Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 18: Gemütliches Beisammensein ------------------------------------- Gemütliches Beisammensein „Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilte Freud ist doppelte Freud.“ (Sprichwort) Glücklicherweise sahen die Eltern der anderen vier die Angelegenheit weit gelassener als Serenas Mutter: Anstatt sich über die Kurzfristigkeit seiner Bitte zu beschweren, wirkten Justins Eltern richtig erfreut über seine Eröffnung, dass er bei Freunden übernachten wollte. Ihre Reaktion machte ihn etwas verlegen. Hatten sie sich zuvor etwa Sorgen gemacht, weil er im Gegensatz zu seinem Bruder keinen großen oder auch nur kleinen Freundeskreis besessen hatte? Ziemlich überrascht waren Arianes Eltern. Sie hatten zwar gewusst, dass es ihrer Tochter nicht schwer fiel, neue Bekanntschaften zu schließen, aber direkt am ersten Tag eingeladen zu werden, beeindruckte sie dann doch. „Wie, da sind Jungs dabei?“, fragte ihr Vater schockiert. Ehe sie ihm das erklären konnte, hatte ihre Mutter das Wort ergriffen. „Wie ehrlich unsere kleine Maus ist! Also ich habe das zu Hause nie erzählt.“ Ihr Vater sah seine Frau daraufhin verstört an. „Was soll denn das heißen?“ Ihre Mutter grinste verschmitzt. Hilfesuchend schaute ihr Vater daraufhin Ariane an, als brauche er eine Versicherung, dass sie immer noch seine kleine Prinzessin war. „Keine Angst, Papa. Ich bin nicht wie Mama.“ Ein theatralisches Seufzen kam von ihrer Mutter. „Du vergeudest deine Jugend mit Vernünftigsein.“ Ariane sparte sich eine Antwort. Im Gegensatz zu ihrer Mutter strebte sie keine wilde Jugend an und war heilfroh, dass keiner der anderen sie als potentiellen Partner betrachtete und auf ihre weiblichen Reize reduzierte. Sie hatte es schließlich schon erlebt, dass sie auf Feiern nicht eingeladen worden war, mit der Begründung, die anderen Mädchen würden nicht wollen, dass sie wieder die ganze Aufmerksamkeit der Jungen auf sich zog. Lautstark beschwerte sich Vitalis Mutter darüber, nicht vorher informiert worden zu sein und dass er sich dadurch auch noch vor seinem Tischdeck- und -abräumdienst drückte. Zweiteres sah Vitali seinerseits als positiven Nebeneffekt. Viviens Mutter wünschte ihr viel Spaß. Als sie wie verabredet um vier wieder bei Serena eintrafen und sich daran machten, alles herzurichten, hatte es sogar fast den Anschein, als könnten sie den tatsächlichen Grund ihres Zusammenseins für kurze Zeit vergessen. Während die Jungs im Obergeschoss – dem Steuerbüro von Serenas Eltern – übernachten sollten, war für die Mädchen vorgesehen, ihr Lager in Serenas Zimmer aufzuschlagen. Unsicher führte Serena Vivien und Ariane in ihr Zimmer. Die Einrichtung eines Raumes sagt viel über dessen Bewohner aus, und genau das war Serena unangenehm. Sie hatte nicht die geringste Lust, den anderen vieren mehr von sich zu offenbaren als unbedingt nötig war. Aber sie hatte in der kurzen Zeit, in der die anderen weg gewesen waren, natürlich nicht ihr gesamtes Zimmer ummodellieren können, um alles Persönliche zu verstecken. Das nagende Gefühl der Verunsicherung breitete sich in ihrer Magengrube aus, als sich die beiden Mädchen neugierig in ihrem Zimmer umsahen. Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken, dass sie sich über sie lustig machen könnten. Serena machte einen Rundumblick in ihrem Zimmer und versuchte sich vorzustellen, welche Schlüsse Ariane und Vivien wohl ziehen würden. Da waren die zahlreichen Fantasy-Glitzerbilder an der einen Wand, vor allem Einhornmotive, die sich seit Kindertagen dort gesammelt hatten. Auf ihrem Schrank stand immer noch altes Spielzeug, bevorzugt in der Farbe Pink. Serena verspürte einen Stich. Ihre Einrichtung musste das Uncoolste, Kindischste und Peinlichste sein, das die anderen beiden jemals gesehen hatten! Sie biss sich von innen auf den unteren Lippenbereich. Wie sehr sie auch diese Normalo-Jugendlichen hasste, die überall beliebt waren und all das repräsentierten, was gerade in war, manchmal … ja manchmal, da wünschte sie sich nichts sehnlicher, als diesen Eindruck auf andere machen zu können – normal und cool zu sein. Doch längst war ihr schmerzlich bewusst geworden, dass egal, was sie tat, sie das unsichtbare Mal des Andersseins – des Unterlegenseins – niemals loswerden konnte. Und seither verabscheute sie den erbärmlichen Versuch, sich anzupassen, mehr als alles andere auf der Welt. Unterdessen bestaunte Vivien freudig Serenas Bücherregal. „So viele Mangas!“, rief sie freudig aus und begutachtete die stattliche Sammlung an Bänden verschiedener Mangareihen. Mit leuchtenden Augen sah sie Serena an. „Darf ich?“ Zaghaft nickte Serena. Viviens Reaktion war das genaue Gegenteil von dem, was sie erwartet hatte. Die Fantasie-Vivien in ihrem Kopf hatte ein hämisches Kichern von sich gegeben und sie mit einem herablassenden Blick bedacht, der zu sagen schien: Wie peinlich ist das denn? Serena schüttelte das Bild ab. Sie hatte hier Vivien vor sich! Dieses Mädchen, das mit ihrer Aufgedrehtheit jeder Anime-Figur Konkurrenz machte. Derweil hatte Ariane auf Serenas Schreibtisch einen vollgeschriebenen Schreibblock entdeckt. „Was ist das?“, fragte sie. Serena hetzte neben sie. „Das… das ist..“ Ariane legte den Block schnell wieder aus der Hand. „Entschuldige. Ist das dein Tagebuch?“ Serena schüttelte den Kopf. „Nein. Das ist… eine Geschichte, die ich schreibe.“ Sofort war Vivien zur Stelle. „Eine Geschichte?“ „Worum geht es?“, wollte Ariane wissen. Serena druckste merklich herum. „Naja, also …“ Sie sah beschämt zu Boden. „Es geht um ein Mädchen, das die Wiedergeburt eines Teufels ist. Sie weiß davon aber nichts. Die zweite Hauptperson ist ein Junge aus einer Paralleldimension, der von ebendiesem Teufel getötet wurde. Seine Aufgabe ist es, die Wiedergeburt zu beschützen, weil die Bösen vorhaben, den Teufel in ihr wiederzuerwecken.“ „Darf ich es lesen?“, fragte Vivien ungestüm. Serena wurde verlegen. „Es ist aber noch nicht besonders gut. Ich bin erst am Anfang und ändere ständig wieder was.“ Vivien strahlte. „Dann lese ich es eben mehrmals!“ Auf Serenas Reaktion hin wurde Viviens Lächeln noch breiter. Serena wirkte wie ein kleines eingeschüchtertes Reh, was allzu süß aussah. In diesem Moment traten die Jungs durch die offen stehende Zimmertür. Sie waren mit ihrer Einrichtungsarbeit, bei denen ihnen Serenas jüngerer Bruder geholfen hatte, offensichtlich schon fertig. „Wessen Zimmer ist denn das?“, fragte Vitali abfällig. „Serenas!“, informierte Vivien begeistert. Nochmals sah Vitali sich um – mit noch ungläubigerem Gesichtsausdruck. Serena brauste auf. „Passt dir irgendwas nicht!“, blaffte sie ihn im Verteidigungsmodus an. „Voll das Kitschzimmer.“ Sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Belustigung und dem Impuls loszulachen. „Das ist als würde ein Gangsta-Rapper in nem rosa Himmelbett schlafen.“ Er sah aus, als würde er gleich Platzen vor Lachen. Serena warf ihm einen mörderischen Blick zu. „Halt die Klappe! Wer hat dir überhaupt erlaubt, hier reinzukommen?! Verschwinde!“ Vitali grinste immer noch. „Der Gast ist König.