Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 11: Seelenscherben -------------------------- Seelenscherben „Leiden machen den Menschen stark. Oder sie zerbrechen ihn.“ (Carl Hilty, schweiz. Philosoph u. Staatsrechtler) Vitali erwachte und hielt sich den Kopf. Ungläubig sah er sich um. Er befand sich in einem Spiegelsaal, wenn von Saal die Rede sein konnte. Es handelte sich um einen kleinen Raum, der ganz aus Spiegeln aufgebaut war. Er richtete sich auf. Bis auf seine zahlreichen Spiegelbilder war er allein. Von den anderen keine Spur. Und einen Ausgang konnte er auch nirgends entdecken. Irritiert betrachtete er den Jungen in dem eigenwilligen Kostüm, der ihm aus allen Richtungen entgegen sah. Ein ziemlich dünner, hochgewachsener Jugendlicher mit hellbraunen Haaren und blauen Augen, der äußerst mitgenommen wirkte. Nicht gerade der strahlende Held, den er gerne gesehen hätte. Mehr schmächtig als mächtig. Vitali wollte sich abwenden, als sich das Spiegelbild schlagartig veränderte. Sein Abbild verschwand und die Spiegel wurden zu einer Leinwand umfunktioniert. „Vitali!“, schrie jemand. Dann kam eine dunkelhaarige Frau ins Blickfeld. Es dauerte eine Sekunde, ehe Vitali sie als seine Mutter identifizierte. Sie war um einiges jünger, schlanker und ihr schwarzes Haar war nicht gefärbt, doch ihre Stimme war genauso energisch und durchdringend wie er es von ihr gewöhnt war. „Was machst du hier für einen Höllenlärm? Das Baby will schlafen!“, schimpfte sie. „Das ist mir egal!“, rief eine kleine Jungenstimme in trotzigem Zorn. „Ihr kümmert euch bloß noch um die Kröte!“ „Vitali!“, brauste seine Mutter auf. „Du hast jetzt ein kleines Brüderchen und damit musst du dich abfinden, verstanden?! Und du wirst dich um ihn kümmern.“ „Ertränken werd’ ich’s!“ Eine schallende Ohrfeige traf den Sprecher im gleichen Moment so hart, dass ihm Tränen in die Augen schossen. Tränen vor Schmerz und Wut. „Ich hasse dich!!!“, brüllte der Junge aus Leibeskräften, als wolle er mit dem Schrei seine ganze Entrüstung auf seine Mutter schleudern. Im nächsten Augenblick hatte er sich umgedreht und rannte weg. Hinter ihm war noch die Stimme seiner Mutter zu vernehmen, die lautstark seinen Namen rief. Es war, als habe der Spiegel Vitalis Erinnerung aus den hintersten Winkeln seines Gedächtnisses gezerrt. Alle Gefühle und Gedanken, die er damals gehabt hatte, waren augenblicklich wieder wachgerufen, gerade so, als sei er wieder der fünfjährige kleine Junge. Vitali konnte sich nicht dagegen wehren, er wurde hineingerissen in einen Strudel aus Empfindungen. Alte Wunden wurden mit wieder aufgerissen. Eine weitere Begebenheit wurde aus seinem Gedächtnis abgezapft. Wieder sah er seine Mutter. Sie hielt den vielleicht vier Jahre alten Vicki im Arm. „Sieh dir das an, Vitali! Was hast du wieder gemacht?!“ „Wir haben bloß gespielt.“, verteidigte sich Vitali. „Gespielt?! Oh ich sehe, wie du mit ihm gespielt hast!“, seine Mutter wurde noch lauter. „Dein Bruder hat lauter Schürfwunden! Kannst du nicht auf ihn aufpassen?! Was hast du zu sagen?!!“ Keine Antwort. Wieso musste immer er auf ihn aufpassen?! Das war doch nicht seine Aufgabe! Ohne darüber nachzudenken biss Vitali zornig die Zähne zusammen, genau wie er es damals getan hatte. Ein bitterer Geschmack stieg in ihm auf und seine Muskeln verkrampften sich. Mit aller Macht zwang er sich, keinen Ton von sich zu geben. „Los, sag was!“, forderte seine Mutter nachdrücklich. Stille. Die Stimme seiner Mutter dröhnte in seinen Ohren. „Wirst du gefälligst den Mund aufmachen!!“ Niemals!, schoss es ihm durch den Kopf. Als nächstes rief seine Mutter nach seinem Vater. Widerwillig folgte dieser grummelnd dem Aufruf. „Was ist denn?“ „Dein Sohn führt sich mal wieder unmöglich auf! Er macht einfach nicht mehr den Mund auf!“ Gelangweilt sah Vitalis Vater seine Frau an. „Sei doch froh! Sonst nervt er einen doch ständig mit seinem Gequassel.“ Erneuter Umschwung. Vitali saß vor seiner Spielkonsole. Die Szene war vielleicht ein, höchstens zwei Jahre alt. Sein Vater trat neben ihn. „Ständig sitzt du vor dem Kasten, du Faulpelz. Mach endlich mal richtigen Sport, anstatt diesem Quatsch!“ „Mach’s doch selber. Dein Bierbauch hat’s nötiger als ich.“, gab Vitali harsch zurück, ohne auch nur den Blick zu heben. Er brauchte das Gesicht seines Vaters nicht zu sehen, um zu wissen, dass es sich in diesem Moment zu einer Maske des Zorns verzogen hatte. „Du unverschämter Bengel! Geh sofort auf dein Zimmer!!“, schallte seine wutschnaubende Stimme. Vitali reagierte nicht. Ungerührt starrte er auf den Fernsehbildschirm, als könne er die Rufe seines Vaters nicht wahrnehmen. „VITALI!!