Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 125: In den Fängen des Schatthenmeisters ------------------------------------------------ In den Fängen des Schatthenmeisters   „Wer zu fangen glaubte, wird selbst gefangen.“ (Jean de La Fontaine, französischer Fabeldichter und Novellist)   Seine Auserwählten hatten allesamt ihre Hände erhoben, als bedrohe er sie mit einer Schusswaffe statt ihnen nur seine Rechte entgegenzustrecken. Zwar war sein Arm ein ebenso gefährliches Tötungsinstrument, dennoch sah die Reaktion albern aus. Von den Blicken der fünf her zu urteilen, hatten sie nicht damit gerechnet, sich ihm gegenüberzusehen. „Wo ist Secret?“, forderte Grauen-Eminenz erbost zu wissen. Die fünf starrten ihn verdutzt an. Das kleinste der Mädchen nahm die Hände herunter. „Eigentlich wollten wir das von dir wissen.“ Sie verwies auf einen Zettel in ihrer Hand, auf dem ‚Willkommen im Spiel‘ stand. „Secret hat uns eingeladen.“, eröffnete sie ihm fröhlich. Grauen-Eminenz gaffte sie fassungslos an. War das ein Scherz? Der Terrorzwerg wirkte tatsächlich so unbekümmert, als komme sie zu Kaffee und Kuchen vorbei. Das durfte doch nicht wahr sein! Dieser Bengel konnte doch nicht ungefragt Freunde in sein Schatthenreich einladen! Was dachte der sich? Das war doch kein Spielplatz!!! Reflexartig riss er seine Linke an seine Stirn, ein unerträglicher Schmerz schoss durch seinen Schädel, der ihn fast aufjaulen ließ.   Die fünf sahen mit an, wie sich der Schatthenmeister vor Pein krümmte. Hilflos warfen sie einander Blicke zu. Sollten sie die Gelegenheit nutzen und ihn angreifen? Ehe sie sich darauf verständigen konnten, hatte sich der Schatthenmeister wieder gefangen und bedrohte sie erneut mit seinem ausgestreckten Arm. Er stieß einen unschönen Fluch aus. „Ihr tut jetzt genau was ich euch sage!“ Unite ließ sich weiterhin nicht aus der Ruhe bringen. „Eigentlich bist du uns noch was schuldig, weil wir dir mit den Allpträumen geholfen haben.“ Die anderen starrten sie ebenso ungläubig an wie Grauen-Eminenz. „Ich bin der Bösewicht!“ Unite blieb gelassen: „Ja, aber ein guter Bösewicht!“ Grauen-Eminenz zog eine Grimasse und deutete ein Kopfschütteln an. „Ihr könnt doch nicht einfach hier herkommen und erwarten, dass ich euch schlicht wieder gehen lasse!“ „Warum nicht?“, fragte Unite gelassen. „Weil man das nicht so macht!“, rief er geradezu entsetzt über diese Unkenntnis gängiger Konventionen für die Held-Bösewicht-Beziehung. Desire kam Unite zu Hilfe. „Man sollte nicht immer in solchen Klischees denken.“ Ihre Stimme klang deutlich unsicherer als sonst. Destiny konnte nicht länger an sich halten: „Ihr versucht gerade den Bösewicht davon zu überzeugen, dass er uns gehen lässt. Seid ihr noch ganz dicht?!“ „Danke! Wenigstens eine denkt mit.“, rief Grauen-Eminenz und unterstrich seine Aussage mit einer präsentierenden Geste in ihre Richtung. „Halt die Klappe!“, gab Destiny patzig zurück. Change wandte sich in künstlichem Ernst an sie: „Tiny, du wirst doch nicht den Feind böse machen wollen. Das ist echt unprofessionell.“ Destiny funkelte ihn an. Unite ergriff erneut das Wort. „Wenn du Secret suchst und wir Secret suchen, könnten wir doch einfach zusammenarbeiten!