“ „Wer hat behauptet, dass du mein Gast bist?“, gab Serena zurück. Vitali schnaubte. „Gibt es eigentlich auch Momente, in denen du nicht zickig bist? Wenn ja, sag mir, wann das ist, damit ich erst dann wiederkomme.“ Serena machte eine Geste, als müsse sie einen Augenblick nachdenken, um dann zu antworten: „Wenn du erst dann wiederkommen solltest – dann nie!“ Vitali verzog einen Moment lang unzufrieden den Mund. Dann hoben sich seine Mundwinkel wieder. „Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Das sind die Momente, wenn du heulst!“ Die Schadenfreude war in sein Gesicht zurückgekehrt. „Blöder Idiot.“, giftete Serena. „Serena schreibt ein Buch!“, rief Vivien, als würde sie dafür Werbung machen. Daraufhin wirkte Serena deutlich verstört. „Sag Bescheid, wenn es verfilmt wird.“, meinte Vitali bloß. „Das wird nicht verfilmt, du Trottel!“ „Wieso nicht?“, fragte Vitali. „Na weil…“ Serena stockte. „Es wird doch nicht jedes Buch verfilmt!“ Vitali zuckte mit den Schultern. „Wieso nicht?“ „Weil das eben so ist!“ „Jo, wenn du meinst.“ Vitali schien nicht weiter mit ihr streiten zu wollen. „Dafür müsste es ein Bestseller werden!“, rechtfertigte sich Serena. „Dann mach es halt zum Bestseller.“, meinte Vitali, als handle es sich dabei um eine banale Aufgabe wie den Müll rauszubringen. Serena wusste ehrlich nicht, was sie darauf entgegnen sollte. „Dein Zimmer ist interessant.“, sagte Justin. Serena musterte ihn argwöhnisch. „Es zeigt noch mal eine andere Seite von dir.“ Justin lächelte sanft. Wären die Worte von Vitali gekommen, hätte Serena sie wohl wieder als persönlichen Angriff gewertet. Von Justin dagegen empfand sie sie tatsächlich als nett. „Brutale Schale, kitschiger Kern.“, lachte Vitali. Serena streckte ihm die Zunge raus, was Vitali sogleich erwiderte. „Zunge rausstrecken darf man nicht, denn das heißt: Ich liebe dich.“, sang Vivien heiter, womit sie tatsächlich bewirkte, dass die beiden kurze Zeit Ruhe gaben. Allerdings eben nur kurze Zeit. „Habt ihr keinen Schinken oder Salami?“, fragte Vitali, während sein Blick suchend durch das Innere des Kühlschranks schweifte. Die fünf waren gerade dabei, Pizza zu machen. Frau Funke war extra noch losgefahren und hatte frisch gemahlenes Vollkornmehl besorgt, was bei Vitali nicht auf sonderlich große Gegenliebe gestoßen war. Skeptisch hatte er das seltsam bräunliche Mehl betrachtet. Serena schlug ihm den Kühlschrank vor der Nase zu. „Wenn du tote Tiere willst, dann musst du dich mit Leila um ihr Fleisch streiten.“ Eingeschnappt ging Vitali einen Schritt zurück. „Mann, ist deine ganze Familie Vegetarier?“ „Nein, aber ich gebe mein Bestes.“ „Das nennt man Nötigung.“ „Klappe!“ Ariane konnte das Verhalten der beiden nicht nachvollziehen. „Könnt ihr euch nicht einfach mal vertragen?“ Vivien flötete „Was sich liebt, das neckt sich!“, woraufhin sie von Serena angefunkelt wurde. Justin füllte die Zwiebeln, die er gerade geschnitten hatte, in eine kleine Schüssel und stellte sie zu den anderen Belagzutaten. „Das ist viel.“, stellte Ariane fest. „Wir müssen auch an ein Blech für Serenas Familie denken. Dafür brauchen wir genug Belag.“, wandte Justin ein. Vivien hüpfte an seine Seite. „Du denkst immer an alle.“ Sie strahlte ihn an. Verlegen wandte sich Justin ab. „Das ist doch ganz normal.“ Vitali stützte sich mit dem Ellenbogen auf Justins Schulter und maulte: „Vollkornmehl. Kein Fleisch! Mann, ich weiß nicht, ob es das wert ist.“ Serena zischte: „Wie wär’s, wenn du dich einfach heute Nacht mitten auf die Baustelle stellst? Vielleicht hab ich Glück und sie holen dich gleich!