Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 112: Laternenfest ------------------------- Laternenfest   „Liebe mich dann, wenn ich es am wenigsten verdient habe, denn dann brauche ich es am meisten.“ (Anonym)   Als sie wieder zusammenfanden, um gemeinsam Erik abzuholen, machte Vivien Vicki freudestrahlend mit ihren Geschwistern bekannt. Er starrte sie daraufhin an, als sei sie eine seltsame Erscheinung, ehe er geradezu zwanghaft den Blick senkte. Vitali fragte sich, ob das daran lag, dass sie ein Mädchen war, an ihrer geringen Körpergröße oder an ihrer zu großen Oberweite. Umgehend wollte Vivien loslegen, ihnen ihren Plan zu erläutern. Vitali riss die Arme halb in die Höhe und verwies mit seinen Augen vielsagend auf seinen Bruder, um Vivien zu stoppen. „Hast du es ihm noch nicht erklärt?“, fragte sie überrascht. Mit einem angestrengten Blick bemühte er sich abermals, sie zum Schweigen zu bringen. „Er kann Ewigkeit sowieso sehen.“ „Hä?“, machte Vitali. Wenn Ewigkeit bei ihm gewesen war, hatte sein Bruder nie irgendwelche Anzeichen davon gezeigt. „Quatsch.“ Vivien wandte sich an Vicki. „Kannst du sehen, wer auf meiner Schulter steht?“ Sie deutete auf Ewigkeit, die unschuldig blinzelte. Sein Bruder starrte Vivien entsetzt an, als würde sie ihn in die Enge treiben. Das… das konnte doch nicht. „Er hat sie noch nie gesehen!“, schimpfte Vitali. „Er ist ein Kind.“, erinnerte Vivien. „Aber eines, das nicht an so was glaubt!“, rief Vitali – und stockte. Wenn er sich recht erinnerte, hatte sich Vicki früher immer mehr für irgendwelche Fabelwesen interessiert als für Roboter, Dinosaurier oder Raumschiffe. Vitali hatte ihm das erst austreiben müssen, aus Sorge heraus, dass Vicki dadurch Probleme mit seinen Altersgenossen bekommen und in der Hackordnung ganz unten landen könnte. Als Vicki daraufhin angefangen hatte, sich für all das zu begeistern, was Vitali mochte, hatte er sich keine weiteren Gedanken darüber gemacht. Misstrauisch blickte er auf seinen kleinen Bruder. Dieser zog ein Gesicht, als fürchtete er, Vitali würde ein peinliches Geheimnis von ihm entdecken. Die Erkenntnis traf ihn. „Oh Mann.“ Er stöhnte und schalt sich, dass er das nicht vorher begriffen hatte. „Wenn du das Mama sagst, bist du tot.“ Vicki schien das nicht zu verstehen. Ewigkeit schwebte von Viviens Schulter auf ihn zu. Ihre Freude über weitere Leute, die sie sehen konnten, war immer groß. „Hallo!“ Vicki schreckte zurück und starrte sie aus aufgerissenen Augen an. Hilfesuchend sah Ewigkeit zu Vitali. Er stieß die Luft aus. „Die ist echt.“, brummte er. Vicki sah ängstlich zu ihm auf. „Guck so.“, knarzte er. „Ja, ich hab gesagt, es gibt keine Elfen und Feen. Aber die da ist echt. Also … mach keine Szene.“ Unsicher wandte sich Vicki an die anderen, die um ihn herum standen. Viviens kleine Schwester Ellen stellte ihm vor: „Das ist Ewigkeit.“ Vicki schaute zurück zu ihm. Vitali versuchte seinem Blick auszuweichen. „Oh Mann.“ Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig. Er bedeutete Ewigkeit auf seiner Hand zu landen und hielt diese dann Vicki hin. Vorsichtig beugte er sich zu ihm und sprach in möglichst grimmig männlicher Tonlage. „Das ist Ewigkeit.“, wiederholte er Ellens Worte. „Sie ist ähm…“ „Unser Gleichgewichtsbegleiter!“, half Vivien ihm prompt aus. Vitali verzog fassungslos das Gesicht. „Alter! Nicht mal ich weiß, was das heißen soll!“ Sicher hatte Vivien diesen Begriff gerade erfunden. Dabei war er derjenige, der hier die Bezeichnungen erfand! Er konzentrierte sich wieder darauf, Ewigkeit mit Vicki bekannt zu machen. „Sie ist so ne Art …“ „Heldenhelfer!