“ Destiny schüttelte entschieden den Kopf. Grauen-Eminenz schaute entgeistert, als zweifle er Unites Realitätswahrnehmung an. Von einer Sekunde auf die andere verzerrte sich sein Gesichtsausdruck qualvoll, ohne dass die fünf eine Ursache dafür hätten ausmachen können. Der Anfall ging so schnell wie er gekommen war. Mühsam beherrscht und mit immer noch verkrampfter Miene fixierte er sie. „Ihr tut, was ich euch sage“, befahl er, „und ich bringe euch zu Secret.“ „Er weiß doch gar nicht, wo er ist!“, schimpfte Destiny an die anderen gewandt. „Wenn –“ Grauen-Eminenz biss angesichts einer weiteren Schmerzwelle abermals die Zähne zusammen. „Wenn er sich im Schatthenreich aufhält, kann ich ihn orten.“ Destiny widersprach vehement. „Das hätte er doch eben schon tun können!“ „Das könnte ich auch!“, rief Grauen-Eminenz aufgebracht. „Wenn-“ „Wenn du kein Kopfweh mehr hättest.“, mutmaßte Unite lächelnd. Grauen-Eminenz stöhnte gereizt. Destiny machte ihrem Unwillen lautstark Luft: „Wir werden ganz sicher nicht machen, was der Böse uns befiehlt!“ Auch Trusts Miene wirkte ablehnend. „Wir lassen uns nicht für irgendwelche Machenschaften missbrauchen.“, stellte Desire klar. Grauen-Eminenz wirkte genervt, als fände er ihr Verhalten melodramatisch. Hatte er gerade die Augen verdreht? Unite hakte nach. „Also du willst Secret auch finden, aber etwas hält dich davon ab. Richtig?“ Grauen-Eminenz bedachte sie mit einem finsteren Blick. Unite wandte sich ohne Umschweife an die anderen. „Ich sollte bei ihm bleiben.“ „Was?!“, stieß Destiny aus. „Es scheint ihm wirklich schlecht zu gehen. Da sollten wir ihn nicht alleine lassen.“, meinte Unite wie selbstverständlich. „Bist du total übergeschnappt?“, schrie Destiny heftig. „Dem geht es nicht schlecht! Und wenn, kann uns das auch egal sein!“ „Wenn ich bei ihm bleibe, kann ich auch sichergehen, dass er uns nicht hinterrücks angreift.“, erklärte Unite, als wäre nichts weiter dabei. „Er könnte dich genauso gut als Geisel nehmen!“, wetterte Destiny. Unite zuckte mit den Schultern. „Wir sind in seinem Reich. Das könnte er so oder so.“ „Sehr richtig.“, stimmte Grauen-Eminenz ihr zu. „Halt die Klappe!“, giftete Destiny ihn an. Change tippte ihr auf die Schulter. „Du solltest wirklich aufhören, ihn anzuschreien.“ Unite drehte sich zu Trust neben ihr. Sein Blick war hart und unbeugsam. ♪ So kann ich vielleicht mehr darüber herausfinden, wo Secret ist. Sie war davon ausgegangen, dass die Telepathie auch im Schatthenreich funktionierte. Trust antwortete nur mit deutlichem Argwohn im Blick. Er war dagegen. ♪ Vertraust du mir? Seine Kiefermuskulatur verkrampfte sich und seine Augenbrauen zogen sich noch fester zusammen, als sei er über ihre Worte verärgert. Flehentlich sah sie ihm in die Augen. Er atmete aus. Sorge wurde in seiner Mimik lesbar. Unite überwand den Abstand zwischen ihnen und schlang ihre Arme um seine Brust. Weder gab er ihr eine telepathische Antwort, noch erwiderte er ihre Umarmung. Dennoch wusste sie, dass er ihr zuliebe über seinen Schatten sprang und sich bemühte, ihr sein Vertrauen zu schenken. Sie blickte noch einmal zu ihm auf und trat dann zu den anderen, die sie ebenfalls einen nach dem anderen umarmte, als wolle sie ihnen Lebewohl sagen. „Das ist nicht dein Ernst!