Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 46: Gefühlschaos ------------------------ Gefühlschaos „Wer andere bezwingt, ist kraftvoll. Wer sich selbst bezwingt, ist unbesiegbar.“ (Laotse, chinesischer Philosoph, 600 v. Chr.) „Wo sind wir?“, fragte Ariane atemlos. Die fünf fanden sich in einer schwarzen Weite wieder. Aber es war keine Schwärze, die ihre Augen nicht durchdringen konnte, es war eher so, als ob es einfach nichts zu sehen gab. Nur eine endlose Leere. Ariane zog ihre Arme vor ihren Oberkörper. „Ist das das Schatthenreich?“ „Ach was.“ Vivien machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wir sind doch durch unsere eigene Kraft hierhergekommen!“ Vitali zog ein kritisches Gesicht. „Besonders freundlich sieht’s hier nicht grad aus.“ Plötzlich blitzten in der Schwärze Bilder auf. Die fünf zuckten erschreckt zusammen. An immer anderer Stelle erhellten die Bilder die Dunkelheit und sie schienen näher zu kommen. Sofort nahmen sie einander wieder an den Händen. Ihre Herzen begannen schneller zu schlagen, während das kurze Aufleuchten näher und näher kam. Schließlich hatte es sie erreicht. Eine rechteckige weiße Fläche entfaltete sich vor ihnen wie eine Kinoleinwand. Im nächsten Moment begann sie, einen Film abzuspielen. Eternity tauchte auf dem Bild auf. Eternity, die sich vor drei Schatthen stellte. Es war die Szene von zuvor. Erneut mussten sie mit ansehen, wie sich die violette Energie um das Schmetterlingsmädchen legte und es grausam packte. Eternitys weit aufgerissenen Auge. Der in Schmerz verzerrte Mund. Wie plötzlich das Leben aus ihrem Körper wich. „Nein!“ Viviens Schrei aus der Erinnerung mischte sich mit ihrem neuerlichen Aufschrei. Aber auch diesmal half es nichts. Als die Attacke endlich von Eternity abließ, stoppte das Bild nicht, stattdessen wiederholte es das Szenario, zeigte, wie die Beschützer das Schmetterlingsmädchen getötet hatten, zeigte es wieder und wieder und wieder, in Endlosschleife. Doch keiner von ihnen konnte seine Augen abwenden, der Anblick bannte sie. Tränen kamen in ihnen hoch. Sie wollten das nicht mehr sehen. Sie wollten nicht, dass das jemals passiert war. Sie wollten nicht! Der Boden unter ihnen schien mit einem Mal wegzusacken. Sie verloren den Halt, hatten Angst zu stürzen, alles schien sich um sie herum zu drehen, dann blieben sie stehen, aber etwas Kaltes, Fremdes begann sich an ihnen hoch zu hangeln. Sie versanken immer tiefer, tiefer in der Verzweiflung, im Selbstmitleid, in der Gewissensqual. Es schnürte ihnen die Kehle zu. Unwillkürlich hatten sie die Hände voneinander losgelassen. Sie fingen an zu weinen, zu schreien vor Pein, und die Kälte kroch weiter an ihnen hoch. Schließlich verschwand das Bild von Eternity vor ihren Augen und nur die Schwärze blieb zurück. Zunächst konnten sie sich nicht abwenden von der Stelle, an der die Bilder erschienen waren, nahmen auch die Taubheit ihres Körpers nicht länger wahr. Dann schlug Serena die Augen nieder und erschrak für einen kurzen Moment, ehe die Verzweiflung den Schrecken tilgte. Die Kälte, die sich immer weiter auf ihrem Körper ausbreitete, war ein See aus schwarzem Wasser, in dem sie auf einmal standen und der sie immer weiter in die Tiefe sog. Aber das war auch egal. Es war die gerechte Strafe für das, was sie getan hatten, hier zu ertrinken. Serenas Tränen fielen von ihren Wangen in das schwarze Wasser und zogen weite Kreise. Vitali war der erste der anderen, der ebenfalls den schwarzen See wahrnahm. Er ließ einen Schrei los, doch die anderen reagierten nicht. Er versuchte sich aus dem See zu befreien. Er konnte von seinem Standpunkt weg waten, aber er konnte nicht erkennen, ob es hier irgendwo festen Boden gab. Anschließend fiel ihm erst auf, dass die anderen sich weiterhin nicht rührten und starr ins Nichts stierten. „Hey!