Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 89: Warnung und Secrets Rolle ------------------------------------- Warnung und Secrets Rolle „Wer weiß, welche Rolle er im Leben anderer spielt, braucht ihnen nichts mehr vorzuspielen.“ (Ernst Ferstl, österr. Schriftsteller)   Als Justin am nächsten Morgen erwachte, fand er auf dem Nachttischchen neben sich einen Briefumschlag vor, der den Abend zuvor nicht dagelegen hatte. Er sah sich suchend im Zimmer um, aber ansonsten gab es keine Besonderheiten. Seine Mutter oder sein Vater mussten wohl hereingekommen sein, als er noch fest geschlafen hatte, und ihm den Brief hingelegt haben. Das war zwar ungewöhnlich, aber die sinnvollste Erklärung, die er dafür fand. Als er sich den Umschlag näher besah, erkannte er, dass kein Adressat vorhanden war, ebenso wenig ein Absender. Vielleicht hatten seine Eltern ihm irgendetwas hineingelegt. Er holte die zusammengefalteten Blätter heraus und schlug sie auf. Der Brief war mit Computer geschrieben. Bereits nach der ersten Zeile geriet Justin ins Stocken.   „Was?“, schrie Destiny, nachdem Trust ihnen den Inhalt des Briefs vorgelesen hatte. Auch die anderen schauten verstört. Der Brief war an die Auserwählten gerichtet gewesen und hatte Informationen darüber enthalten, dass der Schatthenmeister in der Nacht vom 31. Oktober ganz Entschaithal einschläfern und einhundert Allpträume auf die Stadt loslassen würde. Das war morgen Nacht! Darüber hinaus hatte es geheißen, dass der Schlafzauber einen Ausnahmezustand bedeutete. Durch ihn legte sich eine künstliche Ebene über die Realität, die die anderen Menschen in Schlaf versetzte. Und diese Ebene würde die Allpträume sichtbar machen. „Das ist doch gut!“, rief Change, „Dann können wir sie einfach abknallen.“ Desire war weniger zuversichtlich. „So einfach wird das wohl nicht. Sie können schließlich weiterhin in die Seelenwelt der Schlafenden eindringen.“ Change sah das locker. „Es sind doch bloß hundert Allpträume. Also muss jeder von uns zwanzig abschießen und schon sind wir fertig!“ Destiny warf ihm einen fassungslosen Blick zu. Sie wandte sich an die anderen. „Woher stammt dieser Brief überhaupt? Wer sollte diese Informationen haben und vor allem: Wer würde sie uns zukommen lassen?“ Desire überlegte laut: „Vielleicht der gleiche, der mit Ewigkeit gesprochen hat.“ „Ein Spion beim Schatthenmeister!“, mutmaßte Unite begeistert. Trust blieb skeptisch. „Aber wieso hat er dieses Mal direkt uns angeschrieben, anstatt über Ewigkeit mit uns zu kommunizieren?“ Desire wandte ein: „Ewigkeit hatte doch gestern diesen Zusammenbruch, vielleicht konnte er daher nicht mit ihr reden.“ Sie richtete das Wort an ihr Helferlein, das schlaftrunken auf dem Tisch vor ihnen saß. „Wie hat die Stimme überhaupt mit dir gesprochen?“ Ewigkeit schaute kurz nachdenklich. „Ich weiß nicht.“ Sie zuckte mit den Schultern und rieb sich dann die Augen, in einem vergeblichen Versuch, die Müdigkeit daraus zu vertreiben. Destiny fuhr sich über die Stirn. „Das ist totaler Irrsinn! Wir sind darauf nicht vorbereitet!“ „Wenn der Schlafzauber aktiv ist, dann werden die Leute nicht aus ihren Albträumen erwachen können.“, gab Desire zu bedenken. „Wer weiß, was dann passiert.“ Allein die Vorstellung bereitete ihr Unbehagen. „Und wenn derjenige uns nur wieder zur Baustelle locken will?“, versuchte Destiny, die Gefahr abzuwiegeln. „Es ist doch schon komisch, dass genau dort die Allpträume auftauchen sollen!