Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 62: [Mess-Opfer] Viel Rummel um - ----------------------------------------- Viel Rummel um - „Kein Jahrmarkt ohne Diebe.“ (Sprichwort) Der große Messplatz im Süden Entschaithals stand ganz im Zeichen des herbstlichen Jahrmarkts. Der Geruch von Zuckerwatte, gebrannten Mandeln und Magenbrot lag in der Luft. Neben dem von Gebratenem, Langos und anderen deftigen Imbissen. Zahlreiche Stände boten ihre Waren feil. Doch die schönsten Sehenswürdigkeiten waren wie immer die Fahrattraktionen. Neben den Klassikern Riesenrad, Ketten- und Kinderkarussell, Boxautos und Schiffschaukel, lockten wilde Fahrten, die einen von einer Seite zur nächsten schleuderten, im Kreis herum, von der Höhe in die Tiefe, von rechts nach links oder alles gleichzeitig. Allein Erik schien der Anblick kalt zu lassen, selbst Serena widmete den Möglichkeiten des Jahrmarkts mehr Aufmerksamkeit als er. Ihre Augen blieben eine ganze Weile an den schillernden Luftballons in Form beliebter Kinderfiguren hängen. „Gefallen die dir?“, fragte Erik sie. Ertappt und beschämt sah Serena ihn an. Sofort war Vitalis Aufmerksamkeit bei ihnen. „So Zeug liebt sie.“, informierte er Erik, als wäre er ein Serena-Experte. Halblaut zischte Serena: „Halt die Klappe…“ Vitali schaute verständnislos. „Dein ganzes Zimmer ist doch voll mit Einhörnern und Disney und Anime Zeug.“ „Halt die Klappe!“, kreischte Serena nun umso lauter. Erik wandte sich belustigt an Vitali. „Du sollst nicht einfach ihre Geheimnisse ausplaudern.“ Vitali zog einen Schmollmund. „Das ist doch kein Geheimnis.“ Erik grinste. „Aber du findest es süß, dass sie solche Sachen mag.“ Vitali verzog das Gesicht. „Gar nicht!“, rief er viel zu hektisch und flüchtete dann an Justins Seite, als könne sein Freund ihn vor Eriks Scharfsinn bewahren. Erik lachte. „Was wollen wir als erstes machen?“, fragte Ariane mit unverhohlener Vorfreude. Erik hatte sie das letzte Mal so begeistert gesehen, als sie die Exkursion zu Burg Rabenfels gemacht hatten. „Wollen wir etwas fahren?“ „Ich will das fahren!“, schrien Vitali und Vivien gleichzeitig und deuteten in entgegengesetzte Richtungen. Viviens Finger war auf eine Dschungelfahrt gerichtet, die durch eine aufgemalte Urwaldlandschaft jagte, Vitalis auf eine Höhenattraktion, bei der man aus schwindelerregender Höhe in die Tiefe rauschte. Mit großen Augen blickten sie einander an, was bei ihrem Größenunterschied ziemlich niedlich aussah. Im nächsten Moment hatten sie bereits die Hände zum Schere-Stein-Papier-Spielen erhoben. Vivien hatte mehr Glück. Freudestrahlend und überhaupt nicht schadenfroh – denn ‚schadenfroh‘ wäre eine Untertreibung gewesen – hüpfte sie herum. Dann gab sie Vitali, der säuerlich dreinschaute, ein Zeichen und startete zu einem Wettrennen. Ariane lachte vergnügt angesichts ihrer guten Laune, Justin lächelte. Gemeinsam mit Erik und Serena folgten sie den beiden nach. Nach der Fahrt gab Vivien bekannt: „Jeder sagt, was er fahren will, und wir arbeiten das nacheinander ab.“ „Hääää?“, rief Vitali unzufrieden. „Dann muss ich ja voll lang warten, bis ich wieder dran bin!“ „Das ist nur gerecht.“, entgegnete Ariane. Vitali verschränkte die Arme vor der Brust und schmollte. „Mann, dann muss ich mir gut überlegen, was ich machen will.“ „Also willst du jetzt nicht das da fahren?“, fragte Vivien mit Bezug auf die Höhenattraktion. „Nö, ich muss das durchdenken.“, verkündete Vitali entschieden. Dementsprechend liefen sie erst einmal weiter und Serena atmete auf. Allein der Anblick der schwindelerregenden Höhe hatte sie abgeschreckt. Als Erik auf Höhe der Boxautos meinte, er verstehe den Sinn davon nicht, ließ Vitali seinen Vorsatz, eine durchdachte Entscheidung zu treffen, augenblicklich fahren und verkündete, er weise ihn fachmännisch ein. Vivien bestand derweil darauf, dass sie und Justin einen Wagen teilten. Dass in dem Auto nicht gerade viel Platz war und sie jedes Mal aufeinandergepresst wurden, wenn sie mit einem anderen Auto kollidierten, trieb Justin die Schamesröte ins Gesicht, zumal er fürchtete, ihr mit seinem Körpergewicht wehzutun. Doch aus einem ihm unerfindlichen Grund fuhr Vivien dennoch immer in das größte Getümmel. Serena hatte zunächst Ariane das Steuer überlassen und keinen sehr amüsierten Eindruck gemacht. Nachdem Vitali allerdings immer wieder zielsicher auf ihren Wagen gefahren war und dabei laut gelacht hatte, hatte sie Ariane das Steuer entrissen und sich mit Vitali einen Showdown geliefert, der darin endete, dass sie aus einer Ecke der Fahrbahn nicht mehr herauskamen und sich lautstark gegenseitig die Schuld daran gaben, bis Erik aufstand, um die Plätze mit Ariane zu tauschen. Sowohl Vitali als auch Serena hatten alles andere als begeistert gewirkt. Mit der Bitte, sie möge Vitali zur Vernunft bringen, hatte Erik Ariane direkt auf seiner Seite, und die beiden schafften es, die Autos wieder aus der Pattsituation zu manövrieren. Erik gelang es sogar, mit irgendeinem Kommentar, Serena ein Lächeln zu entlocken, was Vitali so gar nicht gefiel. Aber da den Wagen zu rammen, bedeutet hätte, die beiden aufeinander zu drücken, versuchte er das nicht nochmals, auch als Ariane ihm das Steuer anbot. Gut gelaunt klapperten sie weitere Fahrattraktionen ab. Arianes Wahl fiel auf die Schiffschaukeln, die sie von den Messen, auf denen sie gewesen war, nicht kannte. Serena wollte nicht mitfahren und Justin erklärte sich bereit, mit ihr zusammen auf die anderen zu warten. Die beiden beobachteten wie Vivien und Ariane sowie Erik und Vitali ihren jeweiligen Schiffskörper vor und zurück schwingen ließen und dabei viel Spaß zu haben schienen. Besonders Vitali stieß dabei laute Jubelschreie aus. Justin bemerkte, dass Serena ein unglückliches Gesicht zog. „Würdest du doch gerne fahren?