Blut und Gold von Mitternachtsblick ================================================================================ Kapitel 7: TEIL I - KAPITEL VII: Yuriy -------------------------------------- Bei Yuriys Anblick erhob sich Ivan so schnell von seinem Platz auf einer der Tavernenbänke, auf denen er mit einem hühnenhaft großen, blonden Mann zusammengesessen war, dass er beinahe den tönernen Weinkrug vor sich umgeworfen hätte. „Lieber Gott, was ist passiert?“ Yuriy ließ sich auf den Platz neben ihn fallen und griff mit blutverkrusteten Fingern nach dem Weinkrug, um sich einen Becher voll einzuschenken. Das Blut war von der langen Wunde in seinem Arm auf seine Hand getropft und dort getrocknet, bevor er die Wunde wenig ansehnlich, aber für den Moment ausreichend effizient mit einem abgerissenen Streifen seines Tunikasaums verbunden hatte. „Das ist ein furchtbarer Verband”, sagte der blonde Hühne gegenüber augenblicklich und ließ sich seinen Schrecken, der an persönlicher Beleidigung durch diese traurige Entschuldigung eines Verbands grenzte, durchaus anmerken. „Lasst mich das ansehen, so könnt Ihr um Gottes Willen nicht herumlaufen.” Yuriy schloss die Augen und trank den dunkelroten Wein hastig in langen Zügen hinunter, bis wieder Leben in seine bleichen Lippen kam. Er hatte das Gefühl, dass die Auseinandersetzung mit Kai ihm sämtliche Sinne geöffnet hatte. Die Geräusche der Taverne schienen doppelt so laut zu sein wie sonst, das Stimmengewirr beinahe unerträglich für ein Gehör, in dem das metallische Geräusch einer scharfen Klinge noch so präsent war. Der Geruch nach deftigem Essen und vielen Körpern war geradezu ein Schock nach der kühlen, weihrauchgeschwängerten Atmosphäre der Hagia Sophia. Sein Gesicht pulsierte im Takt mit seinem harschen, wie plötzlich aufgeweckt schlagenden Herzen dort, wo die Klinge des Wurfgeschosses durch sein Fleisch geglitten war. Er schenkte sich nach in dem Versuch, sich zu beruhigen, aber seine Haut kribbelte weiterhin wie von tausend Feuerameisen gebissen. An das faszinierte Begehren in Kais Augen denkend nahm er noch einen tiefen Schluck, doch der Wein konnte das Brennen in seiner Brust und seinen Lenden nicht abtöten. Ivan packte ihn an der Schulter und zwang ihn, zu ihm aufzusehen. Die Stirn des Schreibers war gerunzelt. Er sah Yuriy lange und forschend an, dann schüttelte er den Kopf, ließ ihn los und fiel neben ihm auf die Bank zurück. Seine Hände fanden Nadeschda, die sofort nach Betreten der Taverne mit eingeklemmtem Schwanz unter den Tisch gehuscht war und sich jetzt gerne verhätscheln ließ. „Man kann dich nicht alleine lassen. Was in Gottes Namen ist passiert? Nun sag’ doch!” Yuriy reagierte nicht, sondern trank auch den zweiten Becher leer. Langsam bekam er wieder das Gefühl, dass sein Herz nicht außer sich versuchte, in ein anderes Leben zu stürzen, das einmal gewesen war und das er eigentlich nicht mehr zurückhaben wollte - nicht so, wie es gewesen war. Er blickte auf und musterte den Blonden, dann nickte er ihm zu. „Ihr müsst Sergios sein.” Der Mann nickte. Sein Lächeln schwankte irgendwo zwischen Amüsement und Verzweiflung, als er erneut den Verband um Yuriys Arm und die Wunde in seinem Gesicht anstarrte. „Das rote Haar, die Freundschaft mit Ivan - Ihr müsst Pyrros sein, der Maler in der