Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 32: [Erste Schritte] Ein Hauptquartier ---------------------------------------------- Ein Hauptquartier „Was man sich vorstellen kann, ist wirklich.“ (Pablo Picasso, span. Künstler) Als Kurort war Entschaithal berühmt für seinen wunderschönen Park im Nordwesten der Stadt, nicht allzu weit von Vitalis Zuhause entfernt. Die Grünanlage strahlte eine gewisse Ruhe aus. Eine leise Harmonie, die einen in ihren Bann zog. Daher lautete ihr inoffizieller Name auch 'Hain der Sanftmut'. Saftiges Grün, majestätische Bäume und farbenprächtige Blumen schmückten die Umgebung. Durch den gesamten Park schlängelte sich ein kleiner Bach, der am südlichen Ende des Parks seinen Anfang nahm, wo ein mittelgroßes Waldgebiet begann, und in einen kleinen See mündete. Ariane war von der Schönheit bezaubert, behielt es aber für sich, da sie gerade andere Sorgen hatten und sie keinen bissigen Kommentar von Serena ernten wollte. „Und wo ist sie jetzt?“, fragte Vitali. Kaum hatte er den Satz beendet, erschien das Schmetterlingsmädchen direkt vor ihnen, sodass sie kurz zusammenzuckten. „Folgt mir.“, sagte Eternity sacht – die erwachsenere der beiden Persönlichkeiten. Eternity führte sie tiefer in den Park hinein, bis sie schließlich bei einer Baumgruppe nach links einscherte und die fünf ihr zwischen den Bäumen hindurch folgen mussten. Wie bei einem Slalom umflog Eternity geschmeidig die Baumstämme. Weniger anmutig folgten die fünf. Sie drangen tiefer in das Gestrüpp ein und erreichten eine kleine Lichtung inmitten der Bäume. Auf dieser Lichtung stand ein noch kleineres Häuschen. „Was macht das hier?“, fragte Vitali. Justin versuchte sich an einer Erklärung. „Vielleicht wurde es früher als Geräteschuppen benutzt und ist irgendwann zugewachsen.“ Diese These klang nicht besonders überzeugend. Aber es war auch nicht weiter wichtig. „Und was sollen wir jetzt hier?“, platzte Serena heraus. „Wolltest du uns bloß diesen Schuppen zeigen? Da drin können wir sicher nicht trainieren!“ Eternity blieb trotz Serenas Ton ruhig. „Wo würdest du denn lieber trainieren?“ Vitali antwortete an Serenas Stelle: „Irgendwo, wo wir mehr Platz haben.“ Eternity lächelte. Nicht das kindlich fröhliche Lächeln ihres anderen Ichs, sondern ein sanftes, beruhigendes. „Ihr werdet genug Platz haben.“ Ariane sah fragend zu den anderen. Keiner von ihnen schien besser zu verstehen, worauf das Schmetterlingsmädchen hinaus wollte. „Wie meinst du das?“, hakte sie daher nach. „Was seht ihr auf dieser Lichtung?“ Ariane antwortete: „Ein kleines Holzhäuschen.“ „Was ihr seht, ist was euer Gehirn daraus macht. Was könnte dort sein?“, fragte Eternity. „Eine Imbissbude.“, scherzte Vitali. „Ihr selbst bestimmt, was ihr dort seht.“ „Ja, wenn wir ein paar Liter Alk intus hätten, könnten wir da so einiges sehen.“, alberte Vitali. „Was sollen wir denn dort sehen?“, fragte Ariane. Auch wenn die Hoffnung, eine klare Antwort von Eternity zu bekommen, allmählich schwand. „Den Ort, an dem ihr trainieren werdet.“, eröffnete Eternity. Vivien klatschte begeistert in die Hände. „Unser ganz eigenes Hauptquartier!“, jauchzte sie. Die anderen starrten sie irritiert an. „Was ihr bisher für Grenzen des Möglichen gehalten habt, ist nichts als eine Schranke, die ihr nun durchbrechen müsst. Vergesst, was ihr bisher über die Welt wusstet, denn um eure Kräfte zu entfesseln, müsst ihr über das hinausgehen, was ihr bisher kanntet.