“ Serena zog die Schultern an und schüttelte den Kopf. „Ich bin zu verkrampft und hab Angst, rauszufallen, und dann tun mir alle Muskeln weh.“ „Du magst keine Höhen.“, vermutete Justin. Serena verzog das Gesicht und seufzte. „Ich würde es mögen, wenn… ich nicht so angespannt wäre. Es fühlt sich an, wie die Kontrolle verlieren. Und einerseits find ich es schön und andererseits …“ Sie ließ den Kopf hängen. „… kannst du nicht loslassen.“, vermutete Justin. Sie nickte. Er lächelte sie aufmunternd an und gestand ihr: „Ich mag die ganzen Fahrattraktionen gar nicht.“ Sie starrte ihn mit großen Augen an. „Mir wird immer etwas komisch dabei.“, sagte er fast lachend. „Warum fährst du trotzdem mit?“, fragte Serena ihn verwundert. „Euch macht es so viel Spaß und es ist schön, wie ihr euch freut.“ Serena hielt inne. Justin sagte zwar nie was, aber sie hatte mitbekommen, dass er nicht so viel Taschengeld hatte, und die Fahrattraktionen waren nicht billig. Trotzdem gab er das Geld aus, um mit ihnen gemeinsam etwas erleben zu können. Das rührte sie. „Danke.“ Er schien nicht zu verstehen, was sie dazu bewogen hatte, sich zu bedanken. „Weil du immer so lieb bist.“, erklärte sie, ohne ihn anzusehen, doch im gleichen Moment kam der Gedanke, dass das furchtbar dämlich klang, und sie schämte sich. Peinlich berührt sah sie ihn an. Justin lächelte sein aufrichtiges, herzliches Lächeln. „Ich freue mich, dass du dich wohlfühlst.“ Seine Worte machten sie fröhlich und gleichzeitig verlegen. Justin war es immer wichtig, dass sich jeder in der Gruppe wohlfühlte. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Sein Beschützername passte wirklich gut zu ihm. Und in der Kombi mit Vivien, die mit ihrer lauten, aufdringlichen Art immer alle miteinbezog, waren die beiden irgendwie der Leim, der die Gruppe zusammenhielt. Serena fühlte sich wirklich wohl und musste Luft holen, um ihre Emotionen nicht überhand nehmen zu lassen. Das Läuten der Schiffschaukelglocke erklang und zeigte an, dass die Runde vorbei war. Die Schiffe wurden gestoppt. „Was willst du fahren?“, fragte Vivien schließlich Erik. „Ist mir egal.“, meinte Erik desinteressiert. Vivien zog einen Schmollmund. Erik stöhnte und sah sich um. Sie waren gerade auf Höhe der Geisterbahn, weshalb er auf diese zeigte. „Echt jetzt?“, rief Vitali. „Das ist voll langweilig!“ Ariane betrachtete das Werbeschild. „Es scheint eine Geisterbahn mit verschiedenen Effekten zu sein und es soll eher schnell gehen.“ „Meinetwegen.“, murrte Vitali. „Ich will neben Justin sitzen!“, rief Vivien begeistert und ergriff Justins Arm, ohne dass dieser gewusst hätte, wie er darauf reagieren sollte. Erik sagte nüchtern: „Und ich will nicht neben Vitali sitzen.“ „Hey!“, schimpfte Vitali säuerlich. Erik sah ihn an. „Du schreist bei jeder Attraktion rum.“ „Das macht man so!“, verteidigte sich Vitali. „Weil das Spaß macht!“ Erik blieb gefühlsneutral. „Mag sein, aber ich will das nicht direkt abkriegen.“ „Ich will eh nicht neben dir sitzen!“, blaffte Vitali beleidigt. „Ich kann neben Vitali sitzen.“, meinte Ariane eilig. Sie wollte Serena und Vitali nicht die Gelegenheit geben, lautstark zu schimpfen, dass sie auf gar keinen Fall nebeneinander sitzen wollten. Vivien ließ von Justin ab und trat hastig zu Vitali. Hinter vorgehaltener Hand flüsterte sie ihm zu: „So schreckhaft wie Serena ist, wird sie sicher die ganze Zeit an Erik kleben.“ Sie grinste. Vitalis Gesicht zuckte kurz. Heftig rief er aus: „Ich sitze neben Serena!“ Erik und Ariane starrten ihn ungläubig an. Dann waren alle Blicke auf Serena gerichtet. Regelrecht beschämt wich sie ihren Blicken aus und presste im Ton tiefster Entnervtheit hervor: „Mir doch egal!“ Begeistert klatschte Vivien in die Hände. Sie besorgten sich Fahrchips und warteten bis die nächste Fahrt begann. Vitali und Serena setzten sich in den ersten Wagen – auf Eriks expliziten Wunsch hin, damit Vitalis Schall nach vorne ging, was Vitali mit einem bösen Blick quittiert hatte. Dabei ließen Serena und Vitali möglichst viel Abstand in der Mitte zwischen ihnen. Ganz im Gegensatz zu Vivien und Justin im zweiten Wagen. Vivien klammerte sich an Justins Arm, bevor die Fahrt überhaupt los ging. „Beschützt du mich?“, fragte sie mit ihren großen amethystfarbenen Kulleraugen. Justin wollte weglaufen und hatte weniger Angst vor dem, was in der Geisterbahn auf sie wartete, als vor dem, was Vivien in ihm auslöste. „Wir können noch aussteigen!“, stieß er aus. Vivien ließ von ihm ab und zog den Kopf ein. Justin schämte sich, sie traurig gestimmt zu haben, wusste aber nicht, wie er das rückgängig machen sollte. „Es… es passiert doch nichts.