Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 74: Hölle - Serenas Pein -------------------------------- Hölle – Serenas Pein „Wer, wenn ich schrie, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz; ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang […]. Ein jeder Engel ist schrecklich.“ (aus der ersten der Duineser Elegien von Rainer Maria Rilke) Serenas schnurloses Telefon klingelte. Sie stand auf und nahm das Mobilteil ans Ohr. „Ja?“ „Vivien.“, sagte ihre Mutter und legte auf, ehe Serena protestieren konnte. Sie schwieg, doch offenbar konnte man ihr Atmen am anderen Ende des Hörers hören. „Hallo?“, fragte Vivien. „Was ist?“ „Hallo! Wie geht’s dir?“ „Gut.“ „Ich hab dich ganz doll vermisst!“ Serenas Blick wurde kalt. Sie antwortete nicht. „Kommst du morgen wieder?“ Wieder schwieg Serena. „Alles okay bei dir? Ich mach mir Sorgen.“ Auch das brachte keine Reaktion von Serenas Seite. Vivien wechselte die Strategie. „Vitali war eifersüchtig wegen Erik.“ Nichts. Langsam wusste sich Vivien nicht mehr zu helfen. „Wenn du Sorgen hast wegen Amanda. Wir arbeiten nur mit ihr zusammen, weil wir müssen.“ Serena spürte erneut die ihr wohlvertraute Trauer in sich aufsteigen. „Ich hab dich lieb, Serena! Du bist meine beste Freundin. Du und Ariane.“ Serena fühlte in ihren Augen etwas, doch es kamen keine Tränen mehr. Sie brachte keinen Ton heraus. „Du hast mich auch lieb, Serena, das weiß ich!“, rief Vivien. „Also vertrau mir! Denn ich würde dich nie im Stich lassen!“ Stille. Viviens Stimme verlor an Kraft. „Du musst auch nichts sagen. Das ist okay…“ Serenas Schweigen schien ihr zuzusetzen. „Ich… Wir sehen uns morgen, ja? Ich warte auf dich.“ Keine Reaktion. „Ich hab dich lieb.“, sagte Vivien nochmals sachte, ohne dass Serena darauf geantwortet hätte. Letztlich gab sie auf und beendete das Gespräch. Serena hörte das Tuten von der anderen Seite und sank zu Boden. Um sie herum standen Vivien und die anderen, sie alle waren verwandelt, genau wie Serena, doch in ihrer Mitte war noch jemand anderes. Amanda stand in einem weiß-goldenen Kostüm mit langen Handschuhen und hohen Stiefeln zwischen ihnen. Wie bei den Beschützern war auch bei ihrer Kleidung ein Edelstein in einer bestimmten Form und Farbe ein wiederkehrendes Merkmal. Der ihre war herzförmig, in der Farbe Rosa. Serena verstand nicht. Dann hörte sie Ewigkeit frohlocken, dass sie endlich den letzten Beschützer gefunden hatten: Geheim! „Ich bin Mystery.“, stellte sich Amanda selbstbewusst lächelnd vor. Die anderen nahmen es ohne Weiteres hin, dass ihre Vermutung, Erik sei der sechste Beschützer, falsch gewesen war, und hießen Mystery aufs Wärmste willkommen. „Schön, dass du jetzt zu uns gehörst.“, sagte Desire. „Jetzt müssen die Schatthen sich auf was gefasst machen!