“, sagte Eternity. War das eine Kampagne dafür, den Verstand zu verlieren?, dachte Serena missmutig. Eternity sprach weiter, als wolle sie auf Serenas ungeäußerte Kritik antworten: „Ihr könnt nur das erreichen, woran ihr glaubt. Zweifel werden es euch unmöglich machen, aus der Quelle eurer Möglichkeiten zu schöpfen.“ „So ein Schwachsinn.“, zischte Serena. „Also mal überlegen, wie soll unser Geheimversteck denn so sein?“, redete Vivien vor sich hin. Sie nahm ihren Rucksack ab und holte Block und Stift hervor. „Kommt her, wir müssen uns überlegen, wie es aussehen soll!“ „Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt?“, meckerte Serena, dennoch stellte sie sich mit den anderen um Vivien herum. „Wenn wir ein ganzes Hauptquartier für uns allein hätten, wie sollte es aussehen?“, fragte Vivien. Ihr schlugen teils verwirrte, teils kritische Blicke entgegen. „Ach kommt schon!“, bat Vivien und zog einen Schmollmund. „Wir können doch erst reingehen, wenn wir wissen, wie es aussieht!“ „Ich bin mir nicht sicher, ob ich das verstehe.“, gestand Ariane. „Eternity sagt doch, wir sollen uns überlegen, was wir dort sehen. Also was könnte in dem Inneren von dem Häuschen sein?“, erklärte Vivien. „Staub.“, alberte Vitali. „Und Spinnen.“, ergänzte Serena. Kurz schüttelte es sie. „Es geht darum, was wir darin haben wollen!“, präzisierte Vivien. Ariane und Justin sahen zu Eternity, die jedoch keine weiteren Informationen preisgab. Serena meckerte: „Das ist ein kleiner Schuppen! Egal, wie es darin aussieht, es ist viel zu klein!“ „Dann stellen wir es uns eben größer vor!“, meinte Vivien. „Geht das?“, fragte sie Eternity. Als Antwort lächelte das Schmetterlingsmädchen. „Das ist doch alles Schwachsinn.“, brummte Serena. „Also was brauchen wir?“, forderte Vivien die anderen erneut auf, mitzumachen. Da keiner darauf reagierte, sah sie Justin eindringlich an. Justin erbarmte sich: „Ein Trainingsbereich wäre sinnvoll.“ Vivien strahlte ihn an und nickte freudig. Dann wandte sie sich den anderen zu. „Was noch?“ „Ein Bereich zum Entspannen!“, rief Vitali. „Mit einem großen Sofa!“ Vivien kicherte. „Du meinst, eine Art Aufenthaltsraum?“, fragte Ariane. Vitali bestätigte dies. „Jap.“ „Das Sofa könnte eine Hufeisenform haben.“, überlegte Vivien laut. „Welche Farbe?“ „Egal.“, meinte Vitali. „Wie wäre es mit Weiß?“, schlug Ariane vor. „Ok.“, stimmte Vivien zu. „Und was noch?“ „Ein eigenes Zimmer für jeden!“, fiel es Vitali ein. Vivien nickte und begann auf den Block zu kritzeln. „Noch was für den Aufenthaltsraum?“ „Vielleicht einen großen Tisch mit genügend Stühlen?“, erwiderte Ariane. Vivien nickte und sah dann erneut Justin an, als erwarte sie einen weiteren Einfall von ihm. Er zauderte sichtlich. „Ähm, vielleicht ein Arbeitsbereich?“ Sie lächelte und kritzelte wieder auf den Block. „Noch was Wichtiges?“ Vivien sah Serena an, aber diese weigerte sich mitzumachen – obwohl sie gleichzeitig wirkte, als würde es ihr missfallen, nicht mitentscheiden zu können. Vitali dagegen hatte weitere Vorschläge: „Wie wär’s mit nem Heimkino?“ „Wozu brauchen wir das?“, fragte Ariane verwundert. „Wieso nicht?“, entgegnete Vitali. „Sollten wir uns nicht auf das Wichtigste beschränken?“, legte Ariane nahe. „Hä? Ein Arbeitsbereich ist doch auch nicht wichtig!“, beanstandete Vitali. „Natürlich, wenn wir irgendetwas recherchieren oder erarbeiten müssen.“, erklärte Ariane. „Kriegen wir dann wenigstens WLAN?