“, versuchte er, sie zu beruhigen. Aber das half nichts. Schließlich presste er halblaut hervor „Ich beschütze dich.“ Vivien sah zu ihm auf. Die Fahrt begann. „Kannst… du den Arm um mich legen?“, bat sie ihn vorsichtig und zog den Kopf dabei ein, als wäre ihr die Frage peinlich. Justin war unfähig, ein Wort herauszukriegen, sein Gesicht musste bereits puterrot sein, nahezu zitternd hob er seinen Arm und ließ Vivien sich an ihn kuscheln. „Danke.“, presste sie hervor. Er wusste nicht, wie lange sein Herz das aushielt. Aufs Äußerste angespannt, hoffte er, dass die Fahrt schnell vorbeiging. Während Vivien hoffte, dass die Fahrt nie endete. Während sie in wechselnder Geschwindigkeit an aus dem Nichts auftauchenden Spukgestalten, Schockmomenten, Dunkelheit, Blitzlichtgewitter, lauten Geräuschen und zahlreichen Effekten vorbeifuhren, legte Ariane keine Anzeichen von Ängstlichkeit jeglicher Art an den Tag. Irgendwie amüsierte das Erik. „Was ist?“, rief sie über den Lärm der Geisterbahn hinweg in kaltem Ton, ohne ihn anzusehen. Seine Aufmerksamkeit war ihr offensichtlich nicht entgangen. Er verlieh seiner Stimme etwas Provokantes. „Bei all den Schreckgestalten wollte ich nur kurz etwas Schönes ansehen.“ Ariane gab ein so tiefes entnervtes Stöhnen von sich, dass sie wie die Stimme aus einer Gruft klang. „Dein Handy hat eine Selfie-Kamera.“ Er musste über ihre Schlagfertigkeit grinsen und setzte zu einem Konter an. „Du bietest mir an, ein Selfie mit dir zu machen?“ Nun drehte sie sich tatsächlich zu ihm um und schaute extrem genervt. Er lächelte sie an, was sie dazu brachte, sich wieder abzuwenden, als wäre ihr das unangenehm. Es war wirklich nicht leicht, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, ohne sich eine Blöße zu geben. Er schmunzelte. Derweil quittierte Vitali die Spezialeffekte mit lautstarken Reaktionen, auch wenn er nicht wirklich erschrak. Er versuchte einfach das Beste aus der Fahrt zu machen. Halblaut zischte Serena neben ihm ein „Halt die Klappe.“ Da sie bis eben in absoluter Finsternis gefahren waren, erkannte er jetzt erst, dass sie in sich zusammengeschrumpft war und sich verkrampft am Wagen festklammerte. Sie sah wirklich nicht gut aus. Davon ziemlich beunruhigt, streckte er seine Hand vorsichtig nach ihrem Oberarm aus. Es wurde wieder dunkel. Serena stieß einen schrillen Schreckenslaut aus, als er sie berührte, und Vitali konnte von Glück reden, dass sie ihn nicht paralysiert hatte. „Das bin doch nur ich!“, rief er aufgebracht – sich der Gefahr, die von ihr ausging, bewusst werdend. Ein bedrohlich rotes Licht wurde angeschaltet und beschien Serenas völlig verängstigtes Gesicht. Vitali biss die Zähne zusammen und rang mit sich und der Frage, wie er sie beruhigt bekam. „Mann!“, schimpfte er lautstark, um die Geräusche der Geisterbahn zu übertönen. „Ich bin doch da! Also…“ Er drehte das Gesicht weg. „…mach nicht so ein Theater.“ Wut kam in Serena auf, doch dann bemerkte sie in dem gespenstisch weiß-blauen Licht, dass Vitali nach ihrer Hand greifen wollte. Er stoppte in der Bewegung. „Alter, wenn du mich paralysierst, bin ich echt sauer!“, rief er, ohne sie anzusehen. Mit voller Wucht schlug Serena ihre Hand auf die seine, dass er fast aufgeschrien hätte. Das verschieden farbige Licht flackerte über ihre Züge, sie funkelte ihn wütend an. Davon zunächst verwirrt, änderte er seinen Gesichtsausdruck zu einem ebenso grimmigen wie dem ihren. Mit einer groben Bewegung umfasste er ihre Hand. Wie auf Kommando wandten sie sich dann beide wieder der Umgebung zu, die erneut in Dunkelheit getaucht wurde. Vitali spürte, wie Serena bei sehr plötzlichen Effekten und lauten Geräuschen zusammenzuckte und drückte dann ihre Hand, woraufhin sie sich wieder zu beruhigen schien. Schließlich kam der Ausgang in Sicht und sie ließen eilig voneinander ab. Wenn einer der anderen, insbesondere Vivien oder Erik, mitbekommen hätte, dass sie Händchen gehalten hatten, hätten sie sich das für immer anhören müssen. Als sie die Geisterbahn wieder verließen, war Vivien noch aufgedrehter als zuvor, während Justin äußerst verlegen wirkte, Vivien zog ihn am Arm auf einen Süßigkeitenstand zu und kaufte ein kleines Lebkuchenherz mit der Aufschrift ‚Mein Schatz‘. Sobald sie es in Händen hielt, verlangte sie von Justin, es sich umzuhängen – aufgrund ihrer Größe konnte sie es ihm nicht einfach überziehen. Justin wagte nicht, nach der Bedeutung zu fragen, und ging schlicht davon aus, dass er das Herz für sie tragen solle, bis sie wieder nach Hause kamen. Ein paar von ihnen versuchten sich daran, mit Dartpfeilen Luftballons abzuschießen, dann kamen sie an einen Schießstand. „Jetzt zeig ich euch mal, wie das geht!“, tönte Vitali lautstark. Momente später stand Erik mit einem Teddy im Arm da und Vitali mit leeren Händen. „Wirklich beeindruckend!“, spottete Serena. Sie war noch immer sauer, dass er sie zuvor im Pfeilewerfen fertig gemacht hatte. Den letzten Pfeil hätte sie fast nach ihm geworfen, hätten Ariane und Justin sie nicht davon abgehalten. Vitali schob die Schuld von sich. „Das Gewehr war kaputt.“ „Dann versuch es doch noch mal mit einem anderen.