“, rief Vivien. Vitali verdrehte die Augen, denn was jetzt kommen würde, war alles andere als einfach. „Wir sind Helden.“, erklärte Vivien ohne Umschweife. Vicki zog die Augenbrauen in purem Zweifel zusammen. Er sah aus, als würde er den Verstand der Umstehenden in Frage stellen. Vitali seufzte. „Das ist alles etwas kompliziert.“ „Warum hast du ihm auch vorher nichts gesagt?“, fragte Vivien allen Ernstes. Vitali grummelte. „Frag doch mal die anderen, ob sie ihren Geschwistern davon erzählt haben.“ Justin verzog das Gesicht. Offenbar war allein die Vorstellung, seinem großen Bruder davon zu erzählen, zu viel für ihn. „Ganz sicher nicht.“, gab auch Serena von sich. Vitali richtete das Wort wieder an Vivien. „Als hättest du’s deiner Mutter erzählt.“ Sie blinzelte unbekümmert. „Ich hab’s ihr erzählt.“ Nicht nur er starrte sie daraufhin an. „Sie hat gelacht.“ Vivien lächelte unbekümmert. Serenas aufgebrachte Stimme erklang. „Wenn ich das meiner Mutter erzählen würde und sie würde mir glauben, dürfte ich nie mehr aus dem Haus!“ Da hatte sie wohl Recht. Ariane teilte ebenfalls ihre Überlegungen. „Ich würde es höchstens meinem Vater sagen und er würde sich dann viel zu viele Sorgen deswegen machen.“ Justin wirkte geradezu bekümmert. „Ich möchte meinen Eltern keinen Kummer bereiten.“ Vitali wandte sich irritiert an ihn. „Glaubst du echt, die würden dir glauben?“ Justins Mund verformte sich. „Deshalb würden sie sich ja Sorgen machen. Sie würden sich sicher fragen, was sie falsch gemacht haben, dass ich solche Geschichten erzähle.“ Er seufzte. „Meine Ma würde bloß sagen, ich soll aufhören, solchen Stuss zu reden.“, entgegnete Vitali abgebrüht. Vivien kam zum eigentlichen Thema zurück. „Das heißt dann wohl, dass Vicki auch nichts von Erik weiß.“ Vitali untermalte seine Worte mit ausdrucksstarkem Tonhöhenwechsel. „Du meinst, dass er auf dem Martinsumzug eventuell versuchen wird, uns umzubringen? Nein, davon hab ich nichts erwähnt.“ Ewigkeit war derweil wieder von seiner Hand geschwebt. Vicki machte auf seine Worte hin ein ziemlich verstörtes Gesicht. „Willst du es ihm erklären?“, fragte Vivien. Vitali hatte so gar keine Lust darauf. „Erik hat nen Vollschaden und versucht manchmal, uns umzubringen.“ „So versteht er das ganz sicher nicht!“, schimpfte Ariane und fühlte sich offenbar dazu berufen, eine bessere Erklärung zu liefern. Gut, dann musste er das nicht machen. „Erik steht unter dem Bann des Schatthenmeisters, unseres Feindes, und wir wissen nicht, wann der ihn das nächste Mal kontrolliert.“ „Er wird nicht vom Schatthenmeister kontrolliert.“, beanstandete Vitali. „Das ist nicht Erik.“, versetzte Ariane bestimmt. „Sieht aber verdammt stark nach ihm aus!“, erwiderte er. „Du weißt selbst, dass er sich danach nicht daran erinnern kann!“, rief Ariane. „Das war das letzte Mal!“, stellte er klar. „Da hat Justin seine Erinnerungen gelöscht. Vielleicht kann er sich diesmal dran erinnern!“ Ariane stockte. Diese Möglichkeit hatte sie anscheinend noch gar nicht bedacht. „Wie auch immer, wir sollten ihn demnächst abholen.“, erinnerte Serena. Vicki starrte sie an. „Was ist?“, fragte Serena barsch. Zaghaft brachte Vicki Worte hervor. „Wieso holt ihr ihn ab, wenn er euch töten will?“ „Er will uns nicht töten.“, stieß Ariane aus und fügte kleinlauter an. „Nur sein … anderes Ich.“ „Von dem wir nicht wissen, wann es wieder auftaucht.