“, maulte Vitali. „Das wird nicht möglich sein.“, antwortete Eternity ernüchternd. „Es tut mir leid.“ Vitali gab ein verstimmtes Grummeln von sich. Vivien war derweil immer noch mit dem Aufzeichnen beschäftigt. Schließlich hielt sie inne, rief ein lautes Tadaaaa! und präsentierte ihnen die Skizze. Sie hatte darauf einen eher ovalen als viereckigen Grundriss gezeichnet, der in drei Bereiche untergliedert war, einer oben, einer unten, einer rechts. Die Eingangstür in der unteren Hälfte links führte direkt in den geräumigen Aufenthaltsraum, der an der unteren Außenwand entlang den geplanten Arbeitsbereich beinhaltete. Auf der Seite der Innenwand waren der Tisch mit Stühlen eingezeichnet und in der rechten Ecke die große Couch. Vom rechten, hinteren Ende des Aufenthaltsraums führte eine Zwischentür in den Trainingsbereich, der die rechte Seite des Grundrisses einnahm. Oberhalb der Eingangstür ging ein Weg vom Aufenthaltsraum in den Bereich der Zimmer über. Die Räume der Jungs waren an der oberen Außenseite, die der Mädchen an der Innenseite untergebracht. Vivien hatte jeweils die Beschützernamen hineingeschrieben, die Vitali und Serena zuvor übersetzt hatten. Von diesem Bereich führte ebenfalls eine Tür rechts zum Trainingsbereich, zu dem zwei getrennte Badezimmer mit WC gehörten. Ariane stutzte. „Du hast ein Zimmer für Secret eingeplant.“ „Natürlich, sonst müssen wir ja später noch umbauen.“, sagte Vivien, als wäre es ganz selbstverständlich, dass Secret früher oder später zu ihnen stoßen würde. Ariane war von ihrer Zuversicht überwältigt. Bisher konnte der schwarzhaarige Junge sich schließlich nicht einmal an die ganze Sache erinnern. Serena sprach in betont unwilligem Ton. „Du hast einen Bereich für Ewigkeit vergessen.“ Die anderen starrten sie an. Serena verschränkte die Arme vor der Brust. „Ist doch so!“ Vivien kicherte. „Hast du eine Idee?“ Serena antwortete nicht sofort. Schließlich tippte sie auf den Gang zwischen den Zimmern, der aufgrund von Viviens ovaler Form des Hauses ebenfalls in der Mitte breiter war, sodass ein kleiner Platz zwischen den Räumen entstand. „Sie ist so klein, wir könnten hier eine halbhohe ähm… so was wie ein Weinglas… Der Stiel ist mit dem Boden verschmolzen und der Kelch ist verziert und innen weich ausgepolstert und bequem, mit ganz vielen Kissen. Wie ihr eigenes kleines Schloss.“ Vitali kommentierte: „Das ist so kitschig, das musste von dir kommen.“ „Halt die Klappe.“, presste Serena hervor. Vitali lachte, woraufhin Serena wieder die Arme vor der Brust verschränkte. Vivien zeichnete den Punkt ein. „Sie wird sich bestimmt freuen!“ Wieder sah sie zu den anderen. „Noch irgendwelche Verbesserungsvorschläge?“ Keiner meldete sich. „Dann können wir jetzt reingehen.“ „Wie jetzt?“, fragte Vitali. „Na, wir haben das doch nicht umsonst gemacht.“, erwiderte Vivien, während sie Stift und Block wieder in ihrem Rucksack verstaute und nur die Zeichnung ihres Geheimverstecks in der Hand behielt. „Lasst uns gehen!“ Unschlüssig folgten sie Vivien zu der Tür des Häuschens. „Vielleicht ist sie ja abgeschlossen.“, überlegte Vitali laut. „Dann müssen wir sie eben aufmachen. Sesam öffne dich!