“, schlug Serena provokativ vor. „Ich geb nicht noch mehr Geld dafür aus.“, entgegnete Vitali verstimmt. „Oh, das spende ich gerne für dich!“ Vitali warf ihr einen wütenden Blick zu. Erst im nächsten Moment bemerkten die beiden, dass die anderen schon zum nächsten Süßigkeitenstand gelaufen waren und beendeten ihre Sticheleien. Ariane stand vor der Zuckerwatte-Maschine. Sie hatte die Wahl zwischen Weiß und Rosa. Erik bemerkte wie ihre Augen bei der rosa Zuckerwatte zu strahlen begannen, dann veränderte sich etwas in ihrem Blick und sie sagte dem Verkäufer, dass sie weiße Zuckerwatte wollte. Lachend schlenderten die sechs anschließend über den Platz, Ariane nun mit einer großen weißen Zuckerwatte in Händen, von der Vivien immer wieder naschte, Erik mit dem Teddy unter dem Arm, den er so lässig mit sich herumtrug, als wäre dies für einen Mann das Natürlichste auf der Welt, und Justin weiterhin mit dem Lebkuchenherz um den Hals. „Achterbahn!“, rief Vivien auf Höhe der nächsten Attraktion und schwang ihren rechten Arm in die Höhe. „Dann warte ich auf euch.“, sagte Ariane, die aufgrund ihrer Zuckerwatte gehandicapt war. „Wir können auch warten, bis du fertig bist.“, schlug Serena vor. Ariane wehrte ab. „Das ist kein Problem. Ich warte solange hier.“ Sie deutete auf die Sitzbank zu ihrer Linken. „Gute Idee.“, meinte Erik zustimmend. Doch statt sich in Bewegung zu setzen, ließ er sich daraufhin gekonnt auf die Bank sinken und breitete sich darauf aus wie auf einer bequemen Couch. Irritiert sah Ariane ihn an. Erik reagierte nicht auf ihre ungeäußerte Frage. „Was tust du?“, sprach Ariane schließlich ihren Gedanken aus. „Ich warte.“ „Worauf?“ „Auf die anderen.“ Wieder warf Ariane ihm einen fordernden Blick zu. Wieder reagierte er darauf nicht. Und die anderen hielten sich bei den Dialogen der beiden einmal mehr raus. Vivien aus neugierigem Interesse, Justin aus Irritation, Vitali, um nicht in die Schussbahn zu geraten, und Serena einfach weil sie es leid war. „Was meinst du?“, war Ariane schließlich gezwungen zu fragen. Erik platzierte den gewonnenen Teddy auf seinem Schoß. „Mit dem Bären kann ich nicht mitfahren.“ Ein selbstgefälliges Grinsen nahm sein makelloses Gesicht ein, als würde er mit diesem Kommentar Ariane reizen wollen. Ihr Gesicht zuckte kurz, dann lächelte sie freundlich. „Du kannst mir doch den Bären geben und mit den anderen fahren.“, bot sie ihm an und streckte ihre Hände demonstrativ nach dem Kuscheltier aus. Sofort zog Erik den Teddy vor ihr weg wie ein Spielzeug vor einem Kätzchen. Er grinste provokativ, seine linke Augenbraue ging in die Höhe. „Wenn du einen Bären willst, dann musst du dir schon selbst einen schießen.“ Einmal mehr kam Ariane nicht umhin sich zu fragen, wie es diesem Jungen entgegen aller Logik gelang, das lächerlichste Verhalten an den Tag zu legen und dabei noch so cool zu wirken, dass Scharen von Mädchen nicht anders konnten als ihn anzuhimmeln. Allein der Gedanke an die bemitleidenswerte Fehleinschätzung dieser Mädchen! Viviens Stimme riss Ariane aus ihren Gedanken und das aus unerwarteter Entfernung. „Wir sind dann mal weeeg!“ Entsetzt wirbelte Ariane herum und musste mit Schrecken feststellen, dass die anderen sich bereits zur Achterbahn hin entfernt hatten, indem Vivien sie kurzerhand allesamt mit sich geschleift hatte. Sie hörte Serena noch zetern. „Ich sitze nicht neben Vitali!“ Und sah, dass Justin wohl anbot, sich neben sie zu setzen. Hilflos streckte sie ihre Hand nach den sich entfernenden Personen aus. Allein blieb sie mit Erik zurück. Ewigkeit lag auf ihrem Bauch, die Beinchen in der Luft baumelnd. Dann rollte sie sich hin und her. Ihren Flügeln schien das nichts auszumachen. Sie setzte sich auf, zog die Beine an und schüttelte sich missmutig, ihre Lippen zum ultimativen Schmollmund geformt. In einem lauten Jammerlaut entlud sich ihre Unzufriedenheit. Die Beschützer waren schon viiiiiel zu lange weg. Über zwei Stunde schon! Über hundertzwanzig Minuten. Über 7200 Sekunden! Es genauer auszurechnen widerstrebte ihr. Die Tür zum Kinderzimmer der Familie Baum wurde aufgestoßen und Kai und Ellen stürzten herein. „Jahrmarkt!“, jubelte Ellen. Ewigkeit war sofort ganz Ohr und auf den Beinen. Ellen lief zu dem Schreibtisch, auf dem Ewigkeit saß, und berichtete ihr begeistert, wie sie es bei allen Neuigkeiten tat, denn von Anfang an hatte sie einen kleinen Narren an dem Schmetterlingsmädchen gefressen. „Wir gehen auf den Jahrmarkt!“ Und schon wirbelte sie mit ihrem Bruder hier hin und dorthin, um das Zimmer nach allem abzusuchen, was vielleicht unbedingt wichtig wäre, mitzunehmen. Auch wenn sich ein Springseil und Kartenspiele wohl als eher weniger nützlich auf dem Jahrmarkt erwiesen. Ewigkeit flatterte freudig erregt um die Kinder herum, denn sie hatte ihre Chance gewittert, endlich das zu tun, was jedes vernünftige Helferlein tun würde, wenn die Helden in größter Gefahr schwebten – sie retten! Aber das natürlich ohne dass diese etwas davon mitbekamen, schließlich hatte sie ja fest versprochen, den Beschützern freie Bahn zu lassen. Also lenkte sie das Geschehen nun geschickt, professionell und aufs Beste geschult für diese geheime Mission in die gewollte Richtung: „Darf ich mit, darf ich mit, darf ich miiiit??!!!!