Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 72: [Schicksals Fluch] Verhohlen - Serenas Wunden --------------------------------------------------------- Verhohlen – Serenas Wunden „Gib Worte deinem Schmerz: Der Kummer, der nicht spricht, nagt leise an dem Herzen, bis es bricht.“ (Macbeth, IV. Akt, 3. Szene, von William Shakespeare) Sonntag. Erik saß auf seinem Bett, gegen die Wand gelehnt. In Gedanken ging er noch einmal die Ereignisse durch, die mit seinen Schmerzen zusammenhingen. Dann stand er auf und holte sich etwas zu schreiben, um alle Puzzleteile schriftlich festzuhalten. Das erste Mal war der Schmerz auf Burg Rabenfels aufgetreten. Wenige Minute nach dem ersten Anfall hatte der zweite ihn ohnmächtig werden lassen. Erneut war er dessen Opfer geworden, nachdem er bei Finster ein Kuvert abgegeben hatte. Und dann wieder auf dem Jahrmarkt, wo der zweite Anfall abermals in einer Ohnmacht geendet hatte. Begleitet von einer vermeintlichen Wahnvorstellung. Er dachte darüber nach, wie viel Zeit zwischen den Ereignissen lag und öffnete dazu seine Kalender App. Der Jahrmarktbesuch hatte am siebten Oktober stattgefunden. Am einundzwanzigsten September hatten sie Burg Rabenfels besucht. Ein paar Tage später – er konnte sich nicht mehr an das genaue Datum erinnern – war der Schmerz vor der Finster GmbH aufgetreten. Und der dritte September war der erste Schultag gewesen. Dies erachtete er ebenfalls als relevant, da er damals die fünf kennengelernt und die ersten Andeutungen über eine Wunde am Arm vernommen hatte. So lächerlich er diese ganze Rollenspiel-Sache auch empfand, die Parallelen zu seiner tatsächlichen Situation waren zu gravierend, als dass er sie einfach als einen Zufall hätte abtun können. Die fünf flochten willentlich reale Begebenheiten in den Plot mit ein. Dem war er sich durchaus bewusst, doch die Sache mit seinem Arm… Als hätte die Erfindung die Wirklichkeit beeinflusst. Erik stöhnte. Das ergab doch alles keinen Sinn. Vivien hatte ihm als Hintergrundstory erzählt, sie seien von Monstern entführt worden und hätten dabei Secret getroffen. Dieser habe eine Wunde gehabt, deren Herkunft unbekannt sei. Secret sei bei der Flucht zurückgeblieben. Und er sei Secret, der sich an nichts erinnere. Dieser Schritt schien logisch: Ab dem Zeitpunkt, in dem Ariane ihren Wetteinsatz einlösen und ihn als Secret behandeln musste, hatten sie ihn einfach in die Geschichte eingebaut und die Amnesie erfunden, um sein Unwissen zu rechtfertigen. Als seine Schmerzen im Arm aufgetreten waren, hatten sie das als Reaktion der Wunde umgedeutet. Wahrscheinlich hatte das eine tatsächlich nichts mit dem anderen zu tun und er verwechselte Ursache und Wirkung. Er hielt inne. Wieso hatte dann Ariane immer so verunsichert reagiert? Andererseits war es wohl einfach peinlich, dass sie und die anderen so ein Spiel spielten. Kein Wunder, dass die fünf ihm das nicht gleich auf die Nase gebunden hatten. Zumindest schienen sie ihm mittlerweile genug zu vertrauen, um ihn in diesen Kreis aufzunehmen. Er fragte sich wirklich, warum er so scharf darauf war, hinter dem Ganzen einen tieferen Sinn zu erkennen. Er legte das Schreibzeug beiseite. Von Schmerzen, die nicht durch körperliche Ursachen hervorgerufen wurden, hatte er schon gehört, sogenannte psychosomatische Störungen. Er stand auf und schaltete seinen Laptop an. Sobald das System hochgefahren war, informierte er sich über mögliche Symptome von psychosomatischen Erkrankungen. Wie er aus den verschiedenen Beiträgen entnehmen konnte, gab es offensichtlich so gut wie kein Symptom, das