das gewünschte Resultat erzielen. Bevor er sich jedoch aufrichten konnte, um aus dem Bett zu steigen, schob sich Boris' Arm unter der Decke um seine Taille und zog ihn wieder eng an seinen Körper. Wärme strahlte gegen Yuriys Rücken durch den Stoff des Shirts und er spürte die tiefen Atemzüge von Boris im Nacken, die ihm bestätigten, dass sein Freund inzwischen wach war. Das machte seine Situation in nur einem Augenblick sehr viel komplizierter. Yuriy tastete sich an seinem Arm entlang zu seinem Handgelenk und umschloss dieses fest. Boris' Hand lag flach mit dem Halt eines Ankers auf seinem nackten Bauch. Unterhalb seines Bauchnabels bemerkte er ein Ziehen, das eine ganz andere Richtung vorgab als sein Kopf. Sein Griff glich einem Schraubstock, trotzdem rührten sich Boris' Finger und strichen fast beiläufig am Bund seiner Shorts entlang. Hinter seinem Trommelfell konnte Yuriy das Pochen seines Herzschlags fühlen und wie er aus seinem gewohnten Takt stolperte. Es behinderte ihn darin, Boris' Handlungen nachzuvollziehen und eine vernünftige Reaktion darauf zu geben. Er musste bloß den Arm von sich nehmen und konnte aufstehen. Boris wäre noch zu müde, um ihm nachzusehen. Unter der Dusche würde er seinen Kreislauf wieder in geregelte Bahnen bringen. Mit einem leisen Brummen drückte Boris sein Gesicht gegen Yuriys Nacken und ließ seine Haut prickeln. Yuriy schloss die Augen und er folgte dem Ziehen in seinem Bauch. Boris' Hand glitt mit seiner Führung unter den Stoff seiner Shorts. Obwohl er sich selbst oft genug angefasst hatte, stand sein Körper unter Spannung und ließ sein Herz ungewohnt rasen. Boris tastete mit den Fingern seinen Schenkel entlang, strich über die Innenseite, was die Hitze in seinen Lenden konzentrierte. Geradezu zärtlich glitt sein Daumen über Yuriys Länge, bevor er die Hand um den Schaft schloss. Mit viel Selbstbeherrschung blieb sein Atem zwar ruhig, doch beinhaltete ein verräterisches Zittern. Seine Finger schlossen sich verkrampft um das Kissen. Hinter ihm wölbte sich Boris' Körper gegen seinen und er bemerkte einen festen Schwellkörper in seinem Rücken. Kurz überkam ihn der Drang, sich ihm zuzuwenden, ihn anzuschauen, um vielleicht zu verstehen, was das bedeutete, aber der Gedanke wurde ihm mit Druck entrissen. Die Weise, mit der Boris sein Glied bearbeitete, hatte nichts mit der gemein, die er von sich gewohnt war. Mit schnellen Bewegungen konzentrierte er Spannung in seinen Lenden, doch bevor sie sich entladen konnte, hielt er inne, strich den hervorquellenden Tropfen mit dem Daumen von seiner Spitze oder glitt mit seinen Fingern tiefer über seine Hoden und beide Berührungen jagten wie ein Stromstoß durch Yuriys Körper. Die immer wieder ausbleibende Erlösung kratzte an seinem letzten bisschen klaren Verstand. Über seinen Hals kroch die Hitze hoch in seine Wangen. Es fühlte sich unerträglich an und wäre er ein anderer Mensch, würde er Boris bitten, dem ein Ende zu bereiten. Doch weil er nun einmal er war, hielt er es aus. Sein Atem wurde schwer, ohne dass er daran etwas ändern könnte. Die ekstatischen Schübe verdrängten alles und ließen Yuriy sich auf nichts außer Boris' Berührungen konzentrieren. In seinem Kopf hallte nur der Wunsch wider, endlich kommen zu wollen. Verbissen presste er die Lippen zusammen und spürte im nächsten Augenblick Zähne, die sich in seine Schulter gruben. Erschrocken keuchte er auf. Die Spannung in seinem Unterleib brach auf und rollte wie eine Naturgewalt über ihn hinweg. Dann wurde es windstill. Langsam schlug er die Augen auf und als seine Lunge sich mit Luft füllte, merkte er erst, dass er den Atem angehalten hatte. Seine Muskeln wurden schwer, doch sein Kopf wehrte sich dagegen, diesem trügerischen Frieden nachzugeben. Boris löste sich von ihm und ihm wurde kalt. Sein Hals war trocken. Ohne sich zu seinem Freund umzuwenden, schob er seinen Körper aus dem Bett. Er griff sich seine Sporthose vom Boden und verließ das Schlafzimmer. Lyca sprang von dem Sofa und lief in freudiger Erwartung auf die große Runde am Morgen um seine Beine herum. Das kam ihm gelegen. Was er brauchte, war frische Luft, um seine Gedanken zu sortieren. Wieder mit dem Parker von gestern und der Leine in der Hand verließ Yuriy zusammen mit Lyca das Haus und joggte mit ihr zum Park. Es hatte aufgehört zu regnen, auf den Straßen lagen die Reste von Feuerwerkskörpern und ihm stieg der Geruch von Schwarzpulver in die Nase. Die wenigen Menschen, die ihm begegneten, befanden sich noch auf ihrem Heimweg und schienen mehr tot als lebendig. Yuriy konzentrierte sich auf seine Atmung und hielt mit Lyca ein schnelles Schritttempo. Das Laufen machte seinen Kopf frei, sodass er seine Gedanken neu sortieren konnte. Er vermied es, das eben Geschehene Revue passieren zu lassen, trotzdem taten sich ihm Fragen auf, mit denen er sich beschäftigen musste. Sie hatten sich so oft ein Bett geteilt, aber zu einer vergleichbaren Situation war es bisher nie gekommen. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er bisher nie auf diese Weise auf Boris reagiert. Wie war es für Boris? Die Vorstellung, mit ihm darüber zu sprechen, fühlte sich bizarr an. Zumal er im Augenblick nicht einmal wusste, wie er es sich selbst erklären sollte. Nichtsdestotrotz musste er zurück, selbst wenn er nicht wusste, was ihn erwartete. Es lag nicht in seiner Natur, einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Der Lauf durch den Park gab ihm die nötige Zeit, um zu seiner gewohnten Verfassung zu finden, sodass er zurück vor Boris' Wohnungstür wieder einen ruhigen Verstand hatte. Er schloss auf, trat vor Lyca ein, sodass sie sich an ihm vorbei drängte, um in die Küche zu laufen. Er folgte ihr, da aus dem Raum verdächtige Geräusche kamen, die darauf schließen ließen, dass Boris sich dort aufhielt. Yuriy sah gerade noch, wie Boris seiner Hündin ein Stück Gurke reichte, bevor sie den Rückzug in ihr Körbchen antrat und die beiden alleine ließ. Sein Blick folgte ihr etwas länger und er musste sich zwingen, sich schließlich seinem Jugendfreund zuzuwenden. Boris lehnte gegen den Küchentresen und schob die Hände in die Taschen seiner Jogginghose. Wie er so dastand wirkte nichts auffällig an ihm und es löste die Spannung aus Yuriys Schultern. »Vanja und Seryoga warten mit dem Frühstück auf uns«, informierte Boris und da fielen Yuriy die Brötchen im Backofen auf. »Willst du noch duschen?« Der Schweiß lief ihm den Rücken runter und so nickte er nur, dankbar über den Vorschlag. »Ich beeil mich.« Er ging ins Bad und zog sich die Kleider aus. Unter dem warmen Wasserstrahl atmete er den Wasserdampf ein und schloss die Augen. Es war alles wie immer. Kapitel 6: 2007-03-11 --------------------- Die Fenster seiner Wohnung waren zum Westen hin ausgerichtet, sodass die weißen Wände jeden Tag von der untergehenden Sonne in leuchtendes Rot getaucht wurden. Inzwischen war der Abend so weit vorangeschritten, dass die spärlichen Sonnenstrahlen nicht mehr genügten, um die Zimmer auszuleuchten. Für gewöhnlich schaltete Yuriy die Stehlampe neben seinem Sofa ein, um in Ruhe sein Buch weiterzulesen. Dieses Mal war es ihm kaum bewusst, dass er im hinteren Teil seines Wohnzimmers bereits im Dunkeln saß. Seine Lider waren gesenkt und er blickte wie in Trance auf die Saiten seines Cellos. Die dunklen Töne vibrierten in seinem Brustkorb und zogen ihn in die Komposition von Dvořák hinein. Zwischen seinen Brauen bildete sich eine tiefe Falte der Unzufriedenheit darüber, dass ihm die Läufe nicht so schnell von der Hand gingen, wie er es von sich erwartete. Seit seinen Jahren in der Abtei spielte er. Wie beim Beybladen hatte er stets nach Perfektion gestrebt und war in der Zeit nach der Abtei bis er sich selbstständig ein Cello kaufte ruhelos gewesen. Zu Beginn waren Betreuer und Therapeuten seiner Obsession gegenüber skeptisch und befürchteten Rückfälle in alte Muster. Es fiel ihnen schwer zu begreifen, dass es aus dieser Zeit etwas geben sollte, dass es zu bewahren galt. Die Bedenken verstummten ihm gegenüber als sie ihn spielen sahen. Ein dumpfes Poltern führte dazu, dass er beim nächsten Lagenwechsel daneben griff. Yuriy blinzelte, bemerkte die Finsternis in seinem Zimmer, doch sah trotzdem davon ab, das Licht einzuschalten. Um aufzustehen, müsste er das Cello zur Seite legen. Nachdem er einmal tief durchgeatmet hatte, legte er den Bogen an die Saiten und überlegte, ob er von vorne beginnen sollte. Erneut hörte er ein Knarzen, schloss die Augen und spielte weiter. Seine Finger drückten krampfhaft auf die Saiten, während die Töne unsauber klangen. Missbilligend verzog er den Mund. Tief in sich wusste er, dass er Musik nicht erzwingen konnte, selbst wenn er diese Phrase sonst mit einem Augenverdrehen als romantisch abtat. Mit einem Schnauben blies Yuriy sich eine vorwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht und führte beharrlich den Bogen. Wenn er spielte, schaffte er es, seinen Kopf zu leeren. Während einer kurzen Pause drang eine weibliche Stimme mit verzückten Lauten an sein Bewusstsein und er rutschte mit dem Bogen ab. Zischend stieß er die Luft zwischen den Zähnen aus und fluchte innerlich über die dünnen Wände. Noch ein drittes Mal setzte Yuriy den Bogen an die Saiten, verharrte in dieser Position, ohne zu spielen, und wartete. Seine Wirbelsäule fühlte sich auf seinem Rücken an wie eine glühende Naht. Die Hitze