“ Nicht einmal Ellen und Kai gelang es, den kleinen Quälgeist zu überhören. „Ja klar.“, sagte Kai, als wäre es nichts weiter. Daraufhin kreischte Ewigkeit schrill und begeistert und flatterte im Kreis. Die beiden Kinder lachten darüber. Arianes Gesichtsausdruck zuckte. Alleine mit – Erik… Sie würde Vivien umbringen, da war sie sich ganz sicher! … Würde sie nicht. Sie ließ den Kopf hängen und biss sich auf die Unterlippe, richtete sich wieder auf und machte sich dazu bereit, sich wieder zu Erik umzudrehen. Was für eine Qual. Am liebsten hätte sie einen lauten Seufzer der Resignation ausgestoßen. Während der Geisterbahnfahrt neben ihm zu sitzen war ja eine Sache gewesen, aber jetzt? Wieder ihrer vollen Selbstbeherrschung mächtig – mit erhobenem Haupt – wandte sie sich um. Und diese Selbstbeherrschung wurde sogleich auf eine harte Probe gestellt. Erik grinste. Und wie er grinste! Warum gab es im Deutschen eigentlich keinen speziellen Ausdruck für ein boshaftes, dämonisches Grinsen? Man sollte es nicht einfach ‚grinsen‘ nennen, obwohl der Eigentümer sehr wohl amüsiert und guter Laune zu sein schien. Schadenfreuen? Nein. Das traf es nicht ganz. Und ‚smirken‘ nach dem englischen ‚smirk‘ für ‚dreckig und selbstgefällig lächeln‘ klang eher nach ‚zirpen‘ als nach einem passenden Begriff für Eriks Gesichtsausdruck. Ariane gab den Gedanken auf und entschied sich eines zu tun – sich nichts anmerken lassen. Gelassen ging sie zu der Bank, auf der Erik auf sie wartete, und setzte sich neben ihn. Schweigen. Ariane sah nicht zur Seite, um zu sehen, was Erik tat. Ihr Blick war stur auf das Geschehen vor ihr gerichtet. Erik fand es vergnüglich, wie Ariane ihn einmal mehr demonstrativ ignorierte, und wurde zu neuen Schandtaten beflügelt. „Du hast ja eine Schwäche für Spiele.“, erwähnte er wie beiläufig. Ariane wandte ihren Blick noch weiter von ihm weg, denn sie wusste, dass sein Tonfall nichts Gutes zu verheißen hatte. „Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich keine Spielchen spiele.“ Erik beugte sich vor und drehte seinen Kopf so, dass er ihren Gesichtsausdruck dennoch einfangen konnte. „Damit könnten wir die Sache mit den Schulden klären.“ Arianes Gesicht schnellte zu ihm. „Kannst du endlich mit dieser Schuldengeschichte aufhören!“ Daraufhin fing Erik an, mit seinem Teddy zu spielen. Mit einer Coolness, als würde er sich gerade der männlichsten Beschäftigung schlechthin widmen. „Ein Frage-Antwort-Spiel vielleicht.“ „Du scheinst doch schon einen wunderbaren Zeitvertreib gefunden zu haben.“ Mit den Augen deutete sie auf den Teddy. Erik grinste. So unverschämt selbstüberzeugt, als hätte sie ihm, statt ihn zu verspotten, gesagt, was für ein schickes Auto er fuhr. Wie es sie aufregte, dass er einfach alles tun konnte, ohne sich dabei dumm vorzukommen! Wenn sie sich wenigstens hätte einreden können, dass er den Spott nicht heraushörte. Aber Erik war wohl die gerissenste Person, die sie kannte. Von Vivien einmal abgesehen… Ariane wandte sich wieder ab und Erik schwieg unverhofft. Auch eine sonstige Reaktion seinerseits blieb aus, zumindest eine, die sie wahrgenommen hätte, ohne sich zu ihm zu drehen. Sekunden verstrichen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er so schnell aufgeben würde. Vorsichtig lugte sie in seine Richtung. Für einen Moment glaubte sie, die Schwärze seiner Pupillen entführe sie in ein Schatthenreich, das nicht jenes war, das sie schon einmal betreten hatte, sondern eines, das in seinem Inneren verborgen lag. Sein Blick schien sie in dieses Unbekannte zu ziehen. Sie zuckte zusammen und wandte sich hastig ab. Justins Aussage, dass Secret genauso gut ein Schatthenmeister in Ausbildung sein konnte, kam ihr ungewollt in den Sinn. „Was soll das?“, schimpfte sie. „Ich seh dich einfach gerne an.“ Die Worte gefielen ihr ganz und gar nicht. „Hör auf damit.“ „Wie du meinst.“, sagte er. Eine kurze Pause entstand. „Hattest du schon mal einen Freund?“ Der plötzliche völlig verdatterte Gesichtsausdruck von Ariane hätte Vitali alle Ehre gemacht. Mit zusammengezogenen Augenbrauen und entgleisten Zügen starrte sie Erik an. „Wie bitte?“ „Du hast deine Frage gestellt, jetzt bin ich dran.“ „Ich habe keine Frage gestellt!“ „Natürlich ist ‚Was soll das?‘ eine Frage. Das erkennt man an der Verwendung des Fragewortes, der Satzstellung und der Intonation.“, belehrte er sie. Unzufrieden wurde ihr klar, dass sie sich durch ihre eigene Unbedachtheit in diese Situation bugsiert hatte. „Das war aber keine richtige Frage.“, beanstandete sie. „Außerdem, was soll die Frage, ob ich schon mal einen Freund hatte?“ „Die gefällt dir nicht?“ „Das ist genauso geistreich, als würde ich dich fragen, ob du mit deinem Muskeltraining Eindruck schinden willst.“, schimpfte sie. „Das interessiert dich?“ „Natürlich nicht!“, widersprach sie. „Aber du bist auf die Idee gekommen.“, hielt er ihr grinsend vor. Sie wusste sich zu wehren. „Das liegt nur daran, dass du dich ständig über die Mädchen aufregst, die dich – aus mir unerfindlichen Gründen – attraktiv finden, es aber dann wieder darauf anlegst, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen.“ Über diesen Gedanken sichtlich amüsiert musste er sich zur Seite drehen, als hätte sie einen allzu lustigen Witz gerissen. Erst dann konnte er sich mit einem untypisch ehrlichen Lächeln wieder ihr zuwenden. Leicht verunsichert von seiner Reaktion war Ariane unklar, ob sie nun schmollen oder wütend werden sollte. „Was ist?“ Erik lächelte noch immer liebenswert, wie sie es noch nie an ihm gesehen hatte. Und hörte damit erst auf, als ihre Geduld zu enden drohte. „Also.“, holte er aus. „Meine durchtrainierte Statur – die dir offensichtlich aufgefallen ist–“ Ariane verdrehte die Augen, aber er setzte einfach fort. „hat nichts mit irgendwelchen Mädchen zu tun.“ Wieder lächelte er über den Gedanken. Dann holte er tief Luft und sah nach vorn. „Als ich in der Vierten war, bin ich fast täglich verprügelt worden.“ Ariane glaubte, sich verhört zu haben. „Deshalb hab ich angefangen zu trainieren, damit ich auf niemanden mehr angewiesen bin, um mich zu beschützen.“ Erst jetzt sah er sie wieder an, mit gewinnendem Lächeln. „Tja, und deshalb bin ich heute der Sexiest Man Alive.“ Ariane, die eben noch Mitleid empfunden hatte, war von seiner abermaligen Selbstüberschätzung wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgekommen. „Welch ein Glück für die gesamte Frauen- und Männerwelt.“, spottete sie. „Wir sollten den Jungen von damals das Bundesverdienstkreuz verleihen.“ „Kann das auch an Tote verliehen werden?“ Sie erstarrte. Überrascht über ihre Extremreaktion lachte Erik auf. „Was du mir alles zutraust.“, grinste er. Ariane fühlte sich beschämt. „Th.“, machte sie nur und wusste nichts weiter dazu zu sagen. Zu peinlich war es ihr, auch nur eine Sekunde über den Wahrheitsgehalt seines Scherzes nachgedacht zu haben. Sie schürzte die Lippen. „Zumindest ist jetzt geklärt, woher dein verschlagenes Lächeln kommt.“ Erik lachte. Dann machte er eine auffordernde Armbewegung. „Nun. Du bist dran.“ „Okay.“ Ariane holte Atem. „Ja, ich hatte schon einen Freund.“ Erik wartete, aber es kam nicht mehr. „Und weiter.“ „Du hast nur gefragt, ob ich schon einen hatte.“ „Meine Antwort war aber ausführlicher.“, bemängelte er. „Ich hatte ja auch ‚Warum‘ gefragt.“, entgegnete sie triumphierend. „Und du willst nicht mir zuliebe etwas ausführlicher werden?“ Ariane antwortete mit einem lang gezogenen Nein. Mehr darüber amüsiert als enttäuscht starrte er sie an. Dann fiel sein Blick auf die Zuckerwatte in ihren Händen. „Warum hast du nicht die Rosane genommen?“ Ariane horchte auf. „Was?“ „Die rosa Zuckerwatte. Die wolltest du doch.“ Fast wäre Ariane die Frage herausgerutscht, woher er das wusste. „Wie … kommst du darauf?“, wich sie aus. Erik grinste sie gönnerhaft an. „Deine Augen haben vor Begeisterung gestrahlt, als du die rosa Zuckerwatte gesehen hast.“ Ariane machte ein komisches Gesicht. Er spielte wieder mit dem Teddy. „Warum hast du die Weiße gekauft?“ Er hörte sich so an, als würde es ihn in Wirklichkeit nicht die Bohne interessieren. „Hast du etwas gegen weiße Zuckerwatte?“, lenkte sie ab. „Ich nicht.“, sagte Erik gelassen. „Aber du wolltest die Rosafarbene.“ „Wollte ich nicht.“ „Wolltest du doch.“ „Wer von uns beiden weiß besser, was ich will?“ Erik hob den Teddy und ließ das Kuscheltier die Arme öffnen. „Ich natürlich.“ Ariane wollte empört schauen, aber gemischt mit dem Grinsen, das sich auf ihr Gesicht geschlichen hatte, sah man ihr an, wie amüsiert sie war. „Das ist mir neu.“ Nun lächelte sie übers ganze Gesicht. „Jetzt weißt du’s.“, meinte Erik schelmisch grinsend. Ariane grinste ebenfalls und musste sich von einem Lachen abhalten. Schließlich lachten sie beide. „Und? Warum wolltest du nicht die Rosane?“ „Ich dachte, ich wollte sie.“, hielt Ariane ihm entgegen. „Wolltest du auch. Aber warum hast du sie nicht genommen?“ Ariane lächelte ihm neckisch zu. „Das wüsstest du wohl gern.“ „Jaaah.“ „Aber ich war mit Fragen dran.“ Erik fügte sich willig. „Und was willst du wissen?“ Ariane wurde wieder ernst. „Warum wurdest du verprügelt?“ Sie wusste, wie persönlich und unangenehm diese Frage sein musste, vielleicht zu persönlich. Aber sie konnte nicht anders. Zu sehr verlangte es sie nach einer Antwort. Kurz zögerte Erik. „Weil ich ein Donner bin.“ Ariane verstand nicht. „Ich dachte, das wäre gut.“ „Wenn du kleiner bist als die anderen und schmächtig wie ein Zahnstocher nicht so.“ Sie scherzte: „Und wenn die anderen Jungs darauf neidisch sind, dass die ganzen Mädchen dich toll finden.“ Erik warf ihr einen zweiflerischen Blick zu, den sie nicht verstand. So als hätte sie etwas ziemlich Dummes gesagt. Dabei war sie davon ausgegangen gewesen, dass er mit seinem üblichen ‚Ich bin der Allertollste‘-Getue reagieren würde. Stattdessen wandte er sich ab und wirkte gedankenversunken. Irgendwie fühlte sie sich mit einem Mal schlecht und wusste nicht einmal wieso. Schließlich entschloss sie sich, ihren Part zu erfüllen, vielleicht um Erik abzulenken. Noch einmal zögerte sie. War es nicht dumm, Erik so etwas zu sagen? Ziemlich dumm sogar. Dennoch wollte irgendetwas in ihr ihm davon erzählen. Weil er danach gefragt hatte. Fast hätte sie über diesen Umstand gelächelt. Dann sah sie Erik von der Seite an. Den gleichen Jungen, der sie bei ihrem ersten Treffen – oder zweiten, je nachdem ob man ihre Begegnung im Schatthenreich hinzurechnete oder nicht – wie eine aufdringliche, oberflächliche Idiotin behandelt hatte. Musste er es da nicht verstehen können? „Was denkst du wenn du Rosa siehst?