“, brüllte er sie an so laut er konnte, aber weiterhin keine Reaktion. „Verdammt! Seid ihr eingepennt oder was?!“ Kurzerhand packte er Vivien an den Schultern. Sie blickte geradewegs durch ihn hindurch. „Meine Schuld.“, murmelte sie. „Es ist meine Schuld.“ Die Überschwänglichkeit, die sie zuvor an den Tag gelegt hatte, war nichts als ein Versuch gewesen, ihre seelischen Schmerzen zu übertönen, aber jetzt ging das nicht mehr. Und wieder versank sie ein Stück, ohne dass Vitali etwas dagegen tun konnte, während er selbst an der gleichen Stelle stehen blieb. Aber wie war das möglich? Vitali sah, dass auch die anderen ein weiteres Stück eingesackt waren, nur er nicht. „Justin!“, brüllte er. „Ich hätte das nicht zulassen dürfen. Ich hätte es verhindern müssen.“, wisperte Justin. Vitali kam sich wie im falschen Film vor. Er rief nach Ariane, woraufhin auch diese etwas vor sich hin brabbelte. „Das wollte ich nicht. Das wollte ich nicht.“ Schließlich drehte er sich zu Serena. „Serena?“ „Wieso töten wir sie nicht gleich?“, schluchzte sie und brach in Tränen aus. Und erneut sanken die anderen tiefer. Vitali fluchte innerlich. Langsam begriff er, dass die vier ihre Gedanken ausgesprochen hatten und dass diese mit dem weiteren Versinken zusammenhängen mussten, denn er war als einziger nicht tiefer nach unten gezogen worden war. „Hey!“, schrie er nochmals. „Hört mir zu! Aufwachen!“ Es half nichts. Er schüttelte Vivien. Keine Reaktion. Auch der Versuch, die anderen durch Schütteln, Anschreien, Zwicken und andere körperliche Reize aufzuwecken, brachte nichts. Hilflos stand Vitali da und wusste nicht, wie er den anderen helfen sollte. Sie sanken immer tiefer ein! Für einen Moment überfiel ihn eine so heftige Frustration über seine eigene Machtlosigkeit, dass er am liebsten losgeheult hätte. Plötzlich zog auch ihn der See tiefer. Vitali schnappte nach Luft. Was war jetzt los? Er bemerkte, dass die anderen nicht mehr gerade standen, sondern ihre Köpfe hängen ließen, fast sehnsüchtig in das Wasser blickten, als warteten sie nur darauf, davon verschlungen zu werden. Was sollte er nur tun? Verdammt! Er konnte überhaupt nichts tun! Er war komplett nutzlos. Bei dem Gedanken spürte er wieder den Sog des Sees. Erst jetzt begriff er, dass es seine Gedanken und Gefühle sein mussten, die entschieden, ob er weitersank oder nicht. Er durfte sich auf keinen Fall weiter runterziehen lassen! Vitali biss die Zähne zusammen. Nein, er würde nicht aufgeben! „Leute! Ihr müsst euch wieder einkriegen! Wenn ihr weiter so depri drauf seid, ertrinkt ihr hier. Hört ihr! Ihr müsst wieder zu euch kommen. Es bringt doch nichts, hier rumzuheulen. Wenn ihr euch bloß Vorwürfe macht und euch selbst bemitleidet, dann bringt das Ewigkeit auch nicht zurück!“ Damit traf er nicht bei allen den richtigen Ton, denn Serena glitt augenblicklich weiter hinab. Vitali packte sie am Arm. „Gib doch zu, das machst du absichtlich, nur um mich zu ärgern!“, schimpfte er. „Es hilft niemandem, wenn du dich so gehen lässt. Ewigkeit würde wollen, dass du weitermachst. Das weißt du!“ Er drehte sich wieder zu den anderen. „Wir sind es Ewigkeit doch schuldig, dass wir das jetzt durchhalten, sonst hat sie sich ganz umsonst geopfert! Oder nicht?!“ Er machte eine kurze Pause. „Vivien, du hast es doch vorhin gesagt: Wir schaffen das! Für Ewigkeit! Okay?!“ Keiner der vier antwortete. Dann nahm Vitali Viviens Hand. „Okay?!!“, brüllte er aus Leibeskräften. Plötzlich zersprang die gesamte Umgebung in Scherben und die fünf standen für einen Moment in weißer Fülle, zahllose große schwarze Scherben um sie herum, die sich sogleich auflösten. Vitali sah sich verwirrt um und ließ Vivien los. Eine Stimme drang an sein Ohr. „Okay.