konzentrierte sich in seinem Nacken und erschwerte es ihm, sich auf die Noten und Griffe zu konzentrieren. Es war Yuriy ein Rätsel. Sie lebten schon zwei Jahre in diesem Block und es war nicht das erste Mal, dass er Fetzen davon mitbekam, was Boris über ihm so trieb. Die Tatsache, dass er sich an kein konkretes Mal erinnern konnte, zeigte ihm, wie leicht es ihm bisher gefallen war, diese irrelevanten Dinge auszublenden, wenn er gerade ein Buch las oder am Cello spielte. Yuriy hob den Kopf zum Fenster und bemerkte dabei, wie steif sein Nacken inzwischen war. Seine Schultern waren vollkommen verspannt. Das Brennen in seinem Nacken verblasste, er senkte den Blick auf die Saiten und spielte. Die Klänge füllten seine Brust und betäubten das Ziehen in seinem Bauch. Kapitel 7: 2007-05-25 --------------------- Nachdem er den Vormittag dazu genutzt hatte, dem Staub in seiner Wohnung den Kampf anzusagen, ließ Yuriy den Nachmittag an seinem Schreibtisch mit Kaffee und T-Konten ausklingen. Die Spitze seines Stiftes schwebte dicht über den Zahlenwerten in der Gewinn- und Verlustrechnung. Gerade als er den Jahresüberschuss auf das Eigenkapital übertragen wollte, schrillte seine Türklingel und ließ ihn zusammenzucken. In seiner erstarrten Haltung fühlte er wie sein Herz kräftig pumpte und atmete konzentriert, um es wieder auf ein gemäßigtes Tempo zu reduzieren. Es kümmerte ihn wenig, wer vor der Tür stand. Allerdings wusste er auch, dass es nur Boris sein konnte und ihm zu öffnen widerstrebte ihm. Sein Herz hatte sich beruhigt, da ertönte die Klingel erneut und hörte nicht mehr auf. Erbarmungslos drückte Boris die Schelle durch und demonstrierte damit seinen unerschütterlichen Starrsinn. Für gewöhnlich war Yuriy damit nicht zu beeindrucken, aber die Klingel schrillte wirklich grässlich in seinen Ohren und sollte er das nur eine Minute länger ertragen müssen, rechnete er mit einem Tinnitus. Also erhob er sich von seinem Schreibtischstuhl, ging in den Flur und öffnete unter Widerwillen die Wohnungstür. Davor – wie bereits erwartet – Boris, der endlich den Finger von der Klingel nahm. »Hat ganz schön gedauert«, bemerkte der ungebetene Besuch mit gebleckten Zähnen und selbstsicherem Grinsen. Yuriys Augenbraue zuckte. »Was glaubst du wohl, woran das liegt?« Boris hob die Schultern und ließ sie dann entspannt fallen. Seine Lippen blieben zu einem Lächeln geformt. »Du warst sicher über irgendwelchem Unikram am Grübeln – und hast noch nichts gegessen, oder?« Statt einer Antwort blinzelte Yuriy ihm stumm entgegen. »War klar«, schloss sein Freund und schob sich an ihm vorbei in die Wohnung. »Ich auch nicht. Lass uns zusammen essen.« Wie zum Beweis dafür, dass er sich nicht bloß bei Yuriy durchschnorren wollte, hielt er demonstrativ drei Kartoffeln und eine Zwiebel hoch, während er zur Küche durchging. Yuriy sah ihm nach, die Augenbrauen tief zusammengezogen. Mit einem gedehnten Seufzen schloss er die Wohnungstür und massierte sich die Nasenwurzel, um möglichen Kopfschmerzen vorzubeugen. Er hatte es den Tag über wirklich vernachlässigt, etwas zu essen. Widerwillig folgte er Boris in die Küche und sah vom Türrahmen aus dabei zu, wie sein Freund Töpfe und Geschirr aus den Schränken zusammensammelte. »Schälst du die Kartoffeln?« »Wenn wir dann schneller fertig sind«, murrte Yuriy ihm entgegen und setzte sich mit Topf und Schäler an den Küchentisch. Er spürte Boris‘ Blick auf sich, doch ignorierte ihn und begann die Schale in langen Streifen von den Kartoffeln zu schälen. »Wie ich dich kenne, bist du noch bevor das Wochenende um ist mit dem Unikram durch, also stress dich nicht so.« Boris nahm die Packung Pfifferlinge aus dem Kühlschrank, die sie zuletzt auf dem Markt gekauft hatten und begann diese zu schneiden. In seiner Vermutung hatte sein Freund wohl Recht, aber es änderte für Yuriy nichts daran, dass er alsbald wieder seine Ruhe wollte. »Disziplin bedeutet, sich nicht auf Erfolgen auszuruhen.« Er ließ die letzte Kartoffel in das Wasser fallen und stand auf, um den Topf auf den Herd zu stellen. Seine Küche war nicht sonderlich groß und so stand er Schulter an Schulter mit Boris, während der das Messer still hielt und ihn anschaute. »Wenn du die Einstellung weiter fährst, landest du noch frühzeitig im Grab«, meinte er trocken. Yuriy hatte das Gefühl, eine bittere Note herauszuhören. Mit einem Schritt zurück lehnte er sich an den Fensterrahmen und behielt den Blick auf dem Topf, der langsam von unten erhitzt wurde. »Dann hätte ich in jedem Fall endlich Ruhe.« Als er den Blick hob, sah er direkt in Boris‘ Gesicht, wie er die Brauen tief zusammenzog, den Kiefer angespannt. In seinen Augen blitzte Zorn auf. »Dein scheiß Ernst?