Blut und Gold von Mitternachtsblick ================================================================================ Kapitel 9: TEIL I - KAPITEL IX: Iulia ------------------------------------- „Ihr seid abgelenkt“, sagte Meister Iwanov mit einer Stimme, die deutlich sein Missfallen über diese Tatsache ausdrückte. Das konnte Iulia nicht einmal wirklich abstreiten. Der Streit mit Emilia lag schon einige Tage zurück, und doch fühlte er sich wie ein Stein in ihrem Magen an. Sie blinzelte und blickte von den Skizzen auf, an denen sie gerade mit Meister Iwanov arbeitete. Die Ölskizzen mussten nun in Originalgröße als Ausschnitte auf Papier gebracht werden, um sie später an die Wand zu bringen. Wenn Meister Iwanov bei den Ölskizzen schon streng gewesen war, war er nun geradezu drakonisch, aber inzwischen konnte Iulia mit seiner Art umgehen. Seine Kritik war immer berechtigt und je schneller und besser sie darauf reagierte, desto schneller waren auch die Wogen wieder geglättet. Jetzt aber hatte er sie erwischt und war nicht begeistert, vermutlich zu Recht. Sie bemühte sich um ein entschuldigendes Lächeln und wischte ihre tintenfleckigen Finger an einem Lappen ab. „Entschuldigt. Jetzt war ich wohl einen Moment in Gedanken“, sagte sie in Erinnerung an eine ähnliche, aber umgekehrte Unterhaltung vor einiger Zeit. Meister Iwanov musterte sie eine ganze Weile wortlos mit seinen hellen Augen, dann schüttelte er den Kopf. „Einen Moment kann man das nicht mehr nennen, wenn es Euch schon die ganze Zeit beschäftigt. Also heraus mit der Sprache.“ Iulia starrte ihn verdattert an. Natürlich, sie kamen mittlerweile gut miteinander zurecht, aber ihre Gespräche beschränkten sich vor allem auf Kunst und Handwerk, was Iulia nur recht war. Diese Aufforderung zum Teilen von Sorgen war … überraschend. Scheinbar musste etwas von ihrer Überraschung auf ihrem Gesicht gestanden haben, denn Meister Iwanov seufzte ungeduldig: „Ihr arbeitet lahmer als eine, wie sagt man, angeschossene Ente, wenn Ihr die ganze Zeit vor Euch hin grübelt. Ist es eine Frau?“ „Äh“, sagte Iulia und wunderte sich, wie sie in die bizarre Situation gekommen war, ganz offen - nun, mehr oder weniger - über ihre Liebesprobleme mit dem Maler sprechen zu können. Der Maler seufzte erneut, diesmal noch ungeduldiger. „Natürlich, es ist eine Frau. Lasst mich raten: Sie ist verheiratet.“ „Seid Ihr nicht so etwas wie ein Mönch?“, fragte Iulia empört, wenn auch nicht unbelustigt über die Ironie seiner Aussage. „Dürft Ihr mit mir überhaupt über solche Angelegenheiten sprechen?“ „Jaja, ich verurteile Euch dann im Anschluss auch gebührend für Euer lasterhaftes Leben“, sagte Meister Iwanov weiterhin ungeduldig, aber sie erhaschte dennoch einen Blick auf ein Schmunzeln, als er den Kopf abwandte und sich wieder über das Blatt beugte, auf das er gerade einen vergrößerten Ausschnitt der Skizze zeichnete. „Allerdings war ich nicht immer Mönch. Ihr müsst natürlich nicht, Gott weiß, dass es mir lieber wäre. Aber dann reißt Ihr Euch jetzt auch zusammen und arbeitet weiter, ohne dass ich mir Euer ständiges Geseufze und ins-Leere-Gestarre antun muss, denn so sind wir erst in zehn Jahren fertig.