“, verkündete Change, derweil Unite Mystery überschwänglich umarmte und Trust sie anlächelte. Serena stand einfach nur da. Augenblicklich begannen die anderen mit dem Training. Mystery war sehr schnell und wendig, der Kräfteeinsatz bereitete ihr keinerlei Schwierigkeiten. Die anderen klopften ihr freundschaftlich auf die Schulter und lachten sie freudig an. Mystery neckte sich mit ihnen, machte Späße und die anderen waren von ihr begeistert. Keiner schaute in Serenas Richtung. Plötzlich drehte Mystery ihr das Gesicht zu und blanker Hohn schoss ihr entgegen. Ein boshaftes Lächeln lag auf Mysterys Lippen. Wie betäubt stand Serena da. Wieso sahen die anderen das nicht? Wieso sahen sie nicht, was sie tat? Wieso sahen sie nicht, dass diese Person sie ihr wegnehmen wollte? Wieso… wieso – Tränen kullerten ihre Wangen hinab. Hilflos wollte Serena ihren Arm nach den anderen ausstrecken. Man musste es doch sehen! Es war doch so offensichtlich! Wieso seht ihr meine Tränen nicht? Geht nicht weg... Lasst mich nicht allein! Serena erwachte an ihrem eigenen Wimmern. Nur langsam verflüchtigte sich der Traum. Die Dunkelheit um sie herum hielt sie noch für Sekunden in der Zwischenwelt von Realität und Illusion gefangen. Die Eindrücke des Traums ließen nicht von ihr ab. Sie öffnete die Augen, um den Nachbildern, die hinter ihren Augenlidern lauerten, zu entkommen. Doch ihre Augenlider waren unendlich schwer und ihr Verstand spielte ihr grausame Streiche. Gedanken drangen auf sie ein, sponnen das Szenario weiter aus, wiederholten es, peinigten sie mit den immer gleichen Bildern, den immer gleichen Gefühlsfetzen, die sie einkeilten, sie zu ersticken drohten. Keiner der anderen bemerkte auch nur, was sie ihr antaten. Es war ihnen völlig egal. Egal, welche Schmerzen sie hatte. Sie war ihnen egal… Dieses Mal waren die Tränen echt. Vitali saß im Klassenzimmer und wartete auf Serena. Er hatte sich vorgenommen, sie zu ignorieren. Jawohl! Er würde kein Wort mit ihr wechseln! Den ganzen Tag lang! … Oder zumindest bis sie den ersten Satz zu ihm sagte. Dann würde er schnippisch und abweisend reagieren. Genau! Th, wenn ihr Erik so lieb war, dann sollte sie doch mit ihm reden! Th. Die anderen waren noch nicht da. Vitali wartete. Endlich betrat Serena das Klassenzimmer. Vitali grinste in sich hinein. Er würde sie nicht grüßen. Ja, kein Hallo und kein gar nichts! Er wollte doch mal sehen, wie ihr das schmeckte! Ohne auch nur aufzusehen setzte sich Serena auf ihren Platz, als hätte sie erst gar nicht gemerkt, dass er überhaupt anwesend war. Dabei hatte er extra einen Bus früher genommen, um ja früh genug hier zu sein! Er war kurz davor sie anzuschreien. Aber das hätte ja bedeutet, mit ihr zu reden! Er riss sich mühsam zusammen und schwieg, lugte aber zu ihr hinüber und starrte sie dann überdeutlich an. Serena indes sah aus, als befände sie sich in einer anderen Welt, als hätte ein Videospiel ihr die Seele ausgesagt – zumindest war das Vitalis Bild dazu. Er wurde langsam ungeduldig. Konnte sie nicht endlich merken, dass er sie ignorierte?!!! Das konnte doch nicht so lange dauern! Blöde Kuh. Und jetzt kam auch noch Erik ins Klassenzimmer. Der Idiot. Er grüßte Serena und blieb vor ihrem Tisch stehen „Wie geht’s dir?“ Serena schaute nur genervt. „Alles okay?“ Offenbar hatte Serenas Verhalten ihn beunruhigt. Vitali konnte nicht verstehen, wieso. Sie benahm sich genauso abweisend und fies wie immer… „Ja.