Blut und Gold von Mitternachtsblick ================================================================================ Kapitel 6: TEIL I - KAPITEL VI: Kai ----------------------------------- Der Maler ließ Kai keine Ruhe. Er konnte nicht einmal genau sagen, woran es lag. Da war etwas an dem Mann, in seinen Augen, das ihn wie ein Blitz durchfahren hatte, als er ihn das erste Mal aus den Ästen des Baums heraus auf der Palastterrasse beobachtet hatte. Es machte ihn wahnsinnig. Die blauen Augen verfolgten ihn bis in seine Träume. Er war sich stillschweigend bewusst, dass es nicht nur daran lag, dass er nach wie vor das starke Gefühl hatte, dass der Maler kein Wandermönch war - dass das Malen und das angelegte Mönchsgewand nur Masken waren, hinter denen sich ein Wolf verbarg, dessen Motive noch unklar waren. Kai hatte sich zu früheren Zeiten schon zu Männern hingezogen gefühlt, die eine gewisse Stärke demonstriert hatten. Hier jedoch, fern von der Heimat, zu der ihm eine Rückkehr für immer verwehrt war, und mit einem Leben, das nicht seines war und das er schützen musste, durfte er sich eine solche Faszination eigentlich nicht leisten. Und doch. Und doch. Er schreckte aus seinen Grübeleien auf, als eine Stimme neben ihm mit freundlichem Amüsement sagte: „Du bist heute sehr geistesabwesend, Kai.“ Da war ein Funkeln in Maxims Augen, das Kai das Gesicht zu einem gequälten Lächeln verziehen ließ. Sie waren keine Freunde und konnten es auch nie sein, denn Maxim war der Patriarch von Konstantinopel und Kai war ein ungetaufter Heide, der nicht einsah, wieso er sich auch nur zum Schein zu einem Gott bekennen musste, an den er nicht glaubte. Der ganze Pomp, die aufgebauschten Gottesdienste und das ständige Gebete zu einem einzigen Gott, der beanspruchte, alles zu sein und dennoch einen Sohn hatte oder auch nicht irritierten ihn eher, als dass er irgendeine Spiritualität darin fand. Es war fast schade, denn Kai hätte Maxim unter anderen Umständen sicherlich gemocht und tat sich auch jetzt sehr schwer damit, sich von ihm zu distanzieren. Das mochte an der Art des Geistlichen liegen, die ihm gegenüber weiterhin freundlich und nur selten bevormundend war. Außerdem war Maxim ein kluger Kopf, der seine scharfe Auffassungsgabe gerne hinter seinem Lächeln verbarg. Er war sicher nicht umsonst bereits in so jungen Jahren zum Patriarchen von Konstantinopel gemacht worden, und Kai wollte eigentlich gar nicht so genau wissen, was er aufgeführt hatte, um sich diese Position zu sichern. „Meine Geistesabwesenheit wird nicht wieder vorkommen.“ Er bemühte sich, eine etwas aufrechtere Haltung anzunehmen. Die Tür, an deren Rahmen er lehnte, war fest verschlossen. Dahinter befand sich der Saal des Großen Palasts, in dem Takaos gerade eine Besprechung mit dem Kanikleios Manabos, der gleichzeitig den Posten des Mesazon innehatte, und dem Megas Logothetes Rei, der Takaos in wichtigen diplomatischen Außengelegenheiten beriet, genau wie einigen anderen wichtigen Hofbeamten, mit denen Takaos seine Strategie bezüglich der Bulgaren plante. Kai war der Zutritt zu dieser Besprechung verwehrt, aber das hielt ihn nicht davon ab, seine Runden um den Saal zu ziehen und zu beobachten, nur für den Fall. Es war ein wenig überraschend, den Patriarchen hier zu sehen, aber dann wiederum auch wieder nicht allzu ungewöhnlich. Maxim lächelte. Er musterte ihn einen Moment, schien zu einer Bemerkung anzusetzen und es sich dann mit einem Kopfschütteln anders zu überlegen. „Es