“, kreischte Destiny, als Unite sich kurz an sie drückte. Unite lächelte sie nur an und trat dann von ihr weg. Destiny wollte sie aufhalten, wurde aber von einer Hand auf ihrer Schulter gestoppt. Trust sah sie ernst an. Im gleichen Moment erklang seine Stimme in ihrem Kopf. ○ Sie hat uns umarmt, um unsere Kräfte zu übernehmen. Sie weiß, was sie tut. Pure Unsicherheit sprach aus Destinys Zügen. Trust drückte kurz ihre Schulter. ○ Vertrau ihr. Geschlagen senkte Destiny den Blick, sodass Trust sie losließ. Sie sah zu Unite, die nun an Grauen-Eminenz Seite stand. Trust kämpfte ebenfalls gegen den Impuls an, Unites Vorschlag doch noch zu widersprechen. So sehr es ihm auch widerstrebte, nur wenn er bei ihrem Plan mitspielte, konnte er ihr helfen. „Was sollen wir tun?“, verlangte er mit fester Stimme zu erfahren.   Change rannte so schnell er konnte. Eine ganze Horde an Schatthen war hinter ihm her. Die Umgebung glich einer trübsinnigen Einöde, auf der nur vereinzelt kahle Bäume standen, als hätte ein Künstler eine melancholische Stimmung einfangen wollen. „Warum ich?“, schimpfte er. Fast hatten die Bestien ihn erreicht. Bevor die Reißzähne eines der Schatthen ihn packen konnten, erhob er sich in die Lüfte. „Weil du fliegen kannst!“, keifte Destiny, die mit Trust und Desire in der Krone eines der Bäume hockte. Sie wandte im gleichen Moment ihre Kräfte auf die Horde Schatthen an und paralysierte sie. Change schwebte zu ihnen. „Du könntest sie genauso gut auch gleich paralysieren.“ „Das mach ich nur nicht, damit du sie nicht so weit teleportieren musst.“ „Jaja.“, machte Change, als hielte er das für eine Ausrede. „Vorsicht!“, rief Trust. Ein Schatthen war Destinys Attacke entgangen und sprang zu ihnen herauf. Geistesgegenwärtig rief Desire ihren Schutzschild herbei. Zeitgleich setzte Trust sein Vertrauensband ein und der Schatthen löste sich in Glitzer auf. Destiny sah Change vielsagend an. „Und deshalb!“ „Ihr sollt sie einfangen und nicht kaputt machen!“, dröhnte jäh Grauen-Eminenz‘ Stimme aus der Umgebung, als wären irgendwo unsichtbare Lautsprecher aufgestellt: „Warum machst du das nicht selber?“, beschwerte sich Change. „Weil es so lustiger ist!“, gab Grauen-Eminenz‘ Stimme zurück. „Unite?“, rief Trust in die Weite, aus der die Worte des Schatthenmeisters kamen. „Bin hier!“, ertönte nun Unites Stimme. „Nicht in mein Mikro.“, moserte Grauen-Eminenz. „Aber –“, setzte Unite an. „Bleib gefälligst da sitzen.“, belehrte Grauen-Eminenz sie. „Und ihr bringt die Schatthen weg!“ Die Durchsage wurde beendet. „Ich kann nicht fassen, dass wir das echt machen!“, grollte Destiny. „Ey, der wollte uns sonst einsperren und Experimente mit uns machen.“, erinnerte Change sie an den letzten Kommentar des Schatthenmeisters, bevor sie sich auf ihre Mission begeben hatten. „Experimenteeee!“ „Vielleicht hätte er uns ja einfach Fragebögen ausfüllen lassen.“, antwortete Desire. Die anderen starrten sie an. Kleinlaut erklärte Desire. „Ich dachte, Unite hätte so was gesagt, wenn sie da wäre.