sich nicht auch auf psychische Ursachen zurückführen ließ. Auf einer Seite erfuhr er von Krankheiten, die nicht anerkannt waren, weil die Ärzte keine körperliche Ursache für die Symptome fanden, darunter eine Erkrankung namens Morgellons, bei der die Betroffenen Risse in der Haut und offene Wunden bekamen und über ein Gefühl klagten, als würden kleine Käfer unter ihrer Haut krabbeln. Automatisch fühlte er sich an den Film ‚Die Mumie‘ erinnert. Er wechselte zurück auf die Ergebnisse seiner Suchanfrage und folgte einem weiteren Link. Dort wurden als Hauptursache von psychosomatischen Erkrankungen Konflikte genannt. Oft seien sich die Betroffenen der Folgen nicht bewusst, würden die Zeichen nicht bemerken und stattdessen die Problematik verdrängen. Die verdrängten Gefühle würden sich dann über die Krankheitssymptome auf andere Weise äußern oder Entzündungen und andere Krankheiten begünstigen. Für ihn klang das alles etwas zu esoterisch. Wie konnte denn die Psyche körperliche Symptome hervorrufen? Andererseits schienen bestimmte Leute das wirklich zu haben. Erik schloss den Browser. Er hatte keine unterdrückten Konflikte. Seine Konflikte waren ihm durchaus bewusst, außerdem waren sie nicht bedeutend genug, um ihn körperlich zu belasten. Er war kein kleines Kind mehr. Das Bild eines kleinen, schmächtigen Jungen kam in ihm hoch. Wie er geweint hatte aus Scham, ein solch missratener Sohn zu sein. Wie bescheuert! Auch Serena saß alleine in ihrem Zimmer und versuchte sich auf ihre Geschichte zu konzentrieren. Seit sie von den Schatthen entführt worden war und die anderen kennengelernt hatte, hatte sie nicht mehr die Muse zum Schreiben gehabt. Die meiste Zeit war sie nun mit Training, Hausaufgaben oder dem schlichten Überleben beschäftigt. Unzufrieden stand sie von ihrem Bett auf. Sie erinnerte sich, etwas zu dieser Szene zuvor aufgeschrieben zu haben, aber das musste ewig her sein. Wer wusste, wo sie das Blatt hingetan hatte. Sie lief zum Regalschrank und öffnete zunächst die kleinen Schranktüren unterhalb des Regals. Sie wurde nicht fündig. Als nächstes durchstöberte sie die Schubladen, die mit allerlei Papieren angefüllt waren, holte die Papierberge heraus, um darunter vielleicht etwas zu entdecken, und stockte. Mit einer Hand holte sie das zusammengebastelte Heftchen hervor, auf dem ‚Happy Birthday‘ stand und ein Text, umrahmt von selbstgezeichneten und kolorierten Bildern. Sie legte das Heftchen kurz neben sich, bettete solange den Papierstapel wieder in die Schublade, und besah sich ihren Fund dann näher. ‚Liebe Serena, nun bist du 15! Ich hoffe, dass du dieses Heft, das ich dir gebastelt habe, nicht zu kindisch findest. Aber ich dachte, du würdest lachen, wenn du’s siehst. Wie auch immer. Ich wünsche dir…‘ Serena blätterte um. Auf den folgenden Seiten war stets ein Wunsch aufgeschrieben, mit unterschiedlichen Verzierungen umrahmt. Daneben war jeweils ein Bild aus einem Anime geklebt. Es waren nicht viele Seiten, aber die letzte konnte man aufklappen. Die Zeichnung eines blonden Mädchens im Mangastil war darauf zu sehen, die einen Blumenstrauß hielt, und in deren Sprechblase stand: ‚Ich wünsche dir, dass alle deine Wünsche in Erfüllung gehen!‘ Um die Figur herum waren verschiedene Sprüche geschrieben. ‚In der Bibel steht, dass niemand perfekt ist! Kein Wunder, vor 2000 Jahren gab es dich ja noch nicht!‘ Eine kleinere Zeichnung mit einer Wahrsagerin, die offensichtlich das gleiche Mädchen darstellen sollte, beinhaltete den Text: ‚Ich sehe in meiner Kristallkugel, dass es ein sehr gutes Jahr für dich wird. Dein 15. Geburtstag bringt viel Glück mit!