ist gut, wenn du auf den Basileus achtest“, sagte er stattdessen nur milde. Kai erwiderte nichts. Stattdessen deutete er nur eine stumme Verbeugung an und sah dem Patriarchen nach, als er nur über Kais mangelnde Reaktion zwischen den Wachen durch die Tür des Besprechungssaals glitt. Zu warten war eine undankbare Aufgabe; Kai kam dem unruhigen Gefühl in seinen Gliedern bei, indem er sich in Bewegung setzte und erneut durch die unmittelbar herumliegenden Gänge, öffentliche wie geheime, glitt und nach potentiellen Gefahren Ausschau hielt. Mittlerweile traute er sich zu, dass er den Großen Palast wie auch den Blachernen-Palast so gut kannte wie kaum ein anderer. Er hatte sich intim mit den Gebäuden vertraut gemacht, in denen der Kaiser sich am meisten aufhielt, um über alle möglichen Ein- und Ausgänge Bescheid zu wissen. Das hatte Takaos beim letzten Attentat das Leben gerettet. Heute schien er Glück zu haben. Gerade, als er seine ausführliche Runde beendet hatte und wieder zum Haupteingang des Saals gekommen war, öffneten sich die Türen desselben und entließen Takaos‘ Berater. Manabos nickte Kai zerstreut zu. Er war ein eher dünner, kleiner Mann mit braunem Haar und Brillen, die dick genug waren, um seine Augen komisch zu verkleinern, aber er trug das kaiserliche Tintenfass in Form eines Hundes, mit dessen purpurner Tinte der Kaiser die Erlasse zu unterzeichnen pflegte, mit allerhöchster Vorsicht. Er war ein intelligenter, besonnener Kopf, der Takaos bereits öfter gute Ratschläge erteilt hatte. Dass er zwei der wichtigsten Ämter neben Kaiser und Patriarch zugleich besetzte war in Kais Augen kein schlechter Schachzug. Er wusste, dass Hyromia sich sehr für ihn eingesetzt hatte und es bewies ihr gutes Gespür für andere Leute. Wenn es jemanden in Takaos‘ unmittelbarem Umfeld gab, den Kai für mehr oder weniger ungefährlich hielt, dann war es Manabos. Er blickte ihm prüfend nach, als der Mesazon davoneilte, ohne nach links und rechts zu sehen - vermutlich schnurstracks in die großzügige Bibliothek von Konstantinopel. Hinter ihm kam Rei aus dem Saal, mit dem Kai wesentlich kompliziertere Gefühle verband und dem er nur so weit vertraute, wie er ihn werfen konnte. Dabei hätte man annehmen können, dass monatelange gemeinsame Gefangenschaft unter den Mongolen eine gewisse Sympathie hatte aufkommen lassen. Und das war in der Tat ja auch der Fall: Kai konnte Rei gut leiden und war auch maßgeblich daran beteiligt gewesen, dass dieser seine ebenfalls verschleppte Frau Mao unter den widrigsten Umständen und dem Segen der Götter in einem der mongolischen Lager wiedergefunden hatte, die die von Takaos geführten nicänischen Truppen erobert hatten. Zu diesem Zeitpunkt waren sie beide bereits dem späteren Kaiser von Byzanz begegnet - und wo Kai für seine Befreiung nur eine Lebensschuld anbieten konnte, hatte Rei mit Informationen über die Goldene Horde und die chinesischen Machthaber über sein Leben verhandelt. Er war ein kluger Kopf, der rasch zu kommunizieren gelernt hatte und ein Gespür für fernöstliche Taktiken besaß. Seine Kenntnisse über Guerilla-Attacken waren nicht unwesentlich für die Rückeroberung von Konstantinopel gewesen und es hatte auch Sinn gemacht, dass Takaos ihn zum Megas Logothetes gemacht hatte, denn Rei verstand sich auch auf die Kunst der Diplomatie. Es gab keinen Grund, warum er Takaos Übles wollen sollte: der Kaiser ermöglichte ihm und Mao ein bequemes, einflussreiches Leben in Konstantinopel auf einem