“ Er fuhr mit seinem Kopf herum und sah Ariane ihm zulächeln. „Danke.“, sagte Justin. Vivien strahlte. „Vitali der große Held!“ Vitali zeigte ein selbstzufriedenes Grinsen. „Ja, daran könnte ich mich gewöhnen.“ Serena war weniger dankbar. „Was soll das?“, fragte sie mit einem grimmigen Blick auf Vitalis Hand, die immer noch ihren Oberarm umfasst hielt. Vitali riss eilig seine Hand zurück und neigte seinen Oberkörper von Serena weg. „Hätte ich dich besser ersaufen lassen sollen?“ Serena ging nicht auf seinen Kommentar ein, sie wandte sich der Umgebung zu. „Was ist das hier?“, wollte Ariane wissen. „Vielleicht eine Illusion.“, überlegte Justin laut, angesichts des Umstands, dass sie hier mitten in einer weißen Unendlichkeit standen. Im nächsten Moment wechselte die Landschaft und sie fanden sich in einer Höhle aus schwarzem Gestein wieder. Gewaltige Stalaktiten und Stalagmiten ragten aus Decke und Boden und die Luft war schwer und stickig von Rauchschwaden. Ein roter Schein erfüllte das Innere. Die unheimliche Beleuchtung kam von einigen Kratern, die mit Lava-ähnlicher Masse gefüllt waren und eine unangenehme Hitze verströmten. Plötzlich schoss die kochende Materie zischend und rauchend in die Höhe. Die fünf schreckten zurück. „Alter, wo sind wir hier?“, schimpfte Vitali. Vivien lächelte. „Vielleicht ist das unser Inneres.“ „Und wo sind dann unsere Organe?“, warf Vitali ein. „Unser Seelenleben.“, präzisierte Justin. Vivien nickte. „Der See eben war wie ein Symbol für die Gefühle und Gedanken, die uns nach unten ziehen.“ Ariane sah sich unsicher um. „Aber was ist dann das hier?“ „Und was soll das Ganze überhaupt?“, fragte Serena argwöhnisch. „Ganz klar.“, meinte Vivien. „Wir müssen uns unserem Inneren stellen und am Schluss...“ Sie stockte und schien einen Moment zu überlegen. Vitali warf ihr einen skeptischen Blick zu. „Ja?“ „Am Schluss können wir wieder unsere Kräfte einsetzen.“, freute sich Vivien. „Und wie genau machen wir das?“, wollte Vitali wissen. Ariane sah ebenfalls Vivien an. „Sollen wir hier stehen und warten?“ Vivien zuckte mit den Schultern. „Woher soll ich das wissen?“ Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, hörten sie Geräusche wie kleine Explosionen. Erschrocken sahen sie, wie kleine dunkelrote Platten auf dem Boden rechts von ihnen aufleuchteten. „Prompte Antwort!“, lobte Vivien. „Also hier lang.“ Die anderen wirkten wenig zuversichtlich, setzten dann aber doch ihre Schritte auf den roten Weg. Sie folgten der beleuchteten Route bis zu einem Lavasee. Zwar konnte es sich aufgrund der zwar sehr warmen, aber nicht unmenschlich heißen Temperatur nicht um richtige Lava handeln, aber die Masse sah flüssigem Magma dennoch zum Verwechseln ähnlich. Der Weg führte – gerade breit genug, dass zwei nebeneinander gehen konnten – mitten durch die Lava-Masse. Versetzt hintereinander gingen sie weiter. Schließlich endete der Weg in einer breiten Ebene, die an ihren Enden in fünf runde Plattformen überging. Die fünf wechselten rasche Blicke. „Glaubt ihr, das ist eine gute Idee?“, fragte Serena wenig begeistert. „Uns bleibt wohl keine andere Wahl.“, meinte Justin und nahm als erster seinen Platz auf einer der Plattformen ein. Die anderen taten es ihm nach. Unwillig trat Serena auf die verbliebene freie Plattform und drehte sich zu den anderen um. Sie spannte ihre Muskulatur an und machte sich auf das Schlimmste gefasst. Sie wurde nicht enttäuscht. Mit einem Ruck lösten sich die Plattformen einzeln von der Ebene und trieben auf dem Lavasee. „Ruhig bleiben!