‘ Und ein letzter Spruch: ‚Ist die Entfernung noch so groß, so schnell wirst du mich nicht mehr los!‘ Darunter die Unterschrift: ‚Deine Amanda‘. Serena fühlte etwas ihr Herz umkrampfen und ihren Magen zu einem harten Klumpen zusammenziehen. Dann wusste sie nicht mehr, ob sie aus Trauer oder aus Hass weinte. Am Dienstagvormittag verkündete ihre Deutschlehrerin, Frau Müller, ihnen: „Nächste Woche werden wir anfangen die Referate zu hören, die ihr über die letzten Wochen vorbereitet habt.“ Die Klasse gaffte sie entsetzt an. Welche Referate? „Ich hoffe doch, dass ihr die letzten Wochen für das Fertigstellen eurer Gruppenarbeit zu ‚Nathan der Weise‘ genutzt habt.“ Oh, diese Referate. Die Gesichtsausdrücke der Schüler geflissentlich ignorierend, setzte Frau Müller fort. „Heute habt ihr noch einmal Gelegenheit, daran zu arbeiten. Wer noch Plakate braucht, meldet sich. Also bitte geht in eure Gruppen und tauscht euch über eure Ergebnisse aus. In gemäßigter Geschwindigkeit teilte die Klasse sich in die Fenster- und die Wandseite auf. Serena, Justin und Erik waren Teil der Wandseite, Vitali, Ariane und Vivien mussten auf die Fensterseite wechseln, wo sich auch Amanda befand. In allen Ecken hörte man Tuscheln darüber, dass man noch nichts gemacht hatte. Wer tatsächlich noch an die Gruppenarbeit gedacht hatte, zählte zu den Ausnahmen. Selbst Erik, Ariane und Serena hatten sie völlig vergessen oder auch nur verdrängt. „Wie sollen wir das jetzt machen?“, fragte einer der Wandseite. „Am besten teilen wir uns erst einmal in Untergruppen.“, schlug Erik vor. „Hat jemand noch den Zettel von letztem Mal.“ Justin reichte ihm seinen. Er besah sich die Arbeitsanweisung. „Wir haben vier Unterpunkte, dann machen wir vier Untergruppen.“ Er las die Themen vor und sah dann Serena an. „Was wollen wir?“ Sie sah ebenfalls auf das Blatt und entschied sich dann für die Ringparabel und deren Bezug zu Heute. Nachdem sich auch der Rest der Gruppe aufgeteilt hatte, setzten sich Erik, Justin und Serena zusammen, um Ideen zu sammeln. Derweil kam Frau Müller mit einigen Plakaten zurück und verteilte diese an diejenigen, die sich auf ihre Frage hin meldeten. „Wollen wir ein Plakat?“, erkundigte sich Justin. „Und wer soll schreiben?“, fragte Serena, als wäre das eine blöde Idee. „Ich habe eine sehr schöne Schrift.“, sagte Erik schelmisch. Serena musste grinsen. „Wir können auch eine Powerpoint-Präsentation machen.“, schlug Justin vor. „Das ist besser.“, meinte Serena. „Wann und wo wollen wir uns treffen?“, fragte Erik. Da sie Eriks Haus lieber mieden, um den Zornesausbrüchen von Herrn Donner zu entgehen, schlug Serena vor, sich bei ihr zu treffen, weil sie dort genügend Platz hatten. Die Jungs stimmten zu. „Wie wollen wir das aufbauen?“ Bevor jemand auf Eriks Frage reagieren konnte, unterbrach sie ein Ruf von der Fensterseite. „Justin!“ Justin drehte sich um und sah Vivien mit beiden Armen winken. „Kann ich deinen Spitzer haben?“ Er nickte und holte ihn aus seinem Rucksack. Serena hatte sich darum bemüht, der anderen Gruppe keine Beachtung zu schenken, was bisher dank der Konzentration auf ihre Aufgabe und Eriks und Justins Gesellschaft ganz gut funktioniert hatte, doch aufgrund des Rufs war ihr Blick unwillkürlich zu der winkenden Vivien gewandert. Serena atmete ein und aus, versuchte sich aus der Realität zu entfernen, wo sie in diesem Moment nicht mehr sein wollte. Für Sekunden dachte sie nichts und sah leer auf Vivien, die mit Vitali und Ariane eine Gruppe um Amanda gebildet hatte und sich prächtig zu amüsieren