Lebensstandard, den Rei in China wohl niemals erlangt hätte, und unter der Goldenen Horde schon gar nicht. Trotzdem konnte Kai nicht anders, als ein gewisses, latentes Misstrauen gegenüber seinen Zielen zu hegen. Er hatte sehr wohl mitbekommen, dass Rei für Zurückschlagung statt Bündnis plädierte, was die Bulgaren anging. Rei lächelte ihn an und blieb vor ihm stehen, die Arme voller Papier. Er trug ähnliche Kleidung wie Kai im Alltag, die eine Mischung aus byzantinischer und fernöstlicher Mode darstellte: eine weiße Tunika aus byzantinischer Seide, aufwändig mit Gold bestickt und dementsprechend wesentlich teurer als Kais Kleidung, zusammen mit einer weißen, Hakama-ähnlichen Hose, die ebenfalls aus byzantinischer Seide bestand. Das Fremdartigste an ihm waren neben den Gesichtszügen wohl die meterlangen, schwarzen Haare, die er stets zu einem festen Zopf zusammengebunden trug. „Ich denke, du kannst bereits hinein“, sagte er in dem seltsamen Gemisch aus Chinesisch und Japanisch, das sie sich während der Gefangenschaft angeeignet hatten. Dann besah er sich Kai genauer. „Ist alles in Ordnung?“ „Natürlich“, sagte Kai ein wenig verdutzt. Rei betrachtete ihn forschend. „Man hat mir gesagt, dass du dich auf einen gewissen Maler eingeschossen hast.“ Kai öffnete den Mund zu der Bemerkung, dass Takaos sich viele Dinge einbilden konnte, wenn der Tag lang war und dennoch gerne die Gefahr übersah. Dann überlegte er es sich anders. „Ich bin nur vorsichtig.“ „Natürlich“, sagte Rei mit einem feinen Lächeln. „Du kannst gerne auch einmal ganz vorsichtig zum Essen in mein Heim kommen. Ich denke, Mao würde sich freuen.“ „Ich überlege es mir“, sagte Kai kurz und stieß sich von der Wand ab, um an ihm vorbei in den Saal zu gleiten. Tatsächlich hatte sich die Sitzung bereits aufgelöst. Neben Takaos selbst war nur noch Maxim im Raum, der eindringlich auf ihn einredete und erst stoppte, als er Kai sah. Takaos hob den Kopf von den Papieren, die er intensiv angestarrt hatte und lächelte bei Kais Anblick. Er gab den Dienstboten ein Zeichen, dass sie die Papiere zusammenräumen und in den Blachernen-Palast zur weiteren Inspektion bringen sollten, dann drückte er zum Abschied Maxims Schulter und kam mit weiten Schritten auf Kai zu. „Begleite mich“, raunte er ihm zu, „ich muss an die frische Luft. Wenn mich heute noch irgendjemand auf irgendwelche politischen Verpflichtungen anspricht, dann schreie ich.“ „Das ist deine Pflicht“, erwiderte Kai unbeeindruckt, aber er folgte Takaos immer zwei Schritte hinter ihm gehend hinaus auf die Terrassen den Großen Palasts und hinunter in die beeindruckenden Gartenanlagen. Takaos seufzte tief. „Das ist mir schon klar, aber ich brauche eine Pause. Manchmal kommt es mir vor, als ob außer Politik nicht mehr viel von mir übrig ist.“ Kai schwieg. Je länger sie durch die gepflegten Grünflächen und üppigen Blumenbeete wanderten, desto näher kamen sie dem Meer. Ein leichter Wind wehte und brachte Takaos’ Haare in Unordnung. Kai betrachtete ihn von hinten und widerstand dem Drang, nach ihm zu greifen. Stattdessen ließ er den Blick über die Blumen schweifen, die an allen Ecken und Enden den Garten mit Farbschauern übergossen. Sie duckten sich unter einem herrlichen grünen Blätterbogen hindurch und gelangten auf eine der kleineren Terrassen, die dem Meer zugerichtet waren. Gewohnheitsmäßig glitt Kais Blick prüfend über Nah und Fern, um mögliche Gefahrenquellen zu erfassen. Als er nichts erkennen konnte, entspannte er sich