“, befahl Justin. „Wir müssen das Gleichgewicht halten!“ „Ach wirklich?“, kreischte Serena erbost. Sie war bereits auf alle Viere gesunken. „Das habe ich doch schon mal gehört.“, äußerte sich Ariane. Vivien scherzte. „Daher wohl der Name Gleichgewichtsbeschützer.“ Die Plattformen bewegten sich nicht gleichförmig, sie trieben unterschiedlich voran, sodass sie zunächst Angst hatten, voneinander getrennt zu werden. Schließlich hielten sie aber in einem unregelmäßig geformten Kreis an. Sie warteten darauf, was als nächstes geschehen würde. Das Magma um sie herum brodelte gefährlich. Plötzlich schoss ein Feuerschwall direkt vor Serenas Plattform aus der Lava in die Höhe. Serena erschrak und wäre unter den Schreien der anderen fast in die Lava gestürzt. „Alles in Ordnung?“, schrie Vitali zu ihr hinüber. „Sieht das so aus?!“, brüllte sie zurück. „Zumindest könnt ihr noch streiten.“, kommentierte Ariane. Sie stockte und sah alarmiert auf ihre Handgelenke. Schlagartig war es wieder da, das heftige Pochen in ihren Adern. Ihr Blut hämmerte regelrecht und kochte auf wie die Lava um sie herum. Eine Hitze, die nicht von ihrer Umgebung kam, machte sich in ihrem Körper breit. Ihre Muskeln verkrampften sich. Vivien hielt sich den Kopf. Es war dieselbe Empfindung wie damlas im Schatthenreich, als Serenas Attacke sie getroffen hatte, dasselbe, das sie verspürt hatte, als sie diese Kräfte gegen die Schatthen eingesetzt hatte – Zorn. „Passt auf!“, schrie sie, im nächsten Augenblick versagte ihr schon die Stimme. „Was soll überhaupt dieser ganze Scheiß!“, brüllte Vitali. „Mich kotzt das alles an!“ „Spring doch in die Lava!“, fauchte Serena. „Verreck doch!“, gab Vitali zurück. „Haltet die Klappe! Alle beide!“, forderte Ariane. „Du hast mir gar nichts zu befehlen!“, schrie Vitali. Vivien ging auf die Knie und biss die Zähne fest zusammen. In dem vergeblichen Versuch, die sich an die Oberfläche drängende Wut zu unterdrücken, spannte sie jeden Muskel in ihrem Körper an, und machte es damit nur noch schlimmer. Vor Justin verschwamm von einem Moment auf den anderen alles. Er nahm seine Umgebung kaum noch wahr. Sein Körper zitterte. Die Wut brodelte in seinem Inneren, konnte jedoch nicht zur Oberfläche durchbrechen. Seine sonst so gutmütigen Augen wurden starr, sein Blick Angst einflößend. Die Veränderung glich der Verwandlung von Doktor Jekyll in Mister Hyde. Doch sein Hass wendete sich gegen ihn selbst. Währenddessen hatten sich Vitali, Serena und Ariane mit allen möglichen und unmöglichen Schimpfworten bombardiert, die immer brutalere Ausmaße angenommen hatten. Dafür war Serena sogar extra wieder aufgestanden. Doch das reichte noch nicht. Serena und Vitali wollten dazu übergehen, auch physische Gewalt anzuwenden, was aufgrund der räumlichen Trennung nur durch eines möglich war – durch den Einsatz ihrer Kräfte. Die beiden hatten bereits die violette Energie heraufbeschworen, aber noch nicht den tödlichen Schlag ausgeführt, während Ariane auf sie einschrie, dass sie aufhören sollten und wie bescheuert sie doch waren. Unzählige Feuerfontänen schossen um die fünf herum in die Höhe, ohne dass sie ihnen noch Beachtung geschenkt hätten. Gerade wollten Serena und Vitali ihre Attacken abfeuern, als Vivien wie eine Irre brüllte: „Ewigkeit!