Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 108: Der verlorene Sohn ------------------------------- Der verlorene Sohn   „Nicht die Liebe macht abhängig, sondern der Wunsch, geliebt zu werden.“ (Gerhard Uhlenbruck)   Am Dienstagmorgen waren die fünf so müde, dass die Idee eines weiteren nächtlichen Trainings sofort verworfen wurde. Glücklicherweise wirkte Erik ganz normal. Fast als wäre das Erscheinen Secrets ein einmaliges Ereignis gewesen. Die Drohung des Schatthenmeisters, dass der Bedroher wieder auftauchen würde, ließ ihnen dennoch keine Ruhe. Ewigkeit hatte die Nacht in Eriks Nähe verbracht, für den Fall, dass der Schatthenmeister dort auftauchen oder Erik des Nachts seltsames Verhalten zeigen sollte. Allerdings wussten sie nicht, ob das etwas brachte. Nach ihrer Siegesfeier, am Tag vor Finsters Geburstagparty, hatten sie eigentlich Ewigkeit mit Erik nach Hause schicken wollen. Doch die Kleine hatte so unglücklich darüber gewirkt, die Zeit mit jemandem verbringen zu müssen, der sie nicht sehen konnte, dass sie schließlich davon abgesehen hatten. Wenn Ewigkeit bei ihm Wache gehalten hätte, hätte seine Verwandlung dann verhindert werden können? Solche Fragen brachten sie nicht weiter. Die Woche schritt voran und allmählich wurde die Furcht vor einem erneuten Angriff zu einem bloßen Hintergrundrauschen.   Mittwoch. In Spanisch, das im Zimmer der Parallelklasse stattfand, saß Ariane vor Vitali und Erik in der ersten Reihe der Fensterseite. Bis zum Unterrichtsbeginn blieben noch ein paar Minuten und Ariane entschied, das Hungerloch in ihrem Magen nicht länger zu ignorieren. Da sie in Eile das Haus verlassen hatte – der Schlafentzug der Nacht zuvor, hatte offenbar nachgewirkt – hatte sie heute Morgen nach dem Erstbesten gegriffen, das sie zu fassen bekommen hatte. Sie kramte die Packung hervor. Der Platz rechts neben ihr war unbesetzt. Die ersten paar Male hatte zwar ein Mädchen aus der Parallelklasse neben ihr gesessen, aber seit das Gerücht umgegangen war, dass Ariane ihrer Freundin den Freund ausspannte, wurde sie von sämtlichen Schulkameradinnen gemieden. Auch die Offenbarung, dass zu keiner Zeit eine Beziehung zwischen Serena und Erik bestanden hatte, hatte daran nichts geändert. Da das Licht der Herbstsonne gerade genau auf ihren Tisch fiel und sie leicht blendete, entschied Ariane aufzustehen und sich kurzerhand auf den Tisch zu setzen. Zu Vitali und Erik gewandt, öffnete sie die Verpackung und knabberte schließlich an einem zusammengepressten Taler aus gepufftem Reis. Vitali starrte sie an. „Warum isst du Styropor?“ Ariane lachte. „Das sind Reiswaffeln.“ „Ah.“ Vitali nickte verstehend. „Ich hab mich schon immer gefragt, aus was Styropor hergestellt wird.“ Ariane schüttelte amüsiert den Kopf. „Diät?“, scherzte Vitali. Erik klinkte sich in das Gespräch ein: „Bei der Figur?“ Ariane warf ihm einen empörten Blick zu. „Und du ernährst dich wohl von Anabolika.“ „Nur zum Frühstück.“, sagte er mit einer aufreizenden Bewegung seiner Augenbrauen. Sie konnte ihr Schmunzeln nicht verbergen. Kommentarlos stand Erik auf und setzte sich auf den unbesetzten Stuhl zu ihrer Linken. Ariane reichte ihm eine Reiswaffel, aber Erik lehnte mit einer Handbewegung ab. „Warum sitzt du dann hier?“, fragte sie herausfordernd, nicht weil es sie gestört hätte, ihn in ihrer Nähe zu haben. Ihre spielerischen Wortwechsel mit Erik waren schlicht zu einer Art Gewohnheit geworden. „Von hier habe ich eine bessere Sicht.“, antwortete er, den Blick unverwandt auf sie gerichtet. „Du solltest über eine Brille nachdenken.