«, presste er hervor, darum bemüht, die Stimme ruhig zu halten, doch trotzdem lag ein Beben darin. »Welcher Film läuft denn aktuell bei dir, dass du meinst, lockere Sprüche übers Sterben zu reißen?« Yuriy verschränkte die Arme und betrachtete seinen Freund mit gerunzelter Stirn. Das Maß an Selbstbeherrschung beeindruckte ihn, doch er war nicht gewillt, eine Antwort auf die Frage zu formulieren. Damit gab er Boris Raum, sich in Rage zu reden. »Seit etwa drei Wochen benimmst du dich wie ein Vollarsch. Wir sehen uns kaum, weil du dich hier in deiner Festung verkriechst und wenn wir uns sehen, kommen nur blöde Sprüche. Das ist nicht mehr mit Unistress zu entschuldigen. Also, was ist dein scheiß Problem?« »Nichts. Ich brauche halt nicht ständig irgendwelche Leute um mich herum«, erwiderte Yuriy kühl. Boris schnaubte und verzog seine Lippen zu einem zynischen Lächeln. »Sicher, der starke Yuriy Alexandrovič Ivanov braucht nichts und niemanden! Der regelt alles ganz alleine.« Er strich sich durch das kurze aschblonde Haar und rollte die Augen zur Decke. »Dich müsste mal jemand richtig durchbürsten, damit du auf dein Leben klar kommst.« Als ihm das letzte Wort über die Lippen kam, hielt er kurz inne, bevor er Yuriy mit weit aufgerissenen Augen ansah. »Raus«, befahl Yuriy ihm schneidend. »Nein.« Er konnte nicht so schnell sprechen wie Yuriy ihn an der Schulter packte und zur Tür drängte. Ein Stuhl kam ins Straucheln, als Boris versuchte, danach zu greifen, doch er fand keinen Halt und wurde weiter bis zur Küchentür geschoben. Im Rahmen hielt er sich fest und stemmte seinen Körper gegen Yuriy. »Ich werde nicht gehen!«, beharrte sein Freund und blickte ihm stur entgegen. In einem Anschwung von Frustration zischte Yuriy ihn an, stemmte nochmal all seine Kraft gegen ihn, doch schaffte es nicht, Boris auch nur einen Zentimeter weiter zu bewegen. »Weißt du, nicht jeder ist so notorisch schwanzgesteuert wie du. Nicht alle Probleme lassen sich mit Sex lösen!« Kurz blinzelte Boris ihm entgegen, bevor er seine Augenbrauen wieder tief zusammenzog. »Probleme lösen sich aber auch nicht, wenn man sie in sich reinfrisst und seine schlechte Laune an anderen auslässt!«, schmetterte er ihm entgegen. »Oder willst du wirklich ganz allein sein? Dann mach weiter so!« Yuriy hielt inne. Tief in sich wusste er, dass diese Vorhersage keinen Wahrheitsgehalt hatte. Er könnte einen Mord begehen und Boris, Sergeij und Ivan stünden nach wie vor hinter ihm. Trotzdem spürte er ein Brodeln in seinem Bauch und den Drang danach zu widersprechen. »Nein, will ich nicht.« Der Druck auf Boris wurde schwächer und seine Schultern entspannten sich. »Was willst du dann?« Das war die Frage, der sich Yuriy seit drei Wochen – aber eigentlich schon länger – versuchte zu entziehen. Natürlich war es Boris, der ihm diese nun stellte, nachdem er sie gekonnt in sich selbst ignoriert hatte. Er wollte Ruhe. Ruhe von sich selbst. Sich nicht mehr von einem Prickeln im Nacken oder einem Ziehen im Bauch stören lassen. Seine Gedanken sollten geordnet auf ein Ziel gerichtet sein und nicht diffus zu Momenten abschweifen, die er nicht verstand – weil er sich nicht mit ihnen beschäftigen wollte. Und immer, wenn Yuriy die Ruhe verlor, war da Boris. Und das war tröstend wie beunruhigend zugleich. Er ließ von seinem Freund ab und verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Blick war gesenkt und die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst. Das Brodeln in seinem Bauch war zu einem Klumpen verkommen, der sich tief in die Magengrube setzte. Schließlich sah er auf. »Dich.« Boris sah ihn an ohne den Ärger, der sich eben noch auf seiner Stirn abgezeichnet hatte. Seine Brust hob sich mit einem tiefen Atemzug. Dann ließ er die Schultern sinken. »Ich bin doch hier.« Yuriy war sich nicht sicher, was er erwartet hatte. Seine Schultern entspannten sich und der Klumpen in seinem Magen brach auf und ließ Hitze in ihm hochjagen, die seinen Hals bis zu den Ohren hinauf kroch. Boris hob eine Braue und in seinen Mundwinkeln zuckte ein Grinsen. Es ließ Yuriy mit den Augen rollen, bevor er sich von seinem Freund abwandte und zurück an den Herd ging. Inzwischen stiegen kleine Blasen aus dem kochenden Wasser auf und Boris schnitt die letzten Pfifferlinge, bevor er sie zusammen mit den kleingeschnittenen Zwiebeln in einer Pfanne anbriet. In Yuriy kehrte Ruhe ein. Kapitel 8: 2009-10-13 --------------------- Yuriy lief die Treppen zum zweiten Stock hinauf, dicht gefolgt von Lycas tapsigen Schritten. Vor der Wohnungstür von ihrem Partner wartete sie geduldig darauf, dass Yuriy die Schlüssel aus seiner Jackentasche hervorholte und aufschloss. Sie traten in die Wohnung