“, antwortete sie widerwillig. Eriks Brauen zogen sich verwundert zusammen. Schließlich wandte er sich ab und lief an seinen Platz. Gerade so, als wäre es ungewöhnlich, dass Serena einen so behandelte. Th. Vitali hatte keinen Bock, sich zu Erik umzudrehen und hörte nur, wie dessen Schultertasche auf dem Boden aufkam, das Rascheln seiner Lederjacke, Stuhlrücken und einen dumpfen Laut, der anzeigte, dass Erik sich hingesetzt hatte. „Hast du was zu ihr gesagt?“ Vitali ignorierte ihn. „Hey, ich rede mit dir.“, drang Eriks Stimme an sein Ohr. „Das hör ich.“, sagte er möglichst desinteressiert. „Hast du was mit ihrer schlechten Laune zu tun?“ Vitali brummte in sich hinein. Wieso sollte er was mit ihrer Laune zu tun haben? Erik war doch jetzt ihr bester Kumpel! „Was hast du gemacht?“ „Ich hab gar nichts gemacht!“, schrie Vitali. „Warum ist sie dann so?“, fragte Erik. „Woher soll ich das wissen?!“ „Weil du ihr Freund bist.“ Aus Vitalis Zügen wich jäh die Härte. Verwunderung legte sich darauf. Dann zog er ein Gesicht, als würde er von etwas auf peinliche Weise bedrängt. „Eh.“ Er drehte die Augen weg und nuschelte: „Ich bin nicht ihr Freund…“ „Und gestern noch groß getönt, huh?“ Vitali verzog den Mund. „So war das nicht -“ Eriks Augenbrauen hoben sich. „Du gehst immer davon aus, dass dich alle für ihren festen Freund halten.“ Vitali zog eine unschöne Grimasse. In einer unverkennbaren Anspielung entfernten sich Eriks Augen von ihm, so als brauche er zu diesem Thema nichts mehr zu sagen. „Das geht dich nen Dreck an…“, murrte Vitali halblaut. Es klang wie das trotzige Gerede eines kleinen Jungen. Derweil kam Ariane im Klassenzimmer an. „Morgen!“ Die Jungs grüßten zurück. Serena schwieg. Davon noch nicht beunruhigt, setzte sich Ariane. „Wie geht’s dir?“ Serena hatte ihr am Morgen eine Nachricht geschrieben, dass sie heute zur Schule gefahren wurde. So wie Ariane Serenas Mutter kennengelernt hatte, war es naheliegend, dass sie ihre kranke Tochter lieber selbst zur Schule fuhr als das Risiko einzugehen, dass Serena auf dem Schulweg zusammenbrach. Wobei sie es überraschend fand, dass Serenas Mutter sie überhaupt aus dem Haus gelassen hatte. „Gut.“, sagte Serena in einer Tonlage, die so ziemlich alles von ‚Was soll die Frage?‘ über ‚Lass mich einfach in Ruhe‘. bis zu ‚Ich bin sauer!‘ bedeuten konnte, aber sicher nicht ‚Gut‘. „Bist du sauer?“ Offensichtlich hatte Ariane sich für Interpretation Nummer Drei entschieden. „Nein.“ Deutsches Lexikon des serena-ischen Wortgebrauchs. ‚Nein‘ wird verwendet für ‚Ja‘, wenn in dem Nein eine über das Normalmaß hinausgehende Negation herauszuhören ist. Ariane war diese Definition weder geläufig noch hätte sie sie für verständlich gehalten. „Was ist denn los?“ „Nichts.“ Serenas Stimme hatte einen schrillen Ton angenommen wie der Schrei einer Harpyie. Ariane schreckte zurück und sah davon ab, ihr noch weitere Fragen zu stellen. Die Gefahr, von ihr attackiert zu werden, wirkte zu groß. Zu ihrem Glück kamen gerade Justin und Vivien ins Klassenzimmer. Bei Serenas Anblick begann Vivien zu strahlen und beugte sich über die Schulbank, um Serena in die Arme zu schließen. Augenblicklich riss sich Serena von ihr los, als sei sie eine giftige Schlange, die sie aus dem Paradies ihrer Einsamkeit vertreiben könnte. Die anderen fuhren von ihrer jähen Bewegung zusammen. Serena funkelte Vivien bedrohlich an, als würde sie beim