“ Iulia verkniff sich ein Lachen, weil die ganze Situation absurd war, dann fuhr sie sich über die Haare der Perücke, unter der ihre echten Haare kratzten. Sie hatte ein Vermögen für diese Perücke bezahlt, aber dafür wirkte sie täuschend echt. „Ja, es geht um eine Frau“, gab sie schließlich zu, „und ja, sie ist … einem anderen versprochen.“ Sie schätzte, dass das Emilias Status als Geistlicher noch am nächsten kam, ohne offen zu lügen oder sie zu entblößen. Meister Iwanov hob eine rote Braue und sah sie über die Länge des Tischs hinweg an. Er hatte in den letzten Wochen an Gewicht zugelegt, das seine harten Gesichtszüge ein wenig mehr ausgefüllt hatte und seinen Körper gesund-sehnig statt ausgemergelt-sehnig wie zu Beginn wirken ließ. Die tiefe Wunde in seiner Braue war am Verkrusten und würde sicherlich vernarben, was seinem verwegenen Äußeren nur ein Element hinzufügte. „Ist sie in guter Hoffnung von Euch?“ Iulia blinzelte, dann brach sie in Gelächter aus. „Nein, das ist es nicht. Ist Euch das etwa schon einmal passiert?“ Meister Iwanov zuckte mit den Achseln. „Ich war kein Kind von Traurigkeit in meiner Jugend, kann schon sein, dass irgendwo ein paar Bastarde von mir herumlaufen.“ Iulia musterte ihn. Die Kaltblütigkeit von Männern überraschte sie nicht mehr, aber sie konnte nicht anders, als eine Sekunde lang an die namenlosen Frauen zu denken, die durch die flüchtige Begegnung mit einem charismatischen Mann ihr Leben lang auf irgendeine Art Leid erlitten. Meister Iwanov musterte sie, dann schenkte er ihr ein kleines, hartes Lächeln, das ehrlicher war als jedes andere Lächeln, das sie jemals erhalten hatte. „Warum, glaubt Ihr, wird man in der Mitte seines Lebens Mönch? Meistens nicht, weil man zuvor so ein beschauliches, gottgefälliges Leben geführt hat. Also, was ist jetzt mit dieser Frau, wenn sie nicht schwanger ist, ist ihr Mann dahinter gekommen?“ Iulia schüttelte den Kopf und ignorierte ihren trockenen Mund. „Wir hatten einen Disput. Sie … ist in letzter Zeit mit sehr vielen anderen Dingen beschäftigt, selbst wenn ich bei ihr bin.“ „Ah“, sagte Meister Iwanov, „Ihr seid eifersüchtig. Das ist alles? Meine Güte. Dann zeigt Ihr eben, wie wichtig Ihr seid.“ „Ich respektiere ihre Grenzen“, sagte Iulia angespannt. Meister Iwanov hob erneut eine Augenbraue und starrte sie ein paar Herzschläge an, dann legte er den Stift nieder. „Ich glaube, Ihr missversteht mich oder schätzt mich aufgrund meiner vorherigen Aussage falsch ein. Ich sage Euch nicht, dass Ihr nicht ihre Grenzen respektieren sollt - was ich im Übrigen mit jedem meiner Bettpartner immerzu getan habe.“ Sie horchte auf, weil er die maskuline Form von „Bettpartner“ in seinem Griechisch anwandte, doch sie konnte sich nicht sicher sein, dass es nicht einfach ein grammatikalischer Fehler war, der ihm gelegentlich unterlief und er sprach sogleich weiter: „Ich sage Euch, dass Ihr sie daran erinnern sollt, aus welchen Gründen sie sich mit Euch einlässt. Und das könnt Ihr interpretieren, wie Ihr wollt.“ Iulia starrte ihn an, dann lachte sie. „Gebt Ihr mir gerade den Rat, dass ich sie an meine Fähigkeiten als Liebhaber erinnern soll?“ „Wenn es das ist, was Ihr daraus entnehmt, dann ist es wohl so“, sagte Meister Iwanov. Seine Lippen zuckten, als ob er lachen wollte, dann zog er die Brauen streng zusammen und die Mundwinkel herunter. „Aber erst einmal arbeitet Ihr vernünftig, habt Ihr gehört? Ansonsten ist die beschäftigte Geliebte Euer geringstes Problem!