Hagia Sophia.” „Pyrros?” Yuriy lachte kurz und amüsiert. Er lehnte nicht ab, als Ivan ihm zum nächsten Weinbecher sehr nachdrücklich Brot und Käse reichte. „So nennt man mich? Recht einfallslos, um ehrlich zu sein, aber man hat mich schon schlimmere Dinge genannt. Eigentlich bin ich Yuriy.” „Ich weiß”, sagte Sergios milde lächelnd, „Ivan hat von Euch erzählt.” „So?” Yuriy hob eine Augenbraue und sah Ivan an. „Was hast du ihm erzählt?” „Nichts, was nicht stimmt”, sagte Ivan unbeeindruckt. Yuriy war nicht besonders überzeugt von dieser Aussage, aber er sah wieder zu Sergios, der sich ein Lächeln zu verkneifen schien. „Ihr seid der Archiatroi des Hagios Samson, nicht wahr?” „Können wir uns bitte über das Blut in deinem Gesicht unterhalten, bevor du Sergios nach seiner zugegeben beeindruckenden Laufbahn fragst?”, mischte Ivan sich ungläubig ein. „Ich frage dich noch ein letztes Mal: Was ist passiert?” Yuriy, erweicht durch Wein und Blutverlust, gab eine Zusammenfassung der Geschehnisse von sich, die so kurz und neutral wie möglich gehalten war, bevor er sich wieder Brot und Käse widmete. Nachdem er geendet hatte, sah Ivan ihn so prüfend von der Seite an, dass Yuriy ihn beinahe fragen wollte, ob er es mitbekommen hatte, diese seltsame Spannung, die für Yuriy von Kai ausging. Aber Ivan sagte nichts und so sagte auch Yuriy nichts. Sergios wiederum hatte die Brauen zusammengezogen. „Kai hat Euch attackiert?“, fragte er in einem Tonfall, der verriet, dass der Name ihn nicht erst seit Yuriys Schilderung geläufig war. Yuriy senkte den Käse. „Ihr kennt ihn?“ „Kennen ist vielleicht zu viel gesagt“, erwiderte Sergios und wirkte, als ob er noch mehr sagen wollte. Seine Augen schweiften durch die Taverne, dann schien er einen Entschluss zu fassen. „Esst auf und kommt mit mir”, sagte er ohne die Stimme zu heben in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. „Man muss diese Verletzungen vernünftig behandeln, ansonsten beginnt es noch zu eitern und sich zu etwas Gröberem auszuwachsen.” „Das sind nicht die ersten Kampfverletzungen in meinem Leben”, erwiderte Yuriy, der mit dem Wein redseliger wurde, als ihm gut tat. Sergios zuckte nicht mit der Wimper, fragte aber immerhin auch nicht nach. „Dann solltet Ihr es eigentlich besser wissen.” „Die Hände haben an sich nichts abbekommen“, sagte Yuriy, „das reicht.“ Sergios wechselte einen langen Blick mit Ivan, der nur die Hände in einer universalen Geste der Resignation hob. Yuriy trank weiter, atmete tief durch und leckte sich gerade den Wein von den Lippen, als Sergios milde, aber fest sagte: „Ich nehme Euch einfach mit. Wenn man Euch keinen Kerzenleuchter in die Hände spielt, dürfte es ja kein Problem sein.“ „Na schön“, sagte Yuriy, der nicht in Stimmung war, sich unnötig querzulegen. Immerhin hatte der Arzt tatsächlich Recht; er hatte mehr als einmal bei anderen gesehen, was passieren konnte, wenn Feldärzte nicht genug Zeit oder Sorgfalt hatten und Wunden entsprechend nicht gesäubert wurden. Der Schnitt in seinem Gesicht war nicht besonders tief, aber der an seinem Arm war eine andere Sache. Außerdem, und das war der viel wesentlichere Grund, wollte er wissen, was Sergios über Kai wusste. Er trank aus und schob Ivan ein paar Münzen zur Beteiligung zu, der jedoch nur abwinkte und sie zurückschob. Yuriy zuckte mit den Achseln und steckte das Geld wieder ein, erhob sich und strich Nadeschda flüchtig mit den Fingerknöcheln über den Kopf, als sie lautlos an seine Seite kam. „Das Mädchen sieht aus, als hätte sie Euch gut verteidigen können“, bemerkte Sergios mit einem bewundernden Blick auf die Wolfshündin, die ihn mit ihren scheuen, klugen Augen ansah, als ob sie jedes Wort verstand. „Ein prächtiges Tier.