“ Mit diesen Worten drückte Vivien die Türklinke hinunter. Für einen Moment waren sie tatsächlich gespannt. Doch hinter der knorrigen alten Tür zeigte sich – welch Wunder – genau das, was einige von ihnen erwartet hatten – ein verstaubtes, mit Spinnweben übersätes, kleines Inneres. Wie hätte dort auch etwas anderes sein können? Serena seufzte. Vivien stand mit dem Rücken zu ihnen und rührte sich einen Moment lang nicht. Irgendwie tat es den anderen leid, dass Viviens naive Hoffnungen so enttäuscht worden waren. Aber was hatte sie erwartet? Dass auf einmal hinter der Tür ihr Fantasiehaus auftauchen würde? Sie beobachteten schweigend, wie Vivien ihre Zeichnung nahm, zusammenknüllte und sie mit voller Wucht in das Häuschen warf. So hatten sie sie noch nie erlebt. Während die anderen noch überlegten, wie sie Vivien nun trösten sollten, machte diese einen entschiedenen Schritt in das Häuschen hinein. Und war schlagartig verschwunden! „Vivien!“, schrie Justin und hetzte ihr hinterher. Aber bei ihm zeigte sich nicht die gleiche Wirkung. Er spürte die Spinnweben, die beim Eintritt an ihm hängen geblieben waren. Er stand inmitten des Häuschens und sah sich einzig ein paar mit Staub bedeckten Stühlen auf einem nicht minder staubigen Tisch gegenüber. Durch die mit Holzbrettern zugenagelten Fenster drang kaum Licht und so war Justin in Finsternis getaucht. Von Vivien war keine Spur. Justin stürmte wieder hinaus, vorbei an den anderen geradewegs auf Eternity zu. „Wo ist sie?!“, fuhr er Eternity in einem für ihn untypisch ungehaltenem Ton an. Eternity sah ihn nur stumm an und hüllte sich in gespenstisches Schweigen. Vivien konnte nicht in ein Fantasiehaus entschwunden sein. Und wenn doch, warum dann nur sie? Die einzig logische Erklärung war, dass Eternity sie verraten hatte. Vielleicht war Vivien zurück ins Schatthenreich gezogen worden! Justin ballte die Fäuste. Er hätte auf Serena hören sollen. Sie hätten Ewigkeit nie vertrauen dürfen! Es war alles allein seine Schuld! „Bring sie zurück!“, befahl er. Derweil hatte auch Vitali hektisch versucht, Vivien nachzufolgen, mit genauso wenig Erfolg. Er stieß einen Fluch aus. „Warum geht das nicht?!“ Ariane trat vor ihn, schloss die Tür und öffnete sie wieder. Nichts. Sie ließ die Tür wieder zufallen und sah hilflos zu den anderen. Komischerweise wirkte Serena weit weniger aufgebracht als Justin. Ihr Blick war weiterhin auf die Tür fixiert. „Wo bleibt ihr denn?“, beschwerte sich plötzlich eine Stimme hinter Ariane. „Vivien!“ Ariane zog die Vermisste in eine Umarmung. „Ähm, hab ich irgendwas verpasst?“, fragte Vivien in einer Mischung aus Verwirrung und Erheiterung. „Hey, wo warst du?!“, schalt Vitali sie. „Ich bin doch nur reingegangen.“, rechtfertigte sich Vivien. „Aber Justin konnte dir nicht folgen!“, klärte Ariane sie auf. „Keiner von uns.“ Verwirrt blickte Vivien nun hinüber zu Justin. Er starrte sie entgeistert an, wandte sich eilig ab, als er ihren Blick wahrnahm und bedeckte das Gesicht mit seiner Linken. Er atmete schwer und brachte keinen Ton heraus. Vivien eilte zu ihm. „Justin?“ Sie versuchte, einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen, was ihr aber nicht gelang. Sie hörte ihn tief Luft holen, dann sah er sie schließlich mit einem gezwungenen Lächeln an, das Vivien ein schlechtes Gewissen machte. Ohne lange zu zögern, schlang sie ihre Arme um seinen Brustkorb und drückte sich an ihn. Selbst wenn ihm das unangenehm war, wusste sie sich in diesem Moment nicht anders zu helfen. Unverhofft erwiderte Justin die Umarmung kurz, ehe er wieder hastig von ihr abließ. Vivien löste sich wieder von ihm und blickte mit einem aufmunternden Lächeln zu ihm auf. Er wich ihrem Blick aus und wandte sich stattdessen Eternity zu. „Es tut mir leid.