“ Vitali musste seine ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um sich nicht von dem Bildschirm abzuwenden. Im nächsten Moment wurde ihm der Controller aus den Händen gerissen und auf den Boden geschleudert. Gleichzeitig packte sein Vater ihn am Arm und zog ihn gewaltsam auf die Beine und schleifte ihn aus dem Zimmer. Kümmert euch doch um euren Dreck!, schoss es Vitali durch den Kopf. Spiel mit deinem Bruder. Mach dies, mach das. Du bist ein Faulpelz. Ein Großmaul!‘ Er konnte es nicht mehr hören!!! Die Tränen unterdrückend, ließ er sich von seinem Vater in sein Zimmer zerren. Ihr könnt mich mal!! Die nächste Szene begann mit seiner Großmutter. Sie musste etwa in dem Jahr als Vitali elf geworden war, stattgefunden haben. „Aua! Du tust mir weh!“, klagte Vitalis Kinderstimme. Die alte Frau mit den kurzen weißgrauen Haaren zog ihn am Arm aus dem Lokal. Es war der Tag der Einschulung seines Bruders. „Das verdienst du auch nicht besser! Kannst du dich nicht einmal benehmen, du verzogener Rotzlöffel?!“, fauchte sie. Vitali riss sich los. „Du blöde alte Schachtel!“ Die Alte funkelte ihn feindselig an. „Hätte ich mir ja denken können, dass dir dieses Russenweib keine Manieren beibringt. Dir gehört doch eine gehörige Trachtprügel!“ „Red nicht so über meine Mama!“, schrie Vitali aufmüpfig. Ein verächtlicher Ausdruck erschien auf dem faltigen Gesicht der Alten. Sie spuckte die Worte aus wie bittere Galle. „Du bist genauso ein missratenes Stück wie das Rindvieh von Mutter, das du hast.“ Vitali packte der pure Zorn. In blinder Wut trat er dem alten Drachen mit voller Wucht gegen das Schienbein. Schreiend ging seine Großmutter zu Boden. Bang blickte Vitali auf die zusammengebrochene Frau, dann biss er die Zähne zusammen. „Verreck doch, du alte Hexe!!“ Zeitsprung. Gleicher Tag, anderer Ort. Er war wieder zu Hause. Sein Vater stand drohend vor ihm wie ein Rachegott. Dahinter saß die Giftspritze. Nun mit Verband. Vitali erkannte ein verstohlenes freudiges Glühen in ihren hellen Augen, sie genoss seine Standpauke. Die donnernde Stimme seines Vaters, die eine Beleidigung brüllte, zerfetzte ihm fast das Trommelfell. „Eine alte Frau zu treten! Schämst du dich eigentlich nicht!“ „Am Einschulungstag deines Bruders!“, fügte Vitalis Mutter vorwurfsvoll hinzu. „Musst du denn immer im Mittelpunkt stehen?“ Vitali starrte seine Eltern mit einer Mischung aus Angst und Verzweiflung an. Er hatte doch bloß seine Mutter verteidigt! Das war doch seine Pflicht. Empörung kam in ihm hoch. „Sie hat Mama beleidigt!“, schrie er. „So ein Unsinn!“, fuhr ihm die alte Furie sofort über den Mund und wandte sich an ihren Sohn und dessen Frau. „Das ist doch nur eine seiner Ausreden. Er erzählt doch ständig irgendwelche Lügengeschichten. Ein Münchhausen wie er im Buche steht!“ Sie holte Atem und setzte dann in ruhigem, heuchlerisch freundlichem Ton fort. „Ich bin nicht sauer. Er ist schließlich mein Enkel. Ich möchte nur eine Entschuldigung hören. Aber dass er jetzt auch noch solche Lügengeschichten erzählt! Das verletzt mich wirklich.“ „Los! Entschuldige dich gefälligst!“, forderte sein Vater mit gewaltbereitem Gesichtsausdruck. Das konnte doch nicht wahr sein! Wieso glaubte ihm denn niemand?!! Vitali ballte die Fäuste. „Niemals!!!“, schrie er so laut er nur konnte. Anschließend spürte er erneut jeden einzelnen Schlag auf den Hintern, den sein Vater ihm damals verpasst hatte. Wahrscheinlich waren es nicht die Schläge gewesen, die ihm solche Schmerzen bereitet hatten, sondern die Tatsache, dass er zu Unrecht verurteilt worden war. Dass keiner da gewesen war, der für ihn eingestanden wäre. Dass er für alle nur ein kleiner lügender Aufschneider war! Dass ihn keiner liebte… Ich hasse euch! Ich hasse euch alle! „Lass mich in Ruhe, Justin! Ich hab keinen Bock, mit dir zu spielen.“, schimpfte sein Bruder. „Such dir Freunde in deinem Alter. Und jetzt verpiss dich!“ Szenenwechsel. Der achtjährige Justin stand im Laden seiner Eltern. Draußen sah er ein paar Kinder Fußball spielen. „Hopp, geh raus und mach mit.“, forderte ihn sein Vater lächelnd auf. Freudig stürmte Justin hinaus und näherte sich mit unsicheren Schritten der Gruppe. Die Kinder ignorierten ihn jedoch vollkommen. Einige Augenblicke stand er stumm da und traute sich nicht näher heran. Nach einer Weile bemerkte ihn einer der Jungen. „Hey, schaut mal den da an!“ „Will der bei uns mitmachen?!“, fragte ein anderer spöttisch. „Wie sieht der denn aus?“, mischte sich ein weiterer in schriller Stimmlage ein. Justin sah an sich herab. Er trug noch das alte schlabberige Karohemd seines Vaters und die verdreckten Gummistiefel, mit denen er zuvor auf dem Acker gearbeitet hatte. „Das ist sicher ‘n Verrückter!“, lachte eines der Kinder. „Hey du, bist du aus der Klapse?