“   Der Raum hatte etwas Unheimliches, ja Bedrohliches, an sich. Er lag größtenteils in einer undurchdringlichen Finsternis, sodass Unite seine wahre Größe nicht einmal erahnen konnte. Die dichte, drängende Atmosphäre hier drin wie um Grauen-Eminenz‘ gesamte Gestalt verursachte einen einschnürenden Druck auf ihre Brust – ein Gefühl, als würde eine ungeheure Bürde sie zu zermalmen drohen und als lauere in den verborgenen Winkeln eine grausige Vergangenheit. Sie versuchte, das Gefühl abzuschütteln, doch es klebte an ihr wie eine zähe Masse, wie etwas, das man niemals hinter sich lassen konnte. Es blieb ihr nur, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Sie war darin geübt, ihre Nervosität und Angst mit fröhlicher Überdrehtheit zu überspielen. Damit hatte sie die anderen schon immer überzeugen können. Und sich selbst. Aber es war so viel einfacher, unbekümmert zu tun, wenn die anderen bei ihr waren. Ihre Augen musterten den Hünen neben ihr. Das Licht zahlreicher Bildschirme flackerte über Grauen-Eminenz‘ angespannte Züge. Doch waren die Bildschirme eher wie Hologramme, die in der Luft standen, an der Stelle, an die er sie platzierte. Das Fenster, das die anderen zeigte, hatte er in die Mitte geholt und groß gezogen. Unite sah kurz auf die Fesseln, die Grauen-Eminenz ihr angelegt hatte, dann auf das Bild der anderen und schließlich auf das Profil des Schatthenmeisters. Als sie ihm beim Angriff der Allpträume begegnet waren, hatte er weit weniger furchteinflößend gewirkt, aber die Allpträume hatten die Messlatte für gruselig ja auch sehr hoch angelegt. Um sich auf das Kommende gefasst zu machen,  konzentrierte sie sich einige Momente lang auf ihre Atmung und die Stille in ihrem Inneren. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass sie immer mit den anderen verbunden war, selbst wenn sie sich jetzt klein und hilflos fühlte. Alles war gut. Sie war sicher. Und die Person vor ihr war für die nächsten paar Minuten nicht ihr Feind, sondern ihr bester Freund. Ihr sorgloses Lächeln aufsetzend, nahm sie die Energie ihrer Aufgewühltheit und legte los: „Heißt du Grauen-Eminenz, weil deine Haut grau ist, oder ist deine Haut grau, weil du Grauen-Eminenz heißt? Und sind die Schatthen deshalb auch grau? Und trägt Secret deshalb graue Kleidung oder habt ihr einfach einen ähnlichen Modegeschmack? Und magst du es so dunkel oder ist das einfach so eine Image-Sache? Das ist nämlich gar nicht gut für die Augen. Und hast du schon mal darüber nachgedacht, ob du dich besser fühlen würdest, wenn es hier etwas freundlicher aussehen würde?“ Grauen-Eminenz brachte sie mit einem Blick zum Verstummen. In der Dunkelheit leuchteten seine grauen Augen furchterregend. Ihr Herz pochte wie wild. Sie durfte nicht lange darüber nachdenken! „Willst du mir nicht antworten oder weißt du die Antwort nicht?“, fragte sie in geradezu schrillem Tonfall weiter. Sie bemühte sich ihrer Stimme wieder einen natürlicheren Klang zu verleihen, nur so würde sie der Situation etwas so Alltägliches wie nur möglich geben können. Sie musste unbedingt eine Verbindung zum Schatthenmeister aufbauen und ihn davon abbringen, so auf der Hut zu sein. Das war bloß sehr viel leichter gesagt als getan, denn er ignorierte sie gekonnt. Neuer Versuch. „Wir sollten uns jetzt auf die Suche nach Secret machen.