“ Nachsichtig lächelnd nickte Eternity. Vivien reimte sich zusammen, was in ihrer Abwesenheit geschehen war. Sie wollte nach Justins Hand greifen, aber er zuckte vor ihrer Berührung zurück. „Wir sollten uns bei der Hand nehmen. Damit wir alle zusammen reinkommen.“, rechtfertigte Vivien ihre Geste. Justin nickte und wirkte nun wieder verlegen. Zaghaft reichte er ihr seine Linke. Vivien führte ihn zu den anderen. „Wir gehen in einer Kette rein.“, schlug sie vor. Die anderen folgten ihrem Aufruf. Derweil wandte sich Ariane an Serena. „Wusstest du, –“ „Nein.“, unterbrach Serena sie. „Aber wenn jemand so verrückt ist in einem Fantasiehaus zu verschwinden, dann Vivien.“ Vivien, die ihre Worte gehört hatte, kicherte vergnügt. „Stellt euch hintereinander und haltet euch fest.“ Es war seltsam, Vivien reden zu hören, als würden sie gleich in eine unbekannte Dimension eintreten. „Ihr müsst genau das Bild von unserem Versteck im Kopf haben. Und fest daran glauben! Klar?“, erklärte sie. „Bist du Peter Pan?“, scherzte Vitali. Vivien lachte: „Eternity, wir brauchen etwas Feenstaub!“ Tatsächlich kam das Schmetterlingsmädchen zu ihnen und schwebte gekonnt über ihre Köpfe, als wolle sie ihnen etwas von ihrem Leuchten abgeben. Viviens heiteres Lachen ertönte. „Macht am besten die Augen zu. Ich führe.“, verkündete sie. Die vier taten wie geheißen. Als sie alle die Augen geschlossen hatten, konnte sich Vivien das breite Grinsen nicht verkneifen. Der Anblick der schlafwandlerisch wirkenden Kette aus Justin, Vitali, Ariane und Serena gefiel ihr. Schließlich drehte sie sich zurück nach vorne und setzte sich in Bewegung. Justin, der den Zug an seiner Hand spürte, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Stück für Stück kam Leben in die menschliche Kette. Die vier Blinden fühlten das Gras unter ihren Füßen, rochen den Duft, der von den Bäumen um sie herum ausging und hörten das Zwitschern von Vögeln. Sie versuchten, sich auf das Bild ihres Hauptquartiers in ihrem Kopf zu konzentrieren und dabei ihre zweiflerischen Gedanken zu ignorieren, die sie Träumer und Beleidigenderes schimpften. Sie taten Schritt um Schritt und fragten sich langsam, ob sie nicht schon längst in dem staubigen Inneren der alten Hütte stehen und gegen die dort aufgetürmten Tische und Stühle prallen mussten. Aber dem war nicht so. Sie wagten nicht die Augen zu öffnen, folgten weiter Viviens Führung. Mit einem flauen Gefühl im Magen bemerkten sie das Verstimmen der Vögel um sie herum. Auch die Luft schien mit einem Mal wärmer als zuvor, und der Boden … Das konnte doch kein Gras mehr sein! Kurz verspürten sie den ängstlichen Wunsch, die Augen aufzureißen, getrauten es sich im gleichen Moment aber nicht, aus Furcht vor dem Ergebnis. Schließlich liefen sie aufeinander auf, als ihr jeweiliger Vordermann stehen blieb. „Wir sind da. Ihr könnt die Augen wieder aufmachen.