“, ergänzte Vitali sarkastisch. Vicki sah sie beide reichlich zweiflerisch an. Viviens kleiner Bruder Kai kam ihnen zur Hilfe. „Wenn er in ihrer Nähe ist, kann er sie nicht aus dem Hinterhalt angreifen.“ Vicki schien das dennoch für eine Schnapsidee zu halten. „Und was bringt das?“ Plötzliche Stille kehrte ein. Wenn Erik ab jetzt immer wieder zu Secret werden würde, dann würde dieser eine Abend überhaupt nichts ausmachen. Schließlich hatten sie keine Ahnung, wie sie die Verwandlung aufhalten konnten. Vicki sprach weiter. „Was ist der Plan?“ „Wir gehen auf den Martinsumzug!“, rief Ellen. Vicki machte den Eindruck, als warte er auf eine andere Antwort und zwar von einer erwachseneren Person.   Ariane ließ den Kopf hängen. Die Fragen von Vitalis Bruder waren schmerzhaft und verdeutlichten nochmals ihre ausweglose Situation. Sie waren völlig machtlos gegenüber dem, was mit Erik vorging! Viviens Stimme erklang in gleichmütigem Tonfall. „Wir können ihm nicht helfen.“ Ariane riss den Kopf hoch und starrte sie an. Dass ausgerechnet Vivien es auch noch laut aussprach, war – war – Sie wusste nicht, wie sie das nennen sollte. „Und warum trefft ihr euch dann mit ihm?“, wandte Vitalis Bruder ein. „Wäre es nicht besser, wenn ihr euch auf einen Angriff vorbereitet?“, „Weil wir Freunde sind.“, antwortete Vivien lächelnd. „Auch wenn Erik zu unserem Feind wird, ist er trotzdem unser Freund.“ Vickis Miene machte deutlich, dass das für ihn keinen Sinn ergab. Wie auch? Ariane erhob die Stimme. „Wir werden etwas unternehmen, damit er wieder er selbst wird!“ „Wir wissen nicht was.“, gab Justin zu bedenken. „Dann werden wir einfach verschiedene Sachen ausprobieren.“, rief sie erregt. „Irgendetwas wird funktionieren!“ Justin unterbrach sie in ruhigem Ton. „Egal was wir tun, Erik wird wieder zu Secret werden und das wird sich in nächster Zeit nicht ändern.“ Ariane wollte widersprechen, aber ihr fehlten die Argumente gegen diese Behauptung. Sie wollte das einfach nicht wahrhaben! „Es wird nicht mehr wie vorher.“, sagte Justin eindringlich, als fordere er sie dazu auf, sich damit abzufinden. „Und was sollen wir jetzt tun?“ Sie klang in ihren eigenen Ohren zu laut und hilflos. „Wieso sagst du das so, als würde er nie wieder normal werden?!“ Vivien ergriff das Wort. „Unsere größte Sorge sollte jetzt nicht sein, wie wir ihn retten können.“ „Was könnte wichtiger sein!“, schrie Ariane aufgebracht. „Ob wir damit leben können.“ „Was meinst du?“, forderte sie zu wissen. Vivien sah ihr in die Augen. „Können wir wirklich weiterhin mit Erik befreundet sein? Hält jeder von uns das aus? Egal wie viel wir uns bemühen, Erik wird uns wieder angreifen und uns wieder wehtun. Kann man das wirklich schlucken und Erik nicht dafür hassen?“ Sofort meinte Vitali. „Ich hau ihm einfach jedes Mal eine rein, wenn er Erik ist.“ „Nicht hilfreich!“, mäkelte Ariane mit grimmigem Blick. „Ey, soll ich’s toll finden, dass er uns ständig vermöbelt und dann so tut, als wüsste er nichts?“, gab Vitali zurück. „Er tut nicht nur so.“, erwiderte Ariane bestimmt. „Scheißegal. Ich hab trotzdem blaue Flecken! Und ihm tut das nicht mal leid.“ „Würdest du’s ihm lieber sagen?“, fragte sie ungläubig. „Dann wüsste er es wenigstens.“, meinte Vitali geradezu schmollend. Serena mischte sich ein. „Dass er uns angreift, ohne es kontrollieren zu können. Wunderbar! Das wird ihn sicher aufbauen!“ Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus. „Was glaubt ihr, wie lange er sich verwandeln kann, ohne dass er das merkt?“, konterte Vitali. „Muss ihm doch irgendwann komisch vorkommen, wenn er ständig Gedächtnislücken hat.