“ Er reagierte nicht. Sein Blick war auf das Bild konzentriert, auf dem die anderen zu sehen waren. „Sie könnten sich auch jederzeit zu dir teleportieren, während du sie beobachtest.“ Sein Kiefer verhärtete sich kurz. „Du hast wegen der Schatthen Kopfweh, nicht wahr?“ Sie glaubte, ein kurzes Zucken in seinem Gesicht erkannt zu haben. Sie war also auf der richtigen Spur. „Deshalb sollen die anderen die Schatthen einsammeln, bevor wir nach Secret suchen, richtig?“ Wieder antwortete er nicht. „Aber das können sie auch ohne dich und wir kümmern uns schon mal um Secret.“ Grauen-Eminenz stöhnte. Das war ein gutes Zeichen. Es bedeutete, dass er langsam aber sicher keinen Nerv mehr dazu hatte, sie zu ignorieren. „Du willst Secret doch auch finden. Du hast schließlich gesagt, dass du nicht wolltest, dass er uns angreift.“ Grauen-Eminenz stieß nochmals geräuschvoll die Luft aus. Er musste von ihrer Fragerei mittlerweile ermüdet oder gereizt sein. „Und du hast uns mit den Allpträumen geholfen. Das heißt, du bist gar nicht so böse wie du tust.“ Ein tiefes Grollen drang aus seiner Kehle. Sie wartete und versuchte, tief auszuatmen, um sich selbst zu beruhigen. Ihr war bewusst, dass sie mit dem Feuer spielte. Grauen-Eminenz drehte sich zu ihr. Abscheu war in seinen Zügen zu lesen. Lächeln! Sie musste lächeln! Sie stellte sich vor, einer ihrer Freunde würde vor ihr sitzen. Daraufhin machte er ein Gesicht, als hielte er sie für komplett gestört und wisse nicht, wie er darauf reagieren sollte. „Du hast bestimmt deine Gründe, Schatthenmeister zu sein.“, unterstellte sie ihm und ballte unbemerkt die Hände zu Fäusten, um das Kommende auszuhalten. Seine Augen verengten sich. „Gründe sind Ausreden.“ Er wandte sich ab. „Ich bin nicht nett.“ Unite gab ein Kichern von sich. Es war leicht zu erkennen, dass ihr Verhalten ihn wahnsinnig machte. Doch bisher war er nicht gewalttätig geworden. Sie durfte nicht locker lassen. „Du hast uns beschützt. Vor den Allpträumen. Und vor Secret.“ Sie dachte an Justin und setzte ein Lächeln auf, das sie sonst ihm zeigte. „Ich finde dich nett.“ Der Knall, den Grauen-Eminenz‘ Faustschlag auf dem Kontrollpult erzeugte, ließ Unite zusammenzucken. Seine Stimme schwoll an und wurde so dunkel und unmenschlich, wie Unite es nur aus Filmen kannte. Der ganze Raum wurde von dem Dröhnen seiner Worte erfüllt. „Du weisst nicht, wer ich bin!“ Unite unterband ein Zittern, holte tief Luft, atmete langsam aus und nahm ihren ganzen Mut zusammen. Verschwörerisch beugte sie sich zu ihm. Kindlich unschuldiger Ton!, ermahnte sie sich. „Bist du der Teufel oder so was?“ Grauen-Eminenz stieß ein Geräusch tiefer, verzweifelter Entnervtheit aus, das er mit einer ausladenden Bewegung seiner Arme untermalte. Sie atmete erleichtert auf. Das war sehr viel glimpflicher ausgegangen, als sie befürchtet hatte. Aber sie war noch nicht am Ziel. Mit gekonnt fröhlicher Stimme setzte sie fort: „Es ist doch nicht schlimm, nett zu sein! Das kann jedem mal passieren.“ „Ich bin nicht nett!