“ „Darüber macht man keine Scherze!“, tadelte Justin ernst. Serena verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich ab. Ariane seufzte. „Du solltest dich bei Vitali entschuldigen.“ „Den Teufel werd ich tun!“, fauchte Serena. Nun wurde Ariane aufbrausend. „Würdest du auch noch so reden, wenn er im Schatthenreich zurückgeblieben wäre?!“ Serena nahm die Arme runter und senkte schuldbewusst den Blick. Ariane schluckte. „Mach bitte nie wieder Scherze darüber. Und sei gefälligst dankbar, dass Vitali bei uns ist!“ Serena schwieg. Im gleichen Moment wurde die Tür geöffnet und Anita trat ein: „Und, wie weit seid ihr mit der Pizza?“ Einige Zeit später konnten sie schließlich das Produkt ihrer Mühen genießen, wenn von genießen die Rede sein konnte. „Nächstes Mal bring ich Weißmehl und Schinken mit.“, sagte Vitali, der mit der Vollkornpizza keinen Frieden schließen konnte. „Es wird kein nächstes Mal geben!“, schimpfte Serena. Vitali sah auf das Pizzastück auf seinem Teller. „Ich glaub, das Vollkornzeug macht aggressiv.“ Als Antwort stieß Serena einen tobsüchtigen Schrei aus. Vivien kicherte. „Ihr seid so unterhaltsam.“ „Was ist daran unterhaltsam?“, fragte Ariane verständnislos. Sie war mittlerweile dazu übergegangen, die Streitereien zwischen Serena und Vitali weitestmöglich zu ignorieren und sich stattdessen mit Justin zu unterhalten. „Ist doch total faszinierend, dass es ihnen Spaß macht, sich zu streiten.“, erklärte Vivien. „Das macht keinen Spaß!“, stieß Serena aus. Vivien legte den Kopf schräg. „Warum machst du’s dann?“ Die Frage schien Serena deutlich zu irritieren. Sie antwortete nicht. Nach dem Essen setzte sich die ganze Gruppe in das Wohnzimmer des Hauses. „Du hast ne Spielekonsole!“, rief Vitali begeistert. „Ja und?“, fragte Serena pampig. „Lasst uns spielen!“, meinte Vitali. Serena schien ein Problem damit zu haben, dass der Vorschlag von Vitali kam, doch da keiner der anderen Einspruch erhob, duldete sie es. Aufgrund der auf vier beschränkten Spieleranzahl erklärte sich Justin freiwillig bereit, nicht mitzuspielen. „Du kannst dich mit mir abwechseln.“, sagte Vivien und rückte deutlich näher an Justin heran, als es nötig gewesen wäre. Sie gab ihm den Controller in die Hand und erklärte ihm die Funktionen, nicht ohne die Gelegenheit zu nutzen, um ihre Hände auf seine zu legen, als wäre das für ihre Erläuterungen notwendig. Infolge der Körpernähe zu ihr, war Justin nicht wirklich in der Lage, ihren Ausführungen die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Er fürchtete, dass sein Gesicht bereits knallrot war und hoffte inständig, dass Vivien es nicht bemerken würde. Derweil erklärte Serena Ariane, wie es funktionierte. Sie hatten sich für Mario Party entschieden. Doch bereits nach den ersten paar Runden war der Konkurrenzkampf zwischen Serena und Vitali so unerträglich geworden, dass Ariane kurzerhand aufstand und das Spiel ausschaltete. „Hey!“, rief Vitali. „Selbst wenn euch das Spaß machen sollte, mir macht es keinen Spaß, wenn ihr die ganze Zeit streitet!“, erklärte sich Ariane. Währenddessen hatte Vivien aus der Spielesammlung ein Kampfspiel hervorgezogen. „Wir könnten das spielen!“ „Das ist nicht hilfreich!“, klagte Ariane. Sie befürchtete, dass das nur zu noch mehr Beleidigungen zwischen Serena und Vitali führen würde. Vivien grinste. „Du solltest mit Vitali den Platz tauschen.“ Ariane war bisher neben Serena gesessen. „Was?“, schrie Serena aufgebracht. „Du und Vitali geht in ein Team.