Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 27: Zur Ausgrabungsstätte --------------------------------- Zur Ausgrabungsstätte „Selbst der Tod hat keine Macht über Erinnerungen.“ (Heinz-Peter Lang) Am Samstag war es endlich soweit. Doch das Wetter war den fünfen nicht wohlgesonnen. Es war ein verregneter Morgen und der graue Himmel, sowie die Wettervorhersage, zeigte an, dass die fünf sich auch für den restlichen Tag keine Hoffnungen auf eine Besserung machen konnten. Obwohl Serenas Mutter sogleich versucht hatte, ihre Tochter von der Idee abzubringen, bei diesem Wetter irgendwohin zu gehen, hielten die fünf mit Regenjacken und Schirmen bewaffnet an ihrem Plan fest. Frau Funkes Vorschlag, alle fünf hinzufahren, musste Serena ausschlagen. Sowieso war ihre Mutter weiterhin skeptisch gegenüber Serenas neuen Freunden. Hätte sie jetzt noch erfahren, dass Serena vorhatte, mit den Vieren bei Regen auf einer Ausgrabungsstelle herumzustreunen, hätte sie sie vermutlich erst gar nicht aussteigen lassen. Wie verabredet traf sich die Gruppe im Entschaithaler Bahnhof und lief gemeinsam zum Bahngleis. Vivien, fröhlich wie immer, fand sogar noch einen Vorteil an dieser Witterung: Erik gegenüber konnten sie nun einfach behaupten, sie seien gar nicht zu der Ausgrabungsstätte gefahren, wodurch das Drehen eines Films überflüssig wurde. Diese Nachricht teilte sie Erik auch sogleich per SMS mit. Schon am Morgen hatte sie Serena darüber informiert, dass sie den Camcorder nicht mitbringen brauchte. Die Fahrt nach Schweigen dauerte zwei Stunden. Zwischendurch mussten sie zweimal umsteigen. Das Wetter besserte sich in dieser Zeit nicht, eher wurde es schlechter. In Schweigen angekommen, nahmen sie den Bus und mussten dann im Regen noch ein Stück zu Fuß gehen. Auch ihre Schirme konnten sie nicht vollends gegen das Unwetter schützen, denn der Wind schien sich mit den Wolken darauf geeinigt zu haben, alle Passanten so nass wie nur möglich zu machen. Die fünf fragten sich, ob sie noch rechtzeitig ankommen würden, bevor die Ausgrabungsstelle unter Wasser stand. Schließlich erreichten sie ihr Ziel. Vor ihnen oder besser gesagt unter ihnen breitete sich die Ausgrabungsstelle aus. Von der gesamten Ausgrabungsumgebung waren viele Meter Boden abgetragen worden. Dadurch befand sich der Grund der Ausgrabungsstätte weit unterhalb des normalen Weges. Sie störten sich nicht an dem Schild, das ihnen das Betreten der Baustelle untersagte. War ja schließlich auch keine Baustelle. Um die Grube der Ausgrabungsstelle waren metallene Gittertrennwände aufgestellt worden, um den Grund vor dem Zutritt Unbefugter zu bewahren. Aber die Absperrung war nur provisorisch. Sie hievten eines der Gitter aus seiner Halterung, um es zu verschieben und eine Öffnung zu erhalten, durch die sie hindurchschlüpfen konnten. Die fünf liefen einen in die Erde eingelassenen, teils aufgeschütteten Abstieg hinunter. Dabei mussten sie höllisch aufpassen, dass sie aufgrund des vom Regen aufgeweichten Bodens nicht auf ihrem Hosenboden landeten und mit einer Rutschpartie auf dem Matsch nach unten schlidderten. Endlich erreichten sie den Boden, mit vor Dreck triefenden Schuhen und sahen sich um. Sie befanden sich nun in einer riesigen viereckigen Grube, umringt von meterhohen Erdwällen. Einige Stellen des von Pfützen durchdrungenen Bodens um sie herum waren aufgebuddelt worden, doch anscheinend ohne