“ „Wenn bei der Baustelle ein Zugang zum Schatthenreich ist, dann ist das nur logisch.“, erwiderte Desire. Widerwillig musste Destiny ihr Recht geben. „Ich weiß gar nicht, was ihr habt. So ist es doch viel besser! Wenn wir die Dinger sehen können!“, meinte Change nochmals. „Change hat Recht.“, stimmte Unite zu. „Aber hundert Allpträume auf einmal?“, wandte Desire ein. „Wir werden sie nicht alle ausschalten können. Und wie sollen wir es schaffen, so viele aus den Seelenwelten der Schlafenden zu entfernen?“ Trusts Augenbrauen zogen sich nachdenklich zusammen. „Vielleicht können wir den Schlafzauber irgendwie aufhalten.“, Unite hatte Einwände. „Der Schlafzauber macht die Allpträume sichtbar. Das ist für uns von Vorteil.“ „Meine Rede.“, pflichtete Change ihr bei. „Aber für die Schlafenden ist es gefährlich.“, beharrte Desire. Unite streckte die Hand nach dem Brief aus. „Kann ich mal?“ Trust reichte ihn ihr. Unites Augen flogen über die Zeilen, bis sie die gewünschte Stelle gefunden hatte. „Wenn der Schlafzauber eine zweite Ebene schafft und die vom Schatthenmeister stammt, ist sie dann so eine Art Teil der Seelenwelt des Schatthenmeisters?“ Die anderen sahen sie nur verwirrt an. Woher hätten sie auch eine Antwort wissen sollen? „Ich meine, glaubt ihr, man könnte mit Destinys Kräften in den Schlafzauber hineingehen?“ „Hä? Wir stehen doch sowieso da drin, wenn sich der Schlafzauber über Entschaithal legt.“, erwiderte Change. „Nicht ganz, dann stehen wir innerhalb von zwei Ebenen gleichzeitig.“, entgegnete Unite. „Aber vielleicht können wir auch in die Schlafzauber-Ebene direkt gehen.“ „Und was bringt das?“, wollte Change wissen. Unite erläuterte. „Wenn Destinys Kräfte innerhalb der Ebene des Schlafzaubers funktionieren, dann könnte sie die Ebene vielleicht paralysieren, irgendwie undurchlässig machen! Sodass die Allpträume nicht hinauskönnen und daher nicht in die Seelenwelt der Schlafenden übertreten können!“ Sie strahlte. Die anderen waren teils baff, teils skeptisch. „Wie genau soll das funktionieren?“, hakte Trust nach.  Unite führte ihre Gedanken weiter aus. „Normalerweise haben die Allpträume ja keine Körper, deshalb können sie auch in die Seelenwelt, richtig?“ Die anderen widersprachen nicht. „Durch den Schlafzauber ändert sich das, weil er wohl selbst eine Art Seelenwelt ist.“, fuhr Unite fort. „Aber irgendwie scheinen die Allpträume wohl aus der Schlafzauberebene raus zu können, um dann in die Seelenwelt der Schlafenden einzudringen.“ Sie untermalte ihre Worte mit Bewegungen ihrer Hände. „Wenn sie die Schlafzauber-Ebene aber nicht verlassen können, dann würde doch ihr Körper einfach nur gegen die Schlafenden stoßen, weil sie nicht mehr in ihre Seelenwelt überwechseln könnten, oder?“ Trust zog ein grüblerisches Gesicht und antwortete nicht. Desire schlussfolgerte: „Dann müssten wir nur noch die hundert Allpträume unschädlich machen.“ „Wartet mal!“, rief Destiny. „Auch wenn das funktionieren sollte, wie soll ich bitteschön in eine Schlafzauber-Ebene eindringen? Ich war bisher nur in Menschen und nicht in unabhängigen Zauber-Ebenen!“ „Aber das ist doch viel besser!“, meinte Unite. „Wenn der Schlafzauber unabhängig ist, dann wirst du nicht von Erinnerungen behelligt!“ Destiny wirkte wenig überzeugt. Unsicherheit umwölkte ihre Stirn. „Und wenn es nicht klappt?“ Change verkündete: „Dann schießen wir die Dinger halt ab, bevor sie in die Schlafenden gehen!