“ Erik antwortete mit fragender Miene. „Blond, blauäugig, ihr Freund heißt Ken.“, half sie ihm auf die Sprünge. Erik lachte. „Du kaufst keine rosa Zuckerwatte, weil die Leute dich für Barbie halten könnten?“ Arianes Mundwinkel fielen in den Keller. Sie drehte sich weg. „Warum?“, fragte Erik belustigt. „Das fragst du mich?!“, schimpfte sie mit einem Mal aufbrausend. Dass er ihrer Offenheit mit Spott begegnete, ließ sie mit Aggression reagieren. „Wer hat mich denn für ein oberflächliches Püppchen gehalten, als wir uns begegnet sind!“ „Das war was anderes.“, verteidigte er sich ernst. „Da ist einiges schief gelaufen und daran bist du nicht unschuldig!“ Angriff ist die beste Verteidigung. „Ich?!!!“ Ariane war aufgesprungen und verspürte den Impuls, ihn mit allem zu beschimpfen, was sie auf Lager hatte. Gerade noch stoppte sie. Fast hätte sie riskiert, die Lügengeschichte von Vivien kaputtzumachen, die zur Erklärung für Erik gedient hatte. Für Erik gab es kein Schatthenreich, keine Amnesie. Das Unrecht, das er ihr angetan hatte, musste sie hinunterschlucken. Sie sah ihn warten. Aufrecht und ernst saß er da, mit einem undurchsichtigen Blick, als würde er gerade wieder über ihre auffällige Reaktion nachgrübeln und sich unschöne Dinge zusammenreimen. Oh nein… „Du bist keine Barbie und die Leute sehen dich auch nicht so.“ Ariane war geplättet. „Du bist willenstark und geistreich, und das merkt man.“ Wenn sie nicht so überrascht gewesen wäre, hätte sie ihm vielleicht widersprochen, schließlich hatte sie oft genug erlebt, wie Menschen auf sie reagierten. Aber nun war sie einfach zu sehr davon überwältigt, dass Erik, statt sie wieder in die Mangel zu nehmen und Informationen über Secret aus ihr herauszuquetschen, solche Worte zu ihr sagte. Es dauerte noch einen Moment, ehe sie sich wieder auf die Bank setzte. „Meine Klassenkameraden haben ein Video von mir zusammengestellt mit dem Lied Barbie Girl.“, eröffnete sie ihm. Erik zeigte ein verzerrtes Gesicht, das zwischen Grinsen und Unglaube schwankte. Ariane hätte sich selbst dafür ohrfeigen können, dass sie so dumm gewesen war zu glauben, Erik hätte jegliches Verständnis für sie. Wütend setzte sie fort, als könne sie ihre Worte als Vorwurf verwenden. „Sie haben es ins Internet gestellt und auf Social Media geteilt. Die Vertrauenslehrerin meinte dazu, dass ich nicht so aussähe, als würde es mir etwas ausmachen, für eine Barbie gehalten zu werden.“ Erik schüttelte bloß den Kopf. „Warum denken schlaue Menschen über dumme Menschen nach?“ Ariane stockte. „Warum denkst du über den Schwachsinn nach, den diese dummen Menschen an dich rangetextet haben?“ Sein Blick wurde hart. „Dumme Menschen sind es nicht wert, dass du über sie nachdenkst.“ ‚Hör auf dich zu entschuldigen!‘, hallte es in Arianes Kopf. ‚Sich entschuldigen ist ein Zeichen von Schwäche.‘ Das hatte Secret gesagt, im genau selben Tonfall. Hart. Abwertend. Als wäre es ihm zuwider. „Und wer ist für dich dumm?“ Es kam einfach aus ihrem Mund. Gerade so als würde sie die Leute verteidigen wollen, die ihr das angetan hatten. Eriks Augen waren so hart, dass sie einmal mehr Secret vor sich hatte, den konsequenten Vertreter der Einstellung: Keine Antwort war auch eine Antwort – was bei seinem Blick auch noch tatsächlich funktionierte. Doch plötzlich war es das Bild von Eriks Vater, das vor ihrem geistigen Auge aufblitzte. ‚Alle!‘ „Niemand ist dumm.“, widersprach sie der Antwort ihrer Vorstellung. Strafend sah Erik sie an. „Und du willst mir erzählen, die Leute, die das gemacht haben, sind nicht dumm?“ „Niemand ist dumm.“, wiederholte sie. Etwas änderte sich in Eriks Ausdruck, es waren nur wenige Regungen, aber Ariane erkannte, wie aus der Härte Distanziertheit wurde, als hätte sich Erik plötzlich hinter etwas zurückgezogen, hinter eine Art Festungsmauer, aus der er irgendwann herausgetreten war, ohne dass ihr das bewusst gewesen wäre – bis jetzt, wo sie wieder ausgesperrt war, wo sie vor der Festung stand, vor der kalten Mauer, die abweisend und feindlich wirkte und auf deren Steinen mit unsichtbaren Buchstaben ‚Verschwinde!‘ geschrieben stand. Wie damals. Beinahe hätte sie sich von dem Impuls leiten lassen, seinen Arm zu berühren, um durch die Härte der Mauer hindurchzugreifen. Etwas umklammerte ihr Herz, als würde Erik sich von ihr entfernen, in die Dunkelheit verschwinden und sie verlassen. Auch wenn er neben ihr saß, er war unendlich weit fort. Fast hätte Ariane geweint, die Wahnvorstellung war zu intensiv. Dieses immer wiederkehrende Szenario, ihn wieder alleine zurücklassen zu müssen. Es musste an den immer noch nicht abgeschalteten Schuldgefühlen liegen. Noch immer stand sie vor der unüberwindbaren Festung, wartete vergebens. Er beschämte sie. Wie eine Bettlerin, die um Almosen bat, kam sie sich vor, und nicht mal Abfälle wurden ihr von den Zinnen der Burgmauer heruntergeworfen. Gar nichts. Dann wurde sie mit einem Mal wütend. Wieso machte sie sich immer klein wie ein Mäuschen, wenn er sich so aufführte?! Noch länger brauchte sie sich nicht dem stummen Spott des Despoten aussetzen, der sich hinter den Schlossmauern verbarg und sie mit Verachtung strafte! Arianes Augenbrauen zogen sich zusammen. „Hast du fertig geschmollt?