“ „Ich habe sie zurückgehalten“, erwiderte Yuriy und folgte mit Ivan im Schlepptau dem Arzt hinaus aus der Taverne. Er warf Ivan einen vernichtenden Blick zu, als der ihm angesichts des ausgeprägten Hinkens durch Kais gezielten Tritt gegen sein Knie den Arm zur Stütze anbieten wollte. Ivan rollte mit den Augen und zog den Arm wieder zurück. „Wieso?“, fragte Sergios ehrlich erstaunt, „Mit dem Hund wäre der Fall doch in ein paar Augenblicken erledigt gewesen.“ „Ich wusste, dass er mich nicht töten wollte“, sagte Yuriy und dachte an das wilde, geradezu enthusiastische Brennen in seinen Eingeweiden, das Kais Angriff in ihm verursacht hatte. „Ich wollte wissen, was er kann.“ Sergios gab einen unidentifizierbaren Laut von sich, sagte aber nichts mehr. Ivan schwieg ebenfalls, auch wenn er Yuriy immer wieder von der Seite her ansah wie eine besonders interessante Rarität. Aber Yuriy dachte an andere Dinge als Ivans forschenden Blick, während sie den kurzen Weg von der Taverne zum Hagios Samson zurücklegten. Er dachte an sein Blut, das im flackernden Licht der Kerzen fast schwarz gewirkt hatte auf Kais Haut. Er dachte daran, wie er über ihm gewesen war, die Hand um Kais Kehle, nur Sekunden davon entfernt, zuzudrücken und zuzudrücken, bis all sein Atem ihm gehörte. Manchmal lagen nur Seidenfäden zwischen Lust und Tod, und es schien, als ob er sich einmal mehr in diesem Netz aus Seidenfäden zu verstricken drohte. So in Gedanken bemerkte er nicht, dass sie das Krankenhaus erreicht hatten. Es war ein großer, viereckiger Komplex, der nur aus einem Stockwerk bestand. Als sie eintraten und Sergios sie mit sicheren Schritten einen Gang entlang führte, stellte sich heraus, dass das Krankenhaus vor allem aus kleinen Zimmern bestand, in denen Kranke allein oder zu zweit lagen und betreut wurden. Im Zentrum des Komplexes lag ein nicht überdachter Kräutergarten, der aus sorgfältig gepflegten Beeten bestand und von allen vier Gängen, die darum herum hingen, bequem erreicht werden konnte. Eine Frau kniete vor einem der Beete, einen breiten Weidekorb neben sich. Sie war klein und zart, ihr Haar vollständig verborgen von einem Schleier. Sie hatte die lebhaften braunen Augen auf die Staude vor sich gerichtet, von der sie Blätter schnitt. „Mathilda“, rief Sergios ihr zu, woraufhin sie den Kopf hob und lächelte, als ob sie die Sonne erblickt hatte. Rasch wischte sie die Hände an ihrer Schürze ab, erhob sich mit ihrem Korb und kam auf sie zu. Als sie neben Sergios trat, zeigte sich erst, wie klein sie neben ihm wirkte, denn im Stehen hätte sie ihren Kopf mühelos auf seine Brust legen können. Sie war noch jung, aber nicht mehr blutjung, denn das Leben hatte schon ein paar Falten in ihr herzförmiges Gesicht gegraben, auch wenn es dabei bisher gut zu ihr gewesen sein musste, denn die Falten schienen überwiegend vom Lachen zu stammen. Bei Nadeschdas Anblick strahlte sie, war aber klug genug, nicht weiter auf sie zuzugehen, als die Wolfshündin unter so viel neuer Aufmerksamkeit hinter Yuriy wich. Mit einer zärtlichen Behutsamkeit, die man einem so großen Mann gar nicht zutraute, nahm er sie bei der Hand, um sie Yuriy vorzustellen: „Das ist meine Frau, Mathilda. Ohne sie würde hier nichts funktionieren. Mathilda, das hier ist Meister Iwanov - Ivans Freund, der in der Hagia Sophia arbeitet.