nächsten Angriff ihre Krallen ausfahren. Für einen Moment stand Vivien still, dann wandte sie sich mit schwachem Lächeln an Justin und ging an ihren Platz, als wäre nichts gewesen. Justin folgte ihr mit einiger Bestürzung. Er sah nochmals zu Serena, deren Ausdruck nicht nur ihm Angst einjagte. Auch nach der Doppelstunde Wirtschaft wirkte Serena nicht umgänglicher und keiner der anderen wagte es, sie anzusprechen. Dafür schlug Vivien vor, hinaus an die frische Luft zu gehen. Die übrigen stimmten zu, Serena schwieg und widmete ihre Aufmerksamkeit etwas anderem. Während die anderen aufstanden und ihre Jacken anzogen, blieb sie sitzen. „Aufstehen“, forderte Vivien sie auf und war vor ihren Tisch getreten. Serena antwortete nicht. Stoisch starrte sie auf den vor ihr liegenden Block, auf die leeren weißen Karoblätter, in einem vergeblichen Versuch, ihren Geist genauso leer zu machen und diese ganze Farce für immer hinter sich zu lassen. Dann sah sie eine Hand in ihr Blickfeld eindringen, sich ungeniert ihres Mäppchens bemächtigen und sein Innerstes ausschlachten, um einen Stift als Trophäe der schändlichen Tat zu entwenden. Vor Wut über diese Dreistigkeit biss Serena die Zähne zusammen. Die Hand mit dem Stift bewegte sich über die leere Fläche der Karoblätter, besudelte sie mit schwarzen Buchstaben, die von Serenas Seite aus lesbar waren – und zerstörte damit auch noch Serenas letzten Zufluchtsort. Jacke anziehen Serenas Blick fuhr auf und schleuderte dem rothaarigen Mädchen ihren geballten Zorn entgegen. Doch Vivien begegnete dem bloß mit ihrem unerschütterlichen Lächeln, zuversichtlich wartend, als gäbe es für sie keine Realität, in der Serena nicht mit ihnen mitging. Erfolglos versuchte Serena ihrerseits, sie mit Blicken zu traktieren, bis sie schließlich das Haupt senken musste, um den weit grausameren Folterungen dieses Mädchens zu entgehen. „Serenaaaaaa…“, quengelte Vivien. „Lass mich in Ruhe!“, brauste Serena auf, ihre Stimme klang schrill und erbärmlich. Automatisch war sie mit dem Stuhl nach hinten gerückt. „Was ist mit dir los?“, mischte sich Justin ein. Auf seinen Zügen glaubte Serena einen abwertenden Unglauben zu erkennen. In einer Schutzhaltung zog Serena den Kopf ein, ihre Augen waren zu Schlitzen verengt. „Ist schon okay.“, meinte Vivien unbekümmert. „Serena hat mich trotzdem lieb.“ Serena hörte das Zersplittern von etwas in ihrem Inneren. Sie sprang von ihrem Sitz auf und schrie. „Lasst mich einfach in Ruhe!“ Die anderen starrten sie stumm an, als wäre sie eine Abart, ein krankes Phänomen. An ihnen vorbei stürzte Serena aus dem Klassenzimmer. Die anderen blieben zurück, von dem Geschehen überwältigt. „Habt ihr irgendwas zu ihr gesagt?“, drängte Erik zu wissen. Vitali schimpfte: „Du warst doch gestern mit ihr zusammen!“ Erik warf ihm nur einen strengen Blick zu. Justin wandte sich in ernstem Ton an Erik. „Was genau ist gestern vorgefallen?“ Eriks Augen wanderten zur Seite, er zögerte. „Serena ist fast ohnmächtig geworden.“ Entsetzen machte sich auf den Gesichtern der anderen breit. Empört rief Ariane: „Und das fandest du nicht wichtig genug, um es uns zu sagen?“ Erik war nicht zum Spaßen aufgelegt. „Wenn sie euch nicht selbst erzählt, was mit ihr los ist, kann ich es wohl schlecht tun!