“, erklärte Vivien, als wäre das beschlossene Sache. Serena schien widersprechen zu wollen, unterließ es dann aber und wandte ihr Gesicht ab. Vitali zuckte nur mit den Schultern und erhob sich von seinem Platz, um den von Ariane einzunehmen. „Komm mir ja nicht zu nahe.“, zischte Serena, als er sich neben sie setzte. „Wer war in der Kugel auf mich gepresst und hat sich beim Hochklettern an mich geklammert?“, gab Vitali zurück. „Du hast gesagt, ich soll mich festhalten!“, schrie Serena. Vitali starrte auf den Bildschirm. „Drückst du jetzt Start oder nicht?“ Serena schnaubte und startete das Spiel. Zur Überraschung von Justin und Ariane stellten sich Serena und Vitali nach anfänglichem Gezeter tatsächlich als gutes Team heraus. Zumindest schienen sie eine Heidenfreude daran zu haben, ihre Gegner fertigzumachen, was ihnen aufgrund ihrer Spiel-Erfahrung nicht schwerfiel. Dass sie immer mal wieder harsche Worte füreinander parat hatten, war angesichts der vorigen Beleidigungen nicht mehr der Rede wert. Nach einer Weile konnten sie sogar andere Spiele spielen, ohne dass die beiden wieder in alte Muster verfielen. So verging die Zeit, und die Nacht war schneller hereingebrochen als ihnen lieb war. Frau Funke sah noch einmal nach ihnen. „Ihr solltet nicht die ganze Nacht durchmachen.“ Dafür dass sie bezüglich des Übernachtens so streng gewesen war, war sie bezüglich der Schlafenszeit erstaunlich locker und hatte ihnen viel Freiraum gelassen. Sie warf den Jungen noch einen Blick zu. „Und ihr schlaft oben.“ Mit diesen Worten ließ sie sie allein. Die fünf schwiegen einen Moment lang. Sie hatten nicht bemerkt, dass es schon Mitternacht war. Die Finsternis draußen wirkte mit einem Mal bedrohlich und die Angst, von der sie sich bisher erfolgreich hatten ablenken können, kam zurück. „Glaubt ihr, sie werden es wieder versuchen?“, fragte Ariane. Ängstlich starrten sie durch die Glastür zur Terrasse hinaus in die Schwärze. „Ich raff immer noch nicht, wieso die’s auf uns abgesehen haben.“, sagte Vitali. „Unsere Kräfte!“, erinnerte Vivien. „Sie wussten sicher, dass wir magische Fähigkeiten haben.“ „Und woher wussten die das, wenn wir es nicht wussten?“, wollte Vitali wissen. Justin machte ein nachdenkliches Gesicht. „Das ist eine gute Frage.“ „Ist doch ganz logisch.“, fand Vivien. Vitali und Serena musterten sie argwöhnisch. „Ach ja?“ „Ja! Böse Monster, eine Verwandlung, magische Kräfte.“, zählte Vivien auf. „Wir sind Auserwählte!“, rief sie, als sei das das Offensichtlichste auf der Welt. Die anderen gafften sie an. „Aus-er-wählte.“, wiederholte Vivien wie ein Fremdwort, das sie den anderen erst beibringen musste. „Also das sind so Leute, die gegen die bösen Monster kämpfen und die Welt retten. Kommen in nahezu jedem Fantasybuch vor.“ Serena verdrehte die Augen aufgrund der unnötigen Definition. „Aber wer soll uns denn auserwählt haben?“, fragte Ariane. „So was wird in den Büchern nie gefragt.“ Vivien fasste sie sich mit dem Zeigefinger ans Kinn, um eine nachdenkliche Pose einzunehmen. „Also ich denke, sie werden vom Schicksal ausgewählt. Oder von Gott.“ „Das ist doch Schwachsinn.“, grummelte Serena. „Das hier ist kein Roman!“ Vivien beharrte auf ihrer Meinung. „Alles deutet darauf hin.“ „Dann hätte uns doch irgendjemand darüber Bescheid sagen können.“, beschwerte sich Serena. Vivien lächelte unschuldig. „Vielleicht ist das ihre Art, uns Bescheid zu sagen.“ Serena schnaubte. „Könnte dann nicht mal einer von den Guten auftauchen und uns das Ganze erklären?