“ Die Kinder lachten gehässig. Justin wich zurück. Er wusste nicht, was er sagen sollte, fühlte sich klein und hilflos. Wortlos ging er zurück in das Gemüsegeschäft. Die boshaften Rufe der Kinder und ihr hämisches Gelächter bohrten sich in seinen Rücken. Anschließend saß er auf einmal in der kleinen, alten Küche seines alten Zuhauses. Das Telefon klingelte. Seine um Jahre jünger gewordene Mutter nahm ab. „Hier Boden. - Gary? Wo bist du? Wieso bist du da? Ich hab dir doch gesagt, du sollst gleich nach Hause kommen wegen der Ernte.“ Justin ärgerte sich. Gary wollte sich immer vor der Arbeit drücken, und er musste dann auch noch seinen Teil übernehmen. Er wandte sich wieder dem Blatt Papier auf dem Tisch vor sich zu. „Soll ich dich holen? Warte. Ich brauche was zu schreiben.“, erklang es im Hintergrund. Justin setzte einen letzten Strich und sprang freudig auf. Stolz hob er das Bild, das er soeben gemalt hatte, hoch. „Mama, Mama, schau mal!“ Liebevoll lächelnd nahm seine Mutter sein Kunstwerk entgegen. „Das ist wirklich sehr schön.“, lobte sie ihn. Dann griff sie nach einem Kuli und schrieb kurzerhand auf die Rückseite von Justins Bild die Adresse, bei der sie seinen Bruder abholen sollte. Justin hatte nie wieder etwas gemalt… Wieder im Laden. „Wo sind bloß die Bananen?“, rief Justins Vater aufgebracht, was für ihn untypisch war. „Justin, hast du nicht gestern die Bananen ausgeladen? Wo hast du sie denn hin?“ Der fleißige kleine Justin, der gerade damit beschäftigt gewesen war, seinem Vater zu helfen, sah von seiner Arbeit auf. „Zu den Äpfeln.“ „Du hast sie in den Kühlraum? Bist du des Wahnsinns!“, schrie sein Vater und rannte zur Treppe. Gary, der neben Justin stand, bückte sich zu ihm. „Hast du wieder Mist gebaut. Irgendwann schmeißen dich Mama und Papa noch aus dem Haus. Sie lieben dich nämlich gar nicht. Du bist nur ihre kleine Arbeitsmaschine.“, sagte er mit boshaftem Grinsen. „Das stimmt nicht!“, rief Justin sauer. „Du wirst schon sehen.“ Mit diesen Worten ging Gary samt einer Kiste Gemüse aus dem Lager. Im nächsten Moment kam Justins Vater mit einer Kiste voll brauner Stangen zurück, die zuvor Bananen gewesen waren. „So kann ich das doch nicht mehr verkaufen! Hab ich dir nicht beigebracht, dass Bananen es nicht kalt mögen?!“, der sonst ruhige Herr Boden war stinksauer, sein Gesicht knallrot. Justin zuckte ängstlich zusammen. „Entschuldigung.“, sagte er kleinlaut. „Nix Entschuldigung!“, grollte sein Vater. Unwillkürlich schossen Justin Tränen in die Augen. So hatte er seinen Vater noch nie erlebt. „Das kostet doch alles Geld! Denk das nächste Mal gefälligst daran.“, schimpfte Herr Boden, dann ließ er seinen Sohn einfach stehen. Justin fühlte, wie ihm die Tränen über das Gesicht kullerten. Er wusste, dass sein Vater einen schlechten Tag hatte, weil ein Lieferant abgesprungen war und er nun einen Ersatz suchen musste. Er hatte es nicht so gemeint! Dennoch versiegten seine Tränen nicht. Garys Worte hallten in seinem Kopf. Sie lieben dich nämlich gar nicht. Vivien sah einen Hausgang, den sie entlang rannte. Sie erinnerte sich, dass es sich dabei um den Gang des Gebäudes handelte, in dem sie früher Pfadfinder-Gruppenstunde gehabt hatte. Kurz vor der Tür blieb sie stehen, um nach Luft zu schnappen. Vor Vorfreude strahlte sie über das ganze Gesicht. Dann kamen ihr von der halb geöffneten Tür die Stimmen der anderen Pfadfinderinnen entgegen. „Vivien?!“, rief eine Mädchenstimme entsetzt. „Ich soll mit Vivien in ein Zelt liegen?! Kommt gar nicht in Frage! Die hat sie doch nicht mehr alle! Schaut euch die doch mal an! Die hat bei der Geburt doch nicht genug Sauerstoff gekriegt oder sie hat Down-Syndrom oder sonst was! Mit vierzehn benimmt sie sich immer noch wie ein Baby! Wie sie immer so blöde lacht und dumme Witze macht! Das ist doch nicht zum Aushalten! Nein, das mache ich nicht das ganze Mai-Lager über mit!“ Viviens Lächeln war abrupt erstorben. Sie hörte eine zweite Mädchenstimme sich einmischen. „So schlimm ist sie nun auch wieder nicht, Nicole.“ „Jetzt tu doch nicht so!“, schimpfte Nicole. „Dir geht sie doch genauso auf die Nerven! Die ganze Gruppe kann sie nicht leiden und sie checkt es einfach nicht!“ Vivien fühlte ein unangenehmes Drücken in der Brust, als wolle etwas ihren Brustkorb zermalmen. Für einen Moment konnte sie sich nicht bewegen. „Sei nicht so laut. Wenn sie kommt, hört sie dich noch.“, hörte sie währenddessen eine dritte Person sagen. „Auf einmal will es keiner mehr sein! Vor ihr spielt ihr immer die Lieben, Netten. Ihr seid echt feige.