schienen. Amanda lachte ihr warmes, süßes Lachen, wie Ahornsirup auf einem Pfannkuchen und neben ihr strahlten Vitali und Ariane. Justin war mittlerweile aufgestanden, um Vivien den Spitzer zu bringen. Vivien informierte ihn darüber, dass Amanda ihn brauchte, woraufhin er ihr den Spitzer reichte. Lächelnd nahm Amanda ihn entgegen und bedankte sich in dem warmen Tonfall, den Serena über die Gespräche aller anderen Schüler noch wahrnehmen konnte wie einen Teil von ihr, der zu einem abscheulichen Krebsgeschwür ausgeartet war. Sie fühlte gar nichts und sah, wie Amanda ihre Stifte spitzte und dann an ihrem Plakat weiterzeichnete, wie sie es früher bei ihren Gruppenarbeiten immer getan hatte. Ein unbändiger Kummer erfasste sie, den sie nicht zu beherrschen verstand. Sie konnte ihren Blick nicht mehr abwenden, noch konnte sie den Anblick ertragen. „Serena?“ Sie reagierte nicht. „Hey.“ Erik legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie nahm es nicht wahr. Er beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr. „Sie arbeiten nur mit ihr zusammen, weil sie müssen.“ Seine Worte erreichten das Gegenteil von dem, was sie wollten. Serena war wie betäubt und schluckte schwer. Ihr Blick wurde von etwas getrübt, das ihr in die Augen stieg, doch sie fühlte sich viel zu abgestumpft, um jeglicher Reaktion ihres Körpers Aufmerksamkeit zu widmen. Sie würde nie wieder weinen. Sie drehte sich weg. Ihr Antlitz hatte einen finsteren Zug angenommen, was Erik mit Besorgnis feststellte. Justin hatte mittlerweile seinen Platz wieder eingenommen. Serena vermied den Blick zu ihm. Ihre Augenbrauen waren zusammengezogen. Erik sprach sie direkt an. „Hast du eine Idee, wie wir die Präsentation aufbauen sollen?“ „Ist mir egal. Ich kümmere mich nur um die Interpretation.“, zischte sie abweisend. Erik ließ sich davon nicht beirren. „Das brauchst du nicht alleine machen.“ „Ich kann hier nicht arbeiten. Ich mache das zu Hause.“, keifte sie. Eriks Gesichtsausdruck wurde ebenfalls düster. „Und was sollen wir machen?“ „Ist mir egal.“ Langsam aber sicher wurde Erik wütend. „Man nennt es Gruppenarbeit, weil die ganze Gruppe etwas macht.“ Sie sah immer noch nicht von ihrer Lektüre auf und tat so, als wäre sie mit dem Text beschäftigt. „Das wäre mir neu.“ „Dann lernst du es jetzt.“, gab Erik scharf von sich. Serena schwieg. „Ich kann Lektürehilfen bei der Stadtbibliothek ausleihen.“, schlug Justin in vorsichtigem Ton vor. Es hielt es für schlauer, das Thema zu wechseln, als Serena auf ihre schlechte Laune anzusprechen. „Gut.“, antwortete Erik knapp und wandte sich dann wieder an Serena. „Was willst du alles bei der Interpretation reinbringen?“ Serena schwieg vehement. Erik war davon alles andere als begeistert. Schließlich ging er dazu über, das Thema allein mit Justin zu besprechen. Da Serena zwischen ihnen saß, bekam sie ohnehin alles mit. Im Gegensatz zu Vitali hatte Erik keine Probleme mit Interpretationen und war Präsentationen gewöhnt. Es fiel ihm entsprechend leicht, den Aufbau zu planen. Entseelt starrte Serena noch immer vor sich. Erik unternahm einen erneuten Versuch, sie ins Boot zu holen. „Du hattest doch so gute Ideen, wie wir den Alltagsbezug reinbringen. Wir sind drei Leute, drei monotheistische Religionen. Was fällt dir dazu ein?“ „Gar nichts.“ Erik stöhnte. „Serena, wir haben jetzt noch eine ganze Stunde Deutsch.“ Sie reagierte nicht. Eriks Augenbrauen senkten sich bedrohlich. „Na gut.“ Er stand auf. „Frau Müller, Serena geht es nicht gut, ich geh kurz mit ihr an die frische Luft.