“, beharrte er, nun deutlich weniger angsteinflößend als vielmehr am Ende seines Lateins angekommen. Sie lächelte ihn an. „Hör auf zu lächeln!“, schimpfte er. Sie legte den Kopf schief, schürzte die Lippen und wechselte in die Rolle eines arglosen kleinen Mädchens. Sie musste einfach nur Ewigkeit nachahmen. „Aber es ist so anstrengend, böse zu schauen.“ „Dann schau verängstigt!“ „Das ist auch anstrengend.“ Grauen-Eminenz griff sich mit beiden Händen an den kahlen Schädel, als hielte er es nicht länger mit ihr aus. Unite war wirklich von ihm beeindruckt. Darauf, dass er sie ab einem bestimmten Punkt mit Gewalt zum Schweigen bringen würde, hatte sie sich gefasst gemacht. Um herauszufinden, wo diese Grenze lag, war sie bereit gewesen, den Schmerz zu ertragen. Doch es hatte sich herausgestellt, dass er sich zivilisierter als manch anderer Erwachsene verhielt. Dieser Mann war so viel beherrschter und menschlicher als sie je zu hoffen gewagt hatte. Dennoch durfte sie nicht unvorsichtig werden. „Redest du jetzt mit mir?“, fragte sie. „Nein.“ Sein Blick war wieder auf die Anzeige vor ihm fixiert. „Aber du hast doch gesagt, du wolltest mit uns Experimente machen. Das heißt, du willst irgendwas über uns erfahren. In dem Fall könntest du auch einfach fragen.“ Er antwortete wieder nicht. „Interessiert dich nicht, was Secret vorhat?“ Seine Augen wanderten nur kurz zu ihr. „Er könnte noch mehr anrichten als nur die Schatthen freizulassen. Deshalb sollten wir keine Zeit verlieren.“ „Er ist nicht hier.“, gab Grauen-Eminenz knapp von sich. „Woher weißt du das?“, fragte Unite. Er ging nicht auf ihre Frage ein. Sie versuchte nochmals, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Er hat sicher einen Hinweis hinterlassen, wo er ist.“ Abschätzig sah Grauen-Eminenz sie an. „Das ist ein Spiel für ihn.“, erklärte sie. „Er hat das eingefädelt, um unsere Aufmerksamkeit zu bekommen. Das ist seine Art. Deshalb hatte er uns am Eingang diesen Zettel hinterlassen. Ich bin sicher, irgendwo hat er noch einen Hinweis versteckt.“ Grauen-Eminenz‘ Augenbrauen gaben deutlich wieder, dass er ihre These iin Abrede stellte. Unite ignorierte es und ließ ihre Stimme künstlich nachdenklich klingen. „Nur wieso hat er dich mit ins Spiel gebracht? Das hat er bisher noch nie gemacht.“ Plötzliche Schockierung trat in das Gesicht des Schatthenmeisters, die sie nicht einordnen konnte. „Wie oft?“, fragte er. Unite blinzelte. „Wie oft ist er bei euch aufgetaucht?“, konkretisierte er die Frage. Unite zögerte einen Moment und wägte ab, ob sie ihm die Wahrheit sagen sollte. „Nach dem ersten Mal in der Finster GmbH noch zwei Mal.“ Zwischen Grauen-Eminenz‘ Augenbrauen erschienen tiefe Falten. Er sah ernsthaft besorgt aus. Unite versuchte daraus schlau zu werden. „Ist irgendwas passiert?“ „Wann war das?“, wollte Grauen-Eminenz wissen. „Das letzte Mal war vor etwa einer Woche. Freitags.“ Diese Eröffnung löste etwas in Grauen-Eminenz aus. „Was hat er da gemacht?“ Dieses Mal entschloss Unite sich zu einer Gegenfrage. „Was hast du gemacht?“ Es war dem Schatthenmeister anzusehen, dass an diesem Tag etwas vorgefallen war. „Nichts, was hiermit etwas zu tun hat.