“, verkündete Viviens fröhliche Stimme. Die Herzen der anderen pochten vor Aufregung. Zwei, drei Sekunden rangen sie mit sich, ehe sie unsicher die Augen öffneten und auseinanderstoben, um etwas sehen zu können. Der Anblick verschlug ihnen den Atem. Der Tisch mit sechs Stühlen. Das Riesensofa in der einen Ecke, die Schreibtische entlang der Wand. Sie standen inmitten ihres fantasierten Aufenthaltsraums! Eine seltsame Schwäche machte sich in ihnen breit, ihre Beine fühlten sich wie Wackelpudding an, sie waren kurz davor in sich zusammenzusacken. Ihre Augen blinzelten wild, als würden sie gegen das Bild, das sie zu verarbeiten hatten, ankämpfen wollen. Es war schlimm genug gewesen, es als Realität zu akzeptieren, als sie im Schatthenreich gelandet waren. Aber es war nicht ihrer Fantasie entsprungen gewesen. Sie hatten keine andere Wahl gehabt, als es als echt anzusehen. Aber nun… Wie konnten sie das hier als Wirklichkeit annehmen, ohne dabei ihren gesunden Menschenverstand zu verlieren?!! „Ihr könnt auch das Unmögliche möglich machen, wenn ihr daran glaubt! Erst wenn ihr das versteht, werdet ihr euch gegen die Schatthen wehren können.“, sprach Eternity andächtig. Der hektische Atem der vier sprach nicht gerade dafür, dass sie das so einfach akzeptieren konnten. „Die Welt ist voller Wunder. Ein Samenkorn verwandelt sich in ine Pflanze, eine Raupe in einen Schmetterling. Und ihr euch in Beschützer.“ Eternitys Stimme klang angenehm. Wie ein heilsamer Gesang, der den quälenden Zweifel in ihrem Kopf zerstreute. Die vier holten tief Luft. Weitere Momente dauerte es, bis sie bereit waren, sich dem unfassbaren Anblick wieder zu stellen. „Ist das nicht toll!“, rief Vivien und lief rückwärts mit zur Seite erhobenen Armen weiter in den Raum hinein. Die anderen folgten ihr. Zuerst waren ihre Bewegungen zaghaft und sie getrauten sich nicht, die Möbelstücke anzufassen, doch nachdem sich Vivien kichernd auf die große Couch hatte plumpsen lassen, fielen ihre Hemmungen langsam ab. Schließlich erschien ein leicht verlegenes Lächeln auf ihren Lippen, dann ein nicht zu übersehendes Augenfunkeln wie Kinder es beim Anblick ihrer Weihnachtsgeschenke hatten. Zum ersten Mal seit langer Zeit verspürten sie die wilde Hoffnung, die verrücktesten Ideen verwirklichen zu können. Ariane lachte leise. Vitali gab einen Siegesschrei von sich. Vivien sprang wieder von der Couch auf. „Es gibt noch mehr!“ Sie machte eine einladende Bewegung. Eifrig übernahm sie die Rolle eines Fremdenführers. Sie lotste die anderen durch den Gang zu ihren Zimmern und des für Ewigkeit angelegten Konstruktion, dann weiter zu ihrem Trainingsbereich, der noch ziemlich leer war – schließlich hatten sie sich noch nichts Genaueres zu ihm überlegt. Bisher sah er einfach wie eine große Halle aus. Wieder im Aufenthaltsraum angekommen, wagten sie es nun endlich, sich ebenfalls auf das Sofa zu setzen. Dann brachen sie in Gelächter aus, als würden sie damit ihre überkommene Besorgnis aus ihrem Körper schleudern müssen. Eternity beobachtete die Beschützer und gab ihnen die Zeit, sich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Bedächtig schwebte sie in ihr Blickfeld. Sie ließ ihren Blick bedeutungsvoll über sie schweifen und verlieh dem Moment eine Ehrfurcht gebietende Stimmung. „Um mit dem Training anfangen zu können, ist es an der Zeit, euch über die Hintergründe aufzuklären.“ Ihre Worte wirkten fast feierlich und gaben den fünf das Gefühl, nun endlich in etwas wirklich Brauchbares eingeweiht zu werden. Begierig darauf, Eternitys Eröffnungen in sich aufzunehmen, fixierten sie das kleine Schmetterlingsmädchen und fühlten wie Spannung in ihnen wach wurde. Mit eindringlicher Stimme begann Eternity zu sprechen, ihre Augen hielten die fünf fest. „Schatthen sind nicht das, für das ihr sie vielleicht haltet.“ „Monster?