“ Die Lehrerin, die gerade noch im Gespräch mit einer anderen Gruppe gewesen war, sah auf und nickte bloß. Serena warf ihm einen Blick zu, aus dem sprach, wie unnötig und geradezu unverschämt sie sein Verhalten fand. „Soll ich mitgehen?“, fragte Justin besorgt. „Schon okay, wir sind gleich wieder da.“ Erik fasste Serena am Arm. Trotz ihrer Miene, wehrte sie sich nicht. Vor der Tür des Klassenzimmers stieß Serena ein tonloses Seufzen aus. Erik ging einige Schritte mit ihr, ehe er sie ansprach. „Was ist los?“ Wieder bekam er keine Antwort. So kannte er Serena nicht. Er war an ihre aufbrausende Art gewöhnt, an ihre oft verletzende Art, aber das hier bereitete ihm Unbehagen. „Warte hier.“ Er ließ sie stehen und ging noch einmal zurück zum Klassenzimmer, ohne Serena darüber in Kenntnis zu setzen, was er vorhatte. Es war ihr auch egal. Hauptsache, er holte die anderen nicht. Geknickt stand sie da. Erik kam zurück und drückte Serena ihre Jacke in die Hand. „Du brauchst frische Luft.“ Ohne Widerworte und ohne aufzublicken zog Serena ihre Jacke an. Erik führte sie die Treppe hinunter, zum Schulhof, wo sie sich auf ihre übliche Bank unter dem Kastanienbaum setzten. Er ließ ihr die Zeit Luft zu schnappen und den Kopf frei zu kriegen. „Willst du dich vom Unterricht befreien lassen?“, fragte er schließlich. Auf diese Idee war Serena gar nicht gekommen. „Geht schon.“ „Wenn dir nicht gut ist, ist es besser du gehst nach Hause.“ Serenas Lippen formten unwillkürlich einen verzweifelten Schmollmund. Erik legte seinen Arm um sie wie damals am ersten Schultag. Doch als Serena sich kurz darauf nach vorne beugte, ihre Ellenbogen auf ihre Beine stützte und ihre Stirn hielt, musste er von ihr ablassen. Eine Weile lang saß sie so da, ihre Hände bedeckten ihre Augen, vermutlich hatte sie sie geschlossen. Sie gab kein Geräusch von sich und ihr Atem war regelmäßig. Erik blieb neben ihr sitzen und beobachtete sie bloß stumm. Ihre Handflächen fuhren manchmal über ihre Stirn hin zu ihren Augen, dann wieder zu ihrem Haaransatz, dann gruben sich ihre Finger in ihre Haare, wie um eine Beschäftigung zu finden. Erik überlegte sich, was er sagen sollte, aber alles erschien ihm wertlos. Schließlich läutete die Pausenglocke, die nicht wirklich eine Pause einläutete, sondern nur ein Überbleibsel der 45-Minuten Stunden war. „Willst du nicht rein zu den anderen?“, fragte Erik. „Vitali macht sich sicher Sorgen.“ Serenas Gesichtszüge verkrampften. „Das ist ihm doch scheißegal!“ Der plötzliche Ausbruch war überraschend. Erik wurde klar, dass er jetzt nichts Falsches sagen durfte, um nicht Gefahr zu laufen, dass sie wieder in Schweigen verfiel. „Er wird jetzt sicher zu unserem Tisch rennen und fragen, was los war.“ Serenas Kopf fuhr hoch und schrie. „Es ist ihnen scheißegal, was mit mir ist!“ In ihrem ganzen Zorn sah sie völlig hilflos aus. Erik wusste, dass er sie reizen musste. „Das stimmt nicht.“ Serenas Stimme war kurz davor zu brechen. „Natürlich stimmt das! Es ist ihnen alles egal.“ Noch immer hatte sie die Zähne zusammengebissen, die Verformung ihres Mundes und ihrer Augenbrauen sprach jedoch eine entgegengesetzte Sprache. „Sie sorgen sich um dich.“ Serena erbrach eine Mischung aus Schluchzen und einem Laut, als hätte man ein Tier plötzlich am Genick gepackt. Sie schien mit einem Mal keine Luft mehr zu bekommen. Geschockt beugte sich Erik zu ihr, um sie irgendwie zu halten. Wie im Delirium stützte sich Serena an seine Schulter und brachte Laute hervor, als wolle sie atmen, wage es aber nicht, Sauerstoff in ihre Lungen zu lassen. Nichts sollte mehr ihr Inneres berühren, nichts und niemand. Alles um sie schien zu verschwimmen, ihre Augen rollten. „Serena! Serena! Atme! Du musst atmen!