“, antwortete Grauen-Eminenz ausweichend und wollte sich abwenden. „Da liegst du falsch.“, sagte Unite bestimmt. „Es hat einen Grund, dass er uns hierhin geschickt hat. Und es hat etwas mit dir zu tun.“ Grauen-Eminenz antwortete nicht. „Wo würde Secret einen Hinweis für dich hinterlassen?“ „Er hat schon, was er wollte.“ „Was denn?“, erkundigte sich Unite. „Rache.“ Unite lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Du unterschätzt ihn. Wenn er sich rächen wollte, dann wäre er jetzt hier.“ Grauen-Eminenz sah sie fragend an. „Er will sehen, wie jemand leidet.“, sagte sie leichthin. „Also hat er etwas anderes vor. Und dafür brauchen wir den nächsten Hinweis.“ Etwas im Blick des Schatthenmeisters änderte sich. „Wie heißt du?“ „Vereinen.“, verkündete sie. „Du kannst mich Unite nennen.“ Offenbar hielt er das für einen Scherz. Unite erklärte: „Du weißt schon: Schicksal Verändern, Vereinen, Vertrauen, Wunsch – Geheim“ „Ihr benutzt das ernsthaft als eure Namen?“ Das Gesicht, das er zog, war witzig. Unite zuckte gut gelaunt mit den Schultern. „Immerhin stehen sie in einer Prophezeiung. Was bedeutet Grauen-Eminenz?“ „Das ist ein Wortspiel.“, grummelte er. „Eine Graue Eminenz ist jemand, der im Hintergrund die Fäden zieht.“. Sie war überrascht, dass er ihr tatsächlich darauf antwortete. „Ah, und du bist eine Grauen-Eminenz. Das ist clever!“, entgegnete sie. Daraufhin zog Grauen-Eminenz ein Gesicht, wie sie es von Vitali gewöhnt war, wenn er nicht zeigen wollte, dass er sich über etwas freute. Sie musste grinsen, denn irgendwie war das niedlich.   Zwar konnte Change seine Teleportation innerhalb des Schatthenreichs einsetzen, doch sein Versuch, in die normale Welt zurück zu teleportieren, war kläglich gescheitert. So blieb ihnen nichts anderes übrig als die paralysierten Schatthen in das Gehege zu teleportieren, das Grauen-Eminenz ihnen zuvor gezeigt hatte – um genau zu sein, handelte es sich eher um einen grauen Betonklotz, der an ein riesiges Gefängnis erinnerte. Zur Bewältigung dieser Aufgabe schloss Desire sie alle in einen Schutzschild ein, jeder von ihnen berührte mit einer Hand Changes Rücken, während dieser mit den Händen jeweils einen Schatthen ergriff. Besonders bei den ersten Malen hatte es Change viel Überwindung gekostet, die Prozedur durchzuziehen, schließlich war er derjenige, der dafür Körperkontakt mit den tödlichen Kreaturen herstellen musste. Und das war alles andere als angenehm. Doch rückblickend hatte sich dieses Vorgehen am Anfang deutlich einfacher gestaltet als jetzt. Zuvor war das Gefängnis der Schatthen leer gewesen, doch nun mussten sie stets darauf gefasst sein, dass Destinys Paralyse bei den bereits hereingebrachten Lichtlosen aufgehört hatte zu wirken und die Bestien sie angriffen. Entsprechend hatte Destiny bereits die Arme erhoben, um im richtigen Moment ihre lähmenden Fähigkeiten einzusetzen, während Trust sich auf seine Beschützerattacke konzentrierte, denn auch wenn sie den Schatthenmeister nicht gegen sich aufbringen wollten, so hatte Trust doch entschieden, im Notfall die Schatthen aufzulösen. Nachdem sie die nächste Ladung Schatthen einen nach dem anderen abgeliefert hatten, konnten sie