ein wenig und stützte sich neben Takaos mit den Ellbogen an der Steinmauer auf, die die Terrasse begrenzte, um auf das Meer hinabzusehen, das friedlich vor ihnen lag. In der Ferne schaukelten Fischerboote auf den Wellen. Wenn Kai einatmete, konnte er Salz auf seinen Lippen schmecken. Es erinnerte ihn an die fernen Tage seiner Kindheit, und für einen kurzen Moment hatte er tatsächlich so etwas wie Heimweh. Takaos schien seine Gedanken erraten zu haben. „Vermisst du Japan manchmal?” Kai überlegte einen Moment, wie er darauf antworten sollte. Dann sagte er ruhig: „Ich bin genau da, wo ich sein soll.” „Eine Kopfantwort von einem Kopfmensch”, stellte Takaos mit einem Lächeln fest, das zeigte, dass er es nicht böse meinte. Ein weiterer Seufzer von seinen Lippen ließ Kai aufblicken; weiterhin fanden sich tiefe Falten auf der Stirn des Kaisers, die zeigten, dass die Besprechungen ihn nicht losgelassen hatten. Vielleicht war es auch etwas anderes, das ihn quälte. Kai war nie besonders gut darin gewesen, irgendeine Form von Trost zu geben und sie sprachen bewusst nicht über politische Dinge miteinander, außer wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ. Meistens schien es Takaos zu reichen, wenn Kai einfach schwieg und mit ihm das Meer betrachtete. Er rückte ein wenig näher, bis sich ihre Unterarme berührten. Takaos blickte ihn mit einem Lächeln von der Seite her an. Es lag etwas Wehmütiges darin, auch wenn es warm und ehrlich war. „Manchmal“, sagte er, „habe ich das Gefühl, als wären du und Hyromia die einzigen Menschen auf der Welt, die mich noch kennen.“ Kai schwieg. Aber er dachte an kühle blaue Augen und Haar so rot wie Feuer, und er fühlte sich fast schuldig dafür. Das Schuldbewusstsein hielt nicht lange an. Der Maler war wie ein Sog, der Kai in den frühen Abendstunden hinaus auf Konstantinopels Straßen und zur Hagia Sophia trug. Sein ganzes Leben hatte er damit verbracht, wie ein Schatten zu sein - war durch lange, harte Stunden des Übens und Trainierens und Meditierens dazu erzogen worden, das Schwarze Feuer zu sein: Eins mit der Dunkelheit, bis es zu spät war und alle, die ihm zu nahe kamen von den Flammen verschlungen wurden. Er hatte viel Zeit dafür verwendet, um diese Stadt so gut zu kennen wie er konnte, und bei solchen Ausflügen machte es sich bezahlt, denn so konnte er lautlos durch ihre dunklen Ecken gleiten, bis er sein Ziel erreicht hatte. Abendgold hatte die Stadt ergriffen und ließ die Hagia Sophia glänzen. Die Gottesdienste waren schon längst vorbei, die Kirche lag still. Er verbarg sich hinter einer der Säule, als doch noch jemand über den Marmorboden dem Ausgang zustrebte. Es war Raulus, der Malergehilfe, dem man dem Wandermönch zur Seite gestellt hatte. Er hatte mehrere Rollen unter seinen Arm geklemmt und das Gesicht war sturmumwölkt. Kai hatte bei seinen stundenlangen stillen Beobachtungen festgestellt, dass Raulus und der Maler Persönlichkeiten hatten, die sowohl aneinandergerieten als sich auch zu beflügeln schienen. Sehr feierlich war das Gezanke, mit dem sie die Ölskizzen für das Fresko vorbereiteten, jedenfalls nicht. Die militärische Präzision, mit der der Maler seine Instruktionen gab, bestätigten Kai allerdings nur darin, dass er nicht sein ganzes Leben als Maler verbracht hatte. Er atmete aus. Dann verschwand er in den Eingeweiden der Hagia Sophia um sich dem Ort anzunähern, an dem der Maler immer noch über einen Holztisch gebeugt vor einer noch leeren Wand stand und Ölfarbe