ein. Yuriy voran, Lyca gleich an seinen Beinen vorbei. Ihr Weg führte sie als erstes zum Sofa, während Yuriy die Küche aufsuchte und den Wassernapf frisch auffüllte. Erst dann folgte er der Hündin, die neben dem Sofa saß, auf dem Boris lag. Sein Gesicht war zur Lehne gedreht, ein Arm irgendwie um seinen Kopf geschlungen, der andere zu Lyca ausgestreckt, um eins ihrer Ohren liebevoll zu kneten. Als er damit fertig war, verschwand sie zur Küche, um nach dem langen Spaziergang anständig zu hydrieren. Yuriy war positiv überrascht, dass Boris es vom Bett bis zum Sofa geschafft hatte, auch wenn er dort weiter herumlag und auf den ersten Blick nichts Sinnvolles zustande brachte. »Willst du nicht mal duschen gehen?«, schlug er vor, um Boris überhaupt zu irgendetwas zu bewegen. Er war seit Anfang der Woche krankgeschrieben und morgen würde er zum Arzt müssen, um seinem Chef ein Attest vorzuweisen. Problem bei der Sache war, das Boris überhaupt nicht krank war. Zumindest nach Yuriys Einschätzung und selbst wenn er kein Arzt war, vermutete er, dass der ihm recht geben würde. Boris brummte ihm nur unverständlich entgegen, was er von dem Vorschlag hielt und schob sich noch ein Stück weiter an die Rückenlehne des Sofas heran, dass Yuriy glaubte, er wolle mit dieser verschmelzen. Mit einem gedehnten Atemzug ließ er die Schultern sinken. »Gut, dann komme ich später wieder und mache mit Lyca die Abendrunde«, informierte er und wartete auf eine Reaktion. Es dauerte, bis eine Regung durch Boris ging und er sich aus seiner Sofaritze heraus drehte, um Yuriy über die Schulter hinweg anzusehen. Sein Arm verbarg immer noch Teile seines Gesichts, trotzdem erkannte Yuriy tiefe Augenringe und gerötete Augen. Obwohl er schwer aus dem Bett kam, schlief er nicht erholt. »Du siehst scheiße aus«, stellte Yuriy fest. Boris‘ Mundwinkel zuckten müde. Mehr holte es nicht aus ihm raus. In der ganzen Zeit, die sie sich schon kannten, war es nicht das erste Mal, dass Yuriy miterlebte, wie Boris eine Trennung verarbeitete. Unausgeglichen wie er nun einmal war, bedeutete das stets große Gefühlsausbrüche, die sich nicht selten mit Wut vermengten. Aber diesmal fürchtete Yuriy, dass es anders war. Das letzte Mal hatte er Boris auf eine ähnliche Weise apathisch erlebt, als sie noch in der Abtei waren. Damals war der Grund jahrelange Manipulation und Drogen – kein gebrochenes Herz. Yuriy konnte auf keine Erfahrungswerte zurückgreifen, die ihm in dieser Situation halfen, mit seinem Freund umzugehen. Mit einem Schnauben machte er seinem Unmut Luft. »Hast du schon gegessen?« Boris wich seinem Blick aus. Also nein. »Du musst essen«, meinte er. »Keinen Hunger«, murmelte Boris gegen seinen Arm, dass Yuriy es fast nicht verstanden hatte. Lyca kehrte aus der Küche zurück, lief an Yuriy vorbei ans Sofa heran und sah ihren Partner abwartend an. Mit einem Klopfen auf die Polster gab Boris ihr die Erlaubnis und sie sprang aufs Sofa. Es war Yuriy ein Rätsel, wie dieser nicht gerade kleine Akita-Inu-Husky-Mix mit Boris zusammen auf die Sitzfläche passen wollte, aber sie schaffte es, sich zwischen ihn und die Rückenlehne zu quetschen und halb auf seiner Brust zu liegen. Boris legte eine Hand auf ihren Kopf und kraulte ihre Ohren. Diesmal bekam er sogar ein Lächeln zustande. Dünne Fältchen bildeten sich zwischen Yuriys Augenbrauen, bevor er sich schlussendlich dagegen entschied zu gehen und sich neben Boris auf das Sofa fallen ließ. Er hatte für den Tag ohnehin keine Pläne. Lyca spitze die Ohren und Boris warf ihm einen irritierten Blick zu. »Was ist denn jetzt?« Darauf konnte Yuriy ihm keine Antwort geben, da sein Plan bisher nicht weiter reichte, weshalb er mit den Schultern zuckte. »Wir bestellen, sobald du Hunger hast«, entschied er spontan. Boris starrte ihn an, ohne etwas zu sagen, bis er von Lyca abgelenkt wurde, die mit ihrer Pfote auf seine Brust klopfte. Sie reckte ihm die Schnauze entgegen und er nahm sie in beide Hände, knetete ihr dickes Fell und kraulte ihren Hals, sodass ihr Schwanz beständig gegen das Sofa klopfte. »Mein Mädchen«, murmelte er. Ohne davon abzulassen sie zu kraulen, legte er den Kopf in den Nacken und schaute Yuriy an. Dass Boris nichts sagte und bloß schaute, ließ ihn die Stirn runzeln. »Du benimmst dich sonderbar.« »Du auch.« Dem konnte er nicht widersprechen. Für ihn fühlte sich das alles an, als liefe er über dünnes Eis – aber er würde nicht einbrechen. Er legte die Hand an Boris‘ Schulter und zwang ihn mit Nachdruck dazu, ein Stück Platz zu machen, sodass sich Yuriy bis zur Rückenlehne heranschieben konnte und Boris den Kopf an ihn lehnen musste. Langsam kam das Mienenspiel seines Freundes zurück und mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte er ihn von unten. »Was wird denn das?