“ Mathilda errötete ein wenig vor Freude über sein Lob und lächelte erst einmal Ivan an, der ihr bereits vertraut zu sein schien. „Schön, Euch wiederzusehen, Meister Papov.“ Sie musterte sodann besorgt die Verletzung in Yuriys Gesicht. „Ich habe von Euch gehört, Meister Iwanov, seid herzlich willkommen. Was immer auch da passiert ist, das sieht übel aus … Ich bringe gleich die Verbände.“ Sie war davon, noch ehe man sie aufhalten konnte und eilte mit raschen, sicheren Schritten den Gang hinunter. Sergios blickte ihr einen Moment lang mit warmem, aufrichtigem Lächeln hinterher, dann gab er sich einen Ruck und führte Yuriy in einen leeren Raum, wo er ihn auf eines der Betten drückte. Ivan ließ sich auf das andere fallen und sah zu, wie Sergios den Übergangsverband von Yuriys Arm wickelte, nur um mit der Zunge zu schnalzen. „Keine Schwertwunde“, stellte er fest. Hinter ihm kam Mathilda herein und bereitete auf einem niedrigen Tisch mehrere Dinge vor: Eine Kerze, die sie anzündete, zwei Schüsseln Wasser, von denen eine kleiner und eine größer war, mehrere saubere Stofftücher, zwei noch verschlossene Tontiegel, Nadel, Faden und mehrere Rollen Verbandsstoff. Sie hielt Sergios die kleinere Wasserschüssel hin, der daraufhin dankend seine Hände eintauchte und wusch. „Es war ein…“ Yuriy dachte nach, wie er es am besten beschrieb. „Eine Art geworfenes Metallstück“, sagte er schließlich. „Viereckig. Sehr scharf. Ich habe zugegeben so etwas noch nie vorher gesehen.“ „Kai hat viele Tricks, die man noch nie gesehen hat“, sagte Sergios und lächelte Mathilda entgegen, die ihm geschäftig die Hände trocknete und dann die Nadel über die Kerzenflamme hielt, um schließlich in beeindruckender Geschwindigkeit den Faden durch das Öhr zu ziehen. Yuriy zog die Brauen zusammen. „Ihr kennt ihn.“ „Flüchtig“, gab Sergios zu und reichte seinerseits Mathilda eines der sauberen Tücher, das er zuvor in die größere Waschschüssel getaucht hatte. Mathilda begann die Wunde auf Yuriys Arm umsichtig zu waschen, während Sergios die Nadel noch einmal im Kerzenlicht betrachtete und dann offensichtlich zufrieden nickte. Als Mathilda fertig war und beiseite trat, meinte er: „Das wird jetzt unangenehm.“ „Ich bin hart im Nehmen“, sagte Yuriy, „woher kennt Ihr ihn?“ „Sergios und Mathilda assistieren auch der kaiserlichen Familie“, schaltete Ivan sich ein und streichelte dabei Nadeschdas Kopf, die ihren wachsamen Blick nicht von Yuriy und Sergios nahm, aber auch an Ivans Seite blieb. „Er ist eine recht illustre Gestalt in Konstantinopel. Fällt ja auch ziemlich auf. Die Gerüchte sagen, dass der Kaiser ihn von irgendeiner Insel im Osten aufgeklaubt hat.“ „Er wird irgendwie durch irgendeinen Krieg an ihn geraten sein“, sagte Sergios achselzuckend und musterte die Nadel noch einmal, ehe er Yuriy weiter ins Kerzenlicht rückte. „Was ich allerdings weiß, ist, dass er normalerweise die Seite des Kaisers nicht verlässt. Viele am Hof wollen ihn nicht dort haben, wo er jetzt ist, aber der Kaiser ist in der Sache unbelehrbar. Ich beginne jetzt.