“, beschwerte sich Nicole. Vivien schluckte das Gefühl, das aus ihrem Magen hervorkriechen wollte, nach unten. Mit größter Mühe zwang sie sich ihr fröhlichstes Lächeln auf, als habe die Veränderung ihrer Mimik einen positiven Effekt auf ihre Gefühlsregung. Es war alles gut. Was andere von ihr dachten, war vollkommen egal. Alles war gut. Gut… Wenn sie sich das nur lange genug einredete, dann … Vivien ballte die Fäuste und ging die letzten Schritte zum Zimmer. Im nächsten Moment trat sie ein überschwängliches Hallo rufend ein. Andere Szene. „Wartet!“, rief Viviens Kinderstimme laut und fröhlich. Ihr vierjähriges Selbst holte die Gruppe Kinder ein, die alle zwei, drei Jahre älter als sie selbst waren. Sie befand sich in der Fußgängerzone im Entschaithaler Stadtzentrum. Die ganze Zeit schon war sie der fünfköpfigen Clique hinterhergerannt. „Ich will mitspielen!“ „Verschwinde, du Zwerg!“, schimpfte einer der Jungs. „Bitte!“, rief Vivien eindringlich. „Such dir Leute in deinem Alter.“ Ein Mädchen setzte sich jedoch für sie ein. „Lasst sie doch. Sie stört doch niemanden.“ „Die ist ne Nervensäge!“, antwortete der erste Junge. Der Anführer grinste. „Wir lassen sie mitspielen.“, entschied er. „Ich weiß sogar schon was. Setz dich da hin.“ Er deutete auf die Parkbank links von ihnen, direkt in der Einkaufspassage. Freudig folgte Vivien der Aufforderung, während der Junge sich zu seinen Gefolgsleuten umdrehte. „ Wir krönen die Kleine jetzt zur Müllkönigin!“ Mit diesen Worten griff er in den Müllkorb direkt neben der Bank und holte eine alte Zeitung hervor. „Das ist dein Umhang.“, verkündete er und legte das Papier um Viviens Schultern. Die anderen Kinder taten es ihrem Anführer gleich und fischten ebenfalls Überreste aus dem Abfallbehälter. Der Junge, der sie von Anfang an nicht dabei haben wollte, gab ihr einen halb gegessenen Apfel in die Hand, ein Mädchen stülpte ihr eine leere Chipstüte als Handschuh über. Sie kicherten. Das Mädchen, das sich für sie eingesetzt hatte, wollte nicht mitmachen, der letzte Junge angelte den Pappteller einer Currywurst aus dem Müll, an dem noch Reste vom Senf hingen, und klatschte ihn auf Viviens orangehaariges Haupt. „Eure Krone, Majestät!“ Gelächter. „Und gefällt dir das?“, fragte der Anführer sie grinsend. Vivien strahlte über das ganze Gesicht. Sie war so froh, endlich Teil der Gruppe zu sein. Als sie eifrig nickte, fiel ihr die Currywurstschale vom Kopf und die Kinder um sie lachten so laut und ausgiebig, dass sie sich gar nicht mehr einkriegen wollten. Sie deuteten mit ihren Fingern auf sie und hielten sich die Bäuche. „Das gefällt ihr!“, schrie der erste Junge schrill. Vivien lachte mit und versuchte die unangenehme Ahnung in ihrem Körper zu überhören, dass etwas an dem Gelächter der anderen völlig falsch war, wie ein misstönender Klang, der ihr in den Ohren wehtat. Doch Vivien lachte, lachte so sehr, dass sie Tränen in den Augenwinkeln spürte. Und zum ersten Mal fiel ihr auf, wie ähnlich Lachen und Schluchzen klangen. Der Schauplatz änderte sich erneut. „Vivien, was hast du jetzt wieder angestellt?“, schimpfte ihre Mutter hustend. Die gesamte Küche glich einem Schlachtfeld. „Ich wollte dir frische Brötchen backen!“, antwortete das siebenjährige Mädchen stolz. „Du spinnst wohl! Schau dir die Sauerei an!“ Eilig öffnete ihre Mutter das Fenster, um den Qualm rauszulassen. Und holte die verkokelten Brötchen aus dem Ofen. Vivien sah ihre Mutter mit großen Augen an. „Aber ich wollte doch -“ „Und ich kann die ganze Sauerei jetzt wieder weg machen!“, unterbrach ihre Mutter aufgebracht. „Ich helfe dir!“, rief Vivien freudig. „Dann kommt bloß noch ein größeres Chaos bei raus! Los ab mit dir! Geh spielen.“ „Aber…“ Ihre Mutter sah sie strafend an. „Du hast gehört, was ich gesagt habe! Los!“ Vivien biss sich auf die Unterlippe und verließ den Raum. Langsamen Schrittes ging sie auf die Treppe zu und fühlte ein unangenehmes Kribbeln in der Nase, das ihr das Atmen erschwerte. Seit ihre Mutter schwanger war, war sie so schrecklich gereizt. Vivien verstand einfach nicht, was mit ihr los war. Hatte sie sie nicht mehr lieb? Anderes Bild. Vivien saß alleine zu Hause und wartete. Ihre Eltern hätten doch schon lange da sein müssen. Sie hatte extra einen Salat für alle gemacht, aber der war mittlerweile zusammengematscht. Eine Bekannte ihrer Eltern hatte sie von der Schule geholt, weil ihre Mutter zum Arzt gegangen war. Aber das konnte doch nicht so lange dauern! Und wo blieb ihr Papa? Plötzlich klingelte es. Freudestrahlend rannte sie zur Tür. Doch zu ihrer Enttäuschung war es nur die Nachbarin. Diese teilte ihr mit, ihre Mutter liege in den Wehen. Ihr Vater sei gleich ins Krankenhaus gefahren und daher solle sie auf Vivien aufpassen. Vivien begann zu weinen. Wieso hatte ihr Vater sie nicht mitgenommen? Ihre Eltern hatten sie einfach vergessen! Sie war ja bloß das alte, verbrauchte Kind. Keiner hatte sie lieb… Secret sah sich eingeschlossen von flimmernden Spiegeln, als wäre die Antenne bei einem Fernseher gekappt. Was hatte das zu bedeuten? Secret legte die Hände zu einer Faust zusammen und holte aus. Mit aller Kraft schlug er gegen die Spiegel. Schlagartig zeigte sich ein Bild, wie durch einen Nebel hindurch. Der Blick durch die Augen einer kleinen Person tat sich auf. Der Beobachter lugte hinter einer Tür hervor in ein luxuriös eingerichtetes Zimmer. Zwei Erwachsene befanden sich darin. Ein Mann mit dunklem Haar und einem harten Blick saß an einem Mahagoniholzschreibtisch. Vor ihm stand eine schlanke schwarzhaarige Frau, die dem Zuschauer den Rücken zugewandt hatte. Ihre Stimme klang kühl. „Heute haben Erik wieder diese Jungen aufgelauert.