großen Erfolg. Die Löcher waren nicht einmal mit rot-weiß gestreiftem Absperrband abgesteckt, dafür aber mittlerweile mit Regenwasser gefüllt. Die fünf taten ein paar Schritte und blickten sich suchend um. Geradeaus an der meterhohen Wand aus Boden waren ein paar weitere Zentimeter Erde abgetragen worden, abgekratzt von einer glatten steinernen Mauer. Mutter Natur musste diesen Fund einige Zeit in ihrem Inneren verborgen haben. In der Mitte der Mauer befand sich eine Öffnung. Neugierig näherte sich die Gruppe der Entdeckung. Davor stand ein weißrot gestreifter Absperrzaun wie sie auf Baustellen üblich sind. Leicht zu umgehen. Die Länder investierten nicht mehr so viel in archäologische Freilegungen, daher gab es keine großartigen Sicherungsvorkehrungen. Der Fund erinnerte die fünf unwillkürlich an eine Hauswand, besonders aufgrund der darin eingelassenen Öffnung. Sie sah aus wie der Eingang bei einem Rohbau, bei dem noch keine Türen vorhanden waren. Andererseits musste dort etwas gewesen sein wie eine Tür, ansonsten hätte man sich jetzt in das Innere wühlen müssen, da Erd- und Gesteinsmassen zuvor eingedrungen wären und alle Freiräume eingenommen hätten. Doch der unterirdische Gang dahinter war frei. Ariane und Vitali verschoben die Absperrung ein Stück, so dass sie nacheinander hindurchschlüpfen konnten. Anschließend blickten die fünf in den Gang vor sich, sahen aber kaum mehr als Schwärze. Das Licht reichte nicht weit hinein. Justin holte eine Taschenlampe aus seiner Jackentasche hervor, aber auch das brachte nicht viel. „Es könnte einstürzen.“, überlegte Serena laut. „Hä? Quatsch.“, meinte Vitali. „Liegt ja sicher schon ewig hier unten.“ Vivien schloss ihren Regenschirm, stellte ihn neben den Eingang und holte ebenfalls eine Taschenlampe aus ihrer Umhängetasche. „Los geht’s!“, rief sie und machte den ersten Schritt in den schwarzen Schlund vor ihnen. Auch die anderen ließen ihre Schirme draußen und folgten. Sogleich spürten sie harten Boden unter sich, nicht mehr die durchgeweichte Erde der Ausgrabungsumgebung. Da Vitali, Ariane und Serena nicht an Taschenlampen gedacht hatten, erleuchteten nur zwei Lichtkegel das unbekannte Gebiet. Der Boden, die Decke, die Wände, alles schien hier aus Stein zu bestehen. „Ein Stollen ist das nicht.“, bemerkte Vitali. „Es wirkt wie ein Haus.“, meinte Ariane und sah sich interessiert um. „Aus welcher Zeit es wohl stammt?“ „Der Professor hat gesagt, dass er die Inschriften von den Wänden abgetrennt hat.“, informierte Justin. Es war etwas seltsam, ihn das sagen zu hören, als wäre er selbst dabei gewesen. „Sütterlinschrift wurde 1911 entwickelt.“, sagte Ariane. „Toll, die haben ein altes Haus ausgebuddelt. Weltbewegender Fund.“, spottete Vitali. „Sütterlinschrift ist anhand älterer Kurrentschriften entworfen. Es könnte also genauso gut keine Sütterlin sein, sondern eine ältere Schriftform. Solche Schriften wurden schon im 17. Jahrhundert benutzt. Das heißt, das Haus kann schon einige hundert Jahre alt sein.“, führte Ariane aus. „Und wie haben die das in die Wände gekriegt?“ Vitali fasste den kalten hellgrauen Stein neben sich an. „Das haben sich Schmidt und der Professor auch gefragt.