“, entgegnete sie so gönnerhaft, wie es sonst seine Art war. Erik lächelte süffisant. „Ich weiß, eine Brille würde mir unheimlich gut stehen. Aber so gern ich deine geheimen Wünsche erfüllen würde, denke ich, dass ich deine Fantasien nicht noch nähren sollte.“ Vitali mischte sich ein. „Arianes Fantasie von dir ist, wie du mit zugeklebtem Mund dasitzt.“ Ariane brach in ein Lachen aus. Erik drehte sich mit leicht säuerlichem Blick zu Vitali um. Dann lächelte er herablassend.   „Es ist der Traum vieler Frauen, mit mir gefesselt und geknebelt tun und lassen zu können, was sie wollen.“ „Du meinst, dich vor nen Fernseher mit Lehrsendungen zu setzen bis dir die Augen bluten?“, grinste Vitali. Ariane lachte noch lauter. „Deine traurigen Erfahrungen mit Frauen sind wirklich bedauerlich.“, konterte Erik und wischte Vitali damit das Grinsen aus dem Gesicht. Ariane kam Vitali zu Hilfe. „Kann ja nicht jeder einen Fanclub haben.“ „Deine Unterstützung hat er offensichtlich.“, mokierte sich Erik. „Ariane liebt mich.“, alberte Vitali, woraufhin Ariane ihm eine Kusshand zuwarf. Erik bedachte ihn mit einem drohenden Blick. „Das dürfte Serena brennend interessieren.“ Augenblicklich erstarrte Vitali. „Das war gemein.“, sagte Ariane tadelnd zu Erik. Auch wenn sie nicht verstand, warum Serena wegen jeder unbedeutenden Kleinigkeit auf Vitali sauer war, war es offensichtlich, dass er darunter litt. Erik sah sie mit einem Gesichtsausdruck an, den sie so noch nicht an ihm kannte – eine Mischung aus Unwillen und Schmollen. „Ich versuche hier deine Aufmerksamkeit zu erregen.“ Ariane lächelte augenblicklich, beugte sich zu ihm und wollte ihm neckisch das Haar verwuscheln. Im letzten Moment stoppte sie in der Bewegung, Sie erinnerte sich gelesen zu haben, dass es in Thailand ein großes Tabu war, den Kopf eines Menschen zu berühren, weil er als heiliger Sitz der Seele galt. Und Eriks Seele zu berühren, war… „Willst du Fliegen fangen?“, kommentierte Vitali ihre seltsame Körperhaltung mit ausgestrecktem Arm in Eriks Richtung. Erik drehte sich zu Vitali um. „Sie überlegt sich, wie ich meine Haare stylen könnte, damit ich noch besser aussehe.“ Ariane zog den Arm zurück und lächelte beide grimmig an. Doch ehe sie zu einem Konter kam, läutete die Schulglocke den Unterrichtsbeginn ein. Erik und sie begaben sich zurück auf ihre Sitzplätze. Ariane sah nochmals kurz in Eriks Richtung. . Er war normal. So normal Erik Donner eben war. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.   Donnerstag. Als habe sie seine Rückkehr inständig herbeigesehnt, stürmte Rosa auf Erik zu, sobald er das Haus betreten hatte. Warum hatte sie nicht einfach wie geplant abreisen können? Dann wäre er sie endlich los gewesen. Doch kurzfristiges Umentscheiden gehörte wohl zu ihrer Lebenseinstellung. Dagegen schien sie mit den daraus resultierenden Folgen nicht umgehen zu können. Wie ein kleines Kind. Als Geschäftsführerin eines großen Konzerns konnte seine Mutter sich dergleichen natürlich nicht erlauben. Dem ursprünglichen Plan entsprechend hatte sie sich nur bis gestern Urlaub genommen. Selbst während ihrer freien Tage hatte sie mindestens einmal täglich mit ihren Mitarbeitern korrespondieren müssen. Meistens deutlich öfter. Erik kannte es nicht anders. Wichtige Entscheidungen ließen sich nunmal nicht aufschieben. Doch Rosa fehlte nun offensichtlich die Unterhaltung. Vermutlich hatte sie sogar Frau Wittek, die Haushälterin, genervt, die ebenfalls ab heute wieder ihren Dienst aufgenommen hatte. Zuzutrauen war es ihr. Und zu allem Überfluss hatte sie doch tatsächlich die Dreistigkeit besessen, mit dem Mittagessen zu warten, bis er heimkam! „Wenn man alleine isst, schmeckt es nicht.