“ „Ich habe viel zu tun, kannst du mir davon nicht später erzählen?“, unterbrach der Mann, ohne von seinen Unterlagen aufzusehen. „Thomas, dein Sohn ist grün und blau geschlagen.“, sagte die Frau in nüchternem Ton. „Du musst mit ihm reden.“ Weiterhin sah der Mann nicht auf. „Er soll nicht immer jammern. Er ist ein Donner. Die lassen sich nicht einfach unterkriegen.“ „Das ist es ja. Er ist ein Donner. Sie sagen, er sei der verwöhnten Sohn reicher Eltern.“ Der Mann blickte mit einem mörderischen Blick auf. „Dann soll er sich gefälligst dagegen wehren und nicht heulend zu seiner Mami rennen.“ Sein Blick wurde wieder distanziert. „Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich habe Wichtigeres zu tun.“ Der kleine Beobachter wandte sich ab. Sein Blick trübte sich durch hochkommende Tränen. Graues Geflimmere folgte. Secret verstand nicht recht, was das zu bedeuten hatte und was er da gerade gesehen hatte. Nur eines war ihm klar: Er musste so schnell es ging hier raus. Die zwölfjährige Ariane war mit ihren Eltern auf einer Betriebsfeier. Der Vorgesetzte ihres Vaters hatte sie freundlich begrüßt. „Und kleine Lady? Was möchtest du mal werden? Schauspielerin? Model?“ „Ich will Archäologin werden.“ Der Mann lachte kehlig und legte seine große Hand auf ihren Kopf. „Du solltest dein hübsches Köpfchen nicht überanstrengen!“ Szenenwechsel. Die neue streng drein blickende Geschichtslehrerin hatte sich vor der Tafel aufgebaut. Nachdem der alte Geschichtslehrer in Rente gegangen war, sollte sie Arianes Klasse übernehmen. „Ich habe mir die Noten von letztem Jahr durchgeschaut. Besonders beliebt ist Geschichte bei euch offensichtlich nicht. Bis auf ein paar Ausnahmen zumindest. Wer von euch ist Ariane?“ Ariane meldete sich. Als der Blick der neuen Lehrerin auf sie fiel, trat mit einem Mal Skepsis auf ihre Züge. Sie wandte den Blick ab. „Dass eins klar ist, bei mir wird nicht nach Sympathie benotet, sondern nach Leistung!“ Ariane spürte einen Kloß der Empörung im Hals. Im nächsten Moment betrat sie wieder ihr Klassenzimmer. Die Erinnerung war nicht viel mehr als ein halbes Jahr alt. „Morgen!“ An der Fensterseite hatte sich eine ganze Gruppe zusammengefunden, die ausgelassen lachte. Interessiert näherte Ariane sich ihren Klassenkameraden. Sie erkannte, dass diese sich um das Smartphone eines Mitschülers aufgestellt hatten. I’m a Barbie girl in a Barbie wooorld!, dröhnte es aus den Lautsprechern. Die Musik mischte sich mit dem schallenden Gelächter ihrer Klassenkameraden. „Das passt so gut!“, lachte ein Mädchen. Ariane schaute über ihre Schultern, um das YouTube Video selbst in Augenschein zu nehmen. Sie stockte. „Hast du echt toll gemacht, Phillip!“, lobte einer der anderen Jungs. Ariane spürte einen Kloß im Hals. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Schließlich brach es aus ihr heraus. „Was soll das!“, kreischte sie schrill. Nun waren die Blicke aller auf sie gerichtet. „Was ist denn mit dir los?“, fragte eine brünette Mitschülerin voller Unverständnis. „Was ist das?“, schrie Ariane und zeigte auf das Smartphone. „Ein Video vom Landschulheim.“, wurde ihr nüchtern erklärt. „Das ist ein Video über mich! Im Internet!“ Ariane schaffte es nicht, ihre Stimme wieder unter Kontrolle zu bringen. „Nun hab dich doch nicht so.“, meinte ein langhaariges Mädchen. „Wir helfen nur deiner Modelkarriere. Vielleicht wirst du entdeckt!“ Die innere Zerrissenheit, ob sie schreien oder weinen sollte, machte Ariane für einen Moment reaktionsunfähig. „Reg dich doch nicht künstlich auf.“, tadelte die Brünette von zuvor. „Seit wann bist du denn so empfindlich?“, lachte ein Junge. Schließlich war es zu viel. „Nee, oder? Du wirst doch jetzt nicht deswegen anfangen zu heulen!“ Ariane stürzte aus dem Zimmer. Die nächste Szene fand ein paar Tage nach der vorigen statt. Sie saß der Schulpsychologin gegenüber, einer freundlich lächelnden Frau. „Deine Klassenkameraden haben das Video wieder gelöscht. Und sie meinten das sicher nicht böse. Dass sie ein Video über dich gemacht haben, zeigt doch, wie beliebt du bist.