“, antwortete Justin und beendete damit das Thema. Die Gruppe lief weiter den Gang entlang und atmete stickige, abgestandene Luft ein. Der Todesgeruch alter, verlassener Häuser. Justin und Vivien leuchteten immer wieder die Wände ab, um den Punkt zu finden, von dem die Inschriften abgelöst worden waren, bisher ohne Erfolg. Sie waren ein ganzes Stück gelaufen, als ein Weg vom Hauptgang abführte. Dort endlich entdeckten sie an der rechten Wand ein Loch, das aussah, als habe jemand etwas vorsichtig und präzise aus der Wand entfernt. „Hier müssen die Inschriften herkommen.“, schlussfolgerte Justin. Sie betrachteten die Abzweigung und entschlossen, ihr zu folgen. Nach einigen Schritten veränderte sich der Anblick der Wände. Das Mauerwerk war hier nicht verputzt, so dass die aufeinander geschichteten, großen Backsteine sichtbar waren – die Rippen des Massivbaus. Aber das Ende des Wegs war enttäuschend. Die Abzweigung führte in eine Sackgasse. Sie mussten also zum Hauptgang zurück, doch Vivien blieb stehen und sah sich die Wände genauer an. „Was tust du?“, fragte Serena skeptisch. „Die Sackgasse hier ist doch komisch.“, meinte Vivien. Vitali verstand nicht. „Was ist daran komisch?“ „Habt ihr Zuhause etwa einen Flur, der ins Nichts führt?“, gab Vivien zu bedenken. Ariane stimmte zu. „Wenn man nicht in einem Labyrinth ist, dann führt ein Weg normalerweise irgendwo hin. Kannst du hierher leuchten?“ Vivien tat wie ihr geheißen, während Ariane die eine Wand abtastete. Serena blieb skeptisch. „Meinst du etwa, hier wäre ein Geheimgang?“ „Wieso nicht?“, wandte Ariane ein. „So was gibt’s doch nur im Fernsehen.“, meinte Vitali. Ariane widersprach. „In Venedig im Dogenpalast gibt es auch Geheimgänge. Sie verbinden einzelne Zimmer miteinander, so dass man unbemerkt den Raum wechseln konnte.“ Mittlerweile fragte Vitali Ariane schon nicht mehr, woher sie solches Zeug wusste. „Schaut!“, rief Vivien. Sie richtete ihre Taschenlampe auf einige Ziegel der linken Wand, ein paar Zentimeter neben der Ecke, und fuhr mit den Fingern eine Linie nach, die die Ziegelabschlüsse dort bildeten. „Und?“, fragte Vitali ungeduldig. Ariane begriff. „Die Backsteine sind sonst überall so angeordnet, dass sie nicht an der gleichen Stelle aufhören.“ Vivien ließ den Lichtstrahl auf die Ziegel daneben gleiten und setzte fort. „Aber an dieser Stelle sieht es aus, als wären sie extra so abgesägt worden.“ Der Lichtkegel wanderte einen Meter weiter nach links. „Hier dasselbe. Da muss ein geheimer Gang sein!“, verkündete sie zuversichtlich. Serena und Vitali schauten weiterhin skeptisch drein. Ariane betrachtete nochmals die etwa anderthalb Meter große Linie rechts, die zwei Backsteine vor dem Boden aufhörte. Anschließend begutachtete sie die Linie links. Dort reichte sie bis zu einem Backstein über dem Boden. Das musste es sein! Vivien kniete nieder und legte ihre Hand auf den zweiten Ziegel von unten, der die Linie rechts früher unterbrach. Sie drückte zu. Nichts. Vivien stoppte und hielt Ariane ihre Taschenlampe hin. „Kannst du mal halten?“ Nun mit zwei Händen versuchte sie es nochmals. „Was tust du?“, wollte Justin wissen. „Ich versuche … den Stein reinzudrücken.“, presste Vivien hervor und drückte noch fester. „Was sonst.“, murmelte Serena zynisch. Justin kniete sich neben Vivien und versuchte zu helfen, daraufhin nahm Ariane auch seine Taschenlampe an sich. „Es bewegt sich!“, jubelte Vivien. „Ja, und wahrscheinlich bricht jetzt der ganze Gang ein.“, zischte Serena leise. Vitali, der genau neben ihr stand, musste grinsen. Justin und Vivien drückten mit voller Kraft gegen einen unbekannten Widerstand. Sie fühlten mit einem Mal einen schwachen Luftzug. „Drückt gegen die Wand!