“ Justin schaltete sich zwischen. „Wir wissen noch überhaupt nicht, wie sich das alles entwickeln wird. Wenn es soweit ist, werden wir uns darüber Gedanken machen.“ „Wenn wir ihm sagen, dass er für uns gefährlich ist, dann wird er sich von uns fernhalten!“, warf Serena empört ein und ging über Justins Versuch, die Diskussion zu beenden, einfach hinweg. Vivien nickte. „An Secrets Auftauchen würde das nichts ändern.“ „Erik hat keine Kontrolle darüber.“, sagte Ariane nochmals.   Justin sah nachdenklich vor sich hin und fragte sich, ob das wirklich so stimmte. Der Schatthenmeister hatte gesagt, dass es nicht seine Absicht war, dass Secret sie angriff und dass er mit Secrets Erscheinen nichts zu tun hatte. Vielleicht gab es etwas in Erik, das ihn dazu brachte, sie anzugreifen, etwas wie ein unterschwelliger Groll auf sie. „Ey, ich kann echt nicht, die ganze Zeit so tun, als wäre er ein anderer Mensch!“, brachte Vitali vor. „Genau!“, stimmte Vivien überraschenderweise zu. „Auch als Secret ist er Erik.“ „Das ist doch jetzt nicht dein Ernst.“, wandte Ariane ein. „Secret ist – Das ist nicht Erik!“ „Also kannst du es nicht akzeptieren, dass er so ist?“, fragte Vivien in ruhiger Tonlage. „Nein!“ rief Ariane. „Erik ist nicht Secret. Das ist alles nur ein Fehler, den wir beheben müssen!“ Mitleid zeichnete sich auf Viviens Zügen ab. „Wenn du das denkst, wird es sehr schwer für dich werden.“ Ariane forderte mit ihrer Mimik zu erfahren, was Vivien damit sagen wollte. „Er ist und bleibt Erik.“, sagte Vivien. Ariane weigerte sich augenscheinlich das zu glauben, widersprach Vivien aber nicht nochmals. Vivien wendete sich an Vitali. „Kannst du ihn trotzdem so akzeptieren?“ Vitali gab ein Grollen von sich. „Ja, verdammt!“ Erneut gab er ein wütendes Geräusch von sich. „Immer dieser Scheiß! Eine, die ständig versucht mich umzubringen, hat mir echt schon gereicht! Warum bin ich mit lauter Geisteskranken befreundet?!!!“   Serena schoss einen finsteren Blick auf Vitali ab. Schließlich erinnerte sie sich wenigstens an das, was sie tat! Allerdings musste sie eingestehen, dass sie nicht gerade besonders gut darin war, sich zu entschuldigen. Dafür ließ sie es zu, dass Vitali ihr ihre Fehler immer und immer wieder unter die Nase rieb, ohne dass sie ihn dafür erdrosselte.   Ariane indes schwieg. Vielleicht mochte es das Beste für Vitali sein, wenn er Erik und Secret als eine Person sah, aber sie würde den Teufel tun und Secrets Taten Erik anlasten. Secret war ein Fehler. Und sie würde alles dafür tun, ihn so schnell wie möglich zu beseitigen.     ***     Vivien begrüßte ihn so überschwänglich wie eh und je, als sie sich unweit von seinem Haus trafen, und stellte ihn sofort ihren Geschwistern und Vitalis Bruder vor. Erik war sich nicht sicher, wie er mit den unbekannten Gesichtern umgehen sollte. Kinder waren ihm suspekt. Er entschied, sein übliches Erik-Donner-Verhalten an den Tag zu legen und gelassen zu bleiben – auch wenn die Kleinen ihn seltsam aufmerksam musterten, als würden sie auf irgendetwas warten. Vitalis Bruder sah sogar aus, als mache er sich darauf gefasst, gleich von ihm attackiert zu werden. Aber bei Vitalis Familie wunderte ihn nichts mehr. Zumindest lenkte ihn die Anwesenheit der anderen von den Grübeleien ab, die sein Erwachen ausgelöst hatte. Noch nie hatte er so lange geschlafen. Und von seinen Träumen waren ihm nur vage Gefühle geblieben, wie ein Nachgeschmack. Er musste etwas Erfreuliches geträumt haben, an das er sich jedoch nicht erinnerte. „Die hab ich selbst gemacht.