“ Erstaunlicherweise fiel es Iulia danach einfacher, konzentriert arbeiten zu können. Das Leben, das sie lebte, bedurfte eines Hochseilaktes, der seinen Preis hatte. So gab es nur wenige Menschen, mit denen sie über gewisse Dinge sprechen konnte, und keinen einzigen, mit dem sie über alles sprechen konnte. Ihr Bruder hatte alles von ihr gewusst, als sie noch gemeinsam unter einem Dach gelebt hatten. In Zeiten wie diesen vermisste sie ihn, mit dem sie nur Briefe austauschen konnte, in denen sie aus Sorge um fremde Mitlesende auf der Strecke bei weitem nicht alles sagen konnte. Raulus‘ Weg führte ihn nur noch ein oder zwei Male im Jahr nach Konstantinopel, was zwar bedeutete, dass sie seine Identität nutzen konnte, aber auch hieß, dass er nicht hier war. Mit Romulus über ihre Liebschaften zu sprechen empfand sie als seltsam unangebracht. Sie hatten ein Arrangement, das für sie beide funktionierte, aber es gab gewisse Grenzen. Und Emilia wiederum kümmerte es nicht, besonders viel von Romulus oder ihrem Sohn zu hören. Es war erfrischend gewesen, mit jemandem zumindest in Ansätzen über ihre Probleme mit Emilia zu sprechen. „Gut“, sagte Meister Iwanov einige Stunden später schließlich, als das Licht, das durch die Fenster der Hagia Sophia fiel, bereits schlechter wurde und sich orange färbte. „Ich denke, wir sind heute ein gutes Stück vorangekommen. Morgen noch, dann können wir endlich damit beginnen, die Skizzen auf die Wand zu übertragen.“ Er überraschte Iulia erneut, indem er eine Hand auf ihre Schulter niedersausen liess. „Kommt mit mir in die Taverne.“ „Oh“, sagte Iulia überrascht, aber erfreut, denn ihr war gerade heute noch nicht danach, heimzukehren, „ja, wieso nicht!“ Hinter ihnen folgte Nadeschda auf ihren lautlosen, großen Pranken, als sie die Kirche verließen. Iulia lächelte der Wolfshündin zu, dann sah sie zu dem Maler. „Wie seid Ihr zu ihr gekommen?“ „Ich war bereits auf der Reise“, sagte Meister Iwanov nach einer kleinen Pause, „die mich durch die Wälder Sibiriens führte. Ihre Mutter dürfte angefallen worden sein - eine Hündin, groß und kräftig, aber eindeutig nicht Teil des Waldes. Sie war tot. Die anderen Welpen auch. Nadeschda war kaum noch am Leben und sie war sehr klein.“ „Ihr habt sie mitgenommen“, schlussfolgerte Iulia. Er war ein Mann von erstaunlichen Widersprüchen. Vermutlich war sie die letzte, die ihn dafür verurteilen konnte oder wollte. Dennoch war diese weiche Seite an ihm erstaunlich. Meister Iwanov nickte. „Ehrlich gesagt dachte ich, dass ich sie nur zum Sterben mitnehme, aber sie war zäh. Der Herr dürfte ein Herz für sie gezeigt haben.“ „Und klein ist sie definitiv auch nicht geblieben“, stellte Iulia fest. Meister Iwanov schmunzelte. „Nein, das ist sie nicht.“ Sie gingen an der Straße entlang, die vor abendlicher Betriebsamkeit summte. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung war und ihre Überraschung hielt sich in Grenzen, als der Dämon des Palasts an Meister Iwanovs Seite erschien. Sie hatte den Maler mit Fragen bestürmt, nachdem er hinkend und mit Verletzungen am Arm und im Gesicht in die Kirche gekommen war, bis er schließlich nachgegeben und ihr erzählt hatte, was passiert war. Zugegeben hatte sich Iulia an dieser Sensation noch immer nicht sattgehört und -gesehen, denn Kai war normalerweise nie weit vom Kaiserpaar entfernt. Dies war das erste Mal, dass sie nahe aneinander kamen. Sie spannte sich an, als seine rostbraunen Augen über sie schweiften, denn immerhin kannte er Iulia von deren Besuchen im Palast, doch seine Aufmerksamkeit galt sofort wieder Meister Iwanov. „Kommst du etwa mit uns mit in die Taverne?