“ Die beiden erstarrten in der Bewegung. Die Energie um ihre Körper löste sich in Rauch auf und raubte ihnen die Kraft. Sie sackten in sich zusammen, entsetzt über das, was sie soeben tun wollten, was sie ohne auch nur mit der Wimper zu zucken fast getan hätten. Im gleichen Augenblick wurde alles um sie herum schwarz. Justin schnappte heftig nach Luft und riss die Augen auf, doch es machte keinen Unterschied, ob er die Augenlider geöffnet oder geschlossen hielt. Er war eingesperrt in der Schwärze. Eine enge Schwärze, in die er gerade so hineinpasste. Kein anderer durfte in diese Schwätze vordringen. Kein anderer gehörte hierher. Justin senkte den Kopf. Er wollte gar nicht, dass jemand anderes hierher kam. Es war besser alleine zu sein. Er brauchte niemanden. Nicht Vitalis scherzhaftes Herumgealbere, nicht Serenas unbeholfene Impulsivität, nicht Arianes sanfte Fröhlichkeit, nicht einmal Viviens begeistertes Lachen. Das Lachen, das er so gemocht hatte. Dieses Lachen hätte hier nur gestört, er wollte es nie wieder hören. Was brachte es schon? Das waren doch alles nur unnötige Hoffnungen, die ihm wehtaten. Er hätte schon immer allein bleiben sollen, nie versuchen sollen, in Kontakt mit anderen Menschen zu treten. Das hatte ihm in seinem Leben doch nur Leid beschert. Er spürte einen Kloß im Hals und die Schwärze kam noch näher. Sie bot ihm einen Schutz vor dem grausamen Außen. Hier war er sicher davor, wieder verletzt zu werden. Justin schloss die Augen und spürte eine Träne seine Wange berühren. Er hatte immer gewusst, dass er falsch war. Dass mit ihm etwas nicht stimmte. Er hätte nie geboren werden sollen. Er schnappte nach Atem. Der Gedanke tat ihm weh. Die Schwärze sollte ihn doch davor beschützen! Wieso tat es trotzdem weh? Er öffnete die Augen und rang panisch nach Luft, begriff, in was für einer Art Sarg er sich versteckte. Er wollte hier raus. Er wollte nicht hier drin gefangen bleiben! Er wollte zu den anderen! Auch wenn ihm wieder wehgetan wurde… – immer mehr Tränen bildeten sich in seinen Augen – …es war besser, als sich hier drin vor dem Leben zu verstecken. Er wollte nicht mehr alleine sein!!! „Vivien!“ Sein Schrei zerfetzte das Trugbild und im gleichen Moment sah er in indigofarbene Augen. Justin zuckte zurück, als er realisierte, wie nah Viviens Gesicht ihm war, schlug aber mit dem Hinterkopf gegen eine Wand. „Ganz ruhig.“ Ihre Stimme klang sacht. „Du bist aufgewacht.“ Noch immer versuchte er, so weit wie möglich von ihrem Gesicht entfernt zu bleiben. Sie sah ihn äußerst besorgt an und machte den Ansatz, ihm noch näher zu kommen. Dann schien ihr beim Blick in seine Augen die Erkenntnis zu kommen. Vorsichtig zog sie ihren Oberkörper zurück und nahm etwas Abstand zu ihm ein. Ein sanftes Lächeln lag auf ihren Lippen. Erst jetzt wagte er, sich umzublicken. Sie befanden sich in einem kleinen schneeweißen Raum. Hinter Vivien konnte er Ariane und Vitali erkennen. Diese knieten zu Serena, die gegen die gegenüberliegende Wand gelehnt noch zu schlafen schien. Vivien strahlte ihn an. „Du redest im Schlaf.“ Justin spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Daraufhin näherte Vivien sich ihm plötzich wieder. Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. „Das ist sehr süß.“ Er brachte keinen Ton mehr heraus. Dass Vitali mit einem lauten Schrei alle Aufmerksamkeit auf sich lenkte, kam Justin gerade recht. „Verdammt, wach endlich auf, du dumme Kuh!“, schrie er Serena an. Allerdings hatte Vitali nicht damit gerechnet, dass Serena sowieso gerade dabei gewesen war zu erwachen und daher seine Worte genau gehört hatte. Sie riss die Augen auf und stieß Vitali unsanft von sich. „Wie war das!?“ Vitali verzog das Gesicht.. „Th.. Anders kriegt man dich ja nicht wach!“ Ariane, die einen abermaligen Streit der beiden unterbinden wollte, entsann sich eilig der Methode, die Vivien sonst anwendete. Hastig sprach sie zu Serena: „Ich hab ihn gerade noch davon abgehalten, dich wachzuküssen.“ „WAAAAAAAAS!!!“, brüllte Vitali entsetzt. „Das ist überhaupt nicht wahr!!!!“ Er starrte Serena mit irrem Blick an und deutete auf Ariane. „Glaub der kein Wort!!!