“, sagte Viviens Schwester Ellen ganz stolz und streckte ihm ihre rosafarbene Laterne hin, auf der eine Ballerina und Sterne abgebildet waren. „Schön.“, sagte Erik nach kurzem Zögern. Er wusste nicht recht, ob die Geste bedeutete, dass er die Laterne entgegennehmen sollte. Machten Kinder das nicht manchmal? Woher sollte er das wissen! Für ihn waren Kinder herzlose, geistig minderbemittelte Geschöpfe, denen es egal war, wenn sie jemand anderem wehtaten oder es erst gar nicht begriffen, weil sie so in ihrer eigenen Welt gefangen waren. Eigentlich nicht viel anders als Teenager und Erwachsene. Nur dass das Verhalten der Erwachsenen weit vorhersehbarer war als das von Kindern. „Hast du auch schon mal eine Laterne gebastelt?“, fragte Ellen. „Äh, nein. Ich war nie auf dem Laternenlauf.“ „Hä?“, rief Vitali ungläubig. „Nicht mal als Kind?“ Als Kind nicht auf den Umzug zu gehen, schien für ihn genauso seltsam wie als Erwachsener hinzugehen. „Es ist ein Martinsumzug.“, erinnerte Erik. „Meine Eltern sind Atheisten.“ „Aber das ist doch kein Grund.“, sagte Ariane, als verstünde sie nicht, wie das zuging. „Bei uns sind immer auch muslimische und andersgläubige Kinder mitgelaufen.“ Erik gab ihr mit einem Blick zu verstehen, dass er über die Angelegenheit nicht weiter diskutieren wollte. Ariane verstummte und wirkte mit einem Mal wieder so seltsam bedrückt wie schon zuvor. Erik hatte gerade nicht die Kapazitäten, um sie davon abzulenken. Die Diskussion hatte ihn daran erinnert, dass seine Eltern einfach nur keine Zeit gehabt hatten, ihn auf den Umzug zu begleiten und gemeint hatten, dass das Fest ohnehin nutzlos sei. Mit fünf Jahren hatte er unbedingt zum Umzug gehen wollen, aber wenn sein Vater sagte, etwas sei sinnlos, dann hatte er natürlich Recht. Zumindest hatte Erik das damals gedacht und daher angefangen, selbst diese Meinung zu vertreten. Plötzlich hob Vivien ihm einen Laternenstab vor die Nase. „Dann ist heute dein erstes Mal!“, sagte sie freudig und gab ihm zu verstehen, dass er die Laterne ergreifen sollte, die zuvor noch ihr Bruder in Händen gehalten hatte. Erik sah sie zweiflerisch an. „Nur solange bis wir bei der Grundschule sind.“, meinte Vivien mit großen Kulleraugen. Mit noch immer reichlich skeptischem Gesichtsausdruck betrachtete Erik die Laterne in verschiedenen Blautönen, die Vivien ihm hinhielt und dann die, die Ellen gebastelt hatte. „Ich will die Rosane.“ Ellen schaute überrascht. „Wenn das okay ist.“, fügte Erik hastig an. Die Kleine lächelte und reichte ihm ihre Laterne. Erik nahm sie entgegen und warf Ariane einen Seitenblick zu, den sie augenscheinlich nicht deuten konnte.   Während sie sich auf den Weg zur Grundschule machten und Vivien mit ihren Geschwistern ein Martinslied anstimmte, zu dem sie auch Vicki einlud, wandte sich Erik erneut an Ariane und lächelte provokativ. Dieses Lächeln erinnerte Ariane ungewollt an das Grinsen, das Secret ihr am Mittag gezeigt hatte. Sie schämte sich, dass sie daran denken musste, konnte es aber nicht abstellen. In gedämpfter Lautstärke sprach er sie an. „Ist doch gar nicht so schwer, Rosa zu tragen.“ Die Belustigung war aus seiner Stimme herauszuhören. Ariane drehte ihren Kopf in seine Richtung und antwortete mit einem vielsagenden Augenaufschlag. „Willst du es nicht auch mal versuchen?“ Er hob auffordernd die Augenbrauen. Ariane, die just ihre Selbstsicherheit wiedergewonnen hatte, antwortete nonchalant. „Es steht dir so viel besser.“ Erik wandte sich wieder nach vorne. „Da hast du allerdings Recht.