« »Es ist bequemer und du bekommst keinen steifen Nacken«, erklärte Yuriy sachlich. »Hast du Lack gesoffen?« Yuriy spürte in sich das Bedürfnis aufkommen, Boris mit einem Kissen zu ersticken, rang dieses aber mit viel Selbstbeherrschung nieder und atmete tief durch. Es wäre besser gewesen, wäre er einfach gegangen und zur Abendrunde mit Lyca wiedergekommen. »Nein.« Ohne weiter darauf einzugehen, angelte Boris nach der Fernbedienung, zappte unmotiviert durch die Kanäle, bevor er irgendetwas, das sie beide nicht interessierte, laufen ließ. Die Beschallung half über die Grabesstille hinweg, die wieder zwischen ihnen einkehrte. Zwischenzeitlich forderte Lyca etwas Aufmerksamkeit für sich ein, doch sonst blieb es ein ruhiger Nachmittag. Ein Gemisch aus Langeweile und Ratlosigkeit verleitete Yuriy dazu, mit seinen Fingern durch Boris‘ kurzes struppiges Haar zu streichen, während sein Blick glasig auf den Fernseher gerichtet war. Er blinzelte, als Boris ihn in seinem Tun unterbrach und ihre Finger ineinander verschränkte. Boris sah ihn nicht an, sondern weiter zum Fernseher. Reglos lagen ihre beiden Hände ineinander verwoben auf seiner Brust. »Dich und Lyca. Mehr brauche ich nicht.« Seine Worte hinterließen in Yuriys Magen ein nervöses Kribbeln. Sein Blick ruhte auf seinem Freund, auf ihren Händen und er presste die Lippen zusammen, um nicht zu sagen, was er dachte: Das stimmt nicht. So wichtig sie füreinander waren und so sehr sie einander brauchten, wusste Yuriy zu genau, dass er für Boris nicht das sein konnte, was Tatjana war. Weil Yuriy nicht so war. Weil Boris nicht so war. Er hob die freie Hand und begann wieder damit, durch sein Haar zu streichen. »Sehen wir mal, was die Zukunft bringt.« Kapitel 9: 2012-08-13 --------------------- Ein inbrünstiger Fluch ging durchs Treppenhaus und Yuriy erwartete schon, dass sich die Wohnungstür bei dem einen oder anderen Nachbarn öffnete, um nach dem Urheber und dem Auslöser Ausschau zu halten. Zu seinem Glück blieben sie von Schaulustigen verschont und er warf Boris einen warnenden Blick zu. »Stell dich nicht so an.« Boris quittierte die Zurechtweisung mit einem Knurren und packte den massiven Holzschrank fester, nachdem er ihm vor wenigen Sekunden fast aus den Fingern geglitten war. Yuriy dankte stumm für die guten Reflexe seines Freundes, da er nicht schon beim Transport unschöne Macken im Holz haben wollte. »Mach mal schneller, damit wir das Ding abstellen können«, forderte Boris und ging einen Schritt vor. Yuriy setzte entsprechend einen Schritt zurück auf die nächste Stufe. Damit hatten sie noch acht Stufen vor sich, bis sie im ersten Stock waren. Die nächsten Flüche zischte Boris etwas leiser vor sich hin, während sie den hohen Schrank zu Yuriys Wohnungstür schleppten und dort das erste Mal abstellten, damit er aufschließen konnte. »Ein Kleinerer wäre nicht gegangen?«, fragte Boris nochmals nach. »Oder so ein Standardding aus der Zoohandlung? Die sind doch dafür gemacht, dachte ich.« »Nicht für eine artgerechte Haltung«, erklärte Yuriy, öffnete die Wohnungstür und ging bis zum Wohnzimmer durch, um auch dort die Tür aufzustoßen. Als er zurückkam und nach dem Kopfende des Schrankes griff, wartete er, dass Boris sich in Bewegung setzte. Mit einem ergebenen Seufzen griff er nach der unteren Seite. »Wieso holst du dir nicht einfach einen Hund? Oder Katzen.« Yuriy antwortete nicht und sie hoben den Schrank gemeinsam an, um ihn bis ins Wohnzimmer zu tragen. Dort setzte Boris erneut ab und sie schoben das Möbelstück in die Nische neben dem Schreibtisch, in die der Schrank passgenau reinpasste. Das hatte Yuriy vorab akribisch ausgemessen. Boris neigte den Kopf und musterte den Schrank, während er sich über das kurz geschorene Haar im Nacken strich. »Und das ist artgerecht?«, erkundigte er sich vorsichtig. Seine Stirn lag in Falten. Da sie ihr Tagessoll erfüllt hatten, atmete Yuriy auf. »Es muss noch ein wenig was getan werden«, meinte er und nahm einige Notizblätter von seinem Schreibtisch, um sie Boris zu zeigen. Der war nun offenkundig neugierig und sah ihm über die Schulter. Die Glasscheiben mussten herausgenommen werden. Statt ihrer sollte ein Gitter aus Draht befestigt werden und innerhalb des Schranks einige Platten und Rampen eingebaut. »Sieht spannend aus«, bemerkte Boris, nahm ihm die Notizzettel ab und ging damit zum Sofa. Blinzelnd sah Yuriy ihm nach. Zwar war Boris leicht für Dinge zu begeistern und er hatte eine Affinität für handwerkliche Beschäftigungen, aber nachdem er gegenüber Yuriys Vorhaben, Ratten zu adoptieren, nur Skepsis geäußert hatte, war er nicht davon ausgegangen, damit sein Interesse zu wecken. Boris sah ihn über seine Schulter hinweg an. »Wie ich dich kenne, hast du alles schon vermessen, oder?