mischte. Er musste behutsam vorgehen, denn dem Ungetüm an seiner Seite blieb nur wenig verborgen. Auch jetzt blieb er hinter einer Säule verborgen und beobachtete die langen, farbverschmierten Finger des Malers, die im flackernden Licht dutzender großer und kleiner Kerzenständer in sicheren Strichen mit einem Kohlestift über ein Stück Papier vor ihm glitten. Er hatte die roten Augenbrauen zusammengezogen, eine steile Falte über seiner Nasenwurzel und die Lippen zu einem festen, abweisenden Strich aufeinandergepresst. Im Spiel aus Licht und Schatten wirkte er wie ein Dämon - wie etwas, das selbst in Kais durch und durch heidnischer Ansicht sicher nicht in die Hagia Sophia gehörte, sondern ausgetrieben werden musste. Der Maler verharrte, als ob er seine Gedanken gehört hatte. Einen Moment lang stand er mit gebeugtem Rücken und stillstehenden Fingern einfach nur da. Dann sah er zu dem Wolfshund, der wie auf einen unausgesprochenen Befehl zielsicher in Kais Richtung sah. Kai unterdrückte einen leisen Fluch und atmete vollkommen flach, lautlos weiter. Der Maler wischte in aller Ruhe seine Finger an einem Lappen ab. Dann drehte er den Kopf in Kais Richtung und sagte laut genug, dass es hörbar durch den Gang hinüber zu Kai hallte: „Das ist der siebte Tag, an dem du mich verfolgst. Was immer es ist, das dir auf der Seele brennt, such deine Antwort anderswo. Ich habe keine Geduld für die Spielchen von jemandem, der sich in den Schatten verbirgt.“ Da war etwas in seiner Stimme, seiner ganzen lauernden Körperhaltung, das Kai tatsächlich aus den Schatten treten ließ. Er wusste selbst nicht, warum. Es widersprach jeglicher Logik und allem, was er gelernt und verinnerlicht hatte. Aber es war die Sache fast wert, als die blauen Augen des Malers aufblitzten mit etwas, das heiß und kalt zugleich war und direkt in Kais Lenden fuhr. „So“, sagte er mit leiser, klirrend kalter Stimme, „du wanderst nicht nur durch die Schatten, du kleidest dich auch in sie.“ Kai sagte nichts. Es stimmte, dass er die traditionelle Kleidung angelegt hatte, in der er in seiner Heimat die Aufträge ausgeführt hatte, für die man ihn geholt hatte. Das Schwarze Feuer konnte nur in der Dunkelheit existieren, und um in der Dunkelheit existieren zu können, musste man mit ihr verschmelzen. Dunkelgraue Kleidung vom Tenugui, den er um Nase, Mund und Kopf geschlungen hatte, bis hinunter zu den Chikatabi war die einzige Möglichkeit dazu. Einen Moment lang maßen sie sich schweigend mit Blicken. Da schien widerwillige Faszination im Gesicht des Malers zu sein, ja, Kai war sich sicher, dass es ihm in diesen Minuten, in denen ihre Blicke aufeinandertrafen, genauso ging wie ihm selbst - dass er ihn erkannte. Dass er genauso spürte, dass da etwas zwischen ihnen war, ein seltsames Gefühl der Vertrautheit, eine Energie, für die es keine Erklärung gab. Es war der Maler, der zuerst den Blickkontakt abbrach, indem er die Augen schloss. Kai atmete lautlos, aber bebend gegen den Stoff des Tenugui aus, als eine Spannung sich entlud, die er gar nicht richtig wahrgenommen hatte. „Geh mir aus den Augen“, sagte der Maler und senkte den Kopf, „es gibt hier nichts für dich.“ Kai entfuhr ein Schnauben, das den Maler seinen Kopf wieder ruckartig heben und wie ein misstrauisches wildes Tier die Augen verengen ließ. „Ich traue dir nicht weiter, als ich dich werfen kann.“ Der Maler verzog die Lippen zu einem Lächeln, das mehr einem Zähnefletschen glich. „Ich bin ein einfacher Mönch. Das einzige, was ich will, ist, dass man mich in Ruhe malen lässt, statt mir auf den Nerven herumzutanzen.