“, warf Vitali ein. Eternity nickte und sah kurz in die Ferne. Ihre Hand umfasste das Medaillon ihrer Kette. „Sagt mir, wie würdet ihr jemandem erklären, was Gefühle sind?“ Die fünf sahen sie verwirrt an. Ariane versuchte sich an einer Antwort. „Etwas, das man im Körper spürt, aber nicht unbedingt im Körper seinen Ursprung nimmt, bzw. nicht an der Stelle.“ Eternity nickte. „Wie würdest du jemandem erklären, was eine Seele ist?“ Vitali warf ein: „Was hat das mit den Schatthen zu tun?“ „In der Seele sind die Gefühle.“, nahm Ariane aufgrund von Eternitys Fragenfolge an. Wieder nickte Eternity. „Gefühle sind nicht die Seele, aber die Seele hat Gefühle. Wenn ihr nun Gefühle aus eurer Seele nehmt und sie abtrennt, was passiert dann?“ Besonders Vitali machte den Eindruck, als wisse er beim besten Willen nicht, wovon sie da sprach. „Entschuldigt. Es ist nicht einfach, das zu erklären und ich möchte euch die Antworten nicht vorgeben. Ihr sollt selbst darauf kommen.“ Vitali stöhnte. „Ihr müsst verstehen, es gibt nicht nur eine Wahrheit.“, versuchte Eternity es nochmals begreiflich zu machen. Doch dieser Satz schien die fünf noch mehr zu irritieren. Vivien lächelte. „Heißt das, es gibt keine falschen Antworten?“ Eternity nickte. „Das ergibt doch voll keinen Sinn!“, beschwerte sich Vitali. Eternity suchte nach passenden Worten. Es fiel ihr sichtlich schwer. „Es gibt Gefühle, die unangenehm sind. Man möchte sie vielleicht nicht haben, aber man kann sie nicht einfach abstellen. Genausowenig kann man sie von sich abtrennen. Sie sind Teil von einem. Und erst wenn man sie annimmt, können sie wieder gehen. Wenn man sie aber festhält, wird man nie frei von ihnen.“ Vitali starrte sie nur noch dümmlich an. „Schatthen sind nicht einfach irgendwelche Monster. Sie sind wie Seelenteile ihres Erschaffers, die in eine Form gezwängt wurden. Sie sind in diesem Körper gefangen. Sie haben keine eigene Seele im Gegensatz zu allem anderen Leben, sondern sind Teil der Seele des Schatthenmeisters.“ „Hä?“, stieß Vitali aus. „Wie jetzt? Die Schatthen sind die Seele des Schatthenmeisters?“ Eternity schüttelte den Kopf. „Nein, sie … Es ist nicht so, dass sie seine Seele sind, sie sind seiner Seele entsprungen und haben keine eigene. Deshalb können sie auch nicht sterben.“ Jäher Schock zeichnete sich auf den Gesichtern der fünf ab. „Soll das heißen, wir sollen gegen unsterbliche Monster kämpfen?“, kreischte Serena. Wieder schüttelte Eternity den Kopf. „Was ist mit den Schatthen in der Scheune geschehen?“ Die fünf wussten kurz nichts darauf zu antworten. „Sie sind verschwunden.“, antwortete Ariane. „Wie in den Unendlichen Ebenen.“, fiel es Justin ein. Vivien erkannte ein Muster. „Immer wenn die Kugeln auftauchen!“ „Die Wappen.“, bestätigte Eternity. „Wieso Wappen?“, rief Vitali. „Was sind das für Dinger?“ „Die Wappen sind das Tor zu eurer Seele.“, erklärte Eternity. „Hä?“, stieß Vitali aus. „Wie kann das Tor zu meiner Seele außerhalb von meinem Körper sein? Und wieso ist das eine Kugel? Eine Kugel ist doch kein Tor! Und ein Tor bringt einen doch irgendwo hin. Aber ich kann doch nicht zu meiner Seele laufen, weil meine Seele doch in mir ist, und ich kann ja nicht in mich laufen! Huuääh?!“ „Das ist wohl metaphorisch gemeint.“, versuchte Ariane seine Verwirrung zu lindern. „Und wieso nennt man die Wappen? Die sehen doch ganz anders aus.“, beschwerte sich Vitali. „Vielleicht sind sie einfach die Erkennungszeichen der Beschützer.