“ Noch immer war Trust in Gedanken versunken. Die Idee, direkt in den Schlafzauber zu gehen, mochte gut sein, aber auch allzu riskant. Wenn sie in die Seelenwelt gingen, befanden sie sich in einer Art Trance. Das hieß, sie waren in dieser Zeit genauso wehrlos wie die Schlafenden und somit den Allpträumen ausgeliefert. Außerdem bestand die Gefahr, dass dieses Manöver erfolglos blieb. In dem Fall wären die Allpträume schon in den Seelenwelten der Schlafenden verschwunden, bevor sie etwas dagegen tun konnten. Er stieß resignierend die Luft aus und stellte mit einigem Missfallen fest: „Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als uns dieses Mal aufzuteilen.“ Und es blieb nur noch ein Tag Zeit… Change klopfte ihm kumpelhaft auf den Rücken. „Wird schon.“ Dann stockte er. „Äh Leute.“, setzte Change an und sah zu den anderen. „Wenn wir gegen den Schlafzauber immun sind, was ist dann mit unserem Muskelprotz?“   „Das ist euer Notfall?“ Eriks Gesichtsausdruck sprach Bände. Er und die fünf saßen im Esszimmer des Hauses Funke um den Esstisch herum. Vivien hatte ihn zu Serena nach Hause zitiert, mit dem Vermerk, dass es sehr dringend sei. „Ist euch das mit dem Angriff einfach so eingefallen?“, fragte er reichlich sarkastisch. „Wir haben einen Brief mit Informationen erhalten.“, antwortete Vivien, als hätte sie keinen Grund, an der Ernsthaftigkeit seiner Frage zu zweifeln. „Von wem?“ Vivien lächelte. „Wissen wir nicht.“ „Sehr vertrauenswürdig.“, spottete Erik. „Und wie genau wollt ihr etwas unternehmen, wenn die ganze Stadt eingeschläfert wird, also auch ihr?“ „Bei uns wirkt der Schlafzauber nicht.“, informierte Ariane ihn. „Logisch.“, sagte Erik abgestumpft. „Ihr wollt also nachts durch die Stadt laufen und so tun, als würdet ihr Allpträume jagen.“, schlussfolgerte er. „Praktisch, dass es an Halloween ist, da werdet ihr in euren Kostümen wenigstens nicht auffallen.“ Vitali wandte sich an Ariane. „Wirke ich auch so blöd, wenn ich sarkastisch bin?“ Ariane musste leise lachen. Erik schien das nicht lustig zu finden. Er zog die Augenbrauen zusammen und drehte sich zu Justin. „Was ist mit Secret? Wirkt der Schlafzauber bei ihm?“ „Er wirkt nicht bei Beschützern.“, antwortete Justin. „Aber ihr wisst nicht mit hundertprozentiger Sicherheit, ob Secret ein Beschützer ist.“, wandte Erik ein. „Ihr habt ihn erst im Schatthenreich getroffen, also könnte er auch etwas anderes sein.“ „Er ist ein Beschützer!“, begehrte Ariane auf. Erik sah sie von oben herab an, dann wandte er sich an Vivien. „Wer entscheidet über unsere Rollen?“ Vivien war gut gelaunt. „Du bist Secret, also entscheidest du.“ Ariane schaute empört. „Er kann nicht einfach entscheiden, dass Secret kein Beschützer ist!“ Vivien lächelte unbekümmert. „Wer sonst?“ Ariane zog ein unwilliges Gesicht. „Ist dir Secret so wichtig?“, provozierte Erik sie. „Secret schon.“, gab Ariane mit einem entschiedenen Blick zurück. Eriks Selbstgefälligkeit konnte das nichts anhaben. „Ich bin Secret.“ Ariane starrte ihn an, als wolle sie ihm am liebsten widersprechen. Ein höhnisches Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Aber wenn du unbedingt willst, dass ich bei der Aktion dabei bin, anstatt dem Schlafzauber zu verfallen, werde ich mir natürlich alle Mühe geben, nicht einzuschlafen.“ Vivien mischte sich ein. „Mir ist mittlerweile auch eingefallen, was das Gegenteil von Angst ist.