“ „Und was ist mit ihr los?“, wollte Justin wissen. Erik seufzte. „Sie fühlt sich verraten, wenn ihr euch mit Amanda einlasst.“ Vitali wurde laut. „Und deswegen rastet sie so aus? Hat die sie noch alle?!“ Erik verdrehte die Augen auf seinen Kommentar hin, als wäre es ihm zu blöd, mit einem Kleinkind wie ihm zu reden, dennoch antwortete er den anderen. „Ich weiß nicht, was zwischen ihr und Amanda vorgefallen ist, aber wenn ihr ihre Freunde seid, könntet ihr etwas einfühlsamer sein und euch nicht mit ihrer schlimmsten Feindin gut stellen. Besonders du,“, er heftete seinen Blick auf Vitali, „der schon durchdreht, wenn ich mit Serena rede. Was würdest du tun, wenn sie sich blendend mit jemandem verstehen würde, den du über alle Maßen hasst?“ Vitali verzog das Gesicht. „Aber es ist doch bloß eine Gruppenarbeit.“, wandte Ariane ein. „Deswegen lassen wir doch Serena nicht im Stich.“ „Ich sag auch nicht, dass es richtig ist, wie sie sich verhält.“, entgegnete Erik. „Aber?“, fragte Ariane. „Ihr solltet sie besser kennen als ich.“, erwiderte Erik verstimmt. Vitalis Stirn umwölkte sich. Seine Stimme wurde leise. „Sie hat schon mal wegen Amanda geweint.“ Erik brauste auf. „Das wusstest du und führst dich trotzdem so auf?!“ „Halts Maul…“, murrte Vitali beleidigt, offenbar begreifend, dass sein Verhalten nicht richtig gewesen war. „Und was sollen wir jetzt machen?“, fragte Ariane. „Wir können schlecht die Gruppenarbeit abbrechen.“ Vitali verschränkte unwillig die Arme vor der Brust. „Sie regt sich schon wieder ab.“ Ariane sah ihn fassungslos an. „Das glaubst du nicht wirklich, oder?“ Derweil war Vivien in Schweigen verfallen. Sie blickte leer auf Serenas Tisch und hing unschönen Gedanken nach. Zum ersten Mal gab es nichts, was sie für Serena hätte tun können. Jedes Mal, wenn sie sich Serena näherte, schien sie ihr damit noch mehr Leid zuzufügen. Bisher hatte sie Serena einfach durch ihre Hartnäckigkeit aus der Reserve locken oder sie sonstwie ablenken können. Doch nun war Serena völlig isoliert. Jede Annäherung schien für sie in einer brennenden Pein zu enden wie beim Berühren einer offenen Wunde. Plötzlich sah Vivien auf und hatte einen Entschluss gefasst. Sie rannte aus dem Klassenzimmer, ohne die anderen in ihre Pläne einzuweihen. Vivien wusste, wo sich Amanda und ihre Freundinnen normalerweise aufhielten. Da eine von ihnen Raucherin war, standen sie meist vor dem Haupteingang. Sie stürmte aus dem Schulgebäude und sichtete Amanda, die sich gerade mit ihren Freundinnen und einem Jungen unterhielt. Sie schenkte dem keine Beachtung, lief auf sie zu und sprach sie ohne Umschweife an. „Wieso hast du dich mit Serena verstritten?“ Amanda sah sie teils überrumpelt, teils skeptisch an. „Weil sie ein Miststück ist!“ Erst jetzt bemerkte Vivien Amandas Schwester Susanne, die an deren Stelle geantwortet hatte. „Warum?“, fragte Vivien. „Die ist voll der Teufel!“ „Warum?“ Susanne sprach in voller Inbrunst. „Die denkt sie wäre was Besseres!“ „Warum?“ Susanne fühlte sich wohl von Viviens Frage auf den Arm genommen, daher wandte Vivien sich wieder Amanda zu. „Was hat sie dir denn getan?