“, befahl Justin. Wenn Justin diesen autoritären Ton hatte, begann man besser keine lange Diskussion mit ihm. Sofort taten Serena und Vitali wie ihnen geheißen worden war und stemmten ihr ganzes Gewicht gegen das Mauerwerk. Serena entfuhr ein kurzer Schreckenslaut, als sie spürte, dass die Wand tatsächlich nachgab. Beinahe hätten Vitali und sie das Gleichgewicht verloren und wären vorwärts gestürzt. Gerade noch rechtzeitig zuckten sie zurück, landeten dafür aber unsanft auf dem Hosenboden, während das Stück der Mauer, das Vivien zuvor definiert hatte, nach ihrem Anschubser wie von selbst aufschwang. Gleichzeitig ließen Justin und Vivien erleichtert von dem Stein ab, mit dem sie die ganze Zeit gekämpft hatte. Im gleichen Moment kam dieser auch schon zurückgesprungen, als befände sich hinter ihm eine Art Feder. Fassungslos starrten die fünf auf die Öffnung in der Wand. Ariane, als einzige noch stehend, leuchtete mit beiden Taschenlampen hinein. Ein eisiger Windhauch schlug ihnen entgegen, wie aus einem Schrank, den man ewig nicht mehr geöffnet hatte. „Ein Geheimgang!“, triumphierte Vivien. Schon war sie wieder auf den Beinen und grinste Serena und Vitali breit an. Die beiden waren aber viel zu baff, als dass sie darauf eingegangen wären. Ariane überreichte Justin und Vivien wieder ihre Taschenlampen. Für einen Augenblick standen die fünf ehrfürchtig vor der etwas mehr als einen Quadratmeter großen Öffnung. Dann sahen sie einander an und kletterten hinein. Sand knirschte unter ihren Füßen, wahrscheinlich war es Schmutz. Justin leuchtete die Ecken der Geheimtür ab. In der einen fand er Scharniere, in der anderen eiserne Platten. „Diese Platten müssen die Mauer von hinten an ihren Platz gedrückt gehalten haben.“, vermutete Ariane. Justin nickte. „Und durch den Druck auf den Backstein sind sie eingezogen worden. Fast wie bei einer Türklinke.“ „Aber schon ziemlich verrostet.“, merkte Vivien an. Daher hatten sie so fest drücken müssen. Gespannt gingen die fünf weiter. Sie befanden sich jetzt in einem Teil des Hauses, den selbst die Archäologen noch nicht entdeckt hatten. Ihre Herzen klopften vor Aufregung. Wände und Boden waren hier wieder aus glattem Stein wie zuvor. Die Luft roch grässlich. Nach wenigen Metern entdeckten sie auf dem Boden ein seltsames Symbol. „Was ist denn das für Gekrakel?“, fragte Vitali abschätzig. Das Zeichen bestand aus einem Kreis aus buchstabenähnlichen Gebilden, die jedoch kaum zu entziffern waren. Vivien holte ihr Handy hervor und schoss ein paar Bilder. Ihre Taschenlampe hatte sie langfristig in Arianes Obhut gegeben. Derweil trat Serena näher an das Symbol heran. Konzentriert betrachtete sie die einzelnen Buchstaben, um sie besser dem ihr bekannten Alphabet zuordnen zu können, dann ging sie im Kreis um das Zeichen herum. „Das ist ein Ambigramm.“, stellte sie fest. Vitali sah sie fragend an. „Ein was?“ „Man kann es von beiden Seiten lesen. Wenn du es auf den Kopf drehst, bleibt es das gleiche Wort.“, erklärte Serena. Diese Information hatte sie einmal einem Roman entnommen. Sie deutete auf einen G ähnlichen Buchstaben, der den Anfang des Wortes zu bilden schien. Direkt unterhalb befand sich der gleiche Buchstabe erneut, nur auf den Kopf gestellt. „Dieses G kann als G und als R gelesen werden.