“ Sie zitterte in seinen Armen, dann packte er sie an den Schultern und schüttelte sie. „Serena! Serena!“ Immer wieder rief er ihren Namen. Aber Serena schien nicht wieder zur Besinnung kommen zu wollen. „Serena!“ Erik wusste sich nicht mehr anders zu helfen, als mit seiner flachen Hand sachte ihre Wange zu beklopfen. Sie begann wieder zu atmen, sog Luft in ihre Lungen, starrte auf den Boden. „Geht’s wieder?“, fragte Erik besorgt und hielt sie an ihren Schultern aufrecht. Serenas Kopf fühlte sich so schwer an. So furchtbar schwer. Unwillkürlich senkte sich ihr Haupt, als würde es von einem unsichtbaren Gewicht hinuntergezogen. Erik lehnte sich rechtzeitig weiter vor, so dass ihr Kopf auf seine Schulter fiel. Serenas Augen schlossen sich. Sie roch etwas an Erik, der Geruch seiner Haut oder der Duft, den sein Rasierschaum auf der Haut hinterlassen hatte. Ein dezenter männlicher Duft, moosartig und frisch. Dahinter eine weit sanftere, zarte Note, die den anderen Nuancen erst ihre Süße verlieh. Erik spürte, dass jegliche Anspannung aus Serenas Körper gewichen war, getraute sich aber nicht, ihre plötzliche Ruhe durch Worte zu unterbrechen. Er hielt sie einfach nur fest. Erst Momente später kam Serena wieder zu sich. Der Geruch, der von Erik ausging, schien wie ein Riechsalz gewirkt zu haben. Sie löste sich von ihm. „Entschuldige.“ „Geht es dir besser?“ „Ja.“ Erik atmete auf. Dann wurde er nachdenklich. Eine weitere Stunde Deutsch würde sie nicht überstehen. „Hör zu, wir gehen zu Herrn Mayer, der entlässt dich. Ich hole deine Sachen. Dann gehen wir zusammen nach Hause. Okay?“ Serena sah scheu zur Seite, aber offenbar war ihr selbst bewusst, dass sie es nicht aushalten könnte, noch einmal ins Klassenzimmer zu gehen. „Komm.“ Er nahm sie bei der Hand und ging mit ihr zurück ins Schulhaus. Sie liefen die Treppen hinauf ins erste Obergeschoss und klopften am Lehrerzimmer. Sie hatten Glück, dass Herr Mayer eine Freistunde hatte. Serenas Anblick genügte, um Herrn Mayer davon zu überzeugen, dass sie besser nach Hause ging. Allerdings sollten ihre Lehrer darüber informiert werden. Erik erklärte, dies zu übernehmen. Sein Klassenlehrer war allerdings weniger begeistert davon, dass Erik sie begleiten wollte. „Ich kann sie nicht allein gehen lassen.“, verkündete Erik überzeugt. „Kommst du denn bei dir zu Hause rein?“, erkundigte sich Herr Mayer bei Serena. Sie nickte. „Ich komme danach gleich wieder.“, versprach Erik. Herr Mayer stimmte zu und wünschte Serena gute Besserung. Erik führte sie zurück ins Erdgeschoss und ließ sie dort beim Haupteingang warten. „Bin gleich wieder da.“ Er wollte nicht riskieren, dass der bloße Anblick der Klasse sie wieder in den vorigen Zustand zurückversetzte. Was er aus ihren Worten herausgehört hatte, hatte ihn davon überzeugt, dass die Anwesenheit der anderen nun fatal gewesen wäre. Er betrat das Klassenzimmer. Justin drehte sich sogleich zu ihm und warf ihm einen besorgten Blick zu. Auch die Aufmerksamkeit der anderen war auf ihn gerichtet. Aber er ignorierte sie und ging stattdessen auf Frau Müller zu, die gerade in der Nähe von Amandas Tisch stand. Er informierte sie kurz, dass er Serena nach Hause bringen würde. Frau Müller sah zu Justin. „Deine Gruppe ist dann allein, kann nicht jemand anderes sie nach Hause bringen?“ Sofort erklang Vitalis Stimme. „Ich kann sie nach Hause bringen. Wir sind eh fast fertig.“ „Gut, dann gehst du.“ Erik fuhr ihr ins Wort. „Ich gehe!