“, fragte der ihn amüsiert und ohne Begrüßung, blieb jedoch einen Moment stehen. Kai schüttelte den Kopf und berührte flüchtig seinen Arm. Dann neigte er sich zu ihm - der Maler senkte ihm ohne nachzudenken den Kopf entgegen - und murmelte so leise etwas in sein Ohr, dass Iulia nichts verstand. Meister Iwanov hingegen richtete sich wieder auf und nickte ihm zu. Das war scheinbar alles, was Kai benötigt hatte, denn sein Blick glitt noch einmal über Iulia, dann, wesentlich hitziger, über den Maler, ehe er die Hand von seinem Arm nahm und so lautlos verschwand, wie er gekommen war. Meister Iwanov setzte seinen Weg fort, als ob nichts gewesen war. Iulia starrte ihn von der Seite her an. „Wollen wir über den Palastdämon sprechen?“ „Definitiv nicht“, sagte Meister Iwanov umgehend, „und nennt Ihn nicht so, er hat einen Namen. Dämonen sehen anders aus.“ „Ich habe nichts gegen ihn“, erwiderte Iulia beschwichtigend. Sie hatte allerdings Fragen zu dem Verhältnis zwischen dem Maler und Kai, Fragen, von denen sie noch nicht wusste, wie sie sie stellen sollte - besonders, ohne sich selbst zu kompromittieren. Meister Iwanov warf ihr einen scharfen Blick zu, aber er sagte nichts, sondern hielt ihr nur die Tür auf. „Ah“, sagte er dann mit einem Blick hinein, „Ivan und Sergios sind schon da.“ „Oh?“ Iulia warf einen Blick auf den Tisch, auf den sein langer, dünner Finger zeigte, und erstarrte. Sie kannte den großen, blonden Mann, der dort saß, nur zu gut. Er hatte geholfen, ihren Sohn auf die Welt zu bringen. Und er hatte sie zusammen mit seiner Frau Mathilda in den Monaten davor intensiv begleitet, während sie mit ihrer schwierigen Schwangerschaft gekämpft hatte. Sie konnte unmöglich dort hinein. Sergios würde sie definitiv erkennen, alleine schon, weil er wusste, wie der wahre Raulus aussah. Iulia räusperte sich. „Ich habe vergessen, dass ich schon etwas vorhabe.“ Meister Iwanov zog die Brauen zusammen. „Aha?“ Sie wich seinen bohrenden, hellen Augen aus und nickte nur, trat rasch einen Schritt zurück, bevor sie doch noch aus der Taverne heraus gesehen werden konnte. „Ein andermal vielleicht.“ „Das klingt nach einer faulen Ausrede“, stellte Meister Iwanov fest, „habt Ihr etwa Streit mit Ivan? Sergios?“ Er klang ein wenig ungläubig bei dieser Möglichkeit, was Iulia gut nachvollziehen konnte, denn der Arzt war einer der sanftmütigsten Männer, die Iulia jemals untergekommen waren. Rasch schüttelte sie den Kopf. „Nichts dergleichen, denkt Euch nichts dabei. Ich bin morgen wieder zur gleichen Zeit in der Kirche.“ Meister Iwanov blickte drein, als ob er sich gerne streiten wollte, dann nickte er jedoch nur. „Nun gut, dann ein andermal.“ Sie bemühte sich um ein Lächeln und eilte davon, ehe einer von Meister Iwanovs Freunden noch nachsehen kommen konnte. Das Herz hämmerte ihr in der Brust, als sie sich erlauben konnte, darüber nachzudenken, wie brenzlig die Situation hätte werden können. Iulia hatte das Gefühl, dass die Luft in Konstantinopel irgendwie dünner wurde. Sie würde aufpassen müssen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)