“, behauptete Rosa. Erik hörte diesem Unfug stumm zu. Wie ein Mensch freiwillig durch die Anwesenheit anderer beim Essen gestört werden wollte, war ihm schleierhaft. Im Internat hatte er mit zig anderen seine Mahlzeiten in einem riesigen Speisesaal einnehmen müssen. Er hatte es gehasst. Zurück im Hause Donner war das gemeinsame Essen mit seinen Eltern für ihn eine Tortur. Der Druck, sich vor seinem Vater keine Blöße zu geben, verleidete ihm die Nahrungsaufnahme und zerstörte den Geschmack jeglicher Speise. Der einzige Trost war, dass diese gemeinsamen Mahlzeiten eine Seltenheit darstellten.   Erik schnitt sich ein Stück von der Lasagne auf seinem Teller ab und führte die Gabel zu seinem Mund. Da Rosa neuerdings Vegetarierin war – weil das jung halten sollte – handelte es sich um Gemüselasagne. Sein Vater hätte sich darüber aufgeregt, Erik war das einerlei. Er aß, damit er etwas im Magen hatte, mehr nicht. „Geht es dir besser?“ Erik hörte auf zu kauen und wusste für einen Moment nicht, was die weniger nervige Folge nach sich ziehen würde: Die Frage zu ignorieren und Rosa damit auf die Idee zu bringen, dass ihm auch nur irgendetwas nahegehen konnte. Oder sich zu einer Antwort durchzuringen, obwohl er nicht einmal die Luft, derer ein verächtliches Schnauben bedurft hätte, an sie verschwenden wollte. Er warf ihr schließlich einen zweiflerischen Blick zu, als wisse er beim besten Willen nicht, wovon sie sprach. „Tut mir leid, dass ich die letzten Tage nicht für dich da war.“ Sie sah ihn so widerlich mitleidig an, dass seine Augen sich automatisch verengten. „Ich brauche kein Kindermädchen.“ Rosa war kurz stumm, dann lächelte sie auf eine Weise, die wohl verständnisvoll wirken sollte. „Entschuldige, es ist etwas her, dass ich Teenager war.“ Erik biss die Zähne aufeinander und stopfte sich dann hastig einen weiteren Bissen der Lasagne in den Mund, um schnellstens in sein Zimmer verschwinden zu können. „Es ist ganz normal, dass man in deinem Alter gegen die Eltern rebelliert und seinen eigenen Weg gehen will.“ Erik warf ihr einen tödlichen Blick zu. Eine Mischung aus Gereiztheit und Taubheit überschwemmte sein Inneres. Er starrte auf seinen Teller, auf dem immer noch die Hälfte seiner Lasagne lag. Die Entscheidung, ob er aufstehen und weggehen oder Rosas Gerede aushalten sollte, um Stärke zu beweisen, machte ihn handlungsunfähig. Regungslos saß er da. Ein Donner lief nicht davon. Er lief nicht davon, denn das war ein Zeichen von Schwäche. Weitere Sekunden verharrte er bewegungslos. Ihm war schlecht. Die Lasagne widerte ihn an und er hatte das Gefühl, nie wieder etwas essen zu wollen. Er schob den Teller von sich. „Schmeckt es nicht?“, erkundigte sich Rosa. „Nein.“ Erik stand auf, drehte sich um und verließ den Raum. Er lief die Treppe hinauf in sein Zimmer. Dort angekommen, kam er sich vor wie in einer Gefängniszelle. Nur dass das, was draußen auf ihn wartete noch schlimmer schien als das Gefängnis, in dem er sich einsperrte. Er zog sein Smartphone aus der Hosentasche und wollte jemanden per Kurznachricht kontaktieren, ehe er sich besann, dass Justin kein Handy besaß und Vitali seine Nachrichten immer erst Stunden später beantwortete. Er fing an, stattdessen eine Gruppen-Nachricht an Vivien und die anderen zu tippen. Hi, habt ihr Lust morgen nach der Schule zusammen essen zu gehen? Ich lade – Er löschte die Zeilen wieder und legte sein Smartphone weg. In dieser Sache war er allein. Niemand konnte ihm da helfen. Er ging hinüber zu – wo wollte er eigentlich hin? Verdammt! Er nahm erneut sein Smartphone zur Hand und rief Justins Festnetznummer an.   Justin war gerade im Erdgeschoss, wo er sein Mittagessen alleine zu sich nahm. Er hörte das Telefon in der Diele klingeln und stand auf. „Hier bei Boden.“, meldete er sich. „Hi.“, sagte die Stimme am anderen Ende. „Ich bin’s Erik. Störe ich?