“ Ihre Worte verunsicherten Ariane. Hatte sie ihren Klassenkameraden ungerechterweise unterstellt, dass sie sie demütigen wollten? Hatte sie selbst sich falsch verhalten? „Du bist eben ein hübsches Mädchen und Phillip ist offensichtlich in dich verliebt. Er wusste wohl einfach nicht, wie er dir seine Gefühle zeigen sollte. Für Jungs in diesem Alter ist das schwer.“ Arianes Atmung wurde unregelmäßig. Wieso hatte sie das Gefühl, dass das hier in eine völlig falsche Richtung lief? War es ok, so behandelt zu werden, solange Phillip sie hübsch fand? „Deine Klassenkameraden haben mir erzählt, dass du oft arrogant auf sie gewirkt hast. Aber durch die Sache mit dem Video finden sie dich jetzt viel menschlicher. Das kannst du als Chance nutzen, um dich besser in die Klasse zu integrieren.“ Ariane erhob sich unwillkürlich. Das hier war falsch! Diese Angelegenheit kränkte sie. Ja. Es tat ihr weh, Aber sie hatte nie aufgehört, sich als Teil dieser Klasse zu fühlen! Sie hatte sich nie in ihrem Leben als Außenseiterin empfunden! Und ganz sicher hatte sie niemandem jemals das Gefühl geben wollen, sie würde sich für etwas Besseres halten! Der Blick der Psychologin wurde streng. „Wenn du bei diesem falschen Stolz bleibst und dir nicht helfen lassen willst, wirst du es sehr schwer im Leben haben.“ Ariane rang mit sich. Sollte sie sich wieder hinsetzen und so tun, als hätte diese Frau Recht und sie habe sich alles selbst zuzuschreiben und wäre tatsächlich arrogant? Ariane reckte das Kinn, wandte sich ab und verließ den Raum. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Sie hielt den Griff noch in der Hand und bemühte sich, nicht in Tränen auszubrechen. „Wie blöd bist du eigentlich?!! Wie kann man nur so verdammt dumm sein?!!“ Die Schreie ihres Vaters zerfetzten Serena fast das Trommelfell. Ihr wurde schwindlig. „Hör endlich auf, sie anzuschreien!“, verlangte ihre Mutter lautstark und nahm ihre verstörte Tochter schützend beiseite. Es war tiefe Nacht. Die Familie Funke war gerade vom Urlaub zurückgekehrt und war dabei gewesen, das Gepäck auszuladen. Serena war noch einmal nach draußen gerannt, um zu helfen, dabei hatte sie jedoch vergessen, dass der Schlüssel innen steckte. Mit einem lauten Knall war die Tür zugefallen und hatte sie alle ausgesperrt. Serena war mittlerweile in ein unkontrolliertes Schluchzen ausgebrochen. Die Versuche ihrer Schwester und ihrer Mutter, sie zu trösten, waren vergeblich. Immer wieder konnte Serena die donnernden Flüche ihres Vaters hören, der mit ihrem Bruder vergeblich versuchte, die Tür wieder zu öffnen. Serena bekam kaum noch Luft vor lauter Weinen. „Er hasst mich. Er hasst mich.“, presste sie zwischen ihren halb erstickten Atemzügen hervor. Sie hatte sich noch nie von ihrem Vater geliebt gefühlt. Sie hatte schon immer gewusst, dass er sie hasste! Von ganzem Herzen hasste. Plötzlich fand sie sich in ihrem Zimmer wieder, in eine Ecke gekauert. Ich bin so dumm. So dumm. Ich mache immer nur Ärger. Niemand braucht mich. Wäre ich doch bloß tot!! Die Szene wechselte. „Ich gehe! Ich gehe! Ich halt das nicht mehr aus!“, schrie ihre in Tränen aufgelöste Mutter. Es war nach einem heftigen Streit zwischen ihren Eltern gewesen. Serena spürte, wie sich erneut alles in ihr zusammenzog, wie damals. „Mama“, schluchzte Serena. Hilflosigkeit und Angst erfassten sie. „Entweder kommst du mit oder du bleibst bei ihm!“, brüllte ihre Mutter. Die Worte bohrten sich in Serenas Inneres. Tränen. „Mama.“ Anschließend erkannte Serena die Seiten ihres Tagebuchs. Warum hassen mich alle so?! Etwas schnürte ihr die Kehle zu. Es ist mir egal. Ihr seid mir alle egal. Ich hasse euch! Ich hasse euch alle! Ich hasse diese ganze verdammte Welt!!! Verzweifelt blickte Serena auf den lateinischen Text vor sich. Sie konnte ihn einfach nicht übersetzen. „Wird’s bald?“, forderte der Lehrer sie erzürnt auf. Apathisch starrte Serena auf den Text und wünschte sich, einfach zu verschwinden. Sie gab keinen Ton von sich. Der Lehrer fuhr sie wutentbrannt an. „Das ist doch nicht so schwer! Wie viel Geld haben deine Eltern denn zahlen müssen, damit du die Gymnasiumsempfehlung bekommen hast?“ In Serena mischten sich Hilflosigkeit und Scham mit Zorn. Für den Bruchteil einer Sekunde entbrannte in ihr der Wunsch, dem Lehrer die Kehle durchzuschneiden, damit er für immer seinen Mund halten würde! Aber da sie das nicht konnte, kauerte sie sich gedemütigt zusammen, als könne sie sich dadurch den erniedrigenden Sprüchen des Lehrers entziehen. Die Zähne zusammengebissen unterdrückte sie unter größter Anstrengung die Tränen, die sich an die Oberfläche kämpfen wollten. Klein und dumm… Neue Szene. Serena saß wieder auf ihrem Platz im Klassenzimmer. Sie hatte jetzt Religionslehre. Sie hörte die Stimmen ihrer Mitschüler ihr Beleidigungen zuzischen. „Häßlich!