“, interpretierte Serena. „Um das Wort von der einen Seite zu lesen, muss man um das Symbol herum laufen oder man stellt sich in den Kreis und dreht sich mit dem Wort mit.“ „Cool!“, freute sich Vivien und stand in den Kreis hinein, um das Symbol von allen Seiten zu betrachten. „Und was steht da?“, wollte Ariane wissen. Serena überlegte kurz. „So was wie: Gleichgewichtsbeschützer.“ Als ob sie mit einem Mal einen Lichtschalter betätigt hätte, schoss aus den Buchstaben des Symbols schlagartig ein helles Licht, das Vivien einkreiste. „Vivien!“, schrie Justin. Vivien fasste mit ihrer Hand durch das Licht hindurch. Es passierte nichts. Und so trat sie aus dem Kreis heraus zurück zu den anderen. Sie lächelte. „Es ist nur Licht.“ „Was hat es ausgelöst?“, wunderte sich Ariane. „Vielleicht weil Vivien sich in den Kreis gestellt hat.“, nahm Serena an. „Aber es ist erst angegangen, als du Gleichgewichtsbeschützer gesagt hast.“, erwiderte Vivien. Justin begutachtete das seltsame Licht, in dem Millionen kleiner Brillianten zu tanzen schienen. „Das ist das gleiche Licht wie bei den Tafeln.“, erkannte er. Nur dass es dieses Mal nicht leicht bläulich, sondern ganz weiß war, mit einem Hauch Silber. Wenn die anderen dazu noch etwas sagen gewollt hatten, ging es jetzt verloren. Denn plötzlich vernahmen sie von weiter hinten eine Stimme. Ihr Herzschlag setzte aus. Atemlos horchten sie, ob sie es sich eingebildet hatten, ob es vielleicht bloß ein Windzug war. Klar! Ein sprechender Windzug! Ach, eine Menschenstimme zu hören, war also wahrscheinlicher?! Ihre Gedanken verspotteten sich gegenseitig, ohne dass die fünf ihnen länger zugehört hätten. Hastig drängten sie sich eng aneinander. Die Stimme, die nicht eindeutig einem Mann oder eine Frau zuzuordnen war, wurde lauter, als würde sie auf sie zu wandern. Die fünf waren wie erstarrt. Dann hörten sie, dass es ein Lied war, das zu ihnen vordrang. Eine melancholische Melodie, die einen in ihren Bann zog. Anschließend verstanden sie die gesungenen Worte, von denen sie gefesselt wurden. Finster ward es beim Einbruch der Nacht der da verdrängt des Lichtes Wacht Das Eine gespalten nun entzweit brachte statt Liebe nur Schmerz und Leid Entstandenes Leben drohet zu wanken überschreitet die Schöpfung des Gleichgewichts Schranken Schicksal Verändern Vereinen Vertrauen Wunsch Geheim Auf diese Beschützer müsst ihr bauen Bald wird gekommen sein die Zeit Die Auserwählten geleitet Ewigkeit Geistesgegenwärtig zog Vivien den Text der Steintafeln aus der Hosentasche, den sie bei Ariane abgeschrieben hatte. „Es ist der gleiche Text.“, flüsterte sie den anderen zu. „Vielleicht führt die Stimme uns irgendwo hin.“ „Bist du verrückt?“, fuhr Serena sie entsetzt an. Die Angst schnürte ihr fast die Kehle zu. Sie wollte schnellstens von hier verschwinden. Und Vivien? Die hatte vor, dieser Stimme auch noch entgegen zu gehen! „Jetzt oder nie.“, entgegnete Vitali. „Wir sind jetzt schon so nahe dran.“, pflichtete Justin ihm bei. „Und wenn wir direkt in eine Falle tappen?!“, warf Serena in gedämpften Ton ein. „Du spürst es doch auch.“ Vivien starrte gebannt in die Richtung, aus der die Stimme kam. „Die Stimme ruft uns. Es ist fast so, als würde sie unsere Namen sagen.“ „Das hat doch überhaupt nichts zu bedeuten!“, beharrte Serena. „Deswegen kann es immer noch eine Falle sein.