“ Yuriy runzelte die Stirn und unterdrückte trotz Warnung ein Fluchen, als die Nadel durch seine Haut stieß. Er biss die Zähne zusammen, atmete tief durch und fragte dann gepresst: „Er verfolgt mich seit einer ganzen Weile. Wieso will man ihn nicht bei Hof haben?“ Sergios nähte ungerührt weiter, die Hände sicher und stetig. „Er ist ein Heide und ein Fremdling. Man sieht ihm ja schon an, dass er nicht aus diesen Breitengraden kommt. Es gibt viele, die es einfach nicht gerne sehen, dass er so eng mit dem Kaiser verbunden ist.“ „Man fürchtet einen unguten politischen Einfluss“, schaltete Mathilda sich ein und tupfte von der anderen Seite kundig Yuriys Gesicht um die Wunde herum sauber, während Sergios nähte. „Aber…“ Sie gab einen tiefen Seufzer von sich und schwieg. „Sag‘ nur, was du dir denkst, Liebling“, sagte Sergios sanft und zog die Nadel aus Yuriys Fleisch. Die Wunde war sauber und gerade vernäht. Yuriy musterte die Naht und nickte anerkennend. „Ich denke, man hätte ihn gerne aus dem Weg“, sagte Mathilda schließlich, als Sergios bereits dabei war, die Verletzung in Yuriys Gesicht zu untersuchen, die er rasch als halb so wild diagnostizierte, auch wenn unter Umständen eine kleine Narbe in Yuriys Braue zurückbleiben mochte. Yuriys Blick zuckte zu ihr; sie erwiderte ihn stetig und ruhig mit ihren braunen Augen. Eine sanfte Person, dachte er unwillkürlich, aber keine, die er unterschätzen wollte. „Warum denkt Ihr das?“, wollte er wissen, während Sergios den Schnitt auf seinem Gesicht mit einer scharfriechenden Paste einrieb, die ein Prickeln auf der Haut um die Wunde hinterließ. Mathilda zuckte mit den Achseln. „Es ist nur ein Bauchgefühl“, sagte sie, „aber das Bauchgefühl sagt mir, dass Konstantinopel brodelt. Das ist nichts Neues, das ist normal für diese Stadt. Aber irgendwas kommt auf uns zu, ich spüre es.“ Yuriy dachte in den nächsten beiden Tagen immer wieder über die Worte der Heilerin nach. Er hatte keine Ahnung, ob an Mathildas Bauchgefühl etwas daran war oder nicht; dafür hatte er nicht einmal ansatzweise genug Informationen über oder Beziehungen zu Leuten, auf die es innerhalb der Stadt ankam, was er auch gar nicht wollte. Mittlerweile hatte er den Kampf mit Kai schon wieder verdaut, das Feuer hinabbezwungen in die Tiefen seines Herzens und Hirns, wo es hingehörte. Die Faszination für den anderen war geblieben und gegen diese konnte er sich auch nicht wehren. Aber er weigerte sich, die Lebendigkeit, die er während des Kampfes verspürt hatte, weiter zu verfolgen. Kai hatte ihn einen Lügner genannt. Ja, vielleicht log er, vielleicht konnte er niemals ein Mann des Friedens werden, aber es war die Lüge, für die er sich entschieden hatte, weil er die Wahrheit nicht mehr leben wollte. Wenn es einen Gott gab - wenn dieser Gott sich auch nur ansatzweise für ihn interessierte - dann würde er es ihm möglich machen, die Lüge zu leben, bis er starb. Yuriy hatte kein Interesse mehr an Blut. Er hatte genug davon vergossen, dass es für drei Leben reichte. „Ihr seid abgelenkt“, sagte Raulus anklagend, „was fesselt Eure mentale Aufmerksamkeit so sehr?