« »Natürlich.« Er griff sich die Materialliste von seinem Schreibtisch und reichte sie ihm über das Sofa. Selbst stützte er sich auf die Rückenlehne und sah ihm über die Schulter. »Willst du dich daran beteiligen?« Es war eine rhetorische Frage, denn so wie Boris sich die Liste und Skizzen ansah, würde er es ihm wohl verbieten müssen. »Ist es wichtig, aus welchem Holz die Etagen sind?« Die Frage hatte ihren Ursprung wohl darin, dass Yuriy seine Materialliste sehr spezifisch führte. »Ich wollte es einheitlich mit dem Schrank haben.« Boris sah mit einer hochgezogenen Augenbraue zu ihm auf, dann nickte er langsam und widmete sich wieder den Notizen. Yuriy verstand nicht ganz, was ihn so daran beschäftigte. Allerdings hatte er selbst sie zusammengestellt und mehrere Stunden mit den Skizzen zugebracht, in denen er verschiedene Entwürfe ausgearbeitet hatte. Inzwischen hatte er eine genaue Vorstellung davon, wie das Rattengehege aufgebaut sein sollte. Während er Boris ganz in Ruhe dabei zusah, wie er einzelne Puzzlestücke im Kopf zusammensetzte, überlegte er, ob er nach der Schlepperei duschen gehen sollte. In seinem Nacken fühlte er ein Kribbeln, das er mit der Anstrengung zuvor in Verbindung brachte. Als dazu das Bedürfnis in ihm aufkeimte, Boris' Aufmerksamkeit zu gewinnen, musste er sich eingestehen, dass es einen anderen Ursprung hatte. Wie beiläufig strich er mit den Fingern über Boris‘ Hals bis zu seinem Ohr, als der erneut den Kopf zu ihm umwandte. Die Brauen hochgezogen sah er ihn aus großen Augen an, während Yuriy nur leicht den Kopf neigte. Seine Mundwinkel zuckten. Kurz haderte Boris, schien die Sache logistisch anzugehen, bevor er schlussendlich vom Sofa aufstand. Yuriy richtete sich auf und ging einen Schritt voraus. Trotz einer Gewissheit, die aus der Routine über die Jahre bei ihm eingegangen war, fühlte er, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten, als Boris kurz nach ihm das Schlafzimmer betrat, eigentlich noch im Türrahmen stand, und ihn ansah – wartend und hungrig. Yuriy griff sein Handgelenk und zog ihn zu sich heran. Die Leichtigkeit, mit der Boris ihn anhob, strafte sein Fluchen über den Schrank lügen, aber darüber wollte er nicht diskutieren. Ihre Lippen trafen ungestüm aufeinander und Yuriy fühlte ein Glühen, das sich in ihm ausbreitete. Wirsch strich er durch das kurze aschblonde Haar und als sie auf dem Bett saßen, zerrte er ohne Umschweife das Oberteil von Boris hoch. Nach dem letzten Streit über gerissene Hemdknöpfe zeigte sein Freund ehrliches Bemühen, die Knöpfe mit Bedacht zu öffnen, auch wenn seine Finger dabei bebten. Yuriy kam ihm vom oberen Ende der Knopfleiste entgegen und ließ beide Kleidungsstücke unbeachtet neben das Bett fallen. Die Hitze, die Boris ausstrahlte, ging auf ihn über und zog ihn an. Er kannte diesen Körper auf eine Weise, die ihm das Gefühl gab, nicht fremd zu sein. Das Geräusch der aufspringenden Gürtelschnalle ließ die mintgrünen Augen aufblitzen. Sie lösten den Kuss, Yuriys Hand vergrub sich in seinem Nacken und er spürte heißen Atem auf der Haut, der als Prickeln seine Wirbelsäule hinunterlief. Es überraschte ihn längst nicht mehr, wie schnell Boris zwischen seinen Fingern hart wurde und er genoss das Zittern in seiner Stimme, das ihn wehrlos machte. Fest griff er in den Stoff von Yuriys Hose und sie kamen überein, dass zu viel Kleidung im Spiel war. Mit wenigen geübten Griffen war Yuriy aus seiner Hose, streckte sich über die gesamte Länge des Bettes und griff zum Beistelltisch. Nachdem Boris seine Jeans von den Beinen gestrampelt hatte, spürte Yuriy sein Gewicht auf sich und sein Grinsen im Nacken. Hungrig biss er ihn in die Schulter und jagte ihm Schauer über den Rücken. Als Boris sich auf seine Arme stützte, konnte Yuriy sich unter ihm drehen. Großzügig gab er Gleitgel auf seinen Plug, während sein Freund sich die Kondome nahm. Die Tube blieb neben ihnen auf dem Laken griffbereit. In einer fließenden Bewegung lag Boris auf dem Rücken. Seine Hand schwebte über der hellen Haut, bis Yuriy sie führte. Sie war rau und warm auf seiner Haut und kam auf seiner Hüfte zum Liegen. Boris reckte sich zu ihm und raunte in sein Ohr, bevor er sacht hineinbiss. Mit gekräuselten Lippen kam er der stummen Aufforderung nach, gab ihm den Plug und presste hungrig die Lippen auf seine. Yuriys Hand lag auf seiner Brust, die unter kräftigen Herzschlägen bebte. Der Kuss schmeckte salzig und er versuchte sich auf die vorwitzige Perle zu konzentrieren, die auf Boris‘ Zunge lag, doch half es nicht, ihn abzulenken. Druck