“ „Du bist ein Lügner“, raunte Kai und sah, wie das Lächeln vom Gesicht des Malers fiel und kalter Wut Platz machte. „Ich frage mich nur, wen du hier mehr belügen willst - mich oder dich?“ „Ich muss dir nichts beweisen“, sagte der Maler hart. „Oh nein“, sagte Kai, „aber du wirst es dennoch tun.“ In einer fließenden Bewegung zog er das Wakizashi aus der Scheide an seinem Gürtel und ließ ihm gerade noch genug Zeit, um die Augen in aufkeimendem Verstehen zu weiten, ehe er auf ihn zusprang und noch im Sprung mit dem Kurzschwert ausholte. Der Maler reagierte mit den Reflexen eines wilden Tiers. Wachs spritzte über den Marmorboden der Hagia Sophia und das Feuer drohte Kai einen Moment lang zu blenden, als er nach einem der handlicheren Kerzenständer griff, um seinen Angriff zu blockieren. Die Klinge stieß mit einem klingenden Geräusch auf Metall. Das Gesicht des Malers war wie verwandelt und expressiver, als er es bisher jemals gesehen hatte. Die Wut, der Zorn hatte tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben, die Augen flackerten voller Irrlichter. Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment und die Luft zwischen ihnen schien sich zu entzünden, als Kai sich unter einem Schlag durchduckte und einen Dolch aus seinem rechten Tebukuro holte. Seine Bewegung wurde von einem Arm abgeblockt, der gegen sein Handgelenk donnerte, hart genug, um ihm den Dolch aus den Fingern zu schlagen. Der Mann war schneller und unnachgiebiger, als er erwartet hatte - und er hörte nicht auf, ihn zu überraschen, denn als der Wolfshund sich zu seiner ganzen Größe aufrichtete und mit einem wilden Knurren losstürzen wollte, hielt er ihn mit einem scharfen Pfiff zurück, der durch die ganze Kirche hallte. Seine Aufmerksamkeit war nur eine Sekunde abgelenkt, doch das war alles, was Kai, der ihn seit Tagen beobachtete, benötigte, um ihn ins Wanken zu bringen. Er wirbelte herum und trat gegen das Knie, das der Maler all die Tage über weniger belastet hatte als das andere. Rote Haare peitschten ihm ins Gesicht, als der Maler stolperte, dann den Kerzenständer in einer fließenden, deutlich von Gewohnheit geprägten Bewegung in seine linke Hand wechselte. Eine letzte Überraschung, erkannte Kai gerade noch, da wurde ihm der Kerzenständer in die Seite gerammt, dass er meinte, eine Rippe nachgeben zu spüren. Die Luft blieb ihm weg; er rollte sich ab, brachte Distanz zwischen sie, aber etwas war in dem Maler entfesselt worden. Er kam auf die Beine und seine Augen waren kalt, so kalt, als er den Kerzenständer erneut hob. Das waren nicht die Augen eines Wandermönchs oder Malers. Das waren die Augen von Yuriy Iwanov - von jemandem, der einmal getötet hatte, bis es zur Gewohnheit geworden war. Kai erkannte es, weil er sich selbst darin erkannte. Erneut ein kreischendes Geräusch, als das massive Gold gegen Kais Wakizashi stieß, ein Geräusch, das ihm in den Ohren klingelte. Er duckte sich weg, wirbelte herum, biss die Zähne zusammen unter dem Ansturm, den Yuriy leistete, dann beschloss er, dass es genug war. Bei der nächsten Wendung fuhren seine Hände in die versteckten Taschen seiner Hakama-Hose und fanden zwei der spitzen, quadratischen Shuriken darin. Kai war immer für seine hohe Präzision mit Shuriken bekannt gewesen und auch jetzt verließ sie ihn nicht. Gewaltvoll schleuderte er sie gegen Yuriy, sodass einer ihm den linken Arm mitsamt des