“ „Äh, nein.“ Justin war ziemlich verblüfft, einen Anruf von ihm zu erhalten. Er wollte schon fragen, ob alles in Ordnung bei ihm war. Allerdings hielt er das für eine unhöfliche Frage und ließ sie daher fallen. „Ich wollte nur fragen, ob … du und die anderen, ob ihr am Wochenende Zeit habt.“ Justin fiel auf, dass Erik ungewöhnlich unsicher klang, ganz anders als in der Schule. „Ähm, ich weiß nicht. Ich kann schlecht für alle reden.“ „Klar.“ Der Gesprächsfaden riss ab. Justin fühlte sich reichlich unbehaglich bei dieser plötzlichen Stille und versuchte, sie schnellstens zu überwinden. „Wir könnten die anderen fragen.“ „Ja.“ „An welchen Tag hast du denn gedacht?“ Kurzes Zögern. „Morgen nach der Schule.“ „Hast du dir was Bestimmtes vorgestellt?“ „Nein.“ Wieder eine kurze Pause. „Es geht auch Samstag… Oder Sonntag.“, sagte Erik, als habe er sich durch Justins fehlende Reaktion dazu genötigt gefühlt. „Mh.“ Justin fühlte sich schuldig, dass ständig diese Unterbrechungen auftraten. Nur weil er so ein schlechter Gesprächspartner war. „Ähm, ich habe gehört, Geocaching sei ganz interessant. Vivien hat davon erzählt.“ „Was?“ „Ähm, das ist eine Art Schnitzeljagd. Es gibt Leute, die sogenannte Caches anlegen und die kann man dann suchen, indem man die Hinweise des Caches aus dem Internet holt und dann mit einer Karte oder über ein GPS-Gerät nach dem Punkt sucht.“ „Du meinst ein Smartphone?“ „Ähm, wahrscheinlich funktioniert das.“ „Und wozu macht man das?“ „Ich denke, weil die Suche Spaß machen soll.“, antwortete Justin von der Frage leicht verunsichert. „Es ist eben eine Freizeitbeschäftigung.“ „Hm.“ „Es war nur ein Vorschlag.“, sagte Justin kleinlaut und schämte sich für die dumme Idee. „Wir könnten auch…“ Er stockte. Irgendwie fühlte er sich dafür verantwortlich, Erik eine geeignete Unternehmung vorzuschlagen, weil er ihn angerufen hatte anstatt einen der anderen. „Wir könnten einen Filmabend bei mir zu Hause machen.“ Einen qualvoll langen Moment später antwortete Erik endlich. „Klingt gut.“   Justins Eltern begegneten seiner Bitte, Freunde einladen zu dürfen, anders als er befürchtet hatte. Es war ihm peinlich gewesen, dass er ihnen, besonders seiner Mutter, dadurch unnötig Arbeit machte, denn er wusste, dass seine Mutter sich mit Häppchen für die Gäste verkünsteln würde. Das hatte er oft genug erlebt, wenn Gary Freunde nach Hause gebracht hatte, bevor Gary in das Alter gekommen war, in dem man sich seiner Meinung nach nicht mehr zu Hause mit Freunden traf. Statt mit Unwillen und erschöpften Gesichtern hatten Justins Eltern mit Freude über die Ankündigung reagiert und ihn darüber ausgefragt, wer alles kommen wollte. Dies hatte ihn leicht verwundert, aber auch beruhigt. Der Filmabend wurde – nachdem die Kunde über das Treffen die Runde gemacht und Serenas Mutter ihren Unwillen darüber geäußert hatte, sich erst zu treffen, wenn man eigentlich wieder nach Hause gehen sollte – schließlich zum Filmnachmittag umgewandelt. Auch wenn Vitali es unheimlich nervig fand, dass sie sich immer nach Serenas Mutter richten mussten.   Am Freitagnachmittag um halb vier trafen nach und nach alle bei Justin ein. Justin hatte zusätzlich zu der Couch und den beiden Sesseln im Wohnzimmer noch zwei Stühle organisiert, damit alle Platz fanden. Sowohl Vivien als auch Vitali hatten verschiedene Filme mitgebracht. Die Frage, welchen sie als erstes ansehen wollten, entflammte eine rege Diskussion. Schließlich einigten sie sich auf einen Animationsfilm. Erik saß neben Vitali auf einem Stuhl und schenkte der Filmhandlung wenig Aufmerksamkeit. Er war kein Fan von Animationsfilmen und hatte für sprechende Tiere nicht viel übrig. Er fühlte sich schlecht und konnte selbst nicht begreifen, was die Ursache dafür war. In der Nähe der anderen fühlte er sich wie ein Fremdkörper. Er blickte hinüber zu dem Tisch, auf dem statt der klassischen Salzstangen und Chips belegte Brote bereit standen. Getränke gab es jedoch keine. „Justin.