“ „Du stinkst.“ Sie ignorierte es. Der Unterricht begann. Während der Stunde standen die Jungs einzeln auf, gingen zum Waschbecken oder zum Mülleimer und danach an ihr vorbei. Nacheinander wurde sie von ihnen angespuckt. Sie zwang sich, es zu ignorieren. Nach der Stunde kam die Religionslehrerin, die das Schauspiel die ganze Zeit wortlos mitangesehen hatte, zu ihr und riet ihr, die Klasse zu wechseln. Serena lächelte sie schwach an. „Ist schon gut. Ich habe eine beste Freundin in der Klasse.“ Während diese Worte noch nachhallten, tauchte in den Spiegeln vor ihr der verächtliche Blick einer Person auf. Beste Freundin… Serenas Augen weiteten sich. In ihren Pupillen spiegelte sich das Bild eines Mädchens mit bronzeblondem langem Haar wider. Ein hohes, geziertes Lachen ertönte. Und die Erinnerung, wie sie dieses Mädchen überschwänglich umarmte, schoss durch ihren Kopf. Freudige Momente wurden in ihr Gegenteil verkehrt. Wortfetzen stürmten in ihrem Geist hin und her, ehe das Echo an einem Satz hängen blieb. „Wir können keine Freunde mehr sein.“ Immer noch das Bild des Mädchens vor Serenas Augen. Der Blick nun voller Zorn. „Wenn du noch einmal dein Maul aufmachst, kriegst du eine auf die Fresse!“ Ein Orkan an Empfindungen tobte in Serenas Innerem und riss an ihrem blutenden Herzen. Zu dem Mädchen gesellten sich von einem Moment auf den anderen weitere. Eine Gruppe Mädchen hatte sie eingekeilt und redete von allen Seiten auf sie ein. „Hast du dich eigentlich schon mal im Spiegel angesehen?“ „Hässlich!“ „Wasch dir mal die Haare.“ Hämisches Gelächter füllte Serenas Gedanken aus. Serena wurde schwindelig. Sie ging auf die Knie und hielt sich verzweifelt die Ohren zu, versuchte die Stimmen abzuschalten, doch sie ließen einfach nicht von ihr ab. „Hört auf.“, flüsterte Serena unter größter Seelenqual. Von ihrer Stimme war nicht mehr übrig als ein Winseln. Ihr Schädel dröhnte und fühlte sich an, als wolle er zerplatzen. „Du stinkst.“ „Dumm!“ „Ungeschickt.“ „Trampel.“ „Unerzogen.“ „Vorlaut.“ „Unverschämt.“ „Schreihals!“ „Führ dich nicht so auf!“ „Teufel!“ Die verschiedenen Stimmen wirbelten hin und her, kreisten sie ein. Die Stimmen von Schulkameraden, von Lehrern, ihrem Vater und ihrem Bruder, die Stimmen ihrer Tante, Oma… So viele Stimmen! „Weibstück!“, hörte sie ihre Mutter schimpfen. Serena hielt es nicht mehr aus. Sie konnte es nicht ertragen. Es sollte aufhören! Aufhören!! Bitteee!!! Doch die Spiegel waren noch lange nicht am Ende angelangt. Einer der Spiegel wurde zertrümmert. Im gleichen Moment brach der Bann. Justin schreckte mit einem Mal auf. Fassungslos und schwer atmend starrte er in die Spiegel, doch aus diesen blickte ihm bloß noch seine eigene Reflexion entgegen. Alles schien auf einmal so fremd, als hätte er sich in einer Trance befunden, in einer anderen Welt. Er spürte etwas Feuchtes auf seinen Wangen und wischte sich Tränen aus den Augen. Anschließend nahm er Secret wahr, der zu ihm gespurtet kam. „Alles in Ordnung?“, fragte der Schwarzhaarige. Für einen Augenblick starrte Justin ihn bloß abwesend an. Secret kam ihm so schrecklich unpassend vor, wie eine Sinnestäuschung, die es zu verscheuchen galt. „Justin!“, hörte er ihn, nun bestimmter. Daraufhin nickte er langsam. Die Realität kam nur schleppend zu ihm zurück. „Alles okay.“ Benommen sah er sich um. In den Spiegeln waren er und Secret zu sehen. Nichts weiter. Justin schüttelte den Kopf, wie um einen Albtraum abzuschütteln. „Wo sind die anderen?“, kam es stockend aus seinem Mund. „Sie werden auch in solchen Spiegelräumen stecken.“, antwortete Secret. Jetzt war Justin wieder voll da. „Dann lass uns keine Zeit verlieren!“ „Wir müssen einfach die Spiegel zerschlagen.“, erklärte Secret. Im gleichen Augenblick erstarrte er und war für einen Moment wie weggetreten. „Eine gewaltige Energie…“ Justin verstand nicht. Doch bevor er Secret nach der Bedeutung seiner Worte fragen konnte, spürte er diese am eigenen Leib. Mit einem lauten Knall flogen den beiden Jungen die Spiegel um die Ohren, begleitet von einem verzerrten, gequälten Schrei. Der Sektor war in unterschiedlich große Räume aufgeteilt. Jeder Raum bestehend aus riesigen Spiegelwänden. Doch in diesem Moment fegte eine solch gewaltige Energiewelle über sie hinweg, dass die Spiegel knallend explodierten. Klirrend regneten die unzähligen Scherben auf den Boden und von den Sälen blieb nichts als ein riesiger Trümmerhaufen übrig. Die Abgrenzungen zwischen den Räumen waren zerstört. Das kalte graue Licht, zuständig für die karge Beleuchtung, erlosch zeitgleich und tauchte die Umgebung in Dunkelheit. Nach einigen Sekunden nahm Justin seine