“ Erst schien Amanda nicht antworten zu wollen und maß Vivien mit abschätzigem Blick, dann ergriff sie doch das Wort. Ihre Stimme war beherrscht und distanziert. „Sie stellt mich immer als die Böse hin und hetzt alle gegen mich auf. Ich hab diesen Streit nicht angefangen. Das war sie. Und ich lasse mir das nicht mehr bieten.“ „Was ist passiert?“, hakte Vivien nach Amandas Blick wurde kurz abwägend, als würde sie Vivien nicht trauen. Schließlich stieß sie ein langes hohes Seufzen aus. „Bei Serena war immer ich schuld.“ Vivien bemerkte, wie Amanda die Linke zur Faust ballte. „Sie war ständig eingeschnappt. Sobald ich ihr nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet habe, hat sie mir Vorwürfe gemacht. Ich kam mir vor wie in einem Gefängnis! Dauernd haben wir gestritten und dann kam sie mit irgendwelchen Briefchen mit lieben Worten und Entschuldigungen oder mit Geschenken an, aber an ihrem Verhalten hat sich überhaupt nichts geändert! Ich konnte und wollte dieses Drama nicht mehr! Ich hab ihr gesagt, wir können nicht mehr beste Freundinnen sein, sondern nur noch ganz normale. Ich habe daraus keine Feindschaft gemacht. Das war sie! Sie hat mich dauernd beleidigt! Ich habe mich nur gewehrt!“ Während des Sprechens war Amanda immer aufgewühlter geworden. Von der erhabenen Distanziertheit, die sie sonst zur Schau stellte, war nichts geblieben, und Vivien hatte zum ersten Mal den Eindruck, die Person zu sehen, mit der sich Serena damals angefreundet hatte. Es gab hier keinen Schuldigen. Nur zwei Menschen, die nicht miteinander umgehen konnten und alles auf sich bezogen. Zwei Verletzte. Vivien schenkte Amanda ein mitfühlendes Lächeln. „Sie wollte dir nicht wehtun. Sie dachte nur, du könntest sie retten.“ Bei den Worten fühlte Vivien Trauer in sich aufkommen. Sie wandte sich um, um zurück ins Schulhaus zu gehen. In ihrem Rücken hörte sie Susanne Amanda ansprechen und sich über Serena in hässlichen Worten aufregen. Vielleicht in einem Versuch, ihre jüngere Schwester davon zu überzeugen, dass Wut leichter war als Schmerz. Serena wusste nicht mehr wohin. Sie war ganz allein. Sie hielt das alles nicht mehr aus! Sie hatte in der Mädchentoilette ein Versteck suchen wollen. Der Versuch war aufgrund der vielen Mädchen dort gescheitert. Sie war den Gang im Untergeschoss entlang gelaufen, wo die Schulküche sich befand, deren Sinn ihr schleierhaft war. Hier war es dunkel, die Türen waren alle geschlossen. Kein Licht konnte durch irgendwelche Fenster hereindringen. Niemand war hier. Serena starrte die dunkle Wand vor sich an. Es war alles so leer, leer und sinnlos. Ihr ganzes Leben. Sie wusste nicht, wie sie jetzt wieder ins Klassenzimmer gehen sollte. Es war ihr auch egal. Ihre Gefühle bildeten ein solches Chaos, dass sie gar nicht mehr wusste, was sie spürte und was nicht. Sie spürte nichts und spürte alles. Sie war traurig, wütend und verzweifelt. Sie wollte jemanden schlagen, weinen, sich die Seele aus dem Leib schreien, um ihrem schrecklichen Gefängnis zu entgehen. Wie Monster waren die anderen Menschen um sie herum, Monster, die einen töteten, wenn man ihnen auch nur eine Sekunde den Rücken zukehrte. Aber sie war des Kämpfens müde. Und im Moment ihres Schlafes