“, sagte Erik. „Habt ihr auch was zu trinken?“   Justin blickte verwundert auf und bemerkte da erst, dass Getränke fehlten. Eilig sprang er auf. „Ich hab sie in der Küche stehen lassen.“ „Moment, ich mach Pause.“, sagte Vivien und griff nach der Fernbedienung. „Nein, nein.“, versicherte Justin. „Schaut ruhig weiter.“ „Spul noch mal zurück. Wenn die reinlabern, kapiert man ja nix.“, beschwerte sich Vitali, während Justin am Fernseher vorbeitorkelte und zur Küche lief. Wortlos erhob sich auch Erik und folgte ihm. In der Küche erst schien Justin ihn zu bemerken. „Du brauchst nicht helfen. Du verpasst den Film.“ „Nicht schlimm.“, sagte Erik desinteressiert. „Oh, ähm, gefällt dir der Film nicht?“, fragte Justin kleinlaut. Dass Erik sich offenbar langweilte, machte ihm ein schlechtes Gewissen,. Erik wich seinem Blick aus. „Das ist es nicht.“ Unsicher, wie er jetzt reagieren sollte, verharrte Justin an der Stelle, an der er stand. Erik lehnte sich an einen Teil der Arbeitsfläche und hielt sich an deren Kante fest, den Blick zu Boden gerichtet. Justin hätte ihn gerne gefragt, ob es ihm gut ging. Aber die Frage kam ihm ziemlich ungeschickt vor, und er bezweifelte, dass Erik ihm darauf antworten würde. Etwas Bitteres trat in Eriks Stimme. „Manchmal ist es, als wäre es ganz egal, wie sehr man sich anstrengt, es hilft sowieso nichts.“   Erik wusste selbst nicht, warum er die Worte aussprach. Sie waren wie ein übles Aufstoßen, das er nicht länger unterdrücken konnte. Vielleicht wollte er sich auch nur seiner kindischen Hoffnungen entledigen, indem er sich mit Justins Schweigen und Unverständnis konfrontierte. Etwas anderes erwartete er nicht.   Seine Worte ließen Justin aufhorchen. Eriks Blick war noch immer zu Boden gerichtet. Er sah aus wie ein erschöpfter Kämpfer. Justin schlug ebenfalls die Augen nieder. Er wollte etwas entgegnen, das Erik den Mut gab, weiterzusprechen. Da er fürchtete, die Gelegenheit würde ungenützt verstreichen und Erik einfach zurück ins Wohnzimmer zu den anderen gehen, griff er nach dem erstbesten Gedanken, der ihm in den Sinn kam. „Kennst du das Gleichnis vom verlorenen Sohn?“ Erik riss den Kopf hoch und starrte ihn fassungslos an. Justin wusste dieses Verhalten nicht zu deuten. Dann entsann er sich, dass Erik keinen Religionsunterricht besuchte. Vielleicht waren ihm biblische Geschichten daher nicht vertraut. Justin begann die Geschichte kurz zusammenzufassen. „Ein Vater hat zwei Söhne. Der eine ist immer brav und tut, was man ihm sagt. Der andere zieht aus und verprasst seinen Erbteil. Völlig verwahrlost kommt er schließlich zurück nach Hause, um sich zu entschuldigen. Statt zu schimpfen, nimmt der Vater ihn freudig auf. Er gibt sogar ein Fest für ihn. Der andere Bruder beklagt sich beim Vater. Er war immer gehorsam, aber ist nie dafür belohnt worden. Daraufhin meint der Vater bloß, dass man sich über die Rückkehr freuen müsse. So endet die Geschichte.“ Justin lehnte sich an die Küchenzeile in seinem Rücken. „Als Kind fand ich das furchtbar ungerecht. Ich fand es falsch, dass derjenige, der sich richtig verhält, überhaupt nicht wertgeschätzt wird, und der, der sich falsch verhalten hat, eine Belohnung bekommt. Es –“ Justin musste sich einen Moment überwinden, um die Worte auszusprechen. „Es hat mich immer an meinen Bruder und mich erinnert.