“, verkündete sie. Die anderen schienen dem mehr Beachtung zu schenken als Erik. Vivien sah in die Runde. „Vertrauen!“ Bei dem Wort zuckte Justin zusammen. Vivien erklärte: „Wenn man vertraut, hat man keine Angst mehr!“ Ihre Worte ließen Vitalis Augen kurz zu Serena zucken. Eriks Augenbrauen zogen sich argwöhnisch zusammen. „Wer vertraut, kann enttäuscht werden.“ Vivien grinste. „Misstrauen ist Angst, enttäuscht zu werden.“ Erik war mit dieser Aussage offenkundig unzufrieden. Dann wandte er seinen Blick Justin zu. „Dein Name ist Vertrauen.“ Justin wirkte zunächst getroffen, dann senkte er sein Haupt. „Das hat nichts damit zu tun.“ Es war ihm unangenehm, ausgerechnet von Erik auf seinen Beschützernamen angesprochen zu werden. Er kam sich dabei so verlogen vor. Am Anfang war er noch davon ausgegangen, der Grund, sich mit Erik zu treffen, sei das Problem der Immunität gegen den Schlafzauber. Doch mittlerweile hatte er seine Meinung geändert. Dieses Treffen war ihrem schlechten Gewissen geschuldet. Die Immunität Eriks war weniger ein Problem als ein Schutz, schließlich würde er den Allpträumen dadurch nicht hilflos ausgeliefert sein. Er würde immer noch aufwachen können. Ihn jedoch in dieser Unsicherheit zwischen Wahrheit und Fiktion zu belassen, erschien Justin immer grotesker. Sie entfernten sich immer weiter davon, Erik in ihr Geheimnis einweihen zu können. Nicht dass das etwas an der momentanen Bedrohung geändert hätte. Selbst wenn sie Erik jetzt alles offenbarten, würde ihn das nur in noch größere Gefahr bringen. Gesetzt den Fall, er würde ihnen überhaupt glauben. Die Entwicklung seiner Kräfte brauchte Zeit, die sie nicht hatten. Angesichts seiner widerstreitenden Empfindungen fühlte sich Justin nicht länger wie Vertrauen, sondern vielmehr wie Misstrauen, Misstrauen seinen eigenen Entscheidungen gegenüber. Er hörte Vivien weitersprechen. „Manchmal fällt es anderen leichter, die Bedeutung unserer Namen zu erkennen.“ Er horchte auf. Ihre Worte klangen, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Sie wandte sich leicht in seine Richtung und lächelte auf eine Weise, die es ihm unmöglich machte, nicht zu erkennen, dass sie ihn meinte. „Manchmal sind unsere Namen auch das, was wir in anderen bewirken.“ Unwillkürlich erinnerte er sich daran, wie sie sich am Tag zuvor an ihn gedrückt hatte, nachdem sie aus seiner Seelenwelt entkommen waren. Er wurde rot. Obwohl er sonst stets bemüht war, seine Gefühle kleinzuhalten, konnte er ihr Zutrauen nur als beglückend empfinden. „Was ihr in anderen bewirkt.“, wiederholte Erik und drehte sich mit unverhohlener Belustigung zu Ariane alias Desire. „Ich heiße Wunsch! Nicht Verlangen!“, schimpfte Ariane empört. Erik grinste anzüglich. „Wunsch nach was?“ Ariane warf ihm einen schmaläugigen Blick zu, der Erik dazu reizte zu lachen. Er begnügte sich jedoch damit, sich mit einem überbreiten Grinsen abzuwenden und sich die Hand vor den Mund zu halten. Serena schüttelte nur den Kopf darüber.   Um Erik nicht das Gefühl zu geben, dass sie ihn ausschlossen, hatten die fünf vereinbart, dass sich Ariane unter dem Vorwand, sie werde zu Hause erwartet, nach dem Gespräch verabschieden sollte. Irgendwie waren alle außer ihr davon überzeugt gewesen, dass dies Erik dazu veranlassen würde, ebenfalls zu gehen, selbst wenn die anderen vorgaben, noch länger bei Serena zu verweilen. Geplant war, dass, sobald Ariane Vivien auf dem Handy anklingelte, Vitali sie per Teleport bei ihr zu Hause abholen sollte. Anschließend würden die fünf sich von Serenas Zuhause aus in ihr Hauptquartier beamen, wo Ewigkeit auf ihre Rückkehr wartete – falls sie aufgrund ihres Schlafmangels nicht eingenickt war.  