“ Er blinzelte und blickte auf. Sein Gehilfe, der sich als temperamentvoll, aber immerhin brauchbar herausgestellt hatte, sah ihn mit gehobener Augenbraue an. Er hatte nichts gesagt, als Yuriy mit Verband um den Arm, neuer Tunika und verkrustetem Schnitt im Gesicht am Tag nach dem Kampf wieder in der Hagia Sophia erschienen war, was Yuriy ihm stillschweigend hoch angerechnet hatte. Auch jetzt befanden sie sich in der Hagia Sophia, und Yuriy war gerade noch einmal die endlich fertig getrockneten Ölskizzen des Freskos durchgegangen, um sicherzugehen, dass alles auch wirklich seine Richtigkeit hatte. Seit seinem Kampf mit Kai war der Ort voll mit Echos, die ihm den Kopf vernebelten. Sie hatten gemeinsam in undurchdringlichem Schweigen das Wachs vom Marmorboden gekratzt und Yuriy würde niemals das Bild davon vergessen, wie Kai sein Blut, das er überhaupt erst vergossen hatte, fast nachlässig mit dem Tuch, das zuvor die untere Hälfte seines Gesichts verdeckt hatte, von den Fliesen gewischt hatte. Einen Moment lang dachte er an Boris, dessen Erinnerung dieser Tage wie ein Geist hinter ihm zu stehen schien, egal, was er tat. Yuriy verdrängte sein von bittersüßen Gefühlen getränktes Bild gewaltsam und sah erneut auf die Ölskizzen hinab. „Ich denke, es ist gut“, sagte er endlich statt einer richtigen Antwort, „packt sie zusammen und bringt sie mit mir in den Palast. Wir müssen sie dem Kaiser vorstellen.“ Daraufhin machte Raulus ein merkwürdiges Gesicht. Er sagte mehrere Sekunden lang nichts, dann ließ er langsam den Atem entweichen. „Ich kann Euch nicht begleiten.“ Yuriy blinzelte irritiert. „Wie bitte?“ „Ich kann Euch nicht begleiten“, wiederholte Raulus fest. Da war etwas fast Drängendes in seinem Gesicht, das Yuriy in seiner mental bereits formulierten Standpauke über Faulheit und Unzuverlässigkeit innehalten und ihn stattdessen den jungen Mann beobachten ließ. „Und wieso nicht?“, fragte er schließlich. Raulus starrte ihn wortlos an. Seine Hände waren in den Stoff seiner Dalmatik vergraben, aber Yuriy war sich recht sicher, dass es ihm nicht auffiel. Er schien einen Moment lang sichtlich mit sich zu ringen, dann presste er heraus: „Es sind … persönliche Gründe.“ „Persönliche Gründe“, wiederholte Yuriy langsam. „Bitte“, sagte Raulus, und das Wort schien ihm auf der Zunge zu brennen, „bitte fragt mich nichts Genaueres.“ Yuriy musterte ihn einen langen Augenblick, so lange, dass Raulus begann, sich unter der Stille zu winden. Er hatte schon länger das Gefühl gehabt, dass es etwas gab, das sein Gehilfe vor ihm verschwieg, und diese Situation verschärfte besagtes Gefühl nur noch weiter. „Seid Ihr in Schwierigkeiten?“ „Nicht direkt“, sagte Raulus ausweichend, „aber es wäre mir momentan lieber, wenn man mich nicht im Palast oder im Blachernen-Viertel sehen würde.“ „So“, sagte Yuriy, musterte erst die bespannten Keilrahmen und dann wieder seinen Gehilfen, der entgegen seines sonst so deutlich hervorkommenden Stolzes diesmal mit gebeugtem Kopf zu Boden starrte. Yuriy seufzte und rieb sich über die Braue, durch die der verkrustete Schnitt verlief, dann sagte er: „Schön. Dafür will ich zu gegebenem Zeitpunkt den Grund dafür wissen und ich habe etwas gut.“ Raulus leckte sich flüchtig über die Lippen, nickte dann jedoch. „Danke. Ich … ich weiß es zu schätzen.