“ Frau Müller über seinen Tonfall entsetzt, starrte ihn an. „Du bist nicht entlassen.“, erinnerte sie ihn. „Herr Mayer weiß Bescheid.“, antwortete Erik. „Ich bin hier immer noch die Lehrerin und es handelt sich um meine Stunde.“ Erik sah sie feindselig an. Fast hätte er ihr ins Gesicht gespuckt, dass ihm das egal war. Gerade noch rechtzeitig mischte sich Justin ein. „Es macht mir nichts aus, alleine zu arbeiten. Erik kann ruhig gehen.“ Dafür bekam er von Vitali einen vorwurfsvollen Blick zugeworfen. „Wir sind ihre Freunde!“, platzte Vitali heraus. Erik bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick, dann wandte er sich einfach ab, ging zu Justin hinüber, ergriff sowohl Serenas als auch seine Sachen und ging. Frau Müller rief noch seinen Namen, aber schon war er aus der Tür, ohne sich noch einmal umzudrehen. „Also, das ist doch! Der wird noch was zu hören bekommen!“ Justin setzte sich für ihn ein. „Frau Müller, er macht sich nur Sorgen. Außerdem ist Serena in unserer Gruppe, es wäre doch unfair, eine andere Gruppe damit zu belasten.“ Das Argument schien die Lehrerin langsam zu besänftigen, dennoch war sie offensichtlich über die Missachtung ihrer Autorität empört. Vitali traktierte Justin mit tödlichen Blicken. „Was soll der Scheiß?!“ „Vitali!“, schrie daraufhin Frau Müller. „Ich verbitte mir solche Kraftausdrücke!“ Vitali schaute nur wütend und sagte nichts mehr. Er war stinksauer. Was sollte der ganze Mist?! Seine Fäuste schlugen zornig auf den Tisch. Nachdem Frau Müller weitergegangen war, flüsterte Amanda: „Das macht sie nur wegen der Aufmerksamkeit.“ „Was?“, fragte Ariane verwirrt. „Serena tut immer so, als wäre sie das Opfer.“ Amanda sah nicht auf, während sie das sagte, aber ihr Gesichtsausdruck zeugte von Unmut. „Wie meinst du das?“, hakte Ariane nach. Amanda ließ sich mit der Antwort Zeit. Schließlich erwiderte sie: „Sie beleidigt einen ständig und stellt sich dann als das arme Opfer hin. Es ist ihr egal, was andere fühlen.“ „Ja, ganz genau!“, pflichtete ihr Vitali bei. „Und wenn irgendwas ist, heult sie!“ Ariane ließ ihm einen tadelnden Blick zukommen. „Sie hält sich für was Besseres, deshalb nimmt sie sich das raus.“, setzte Amanda fort. Vivien, gerade mit dem Anmalen der Überschrift beschäftigt, sprach in unbekümmertem Tonfall. „Ich glaube nicht, dass sie sich für was Besseres hält. Sie hält sich eher für was Schlechteres, deshalb hat sie Angst vor anderen Leuten.“ „So tut sie ja immer!“, begehrte Amanda auf. „Sie tut immer so, als wäre sie so bescheiden und lieb und nett, aber in Wirklichkeit ist sie ganz anders!“ Vitali verzog das Gesicht. Bescheiden, lieb und nett? Sie musste eine andere Serena meinen. Tiny tat doch immer so, als wäre sie nichts davon! Und nur manchmal konnte man dahinter erkennen, wie sanft und zerbrechlich sie eigentlich war. „Ich liebe Serena.“, sagte Vivien freimütig. Nicht nur Amanda stockte aufgrund ihrer Wortwahl. Dann trat etwas Missmutiges in Amandas Züge. „Wart nur ab, bis du sie richtig kennenlernst.“ Vivien erwiderte ihren Blick und kicherte. „Ich freue mich über alles, was ich noch von ihr erfahre. Dafür sind Freunde da.“ „Freunde, die dich wie ein wertloses Stück Dreck behandeln, sind keine Freunde.“ Viviens Ausdruck wurde weich, sie schenkte Amanda ein mitfühlendes Lächeln. „Sie hat dich in ihrem ganzen Leben sicher nie als ein Stück Dreck gesehen.“ Amanda biss die Zähne zusammen, ihr Blick bekam etwas distanziert Stolzes. Sie reckte das Kinn wie eine Adlige und weigerte sich, jegliches weitere Wort an Vivien zu verschwenden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)