Dies sollte vor allem eine Übung für Change sein, dessen Teleportation im nahenden Kampf sicher mehr als einmal gebraucht werden würde. Zu Arianes Überraschung schloss sich Erik ihr tatsächlich an, als sie sich von den anderen verabschiedete. Seite an Seite machten sie sich auf den Heimweg. Den ersten Teil der Strecke war Ariane allerdings nicht nach einem Gespräch zumute. Auch wenn Erik das alles wie ein Witz erschien, war sie sich der drohenden Gefahr allzu bewusst. Auch der Gefahr, die Erik drohte. Justins Blick während des Treffens war ihr im Gedächtnis geblieben, er war sehr nachdenklich gewesen und sie glaubte fast zu wissen, wieso. Sie hatte sich schon öfter mit Justin darüber unterhalten, ob es nicht falsch war, Erik weiterhin anzulügen. Obwohl Justin stets das Wohl der Gruppe über das des einzelnen stellte, glaubte sie, einen immer größeren Zweifel an dieser Entscheidung bei ihm zu erkennen. Vivien schien die einzige zu sein, die von ihrer momentanen Taktik überzeugt war. Und Vitali und Serena taten wie üblich einfach das, was Vivien sagte. Aber hieß das nicht, dass es an der Zeit war, die Taktik zu ändern? Sie konnte es nicht ein zweites Mal zulassen, dass ihm etwas zustieß! „Darf ich dich etwas fragen?“, hob sie an, wartete aber gar nicht erst seine Antwort ab. „Fändest du es nicht besser, wenn wir Secret die Wahrheit sagen würden?“ Erik empfand es offenbar nicht einmal als nötig, ihrem Blick zu begegnen. Er lief einfach weiter. „Das wäre doch langweilig.“ Ariane war von seiner Interesselosigkeit oder Langeweile oder seinem Spott, sie konnte nicht genau ausmachen, was es sein sollte, geplättet. „Ich meine es ernst! Wenn du Secret wärst, würdest du dann nicht wollen, dass man dir die Wahrheit sagt?“ Erik blieb nun doch abrupt stehen und wandte sich ihr zu. Sein Gesichtsausdruck wurde hart. „Ob du mir die Wahrheit sagen sollst?“ Noch vor kurzem hätte dieser lauernde Blick sie aus der Fassung gebracht. Doch stattdessen hielt sie ihm stand. „Ja.“ „Warum hast du bisher nicht die Wahrheit gesagt?“, erwiderte er mit erbarmungsloser Miene. „Weil… – Wir wussten nicht, ob es sicher ist.“, gestand Ariane kleinlaut. „Hat sich daran etwas geändert?“ „Nein, aber…!“ „Bring dich nicht selbst in Gefahr.“ Damit schien das Thema für ihn erledigt zu sein. Er setzte sich wieder in Bewegung. Ariane konnte es nicht fassen. Sie eilte ihm nach und lief an seine Seite. „Secret ist keine Gefahr!“, schimpfte sie. „Das weißt du nicht.“ „Wie kannst du so was sagen?!“ „Wie kannst du deine Freunde in Gefahr bringen?“, gab Erik barsch zurück. „Du bist also dafür, dass wir Secret belügen?“ Erik blieb erneut stehen und sah sie bedeutungsvoll an. „Dafür habt ihr doch das Rollenspiel erfunden, oder?“ Seine Worte klangen tadelnd, geradezu wütend, als fände er es lästig, dass sie die ihr zugedachte Rolle immer noch nicht begriffen hatte. „Dadurch sagt ihr Secret die Wahrheit, ohne dass er es weiß.