“ Sie horchte ängstlich auf die melodische Singstimme, die ihr ein beklemmendes Gefühl vermittelte. Es lag ein Schmerz darin, eine tiefe Trauer über etwas, das man verloren hatte oder das man zurücklassen musste und einem unsagbar viel bedeutete. Das Lied erinnerte Serena auf entsetzliche Weise an ein Requiem – ein Totenlied. Doch je näher ihnen die Stimme kam, desto weniger klagend wurde ihr Klang, desto mehr Hoffnung schien auf einmal in ihr zu erwachsen. Als wirke der Anblick der fünf wie Balsam für die gequälte Seele des Liedes, als erlöse die Anwesenheit der fünf den Gesang von einem langen Leiden. Egal wie unheimlich und beängstigend das Lied zunächst geklungen hatte, plötzlich besaß es etwas Menschliches, Dankbares, etwas das die fünf im Innersten dazu antrieb, dieser Dankbarkeit Genüge zu tun, indem sie der Stimme folgten. Dieser Wunsch wurde stärker als ihre Angst. Ohne weitere Widerworte gingen sie in einer Kette, Hand in Hand, dem Ursprung des Gesangs entgegen, umgeben von einem schwachen weißsilbernen Licht, das den Gang erhellte, seit das Symbol aufgeleuchtet hatte, oder seit das Lied ertönte. Die Taschenlampen waren nun nicht mehr nötig. Immer tiefer drangen sie hinein ins Ungewisse, angetrieben von dem Gesang, der mittlerweile ganz sanft in ihren Ohren tönte, so weich und von einem stillen Glück durchwebt, wie es Menschen wohl empfanden, wenn sie ein Leid, das sie lange quälte, endlich loslassen können, um Frieden zu finden. Schließlich verklang das Lied, das bis jetzt in Endlosschleife erklungen war, ganz langsam und sachte, in einem himmlischen Akkord. Auf magische Weise deutete dieser letzte Klang auf die Wand rechts von ihnen. Wie er das machte? Solche Fragen stellten die fünf sich schon nicht mehr. Er tat es einfach und sie spürten es. Um das letzte wunderschöne Echo nicht zu zerstören, flüsterte Ariane. „Vielleicht ist dahinter noch ein Raum.“ Doch ehe die Gruppe nach einem Mechanismus suchen konnte, tat sich die Wand ohne ihr Zutun auf. Vor Schreck wollte sich Serena an der Person festhalten, die am nächsten bei ihr stand, obgleich es sich dabei um Vitali handelte, der wie sie und die anderen geschockt auf das Bild vor sich starrte. Keiner von ihnen hatte jemals echte menschliche Skelette gesehen und nun standen sie gleich zwei Exemplaren davon gegenüber. Hinter der Wand war ein geheimer Raum versteckt gewesen, der die Überreste zweier Menschen in sich barg. Die beiden Toten saßen am Boden, mit dem Rücken gegen die linke Wand gelehnt. Ihre Schädel hingen leblos da, die leeren Augenhöhlen auf den Boden vor sich gerichtet. Die Kleidung war noch halbwegs erhalten geblieben. Die Fäulnisgase vor Ewigkeiten schon verschwunden. Die fünf drückten die Hände von einander und beruhigten sich langsam. Skelette stellten keine Gefahr dar. Dennoch gaben sie ihnen ein mulmiges Gefühl. „Vielleicht eine Totenkammer.“, überlegte Ariane laut. Bedrückt sagte Justin: „Es erinnert eher an ein Gefängnis.“ „Ihr wollt doch da nicht reingehen.“, begehrte Serena auf. „Die sind tot. Die tun uns nichts.“, entgegnete Vitali, hörte sich aber selbst wenig überzeugt an. Justin sah nach vorne. „Die Stimmen haben uns hierher geführt. Vielleicht wollen sie uns dort drinnen etwas zeigen.“ Vivien lächelte den anderen zu. „Gespenster bringen die Leute doch oft zu ihren Leichen. Sicher gehörten die Stimmen den beiden.“ Sie deutete auf die Skelette. „Von ihnen kommen bestimmt auch die Inschriften.“ „Na toll.