“ Erik starrte sie an. „Was?“ Ariane entzog ihm ihre Beachtung, sah ihn nicht mal mehr an und verärgerte ihn damit noch mehr. Aber das war ihr so was von egal! Verstimmt rupfte sie sich Zuckerwatte ab und stopfte sie sich in den Mund. Erik indes hörte nicht auf, sie anzustarren, als könne er sie dadurch zwingen, etwas zu sagen. Am liebsten wäre er aufgestanden und gegangen. „Sagt diejenige, die keine rosa Zuckerwatte kauft, weil sie für Barbie gehalten werden könnte.“ „Wenigstens führe ich mich nicht wie eine Diva auf, wenn man mir etwas sagt, das mir nicht passt.“, gab sie zurück. „Nein, du versteckst dich hinter Glasvitrinen.“ Ariane hielt inne und rief sich ins Gedächtnis, wie sie auf der Jubiläumsfeier der Finster GmbH versucht hatte, sich vor Erik zu verbergen. Automatisch prustete sie. Ebenso automatisch grinste auch Erik breit. Die Erinnerung an die Szene war zu komisch. Damals als sie sich das erste Mal versöhnt hatten. Es war nur fünf Wochen her, aber es schien wie ein Jahr. Von vorne sah Erik in diesem Moment auch schon die anderen nahen, die nicht minder vergnügt aussahen. „Das. War. Toll!“, rief Vivien und riss dazu ihre Arme in die Höhe. Vitali schloss sich ihr mit einem Freudenschrei an, während Justin die Szene wie immer lächelnd betrachtete und Serena demonstrativ beide Hände wie Scheuklappen ans Gesicht hielt um zu zeigen, wie wenig sie mit Vivien und Vitali zu tun haben wollte. Eigentümlich nur, dass sie sich dazu keineswegs von der Gruppe abgesetzt hatte, sondern genau zwischen Vivien und Vitali lief. Für den Versuch, nicht mit ihnen gesehen zu werden, somit der wohl ungünstigste Platz überhaupt. Aber sehr gut dazu geeignet, von Vitali und Vivien immer weiter in Albernheiten mit hineingezogen zu werden, was diese mit Vergnügen auch taten, indem sie sich kurzerhand bei Serena unterhakten und sie von einer Seite zur anderen schunkelten, sodass diese genervt aufschrie und lautstark losschimpfte. Dies wiederum legte die Frage nahe, ob Serenas Geschimpfe in Wirklichkeit nichts anderes war als ein seltsames Äquivalent zu einem gewöhnlichen Lachen und sie damit nur etwas ganz Bestimmtes bezwecken wollte, was ihr mit einem Lächeln und freundlichem Verhalten unmöglich zu erreichen schien. „Das müsst ihr unbedingt auch fahren!“, verkündete Vivien den beiden auf der Bank Sitzenden. „Gut.“, sagte Erik und stand auf. „Ich muss nur vorher kurz was besorgen. Ihr könnt euch ja schon anstellen.“ „Das hättest du doch eben schon tun können.“, warf Ariane ihm vor. Als Antwort nahm Erik seinen Teddy, den er zuvor noch als unantastbar deklariert hatte, und setzte ihn ungeniert Ariane auf den Schoss. Sein verschlagenes Grinsen sprach Bände. Ariane hätte ihm gerne wütend nachgeschaut, aber ihre Mundwinkel hatten in Eriks Nähe ein Eigenleben entwickelt. Nachdem Erik außer Hörweite war, wandte sich Vivien mit verdächtig erwartungsvollem Blick an sie: „War was?“ „Ihr könnt froh sein, dass er mich nicht wieder über Secret ausgefragt hat!“, schimpfte Ariane. Vivien winkte ab. „Ach was.“ Dreist nahm sie sich das letzte Stück der Zuckerwatte. Was Ariane jedoch als viel dreister empfand, war die Tatsache, dass Vivien die Sache so locker sah. Sie konnte ja nicht wissen, dass Vivien besser einschätzen konnte als sie, welche völlig anderen Gedanken Erik in ihrer Nähe kamen. Vivien deutete auf den Teddy. „Soll ich ihn in den Rucksack packen?“ Ariane funkelte sie empört an. „Hättest du das nicht schon vorhin zu Erik sagen können?!“ „Wieso? Hast du dich nicht gut mit ihm unterhalten?“, fragte Vivien unschuldig. Ariane stockte. Sie druckste etwas herum. „Doch … schon…irgendwie“ „Na also!“ „Vivien.“, knurrte Ariane. „Weißt du nicht mehr?“, fragte Vivien. Nein, Ariane wusste nicht mehr. „Als du Erik zum ersten Mal begegnet bist, dachtest du noch, dass ihr niemals Freunde werdet.“, erinnerte Vivien. Wenn Ariane daran zurückdachte, war es komisch, zumal sie heute schon zum zweiten Mal daran erinnert wurde. „Da hast du wohl Recht.“ Sie lächelte und wurde wieder ernst. „Aber wenn du mich noch einmal absichtlich mit ihm alleine lässt, dann …“ Ariane fiel nichts ein. Ihre Fähigkeit, Kräfte neutralisieren zu können, eignete sich nicht wirklich um jemandem zu drohen. In solchen Momenten hätte sie lieber jemanden schrumpfen lassen können oder Juckreiz hervorrufen oder Stifte immer dann leer sein lassen, wenn man ganz dringend etwas zum Schreiben brauchte. „Okay.“, sagte Vivien leichthin. „Ich lasse dich nicht mehr mit ihm alleine.“ Leicht skeptisch sah Ariane sie an. „Ich meinte, dass du solche Situationen nicht extra einfädeln sollst.“ Freudig strahlte Vivien sie an. „Du willst also schon mit ihm alleine sein?“ „Nein!“, fuhr Ariane sie an. Vivien zuckte mit den Achseln. „War ja nur ne Frage.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)