“ Mit fassungslosem Ausdruck starrte Ariane ihn an. Zum ersten Mal verstand sie, welche Bedeutung Viviens Schachzug tatsächlich besaß. Die ganze Zeit über hatte sie geglaubt, dass die Geschichte mit dem Rollenspiel nur ein Ablenkungsmanöver war, um die seltsamen Zufälle um Erik herum zu erklären. Nie war ihr in den Sinn gekommen, dass Vivien Erik damit die Möglichkeit gab, selbst auf die Wahrheit zu kommen. Mehr noch: Vivien bereitete ihn dadurch langsam auf die Wahrheit vor, indem sie ihm eine Erklärung gab, ihn aber nicht zwang, diese sofort zu akzeptieren. Im Gegensatz dazu hatte sie selbst immer nur darauf gepocht, Erik aufzuklären, ohne darüber nachzudenken, wie unmöglich ihm diese Geschichte erscheinen musste. Vivien hatte so viel mehr Rücksicht auf Eriks Gefühle genommen… Eriks Stimme brach in ihren Gedankengang ein. Seine Tonlage war tiefer als sonst. Ob dies seinen Worten mehr Genervtheit oder distanzierte Belanglosigkeit verlieh, war ihr unmöglich zu entscheiden. „Bedeutet dir Secret so viel?“ Sie wich seinem Blick aus. „Du magst das nicht verstehen, aber wenn man so etwas mit jemandem durchgemacht hat, dann hat man eine Verbindung.“, erklärte sie. Die all die Zeit in ihr schlummernden, aber nicht vergehen wollenden Schuldgefühle erhoben sich aus ihrem Inneren wie eine Meute Leviathane. „Ich hätte ihn nie dort zurücklassen dürfen…“ Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Einen Moment herrschte Schweigen. Dann ergriff Erik abermals das Wort. „Dir sollten Figuren aus einem Rollenspiel nicht wichtiger sein als die Menschen vor deiner Nase.“ Abgrundtiefe Verachtung sprach aus seiner Stimme. Ariane verspürte den Impuls ihn für diese Worte anzuschreien, doch beim Anblick seines Gesichts erstarrte sie. Der intensive, feste Blick. Die grünblauen Augen. Wie er den Mund leicht verächtlich verzog, seine Konturen, die Stimme. Alles. Der Secret, von dem sie sprach und an den sie dachte, stand in Fleisch und Blut direkt vor ihr. Fast hätte eine Welle an Emotionen sie überrollt. Sie wollte ihm sagen, dass es ihr leid tat. Dass sie ihn nicht hätte zurücklassen dürfen. Sie wollte ihm alles sagen! Aber das war nicht Secret. Das Ganze war so verwirrend! Es war falsch zu denken, dass er es nicht war, und falsch zu denken, dass er es war. Wo sollte sie bloß mit ihren Schuldgefühlen hin? Sie wollte Secret vor Erik verteidigen und doch war das absurd. „Mich hast du noch nie im Stich gelassen.“ Ariane horchte auf und sah in Eriks – Secrets Züge. Der Stich des schlechten Gewissens peinigte sie. Welche abartige Ironie doch in diesen Worten lag und er wusste es nicht einmal. Ein melancholisches Mitleid mit seiner unwissenden Fehleinschätzung gemischt mit dem bitteren Geschmack ihrer anhaltenden Reue ließ ihre Züge einfallen. Ohne Vorwarnung packte Erik sie plötzlich an der linken Schulter, dass sie es selbst durch ihre Winterjacke noch spürte, und sah sie durchdringend an. Ariane wäre fast zusammengeschrocken. Wäre er jemand anderes gewesen, hätte sie ihm einen automatisierten Schlag ins Gesicht verpasst, wie sie es in Selbstverteidigung gelernt hatte. Stattdessen blieb sie regungslos stehen und fing seinen Blick auf, um zu verstehen, was hier vorging. Wortlos und unverwandt starrte er ihr direkt in die Augen, anstatt den Blickkontakt immer wieder kurz abzubrechen, wie es Anstand und Respekt geboten. Dieser intensive Augenkontakt hatte etwas Verstörendes. So lange sah man jemanden nur an, wenn man sehr wütend auf diese Person war oder ihr sehr nahe stand. „Ich bin Secret!“, sagte er nachdrücklich. „Merk dir das.“ Seine Hand ließ von ihr ab. „Und komm nicht auf die Idee, für mich zu entscheiden.