“, machte Serena und stieß die Luft aus. Vivien schaute Serena unschuldig an. „Was hast du denn gegen die beiden? Sie haben so schön für uns gesungen.“ Serenas Gesicht verzog sich in einer Mischung aus Widerwille und Ekel. Justin tat den ersten Schritt. Gemeinsam betraten die fünf den geheimen Raum. Schlagartig glühten die Wände um sie herum in verschiedenen Farben auf. In allen Spektralfarben erstrahlten sie, als wären die fünf plötzlich in einem Regenbogen gelandet. Für einen Moment waren sie bewegungsunfähig, standen da und ließen das Schauspiel der Lichter auf sich einwirken. Die magische Farbenpracht glich derjenigen, die von den mysteriösen Kugeln ausgegangen war. Damals in den Unendlichen Ebenen. Erst allmählich erkannten die fünf, dass es gar nicht die Wände waren, die das Farbspiel aussandten, sondern zierliche Buchstaben, von denen die Wände übersät waren. „Sütterlinschrift.“, hauchte Ariane. Daraufhin erkannten auch die anderen die Ähnlichkeit zwischen der Schrift an den Wänden und derjenigen auf den Fotos, die sie gesehen hatten. Langsam entspannten sie sich wieder. Das farbenfrohe Lichtspiel wirkte heimisch und schutzgebend. „Die Schrift reagiert auf uns!“, behauptete Vivien freudig und drehte sich zu den zwei Skeletten. Von hier erkannte man, dass sie Hand in Hand saßen, so wie die fünf nun Hand in Hand da standen. „Danke!“, rief sie ihnen zu. Dann zog sie ihr Handy wieder hervor und löste sich von den anderen vier. Nacheinander lief sie die Wände ab und fotografierte die verschiedenen Inschriften. Trotz der ungünstigen Lichtverhältnisse war das Ergebnis, das das Display wiedergab, einwandfrei. „Das ist unglaublich.“, sagte Ariane atemlos. „Voll die Leuchtreklame.“, scherzte Vitali. Serena war perplex. „Was sollen diese Schriften?“ Vivien drehte sich kurz zu ihr um. „Vielleicht locken die Schriften Leute in den Raum, um sie dann mit Leib und Seele zu verschlingen.“, lachte sie leicht gehässig. „Das ist nicht lustig!“, fauchte Serena, woraufhin Vivien nur noch lauter lachte. „Vielleicht sagen uns diese Schriften, was hier vor sich geht.“, meinte Justin zuversichtlich. Ariane verstand dies als Aufforderung und näherte sich einer der Wände, Vivien war mittlerweile fertig mit Fotografieren. Es dauerte kurz, ehe Ariane ihre Auswahl laut vorlas: „Als Wappen verborgen in ungeahnter Tiefe, das Tor zu eurem wahren Wesen. Hier ist es, wo eure wohlverwahrten Fähigkeiten werden erweckt, wo Beschützer und Hoffnungsträger liegen versteckt, deren Aufgabe ist, das Gleichgewicht zu erhalten. Eure Begabung sei die Harmonie, die allein wandelt Chaos zum Kosmos und führet zurück zu dem Einen, dem alles Leben entspringt. Doch das Eine ist nicht immer das Gleiche und die Lösung nicht immer klar, denn die eine Wahrheit wandelt sich.“ „Hä?!“, stieß Vitali laut aus. „So’n Blödsinn! Das rafft doch keine Sau!“ „Die beiden anderen Tafeln waren ja auch nicht viel eindeutiger.“, entgegnete Serena. Justin blieb vertrauensvoll. „Wenn wir alle Inschriften zusammenfügen, ergibt es sicher mehr Sinn.“ „Soll ich weiterlesen?“, fragte Ariane. Im gleichen Atemzug erlosch das Licht und die fünf wurden in jähe Dunkelheit getaucht. Ihr Puls beschleunigte sich. Schnellstens schalteten Justin und Ariane die Taschenlampen wieder an, aber das flaue Gefühl in ihren Mägen blieb. Keiner von ihnen wagte, etwas zu sagen. Jeder verharrte an seinem Platz, bewegungslos, lauschte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)