“ Ariane konnte ein Grinsen nicht vermeiden. Erik ließ ihr einen weiteren Seitenblick zukommen und lächelte. Arianes Brustkorb fühlte sich jäh seltsam eng an. Sie wusste nicht, ob es allein an der übergroßen Freude lag, dass er wieder er selbst war. Sein Lächeln hatte ihr Inneres mit zu vielen Emotionen erfüllt, als dass sie dort Platz gefunden hätten. Irgendwie bereitete ihr das Kummer.   Der Schulhof war bereits vollgestopft mit Kindern, die in Begleitung eines, seltener beider, Erziehungsberechtigten waren und bunte Laternen in Händen hielten. Manche der Laternen sahen selbstgebastelt, andere gekauft aus. Ein paar ältere Kinder trugen auch Fackeln wie Vitalis Bruder. Es war befremdlich zwischen all den Kindern und ihren Verwandten zu stehen. Nicht dass Erik sich geschämt hätte. Er schämte sich nie. Selbst wenn er Ellens Laterne noch gehalten hätte, hätte ihm das nichts ausgemacht. Aber ohne einen richtigen Anlass in diesem Trupp mitzulaufen, war irgendwie seltsam. Er sah zu Serena, die links neben ihm in einer Reihe mit Ariane, Vitali und dessen Bruder stand, und erkannte, dass es ihr ähnlich erging, denn sie blickte sich reichlich unsicher um. Viviens Stimme unterbrach seinen Gedankengang. „Willst du Ellens Hand halten?“, fragte sie ihn von vorne. Mit Justin und ihren Geschwistern stand sie in der Reihe vor ihm. Die vier wirkten fast wie eine Familie, wie Justin und Vivien die beiden Kleinen so zwischen sich an den Händen hielten. Doch offenbar hatte Vivien sich eingebildet, er könne sich rechts außen, wo er stand, abseits fühlen. „Lass mal.“, sagte Erik knapp. Er hätte so oder so die Idylle nicht stören wollen. Lächelnd wandte Vivien sich um und ergriff wieder Ellens Rechte. Sein Blick wanderte zu Vitali. Er uns sein Bruder befanden sich an der linken Außenseite, damit die entzündete Fackel niemanden gefährdete. Ariane hatte den Platz zwischen Serena und Vitali eingenommen, wohl um etwaige Streitereien zu verhindern. Erik war es schleierhaft, warum sie nicht begriff, was es mit den Auseinandersetzungen der beiden auf sich hatte. Aber sie schien ja allgemein bei diesem Thema deutlich unbedarfter als ihr scharfer Verstand es vermuten ließ. Er drehte sich zu Serena. „Fühlst du dich unwohl?“ Serena zuckte mit den Schultern. In diesem Moment fing eine Marschkapelle an zu spielen. Am Anfang des Trupps kam Bewegung in die Gruppe und die Kinder und einige Erwachsene stimmten den Gesang zu der gespielten Melodie an. Weiter vorne konnte Erik nun auch einen Reiter auf einem Pferd entdecken. Vor allem der rote Umhang war auffällig, der an ein Superheldencape erinnerte. Der Zug setzte sich in Bewegung. Mit der Masse mitlaufend, sah Erik nochmals zu Vitali hinüber. Das Image eines verantwortungsbewussten großen Bruders wollte auf den ersten Blick nicht recht zu Vitali passen. Deshalb war es umso amüsanter ihn in Gegenwart seines Bruders zu erleben. Vorhin hatte Vitali ihm genau erklärt, wie er die Fackel halten sollte. Auch wenn er dabei ein strenges Gesicht gezogen hatte, schien es ihm nicht halb so unangenehm zu sein, sich um seinen Bruder zu kümmern, wie er vorgab. Erik hatte vielmehr den Eindruck, dass Vitali wirklich etwas für seinen Bruder übrig hatte, ja geradezu stolz auf ihn war. Umgekehrt schien der Junge zu Vitali aufzusehen wie zu einem Vorbild. Erik hatte sich nie die Frage gestellt, wie es wohl war, Geschwister zu haben. Auch Cousins und Kusinen hatte er keine. Seine einzige Tante war Rosa. Allgemein war Erik außerhalb von schulischen und