baute sich in seinem Unterleib auf und ließ ihn aufkeuchen. Boris bewegte den Plug mit bedacht und er wusste, dass er jede Regung seines Körpers in sich aufsog. Der Fremdkörper trieb die Hitze in seine Lenden und mit einem Knurren biss er Boris auf die Unterlippe. Verheißungsvoll strichen seine Finger über seine Länge, bevor sie sich fest um den Schaft schlossen. Es ließ Boris den Atem stocken und in der Bewegung innehalten. Fasziniert beobachtete Yuriy, wie sich die Bauchmuskeln seines Freundes anspannten als er begann sein Glied mit Druck zu bearbeiten. Heißer Atem streifte sein Ohr und in einem Zittern verlor sich ein Murren. Boris vergrub das Gesicht an seinem Hals, fand darin Halt und führte die Bewegungen mit dem Plug fort, die sich im Gleichklang zu Yuriys Hand befanden. Das leichte Ziehen wich einem warmen Puls, der sich von seiner Mitte aus über den ganzen Körper ausbreitete. »Yura«, raunte Boris gegen seinen Hals und hinterließ ein Kribbeln in seinem Nacken, das sich über die gesamte Kopfhaut zog. Er ließ ihn noch nicht los, obwohl er selbst merkte, wie sein Glied bei jeder Drehung des Plugs zuckte. Nur einen Augenblick länger wollte er diese Zerreißprobe spüren und nicht nachgeben. Seine Finger glitten tiefer und massierten seinen Damm, dass Boris die Luft zwischen den Zähnen ausstieß. Sein Körper bäumte sich auf und seine Hand löste sich von Yuriy. Boris griff über ihn hinweg zum Gleitgel, während er selbst den Plug unachtsam vom Bett fallen ließ. Über seine Wirbelsäule zog sich ein brennender Faden, der zerfaserte, als Boris seinen Körper an ihn presste. Mit einem geschickten Griff positionierte er sein Glied, doch harrte aus, bis Yuriys Hand an seiner Hüfte zupackte. Energisch drang er in ihn vor. Der Druck überrollte Yuriy und ließ ihn nach Luft schnappen. Flackernd fielen ihm die Augen zu, während die gleichmäßigen Bewegungen von Boris immer neue Wellen der Erregung über seinen Köper hinweg spülten. Sein wilder Herzschlag pochte gegen sein Ohr, nur heiseres Stöhnen drang an das Trommelfell und kitzelte über seinen Hals. Seine Hand lag fest auf Yuriys Brust und hielt das Beben in seinem Körper fest. Die Spannung in seinem Körper konzentrierte sich in seinen Lenden und Yuriy führte Boris dorthin, wo er ihn im Moment dringendst brauchte. Er erstickte sein Stöhnen im Kissen, als Boris sein Glied pumpte und die Stöße heftiger wurden. Rauschen ging durch seinen Kopf. Gedanken, die ihm kamen, zerfaserten im gleichen Augenblick, ohne das Yuriy sie zu fassen bekam. Jeder Muskel seines Körpers spannte und glühte. Ein Lächeln zog an seinen Mundwinkeln. Boris stieß ein letztes Mal kraftvoll in ihn und Yuriy spürte das verräterische Zucken. »Fuck«, grollte sein Freund gegen seine Schulter und vergrub sein Gesicht. Er rührte sich nicht, behielt Yuriy für sich eingenommen und massierte weiter sein Glied, um auch ihn alsbald von der Spannung zu erlösen. Hitze ballte sich in seinem Bauch und als Boris die Zähne in seine Schulter grub, platze in ihm ein Knoten auf. Stöhnend kam er in das Kondom, zitterte ob der Erregung, die über ihn hinweg rauschte, und sank erschöpft in die Laken zusammen. Durch seinen Kopf fegte eine wohltuende Leere. Boris‘ Lippen ruhten auf der geschundenen Stelle und er zog sich sacht aus ihm zurück, um sich anschließend wie eine warme Decke um Yuriy zu schlingen. Äußerst zufrieden brummte er leise. Als seine Atmung flacher wurde, stieß Yuriy mit dem Ellbogen gegen seine Brust. »Nicht einschlafen.« »Tu ich nicht«, murmelte Boris nicht sonderlich glaubhaft. Yuriy wandte sich unter ihm herum, dass er seinen Freund anschauen konnte. Seine Augen waren geschlossen und das Gesicht vollkommen entspannt. Er merkte wie sein eigener Köper langsam herunterkühlte, aber nicht fror, weil Boris weiterhin Wärme ausstrahlte und ihn damit fest umschloss. Nachdenklich zupfte er ihm ein paar Strähne aus der glänzenden Stirn und überlegte, wie lange sie so bleiben wollten. »Fahren wir noch zum Baumarkt?«, fragte er leise, während sich ihre Nasen beinahe berührten. Boris runzelte die Stirn. »Heute?« »Oder Morgen. Ganz früh«, bot er ihm als Alternative an. Die zusammengezogenen Augenbrauen zeigten die fehlende Begeisterung, dann atmete er tief ein und löste sich von Yuriy, um sich zu strecken. »Ich muss eh noch mit Lyca raus, also lass uns das heute machen.« Yuriy beobachtete, wie sich die Muskeln unter Boris‘ Haut anspannten, und schnalzte mit der Zunge. »Ich begleite euch«, entschied er und schob sich aus dem Bett. Er strich sich sein wirres Haar aus der Stirn und kam zu dem Schluss, dass es nun wirklich Zeit für ihn war, zu duschen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)