“ Ariane hob entschuldigend die Arme. „Es war nur ein Scherz.“ Vitali funkelte sie wütend an und bot ihr die Stirn. „Ich mag deine Scherze nicht!“ „Also ich fand ihn klasse!“, meinte Vivien kichernd, als sie zu ihnen gesprungen kam. Vitali verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust, woraufhin Vivien ihn mit dem Arm freundschaftlich anstupste. „Du bist doch unser Held!“, erinnerte sie ihn. „Ich hab diesmal nichts gemacht.“, dementierte Vitali übellaunig. „Für mich bist du immer ein Held!“, verkündete Vivien. Vitali sah sie daraufhin ungläubig an, doch Vivien wendete sich bereits Serena zu. „Das hast du toll gemacht!“ Serena war derweil wieder auf die Beine gekommen und verzog das Gesicht, als wolle sie das nicht hören. Im gleichen Moment hatte Vivien sich ihr in die Arme geworfen. „Lass das.“, murrte Serena. Vivien kicherte bloß und umarmte sie noch fester. „Ich hab dich lieb.“ Serena wandte das Gesicht ab, in der Hoffnung, dass keiner sehen konnte, wie viel ihr das bedeutete. „Und wie kommen wir jetzt hier raus?“, wollte Vitali wissen. Im gleichen Moment öffnete sich links von ihnen ein Durchgang. „Wieso frag ich überhaupt noch?“ Jenseits des Durchgangs fanden sie eine Dunkelheit vor, die sie an den nächtlichen Sternenhimmel erinnerte. Fasziniert traten sie ein und bestaunten die Sternlichter. Es sah aus, als stünden sie direkt im Universum, doch sie spürten festen Boden unter ihren Füßen und die Schwerkraft war weiterhin vorhanden. Mittendrin stand eine gewaltige Treppe, deren durchscheinende Stufen ein sachtes bläulichweißes Licht aussandten. Sie traten näher heran und blickten die lange Treppe hinauf. Fünf Lichter warteten dort auf sie, die mehr vom Herzen als von den Augen wahrgenommen wurden. Und sie wussten, dass diese Lichter ihre Wappen waren, auch wenn sie dieses Mal nicht das Aussehen von runden Schmuckstücken angenommen hatten. Wie in einer Trance, alle nebeneinander schritten sie auf die Treppe zu und betraten die erste Stufe, ohne den Blick von ihren Wappen abzuwenden. Doch sobald sie diese erste Stufe erklommen hatten, schoss ihnen ein Gefühl des Zweifels durch den Leib. All das hier konnte nicht wirklich sein. Das war alles Blödsinn. Man konnte nicht mit einer Treppe auf seinen Seelenkern zugehen. Sie schüttelten die Köpfe und zwangen sich die nächste Stufe zu nehmen, doch wieder überkam sie der Zweifel und eine unangenehme Schwere legte sich auf ihre Häupter. Es gab keinerlei wissenschaftliche Erklärung für dieses Vorkommnis. Es war unmöglich, was hier geschah. Sie mussten fantasieren, einer Sinnestäuschung erliegen. Die fünf schnappten nach Luft, der Druck auf ihren Kopf war so unangenehm und mit einem Mal schien das Bild vor ihren Augen zu verschwimmen. Das war alles Quatsch. Alles, was sie bis hierher erlebt hatten – vom Angriff der Schatthen über ihre Verwandlung, ihre Kräfte bis zur Existenz des kleinen Schmetterlingsmädchens, das sie getötet hatten – all das war nur Einbildung gewesen. Nur das ergab einen Sinn. Und die jeweils anderen vier, die mussten sie sich die ganze Zeit eingebildet haben. In Wirklichkeit waren sie hier allein, hatten einen seltsamen, langen Traum oder waren irgendwie mit einem Rauschmittel in Berührung gekommen und hatten deshalb diese Wahnvorstellung. Die letzten anderthalb Wochen waren einzig und allein ihrer Einbildungskraft entsprungen und wenn sie aufwachten, dann würden sie diese Geschehnisse einfach vergessen, wie man so oft seine Träume vergaß, sobald man erwachte. Es war Zeit in die Realität zurückzugehen, bevor sie hier noch wahnsinnig wurden. Ja, sie mussten einfach hier warten bis sie aufwachten. Ehe sie sich versahen, hatten die fünf auf der Treppe Platz genommen, ohne die