“, vermutete Vivien. Ariane schaute nachdenklich. „Das Wort Wappen bezeichnete ursprünglich nicht nur ein Abzeichen. Früher bedeutete Wappen auch Waffen.“ „Wir haben blöde verzierte Kugeln als Waffen?!“, rief Vitali fassungslos. „Wie erbärmlich ist das denn?! Und wie sollen die komischen Kugeln, denn die Schatthen weggezaubert haben?“ „Das haben sie nicht.“, antwortete Eternity. „Sie haben die Schatthen erlöst. Von ihren Leiden.“ „Sehr leidend sahen die nicht aus.“, grummelte Vitali. „Wieso sprichst du von den Schatthen immer, als wären sie Opfer?“, fragte Ariane. „Schatthen werden aus Emotionen geschaffen, unter denen der Mensch leidet. In den Schatthen bleibt dieses Leid konserviert. Es bleibt bestehen, selbst wenn ihr Schatthenmeister stirbt. Ja, selbst wenn ihr Körper zerstört wird, findet es keinen Frieden. Selbst in ihren kleinsten Partikeln bleibt es bestehen.“ Vitali verschränkte die Arme vor der Brust. „Soll das heißen, der Schatthenmeister ist ne ganz arme Sau und wir sollen Mitleid mit ihm haben?“ „Schatthenmeister haben nicht mehr oder weniger quälende Gefühle als andere. Sie besitzen nur die Fähigkeit, diesen einen Körper zu geben und dadurch Schatthen zu erschaffen.“ „Und was sollen wir jetzt machen?“, wollte Serena wissen. „Es geht nicht darum, was ihr machen sollt, sondern was ihr machen könnt.“, berichtigte Eternity. „Auch Beschützer können die Gefühle ihrer Seele nutzen. Ihr besitzt die Gabe, sie in eine Energiewelle nach außen zu verwandeln.“ „Wir sollen mit Gefühlen um uns schießen?!“, schrie Vitali. Vivien kicherte. Ariane war beeindruckt, dass Vitali das so schnell verstanden hatte, sie selbst hatte im ersten Moment nicht begriffen, was Eternity damit hatte andeuten wollen. „Die Schatthen selbst wurden aus Gefühlen geschaffen.“, wiederholte Eternity. „Durch ihre Form als Schatthen sind sie abgeschnitten von ihrer Quelle. Ihnen fehlt die Verbindung zum Leben, die jedes andere Wesen besitzt. Leben ist Veränderung, alles entsteht, entwickelt sich und vergeht. Das ist ein ewiges Fließen. Aber die Schatthen sind in ihrer statischen Existenz gefangen. Dennoch ist ihr Kern ein Stück Seele. Wenn ihr dieses Stück Seele mit eurer Energiewelle berühren könnt, befreit es sich und seine Energie verschmilzt wieder mit dem Ursprung.“ „Also wenn wir sie abtreffen?“, hakte Vitali nach. „Wenn ihr sie nicht nur trefft, sondern mit dem Gefühl eurer Welle den Seelen-Kern berührt.“, entgegnete Eternity. „Hä?“ , machte Vitali. „Wie meinst du das?“, wollte auch Ariane wissen. „Jede Seele ist willkommen und ist Teil des Ganzen. Wenn ihr dieses Wissen im Seelen-Kern des Schatthens wiedererweckt, nimmt er wieder seinen ihm zugedachten Platz im Universum ein und der Schatthen löst sich auf.“ „Alter! Wie sollen wir denn das machen?!“, schimpfte Vitali. „Ich kapier nur die Hälfte!“ „Das geht nicht nur dir so.“, gab Ariane zu. „Woher sollen wir wissen, welche Welle die ist, die den Schatthen auflöst?“, forderte Serena zu wissen. Eternity lächelte sanft. „Wenn es ein Gefühl ist, das euch selbst daran erinnert, dass ihr Teil des Ganzen seid, dann wird es das auch bei den Schatthen tun.“ Es herrschte kurzes, verwirrtes Schweigen. „Ich denke, es wird euch mehr bringen, wenn ihr praktisch erlebt, wovon ich spreche.“, sagte Eternity. „Gehen wir dazu in den Meditationsraum.“ Die fünf stockten. „Wir haben keinen Meditationsraum.“, sagte Ariane. Eternity lächelte. „Jetzt schon.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)