“ Er nahm wieder einen größeren Abstand zu ihr ein. Wie angewurzelt stand Ariane da und musste seine Aussage erst einordnen. Sie zog die Parallele zu dem, was er zuvor bei Serena zu Hause gesagt hatte. Erik bestand darauf, selbst zu bestimmen, wer oder was er war. Er wollte sich nicht in eine Rolle drängen lassen und gesagt bekommen, wie er zu empfinden hatte. War er ihr darin nicht furchtbar ähnlich? Und ausgerechnet sie hatte immer so getan, als wisse sie besser über Secrets Gefühle Bescheid als er! ‚Hör auf, dich zu entschuldigen.‘ Genau das hatte Secret ihr im Labyrinth gesagt, als sie ihn mit einer Tirade an Entschuldigungen belästigt hatte. Sie hatte es nicht vergessen, auch nicht, als wie verletzend sie seinen Kommentar empfunden hatte. Trotzdem hatte sie nicht davon abgelassen, ihn unbedingt um Verzeihung bitten zu wollen. Nicht nur das. Sie hatte sich auch noch eingebildet, Erik, der sich nicht mehr an die Geschehnisse im Schatthenreich erinnerte, sei derjenige, der die Situation falsch einschätzte, derjenige, der Secrets Gefühle nicht richtig beurteilen konnte, als wisse sie ganz genau, was er fühlen und denken musste. Derweil hatte sich Erik zum Gehen gewandt, als sei die Diskussion für ihn beendet. „Es ist grotesk, dass wir nur befreundet sind, weil ich Secret bin.“, sagte er hart. „Das ist –“, entfuhr es ihr. Sie unterbrach sich. Sie konnte nicht behaupten, dass das überhaupt nicht stimmte. Tatsächlich hätten sie sich wohl nicht miteinander angefreundet, wäre dieser Umstand nicht gewesen. „Auch wenn du nicht Secret wärst“, begann sie, beendete den Satz aber nicht. „Was?“ Ariane schaute säuerlich. „Gar nichts.“ Sie brauchte sich nicht die Blöße geben, ihm zu sagen, dass er ihr auf seine Weise näher stand als Secret. Erik stöhnte entnervt, als führe sie sich kindisch auf. Davon abermals verärgert schimpfte sie: „Erst beschwerst du dich, dass ich dich nicht als Secret sehe, dann dass ich dich nur als Secret sehe!“ „Ich beschwere mich überhaupt nicht.“, gab er barsch zurück. „Tust du wohl!“ „Und du jammerst die ganze Zeit, wie sehr du Secret vermisst!“, fuhr er sie an. „Ich vermisse ihn nicht. Ich –“ Sie hielt inne. Wie sollte sie ihm denn bitteschön erklären, dass es für sie schwer war, einen Menschen mit zwei verschiedenen Persönlichkeiten zu kennen und nicht zu wissen, wie sie damit umgehen sollte? Sie konnte den Secret, den sie kennengelernt hatte, doch nicht einfach verdrängen. Aber Erik war für sie – Er hatte für sie eine andere Bedeutung als Secret. Secret hätte sie nur gerne noch einmal gesehen, um ihm zu sagen, dass ihr alles leid tat und dass sie ihn nicht hatte zurücklassen wollen. Das war alles. Wenn sie gewusst hätte, dass es ihm gut ging, das hätte ihr gereicht. Bei Erik war das anders. Er war jemand, den sie nicht einfach aus ihrem Leben gehen lassen wollte. Schließlich sagte sie kleinlaut: „Ich weiß manchmal nur nicht, wie ich mit dir umgehen soll.“ „Weil ich nicht wie er bin?“, fragte Erik abweisend. „Nein.“ Sie pausierte. „Doch. Ich weiß nicht. Es ist –“ Erik unterbrach sie. „Weil ich kein Beschützer bin.“ Ariane rief laut: „Du bist –“ Sie konnte den Satz nicht beenden. Er sah sie mit diesem bohrenden Blick an, der ihr zu verbieten schien, die Worte auszusprechen. Sie verstand das nicht. Er selbst hatte doch eben noch behauptet, Secret zu sein. „Gehen wir.“, befahl er und setzte sich in Bewegung. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)