jeweils anderen noch eines Blickes zu würdigen. Nur Vivien war auf die dritte Stufe gekommen, aber saß nun ebenfalls apathisch da. Serena hoffte, dass sie nach dem Aufwachen diesen Traum nicht sofort wieder vergessen würde. Vielleicht konnte sie ja eine Geschichte daraus machen. Dennoch war die Erkenntnis bitter, denn für einen kurzen Moment hatte es sich wirklich so angefühlt, als hätte sie Freunde gefunden. Ob es wohl an der Tiefkühlpizza am Freitagabend gelegen hatte, fragte sich Vitali. Vielleicht waren Aroma-, Farb- und Konservierungsstoffe doch schädlicher als er gedacht hatte. Bestimmt der Trubel mit dem Umzug und die neuen Eindrücke aus Entschaithal, das war einfach zu viel gewesen, überlegte Ariane. Und für Justin war zumindest klar, warum sein Gehirn gerade Vivien unter seine Begleiter gewählt hatte, so hatte er wenigstens etwas Zeit mit ihr verbringen können, auch wenn es nur eine Fantasie-Vivien gewesen war. Wenn er aufwachte und ihr das nächste Mal begegnete, würde er wohl wieder keinen Ton herausbekommen. Keiner von ihnen bekam mit, wie Vivien sich nochmals aufraffte und sich auf die nächste Stufe quälte, wo sie abermals in sich zusammensackte. Wenn das alles ein Traum sein sollte, warum dann aufgeben, hatte sie sich gesagt. Umso weniger zu verlieren! Doch erneut raubte ihr der kalte Verstand den Glauben. Es war doch unnötig weiterzumachen. Das brachte doch nichts. Sie machte sich doch nur lächerlich… Nein, nein. Das waren nur Gedanken, das war nicht die Wahrheit. Sie brauchte ihnen nicht glauben! Sie biss die Zähne zusammen, schleppte sich eine weitere Stufe nach oben und brach in sich zusammen. Alles war leer. Alles nutzlos. Das Leben hatte keinen Sinn. Irgendwann war man einfach tot und das alles für nichts! Für nichts, nichts und wieder nichts! Es war einfach nur sinnlos. Da war nichts, auf das man hinarbeitete. Nur eine Welt, die bestimmten physikalischen Gesetzen unterworfen war, ein Körper, der von Genen abhängig war und von Hormonen gelenkt wurde. Und alle Gedanken, die man hatte, waren schlussendlich nutzlose Hirngespinste. Ihr Inneres war leer. So unendlich leer. Alles war leer. So schrecklich leer. Tränen füllten Viviens Augen und kullerten ihre Wangen entlang. Warum war alles so sinnlos? Ein leises Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Warum lebte man dann überhaupt? Warum wurde man überhaupt geboren? Warum überhaupt das alles? Warum?!! Plötzlich fühlte sie etwas in der Mitte ihrer Brust, etwas wie eine Wärme, eine Geborgenheit, die sie mit einem Mal umfing. Sie umarmte diese Wärme und begann noch stärker zu weinen. Es tat so gut, dieses Gefühl. So gut. Dass sie eben noch an allem gezweifelt hatte, war mit einem Mal unverständlich und einfach nur traurig. Vivien wandte sich zurück zu den anderen, die immer noch teilnahmslos dasaßen. „Wir sind noch nicht am Ziel!“, rief sie. Mit leeren Blicken drehten die anderen sich zu ihr. Daraufhin rannte Vivien wieder die Treppe nach unten und verpasste allen vieren einen Stoß. „Hey!“, schimpfte Vitali. „Hast du sie noch alle!“, beschwerte sich Serena. Vivien verschränkte die Arme vor der Brust. „Was habt ihr bloß? Das ist doch nur ein Traum, das kann doch nicht wehgetan haben!“ Die vier sahen sie verwirrt an. Plötzlich fing Vivien laut an zu krakeelen, „Aufwachen! Aufwachen! Aufwachen! Aufwachen!“, dass es ihnen in den Ohren wehtat. „Hör auf!“, befahl Vitali, woraufhin Viviens Sprechgesang nur noch lauter wurde. „Aufwachen! Aufwachen! Aufwachen! Ich hör erst auf, wenn ihr da hochgegangen seid! Aufwachen! Aufwachen!“ „Bist du bescheuert?“, fauchte Serena sie an. „Aufwachen! Aufwachen! Aufwachen!