“ Yuriy schenkte ihm ein wölfisches Grinsen. Der Junge wusste noch nicht, was es bedeuten konnte, ihm einen Gefallen zu schulden. Aber er wies ihn nicht darauf hin, sondern packte die drei gespannten Leinwände ein und knüpfte einen Faden so zwischen ihnen, dass er sie auch alleine tragen konnte. „Wir sehen uns morgen wieder“, sagte er an Raulus, dann verließ er mit Nadeschda die Hagia Sophia und machte sich auf den Weg hinüber in den Großen Palast, wo der Kaiser heute Besucher und Besucherinnen empfing. Es war ein kurzer Weg, auf dem er nicht lange allein blieb. „Man hat mir gesagt, dass du nicht oft die Seite des Kaisers verlässt“, sagte er, als Kai fast lautlos neben ihm auftauchte und ihn mit seinen rostbraunen Augen ansah. „Muss ich mich geehrt fühlen?“ Kai schenkte ihm etwas, das wie die Anflüge eines Lächelns wirkte. „Vielleicht.“ Die Luft zwischen ihnen hatte deutlich die Aggression des Kampfs in der Hagia Sophia verloren. Es war, als ob Dinge geklärt worden waren, obwohl sie nur wenig miteinander gesprochen hatten. Er dachte an Boris, dann schob er ihn weg. Es brachte nichts, ständig in die Vergangenheit zu sehen, wenn er in die Zukunft wollte. Boris war weit weg, aber Kai war hier, und sein Blick brannte auf Yuriys Haut. Er verfolgte Kais Blick auf die Leinwände in seinen Armen und sagte unaufgefordert: „Die Skizzen für das Fresko. Ich möchte sie dem Kaiser zur Inspektion überreichen.“ „Wie bist du Maler geworden?“, fragte Kai nach einer Weile, in der sie sich bereits deutlich dem Großen Palast genähert hatten. „Du warst Soldat. Du hast es nicht gesagt, aber es gibt keine andere Erklärung. Wie hat ein Soldat zu malen begonnen?“ „Ich war nicht nur irgendein Soldat“, sagte Yuriy leise, als sie bereits beinahe den Palasteingang erreicht hatten, „und das Malen war eine Reise, die vielleicht meine Seele retten wird.“ Ein Lächeln kräuselte erneut Kais Mundwinkel, ein Lächeln, das sanft und fast traurig wirkte. „Denkst du wirklich, dass das möglich ist?“ „Ich mache es möglich“, sagte Yuriy. Kai sah ihn an. „Und wenn dein Gott andere Pläne hat?“ Es lag viel in dieser Frage, und viel von dem, was dahinter lag, konnte Yuriy nur erahnen, aber nicht benennen. Er blieb stehen, nur wenige Schritte vom Palasteingang entfernt, der von zwei Wachen flankiert wurde, die sie misstrauisch beobachteten. Was für ein Paar sie abgeben mussten, dachte Yuriy unwillkürlich, der seltsame rothaarige Wandermönch aus dem Land des Eises und der fernöstliche Fremdling mit den rostbraunen Augen wie getrocknetes Blut. Sie waren wie zwei Nägel in einer Schublade voller Holzspäne. Er realisierte, dass er keine Antwort auf Kais Frage hatte, und auch Kai schien es zu merken, denn er neigte kaum merklich den Kopf und sah ihn an, ohne zu blinzeln. „Folge mir“, sagte er schließlich, „ich bringe dich zum Basileus. Und unterwegs kannst du mir erklären, was du so spannend daran findest, in extrem unbequemer Haltung Farbe gegen irgendwelche Oberflächen zu klatschen.“ Eine Spannung in Yuriys Brust löste sich; er hatte nicht einmal gemerkt, dass sie da war. Er nickte, umfasste die Ölskizzen und folgte Kais lautlosen Schritten hinein in den Großen Palast, während er von Farbe sprach, und von Licht, immer wieder von Licht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)