würde sie Schlimmeres erwarten als der Tod. Sie war so dumm. So unglaublich dumm. Sie wusste nicht mehr, was sie tun sollte, was sie glauben sollte. ‚Vertraue niemandem‘, klang es in ihrem Kopf. Das gleiche, was Erik ihr geraten hatte, dasselbe, was ihre Mutter ihr gesagt hatte, als sie einmal mehr einen nicht enden wollenden Heulkrampf wegen Amanda gehabt hatte. ‚Vertraue niemandem‘. Die Worte zerquetschten ihr Inneres. Sie konnte nicht mehr. Sie konnte nicht. Das war zu viel verlangt, viel zu viel. Wie betäubt war Serena wieder ins Klassenzimmer gewandelt, ohne den Blick vom Boden zu heben. Als sie ankam, waren Ariane, Vitali und Erik schon aus dem Raum zu ihrem Spanischkurs gegangen. Serena setzte sich, ohne Vivien und Justin anzusehen. Ihr Kopf war gesenkt und alles war nur noch eine Abfolge von stumpfen Sinneseindrücken. Vivien betrachtete ihr Verhalten mit tiefster Besorgnis. Sie wollte etwas zu ihr sagen, wollte sie in den Arm nehmen, wollte sie halten und ihr zu verstehen geben, dass sie sie niemals alleine lassen würde. Das Verlangen danach war übermächtig. Allein die Befürchtung, Serena damit noch mehr Leid zuzufügen, hielt sie zurück. Nichts lag ihr ferner, als sie noch mehr in die Enge zu treiben. Fieberhaft suchte sie nach einer Lösung und verpasste dadurch einen Teil des Französischunterrichts. Serenas eingefallene Körperhaltung erinnerte sie stets aufs Neue an die Sorgen, die auf ihrer Seele lasteten. Dann spürte Vivien die Wärme und den sanften Druck einer Hand und sah auf. Justin schenkte ihr ein tröstendes Lächeln. Viviens Mundwinkel hoben sich leicht. Obwohl er sonst bei jeder ihrer Berührungen zurückschreckte, hielt er sie immer dann fest, wenn sie es am nötigsten hatte. Egal was kam, ihr Vertrauen würde sie nicht verlassen. Damals im Schatthenreich hatten sie Serena schon einmal gerettet und sie würden es wieder tun! Als die anderen wieder ins Klassenzimmer kamen, machte Ariane den Ansatz, Serena anzusprechen, fürchtete jedoch, erneut ihren Zorn auf sich zu ziehen und schwieg. Als sie zur sechsten Stunde, Textverarbeitung, zum Computerraum gingen, stand Serena stumm da, keiner wagte, ein Wort an sie zu richten. Auch nach Unterrichtsende änderte sich dies nicht. Serena stand auf und verließ den Raum, ohne Tschüss zu sagen, zunächst hatte Ariane sie aufhalten wollen, sich dann aber erneut zurückgehalten. Stattdessen schloss sie sich den vier anderen an. „Was sollen wir bloß tun?“, fragte Ariane besorgt. Die anderen schwiegen. „Vielleicht… geht es ihr morgen besser.“, sagte Justin zögernd. Das klang, als würde man darauf warten, dass zwei verfeindete Staaten endlich Frieden schlossen. Ariane wandte sich an Justin. „Warum ist sie überhaupt auf Erik und dich wütend, wo ihr doch nichts mit Amanda zu tun habt?“ Das schien sich auch Erik schon gefragt zu haben. Er schwieg kurz. Mit gesenktem Blick sprach er. „Es ist einfacher.“ „Wie?“, hakte Ariane nach. „Sie kann nicht euch ignorieren und mich nicht. Und von Justin fühlt sie sich auch verraten.“ „Aber er hat doch gar nicht-“, setzte Ariane an. „Das ist egal. Ihr versteht das Prinzip nicht. Es geht nicht um Gerechtigkeit, es geht um ihren Schutz.