Arme, mit denen er seinen Kopf geschützt hatte, wieder herunter. Secret hatte ihn im letzten Augenblick zu Boden gerissen. Verwundert erkannte Justin, dass seine Hände mit dem Stoff seiner Kleidung überzogen waren, zuvor war dies nicht der Fall gewesen. Außerdem hatte sein Anzug ihn vor jedweder Verletzung durch die Scherben bewahrt. Aber er hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Die Spiegelüberreste am Boden vor ihm schimmerten gespenstisch. Sie fungierten als einzige Lichtquelle in der aufgetretenen Finsternis. Justin stützte sich auf seine Hände und hievte seinen Oberkörper etwas nach oben. Als er das Chaos um sich herum erkannte, zogen sich seine Innereien zusammen. Ihm wurde bewusst, dass er genauso gut von einem der Splitter hätte durchbohrt werden können. Sofort wandte er sich besorgt zu dem anderen Jungen. „Secret!“ Secret gab ein Stöhnen von sich und bewegte sich dann allmählich. Er war nicht so glimpflich davon gekommen wie Justin. Seine Arme waren von winzigen Schnittwunden gezeichnet. Justin ging davon aus, dass die Kratzer äußerst schmerzhaft waren, aber Secret ließ sich davon nichts anmerken. Sofort war er wieder auf den Beinen, nur sein leicht verbissener Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass ihn das einige Selbstbeherrschung kostete. Justin tat es Secret gleich und richtete sich wieder auf. So laut er konnte rief er nach den anderen. Secret wies ihn auf eine Gestalt hin, die sich von vorne links näherte. „Hey!!!“ Vitali erreichte sie. „Ich hab jetzt echt die Schnauze voll von diesem Scheiß!“, fluchte er. „Wir müssen die anderen finden.“, meinte Justin und stieg über die Trümmer vor ihm. Erneut rief er nach den fehlenden Gruppenmitgliedern und ging weitere Schritte. Die beiden anderen folgten ihm. In der Dunkelheit war es schwierig, etwas zu erkennen. Und was, wenn die anderen unter den Trümmern begraben lagen? Oder Schlimmeres! „Hierher!“, schrie Ariane von weiter weg. Viviens Bewusstsein kehrte langsam wieder zurück. Mit ihm kam der Schmerz. Sie spürte etwas Schweres auf ihrem Körper lasten. Langsam öffnete sie die Augen. Es war dunkel. Auf dem Boden, auf dem sie bäuchlings lag, waren überall Scherben verteilt. Sie hörte Rufe. Vivien wollte auf sich aufmerksam machen, doch sie brachte keinen Ton heraus. Schritte. „Hierher!“, hörte sie Ariane plötzlich rufen. Jemand stemmte den riesigen Spiegelüberrest von ihrem Körper. Sie wurde von Ariane geborgen. „Ist alles ok?“ Vivien rang sich ein schwaches Lächeln ab und ließ sich von Ariane helfen. „Was ist?!“, schrie Vitali und kam mit den anderen zu ihnen gespurtet. Sobald Justin ihren Zustand erkannte, stürzte er vor und warf sich regelrecht auf den Boden zu ihr. „Vivien!“ Besorgt beugte er sich über sie. „Wie geht es dir?“ „Wenn man von meinem bisherigen Leben absieht, ging es mir nie besser.“ Sie grinste. Seine Fürsorge freute sie. Vitali musste unwillkürlich grinsen. „Du lässt dir auch von gar nichts die Laune vermiesen, was?“ Vivien kicherte. „In Begleitung von lieben Freunden ist alles nur halb so schlimm.“ Anschließend setzte sie sich wieder auf. „Wo ist Serena?“ „Was ist überhaupt passiert?“, fügte Ariane an. Secrets Blick wurde düster. „Ich fürchte, eure Fragen können auf einen Schlag beantwortet werden.“ Er wandte sich nach rechts. Die anderen verstanden seine Worte nicht. Fragend folgten sie Secrets Blick. Sie sahen, dass weiter hinten einige der Spiegelsplitter ein schwarzrotes unregelmäßiges Flackern reflektierten. Der Ursprung der Erscheinung musste hinter weiteren Trümmern liegen, die die Sicht behinderten. Der schwache dunkle Schein flammte auf und fiel wieder in sich zusammen, als pulsiere er einem Herzschlag entsprechend. Es war ein Unheil verheißender Anblick. Mit einem Mal wurde der Rhythmus schneller und schneller, als mache sich etwas zum Ausbruch bereit. Angst stieg automatisch in ihnen auf. Eine instinktive Angst vor etwas, das sie nicht benennen konnten. Doch ein Teil von ihnen erahnte bereits die unsichtbare Gefahr. Geradezu körperlich spürten sie die Vorzeichen einer Katastrophe. Ein schriller gepeinigter Mädchenschrei hallte durch das Areal und packte ihr Herz mit eisigen Krallen. „SERENA!!!“ Vitali stürmte los, doch eine Hand riss ihn sogleich zurück. „Warte!“, befahl Secret und hielt Vitalis Schulter mit eisernem Griff fest. „Lass mich los!“, brüllte Vitali wutentbrannt. „Sie bringen sie um!!!“ Er machte sich los, doch kam er nicht weit. Augenblicklich fegte eine gewaltige Druckwelle über die fünf hinweg. Scherben flogen wie Geschosse durch die Luft. Weitere Spiegelwände zerschellten und gaben die Sicht auf eine in feuergleichem Lodern stehende Figur frei. Serena. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)