“ Er versuchte seinen Gesichtsausdruck unter Kontrolle zu halten. „Wenn mein Bruder etwas angestellt hat, waren meine Eltern meist einfach froh, dass ihm nichts zugestoßen war. Ich dagegen habe mich immer bemüht, alles richtig zu machen. Aber manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie ihn lieber haben.“ Er musste schlucken. Nochmals Luft holend sah er zu Erik. Der fixierte ihn mit ernstem Blick. „Entschuldige.“, sagte Justin hastig und ließ den Kopf hängen. „Das war wohl nicht, was du gemeint hast.“ Er hatte Erik nur den Anlass geben wollen, selbst etwas zu sagen, aber das war wohl reichlich nach hinten losgegangen. Ungefragt mit einer so bescheuerten Geschichte aus seinem Leben anzufangen war sicher unangebracht gewesen. Vielleicht hielt Erik ihn jetzt für egozentrisch…   „Nein.“, sagte Erik langsam. „Das war genau das –“ Er unterbrach sich und sah Justin an, biss kurz die Zähne zusammen. „Egal, wie sehr man sich anstrengt, es ändert nichts.“ Er machte eine kurze Pause. Seine Hände krampften sich um die Arbeitsfläche in seinem Rücken. „Ich war wie du.“, presste er hervor. „Ich habe immer versucht, alles richtig zu machen und dem zu entsprechen, was man von mir erwartet hat. Mein ganzes Leben lang.“ Er blinzelte und kämpfte die unwillkürlich aus seinem Inneren aufsteigenden Gefühle nieder. „Aber –“ Er atmete flach ein und aus, schluckte und brauchte kurz, bevor er weitersprechen konnte. „Es war nie gut genug.“ Seine Gesichtsmuskeln verkrampften sich. „Falsch. Es war völlig egal.“ Wieder biss er die Zähne aufeinander. „Manchmal frage ich mich, ob es besser gewesen wäre, wenn ich nicht getan hätte, was man mir gesagt hat. Wenn ich einfach nicht immer Befehlen gehorcht hätte! Wenn ich einfach –“ Er stockte. Ein bitterer Geschmack trat ihm auf die Zunge und sein Gesicht verzog sich. „Mein Vater hätte mich auch nicht verächtlicher ansehen können.“   Justin hatte seinen Worten aufmerksam gelauscht. Einen Moment schämte er sich für seinen dummen Vergleich. Erik hatte es wirklich schwer, anders als er, und er wusste nicht, wie er ihn trösten sollte. Unverhofft sprach Erik weiter. Seine Stimme hatte ihre Kraft verloren. „Ich war nie ein Donner.“ Justin betrachtete ihn stumm. Es war ihm unbegreiflich, wie Erik so über sich denken konnte. Er besaß doch alle wünschenswerten Eigenschaften. „Wie ist denn ein Donner?“, fragte er zögerlich. Als wäre die Frage völlig absurd, sah Erik ihn verwirrt an, dann schwankte sein Blick über den Boden. „Nicht wie ich.“, brachte er bloß hervor. Justin blickte ebenfalls zu Boden. Stille trat ein. Schließlich rang sich Justin zu Worten durch. Er wollte Erik auf keinen Fall in dieser Stimmung belassen. „Es… klingt vielleicht dumm, aber … Ich denke, du bist gut so wie du bist… Ich meine, ähm, du bist selbstbewusst und sehr intelligent. Du weißt, wie man mit anderen umgeht und wie du dich in der Gegenwart anderer richtig verhältst. Du wirkst immer so souverän. Alle bewundern dich. Du bist eine bewundernswerte Person.“ Eriks Gesichtsausdruck hatte sich verfinstert, als hätte Justin ihn, anstatt ihm Komplimente zu machen, beleidigt. Mit zorniger Miene stieß er sich von der Arbeitsfläche ab. „Das bin nicht ich!“, donnerte er. Justin zuckte angesichts der Wut in Eriks Stimme zusammen. Dann warf Erik ihm einen feindseligen Blick zu. „Du hast keine Ahnung.“ Mit diesen Worten packte Erik die Flaschen, die er hineinbringen sollte, und verließ mit heftigen Schritten die Küche.   Justin blieb zurück. Er hatte Erik erzürnt und wusste nicht einmal genau wodurch. Dabei hatte er ihn aufmuntern wollen. Frustriert drehte er sich um, nahm das Tablett, auf dem er die Gläser für die anderen und sich gestellt hatte, und folgte Erik nach. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)