“, forderte Vitali. Vivien lehnte sich wieder gegen die Lehne des Sofas. „Spiderman muss sich auch alles selbst beibringen. Und Batman und Superman und –“ „Wir haben’s kapiert.“, unterbrach Serena. Ariane zog das Fazit. „Wir sind auf uns alleine gestellt.“ „Wir haben zumindest einander!“, rief Vivien. „Nicht so wie Spiderman, Batman, Superman, -“ „Hat Superman nicht so ein Raumschiff, das die Erinnerung von seinem Vater enthält?“, wandte Vitali ein. „Und Batman hat keine Superkräfte, der ist bloß superreich.“ „Stimmt. Wir sollten uns an Spiderman ein Beispiel nehmen.“ „Da stirbt der Onkel.“, gemahnte Serena. „Und die Freundin.“ Ariane sah die drei genauso ahnungslos an wie Justin. „Woher wisst ihr das alles?“ Vivien grinste. „Wir sind Superhelden-Nerds.“ Ariane nickte andächtig. „Und wie machen das die Superhelden?“, fragte Justin. Vitali erklärte: „Die probieren das aus und dann funktioniert es einfach.“ „So wie bei uns!“, rief Vivien. „Im Notfall zumindest.“ „Fürs Ausprobieren ist es jetzt etwas spät.“, meinte Ariane. „Wir sollten Ruhe bewahren.“, sagte Justin. „Wir wissen nicht, ob sie heute wieder angreifen.“ „Oder erst morgen.“, murrte Serena. Vivien ermutigte die anderen. „Zusammen schaffen wir das.“ Serena seufzte. „Wir sollten wenigstens die Vögel schlafen lassen. Gehen wir hoch.“ Nicht allein aus Fürsorge für ihre fünf Wellensittiche machte Serena diesen Vorschlag. Der ständige Blick durch die Fenster in die Finsternis machte sie krankhaft nervös. Jedes Mal wenn der Wind die Äste der Bäume im Garten bewegte, glaubte sie im nächsten Moment erneut Schatthen gegenüberzustehen und wurde von einem eisigen Schaudern ergriffen. Leise begaben sich die fünf hinauf in den ersten Stock. Auf dem Weg mussten sie nur Leila mit Streicheleinheiten bestechen, die am Ende der Treppe lag und Wache hielt. Vorsichtig, um niemanden zu wecken, schlichen sie sich in Serenas Zimmer.. Hier waren die Fluchtmöglichkeiten besser als im Büro des Hauses. Allerdings wussten sie ja bereits, wie gering die Chancen tatsächlich waren. Sollte es zu einem erneuten Angriff kommen, waren sie geliefert. Wohin sollten sie auch flüchten? Es gab keinen Ort, an dem sie sicher waren. Selbst das Licht, das sie anmachten, konnte ihre ängstlichen Gedanken nicht vertreiben. Sie setzten sich in einen Halbkreis auf die zusammengestellten Gästematratzen, auf denen die Mädchen schlafen sollten, lehnten sich an die Wand, an die Seite von Serenas Bett und den Kleiderschrank in der Ecke. Auf diese Weise hatten sie sowohl die Tür als auch das Fenster, das hinaus zum Balkon führte, im Blick. An Schlaf war nicht zu denken. „Warten wir jetzt darauf, dass sie angreifen?“, fragte Vitali. „Was willst du sonst machen?“, flüsterte Serena. Vitali zuckte mit den Schultern. „Wir sind zusammen.“, rief Vivien ihnen ins Gedächtnis und ergriff die Hände von Serena und Justin, die rechts und links neben ihr saßen. Die anderen setzten die Kette fort. Selbst wenn die Schatthen sie nicht angriffen, was war morgen? Oder übermorgen? Würde ihr ganzes Leben nun erfüllt sein von dieser alles beherrschenden Angst? Nach einer Weile rückten sie noch etwas enger zusammen, Vitali an Serenas Bett gelehnt, Justin und Vivien an die Wand und Serena und Ariane gegen den Kleiderschrank. Auf diese Weise vereint, schien die Angst allmählich nachzulassen. Sie wich einem schwach abgestumpften Gefühl, das ihre Augenlider immer schwerer werden ließ und ihren Geist langsam einlullte, bis sie der sich auf Samtpfoten genäherten Müdigkeit ohne großen Widerstand erlagen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)