außerschulischen Verpflichtungen nicht so häufig mit anderen Kindern zusammengekommen. Er hatte es stets vorgezogen, andere Menschen auf Abstand zu halten. Jedenfalls nach seinen Erfahrungen in der Grundschule. Auch auf dem Jungeninternat hatte er keinen näheren Kontakt zu seinen Klassenkameraden gehabt. Die einzige Ausnahme hatte der Junge gebildet, mit dem er das Zimmer von der fünften bis zur achten Klasse geteilt hatte. Er wusste allerdings nicht, ob er das als Freundschaft bezeichnen konnte. Sein Zimmergenosse von damals, Jannik, hatte ihn zwar eindeutig als Freund betitelt, aber Erik hatte sich stets zurückgezogen und so wenig wie möglich von sich preisgegeben. Dagegen hatte Jannik ihm so ziemlich alles von sich erzählt, wohl weil er in ihm seinen einzigen Freund gesehen hatte. Die anderen Internatsschüler hatten Jannik geschnitten, da er aus für die Internatsverhältnisse ärmlichen Verhältnissen stammte. Nach der achten hatte er das Internat sogar verlassen müssen, da seine Eltern die Gebühren nicht mehr zahlen konnten. Damals hatte Erik nur gedacht, dass sie Jannik damit eher einen Gefallen taten, schließlich war Jannik kein besonders guter Schüler gewesen und hatte nicht wirklich auf das altehrwürdige Internat voller aufgeblasener Elite-Söhne gepasst. Dennoch hatte Jannik nur noch geweint, nachdem ihm diese Entscheidung mitgeteilt worden war. Erik hatte das damals nicht verstanden. Er hatte auch nicht nachgefragt. Wenn Jannik geweint hatte, hatte er so getan, als würde er es nicht sehen. Das hatte er für das Beste gehalten. Schließlich bedeutete Weinen Schwachsein. Das hatte er früh genug in seinem Leben gelernt. Nachdem Jannik die Schule verlassen hatte, hatte Erik sich in eine andere Richtung entwickelt. Er hatte sich zwar schon in der sechsten Klasse eine kühle Distanziertheit antrainiert, die zu seiner ohnehin wortkargen Art passte, auch war er durch einen Wachstumsschub in der Siebten und die Kampfsportarten, die er im Internat gemacht hatte, nicht länger klein und schmächtig gewesen, doch die Arroganz hatte er erst nach Janniks Wechsel für sich entdeckt. Zuvor war er nie auf die Idee gekommen, dass selbstgefällige Arroganz eine so hervorragende Waffe abgeben konnte, wenn jemand einem dumm kam. Es war seltsam, sich an damals zu erinnern und zu bemerken, wie viel sich seitdem verändert hatte. In der zehnten Klasse hatte er sich stark gefühlt, überlegen. In dem Glauben dadurch seinem Vater nun endlich gewachsen zu sein, hatte er selbst entschieden das Internat zu verlassen. Irgendwie kam ihm seine eigene Selbstüberschätzung jetzt lachhaft vor. Und trotzdem bereute er es nicht. Er war stolz auf das, was seither geschehen war. Er war nicht mehr der kleine Junge von damals. Erik griff nach Serenas Hand. Überrascht, fast erschrocken, blickte sie zu ihm auf. Er gab ihr mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass sie die Kette fortsetzen sollte. Doch erst als er ihr mit einem freundlichen Nicken versicherte, dass das in Ordnung ging, nahm sie Arianes Hand. Auch diese wunderte sich. Ein Lächeln von ihm genügte allerdings und dieselbe Muskelregung nahm ihr Gesicht ein. Als sie dagegen Vitalis Hand ergreifen wollte, schaute er, als wäre sie verrückt geworden, ehe sie ihm andeutete, dass der Vorschlag von Erik kam. „Du bist voll peinlich!“, schrie Vitali über die Musik hinweg zu ihm rüber, wie es eben seine Art war, wenn er emotional mit etwas nicht sofort umgehen konnte. Erik lachte bloß. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)