“ Ariane sah Erik in ehrlicher Ahnungslosigkeit an. „Wenn ihr Serena zu nahe kommt, dann gefährdet ihr sie.“ „Woher willst du das –“Ariane unterbrach sich, Eriks Blick mahnte sie, ihre Frage fallen zu lassen. „Aber…“ Eriks Augen hefteten sich wieder auf den Boden. „Sie möchte euch vertrauen.“ Sein Kiefer verhärtete sich, etwas wie Widerwille nahm seine Züge ein. „Das ist ihr Problem.“ „Was ist daran ein Problem?“, wollte Ariane wissen. Eriks Blick wurde finster. „Wenn sie das nicht täte, würde sie sich selbst nicht mit dieser dummen Hoffnung quälen.“ Seine Worte waren hart, und bitter wie Galle. Ariane war über seine Sichtweise schockiert, doch die Härte in Eriks Gesicht machte ihr deutlich, dass er Widerspruch nicht dulden würde. Vivien schien anderer Meinung zu sein. „Solange man hofft, hat man noch nicht aufgegeben.“ Sie schenkte Erik ein Lächeln. Erik sah sie an. Vivien, die stets lächelte und nichts von dem Schmerz zu verstehen schien, den Menschen einem antun konnten. Er wandte sich ab. „Wer vertraut, kann verraten werden. Wer nicht vertraut -“ „- verrät sich selbst.“, beendete Vivien den Satz, ehe er es auf seine Weise tun konnte. „Wenn man zu sich selbst unehrlich ist und seine eigenen Wünsche unterdrückt, dann verletzt man sich selbst. Jeden Tag aufs Neue.“ Ihr Blick war fest und überzeugt. „Jeder hat Angst zu vertrauen, aber … nichts ist schlimmer als sich selbst nicht zu vertrauen. Denn wenn man sich selbst nicht vertraut,“ Ihre Augen bekamen etwas Leidvolles. „…ist man einsam.“ In Viviens Worten lag etwas, das Erik kurz glauben lassen wollte, dass es Glück bedeutete, diesen dummen Hoffnungen Platz zu geben. Platz in dem von Zweifeln und Selbstverstümmelung entstellten Herzen. Dann kam er wieder zur Vernunft. Es gab kein Vertrauen. Umso mehr man es sich wünschte, umso dringender war es, dagegen anzukämpfen, gegen diesen romantischen Unsinn. ‚Freunde sind da für gute Zeiten, nicht wenn es einem schlecht geht.‘ Sein Herz krampfte sich noch mehr zusammen. Längst war er an diesen Schmerz gewöhnt, bei dem er sich zumindest nicht dumm und naiv vorkam. Serena war schwach, weil sie sich nichts sehnlicher wünschte, als zu lieben und geliebt zu werden. Er würde nie den gleichen Fehler begehen. Serena kam zu Hause an und verzog sich in ihr Zimmer. Sie fühlte sich erbärmlich, hilflos und schwach. Sie sank auf ihre Knie und verabscheute sich selbst. Sie wollte nicht gemein zu den anderen sein!!! Sie – Sie vergrub ihr Gesicht in ihrer Bettdecke. Sie wollte nicht sie selbst sein. Sie wollte gar niemand mehr sein, aber vor allem nicht sie selbst! Sie war schrecklich und feige und dumm. Sie hielt das alles nicht mehr aus! Sie wünschte, die anderen würden sie hassen, das würde alles so viel einfacher machen. Dann würde ihr Herz zu Stein werden und sie würde dem Wahnsinn verfallen und wäre für immer von diesem Irrsinn verschont. Wenn doch nur alles schlecht wäre und diese entsetzliche Hoffnung sie nicht weiter quälen würde. Ihre schweren Gedanken drückten so sehr auf ihren Kopf, dass sie einfach nur noch die Augen schloss, um ihnen für einige Sekunden zu entkommen, während der Schmerz in ihrem Herzen sie nie loslassen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)