“ Aber die anderen rührten sich nicht von der Stelle. Dann halt anders! „Und wenn ich euch alle einzeln da hochschleifen muss!“, rief Vivien, ergriff Serenas Hand und zog sie mit sich. Dadurch, dass sowieso alles sinnlos war und es für sie anstrengender war, sich gegen Viviens sanfte Gewalt zu wehren, als sich von ihr mit zerren zu lassen, ließen die anderen es nacheinander mehr oder weniger einfach mit sich geschehen. Aber die letzte Stufe konnte Vivien die anderen nicht führen. Eine unsichtbare Wand hielt sie davon ab. „Okay, ich hab verstanden, dass ihr das alles eh nicht glaubt. Das ist in Ordnung. Aber schaut mal: Wenn das alles eh nur ein Traum ist, dann können wir doch zu diesen schönen Lichtern da gehen.“ Sie deutete auf die Wappen. Die anderen reagierten nicht. Vivien stieß frustriert die Luft aus und versuchte nachzudenken, aber das brachte nichts. Schließlich schloss sie die Augen und legte ihre Hände auf ihr Herz, hoffte, dass das Vertrauen, das ihr eben schon zu Diensten gewesen war, ihr auch jetzt weiterhalf. Sie spürte ihren Herzschlag und beruhigte sich, lauschte in sich hinein. Ihre Gedanken wandelten sich zu Antworten: Sie konnte die anderen nicht zu diesem Schritt zwingen. Das musste sie auch gar nicht. Jeder von ihnen war stark und besonders. Sie würden es ganz ohne sie schaffen. Vivien atmete langsam ein und aus und konzentrierte sich auf ihr Vertrauen. Minuten verstrichen. Wieder kamen die Zweifel in ihr hoch. Was, wenn die anderen nie den Schrit machen würden? Was, wenn sie für immer hier drin gefangen blieben? Halt! Das war eine Treppe des Zweifels. Was, wenn die letzte Stufe für sie war? Was, wenn es darum ging, dass sie an den anderen zweifelte und sie sich nur einbildete, dass die anderen zögerten? Das war zu verwirrend. Aber es ergab Sinn. Sie sah die anderen an. Vielleicht waren die anderen längst bereit, den letzten Schritt zu gehen, und was die Gruppe noch aufhielt, waren ihre Zweifel, nicht die der anderen. Vivien hielt inne. Woran zweifelte sie? Die jähe Erkenntnis wühlte sie auf: Sie zweifelte daran, von den anderen akzeptiert zu werden, wenn sie aufhörte, nützlich zu sein. Wenn sie einfach nur die nutzlose kindisch-nervige Spinnerin war, die niemand in seiner Nähe haben wollte. Viviens Augen wurden feucht. Hatte sie sich deshalb vorgestellt, dass sie die anderen die Treppe nach oben führen musste? Damit sie für sie eine Bedeutung hatte? Damit sie einen Wert besaß? Nein! Sie musste ihnen vertrauen! Aber sie waren doch auch dauernd genervt von ihren kindischen Einfällen und ihrer Aufgedrehtheit und davon, dass sie sie ungefragt umarmte und Nähe suchte, aus der schieren Angst heraus, alleine zu sein. Das war wohl auch der Grund, warum Justin ihre peinlichen Annäherungsversuche ständig zurückwies. Sie war einfach erbärmlich. Vivien ließ den Kopf hängen und schloss die Augen. Momente lang stand sie so da. Zaghaft sah sie die anderen an. Ihr Blick fiel auf Serena. Sie erinnerte sich an das Gefühl, das Serena damals im Schatthenreich ausgestrahlt hatte: das Gefühl, absolut wertlos zu sein. Sie hatte ihr damals das Gegenteil beweisen wollen, weil Serena ein unheimlich liebenswerter Mensch war, ganz egal, was sie von sich selbst dachte. Vivien nickte Serena zu. Entschlossen drehte sie sich wieder um und sah auf zu ihrem Wappen. Doch sie zögerte. Konnte sie den Schritt denn ohne die anderen machen? Was, wenn die anderen dann doch hier alleine zurück blieben? Wenn sie sich das alles nur eingeredet hatte? Wenn sie dann für immer von ihnen getrennt sein würde? Sie schüttelte den Kopf. Sie musste vertrauen! Abermals atmete sie tief ein und aus. Sie tat den letzten Schritt. Gleichzeitig mit den anderen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)