Tunikenärmels aufriss und seinen Griff um den Kerzenständer deutlich lockerte. Blut spritzte über den Marmorboden; der Wolfshund heulte, als der zweite Shuriken Yuriy im Gesicht erwischte und nur um ein Haar sein Auge verfehlte. Es war genug, um Kai den Kerzenständer aus seinen Händen schlagen zu lassen. Es hätte genug sein sollen. Doch die blauen Augen loderten mit etwas auf, das die Haare in Kais Nacken aufstellte. Dann warf er in einer einzigen Sekunde den Kerzenständer fort und sprang direkt unter Kais Wakizashi hindurch gegen seine Brust wie ein Dämon. Es war die Aktion eines Wahnsinnigen, weshalb Kai es nicht hatte kommen sehen. Das Kurzschwert wurde aus Kais Hand geschlagen, als sie über den Boden der Hagia Sophia schlitterten und ihm die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Weiße Finger schlossen sich um seine Kehle, ohne zuzudrücken und Yuriy starrte auf ihn herab, schwer atmend und in tausend Splitter aus Licht und Schatten gebrochen durch die wild flackernden Kerzen um sie herum. „Sieh mich an“, befahl er dann, die Stimme kaum mehr als ein harsches Wispern. Kai konnte die Augen nicht von ihm nehmen. Es brannte in seiner Brust, als Yuriy ihn lange anstarrte und dann lächelte. Ohne den Blick von ihm zu nehmen leckte er sich über die Lippen, über die sein Blut auf Kai hinabrann. Er spürte die Tropfen auf seinen Wangen und seinem Hals, wo Yuriys Finger ihn nicht hielten, und er wusste in einem unfassbar klaren Moment, dass er noch nie jemandem so nahe gewesen war und es auch nie wieder sein würde. „Es ist besser für alle, wenn ich ein Lügner bin“, sagte Yuriy nach einem unendlich langen Moment. Jetzt lächelte er nicht mehr. Die Irrlichter waren aus seinen Augen gewichen und hatten nur dunkle Erschöpfung übrig gelassen. Er nahm die Hand von Kais Kehle, dann kämpfte er sich in die Höhe, beinahe wieder einknickend, als das Knie unter ihm nachzugeben drohte. „Hör auf, mich daran zu erinnern, dass es nicht wahr ist.“ Kai rappelte sich auf. Yuriy hielt den heftig blutenden Arm gegen die Brust gepresst. Blut rann über sein Gesicht aus dem Schnitt, der eine seiner Brauen zerteilt hatte; es war schwer zu erkennen, wie tief und weit er ging. Sie sahen sich erneut an und Kai brannte. Er konnte den Kampf immer noch in seinen Knochen spüren, aber nun war da auch etwas anderes: Ein Sehnen, das er zuvor nicht hatte zulassen wollen und das auch nun nicht verschwunden war. Im Gegenteil. Ganz im Gegenteil. Schlimmer noch war es, dass er nun nach dem Kampf das gleiche stille Sehnen in den Augen des anderen zu erkennen schien und nicht wusste, ob es Wunschdenken war oder nicht. „Sag mir deinen Namen“, wisperte Yuriy schließlich in einem Tonfall, der ein prickelndes Gefühl der Sicherheit, dass es kein reines Wunschdenken gewesen war, durch Kai sandte. „Damit ich weiß, wie ich die Schatten dieser Stadt nennen muss.“ Kai strich mit der Unterseite des Daumens einen Tropfen von Yuriys Blut von seinem Mundwinkel. Dann sah er auf und betrachtete das rote Haar, das im Kerzenlicht einen goldenen Schimmer erhielt. Er wusste nicht mehr, für wen dieser Kampf ein Test gewesen war, für sich oder für Yuriy, aber er hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie beide verloren hatten - oder sie hatten beide gewonnen. Die Zeit würde es zeigen; die Zeit, und Yuriys Reaktion auf seine nächste Handlung. Er sah auf, begegnete Yuriys blauen Augen und sagte: „Ich bin Kai.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)