für einen kurzen Moment aufatmen. Destiny nutzte die Gelegenheit, um per Telepathie Kontakt mit Trust und den anderen herzustellen. # Wir sollten den Schatthenmeister angreifen, solange er geschwächt ist  ○ Change kann sich nur an einen Ort teleportieren, an dem er schon war. Und wir wissen nicht genau, wo der Schattenmeister sich gerade aufhält., wandte Trust ein. # Change kann sich auch zu jemandem teleportieren, den er kennt., monierte Destiny. ○ Es könnte dennoch für Unite gefährlich werden. Außerdem scheint der Schatthenmeister gerade der einzige zu sein, der Secret ausfindig machen kann., erwiderte Trust. Change klinkte sich ein. ! Dann zwingen wir ihn halt zu reden. ○ Wenn er paralysiert ist, kann er nicht reden., gemahnte Trust. ! Kannst du nicht einfach seinen Mund deparalysieren? Changes Frage ging offenbar an Desire. * Das habe ich noch nie gemacht. # Du könntest doch einfach seine Gedanken lesen, wandte Destiny an Trust gerichtet ein. ○ Der Schatthenmeister ist sehr stark. Wir sollten kein Risiko eingehen., antwortete er.   # Aber wir haben keinerlei Druckmittel! Wieso sollte er uns helfen?, verlangte Destiny zu erfahren.   ○ Unite versucht, mehr herauszufinden. Wir sollten ihr vertrauen und nichts tun, was sie gefährdet. ! Also weiter Schatthen fangen, schlussfolgerte Change. Im gleichen Moment wurde ein Blickfenster neben ihnen geöffnet, das ihnen den Aufenthaltsort weiterer Schatthen anzeigte.   Unite konnte ihren Augen nicht trauen! Es handelte sich um ein vollständig eingerichtetes Zimmer mit Bett, einem Kleiderschrank, Schreibtisch, Ablageflächen und einem mannshohen Spiegel. Das Zimmer war zwar nicht riesig, wirkte aber gemütlich. So wie im ganzen Schatthenreich gab es keine Fenster, aber das verlieh dem Ganzen umso mehr den Anschein eines Verstecks – eines Ortes, an den man sich zurückziehen konnte, wenn man dem Alltag entfliehen wollte. Sie drehte sich zu Grauen-Eminenz, der jedoch keine Miene verzog. „Ist das Secrets Zimmer?“ „Nun such schon.“, forderte er sie auf, als wäre ihm die Frage unangenehm. Zu diesem Zweck hatte er ihr sogar die Fesseln abgenommen. „Kommt er etwa öfter her?“, fragte sie neugierig. Grauen-Eminenz gab ihr mit einem Blick zu verstehen, dass er nicht auf diese Frage antworten würde, woraus sie schloss, dass sie richtig lag.  Sie musste grinsen. Es war eine seltsame Vorstellung, dass Secret freiwillig ins Schatthenreich ging. Doch die Einrichtung sprach auf jeden Fall nicht dafür, dass Grauen-Eminenz ihn für Experimente ins Schatthenreich schleppte. Sie tat ein paar Schritte in das Innere des Raums und sah sich um. Es gab hier keine persönlichen Gegenstände. Wenn sie es recht bedachte, besaß Secret dergleichen ja auch nicht. Die Bedroherkleidung war das einzige, das ihn auszeichnete und typisch für ihn war, alles andere gehörte zu Erik. Außer diesem Zimmer. Das hier war Secrets Bereich. „Hat er einen extra Zugang hier rein?“ Grauen-Eminenz schwieg wieder und bestätigte damit erneut ihren Verdacht. Sie fragte sich, ob er Eriks Zimmer mit Secrets Zimmer durch ein Portal verbunden hatte, sodass Secret hierher flüchten konnte, wenn er erwachte. Das wäre ziemlich clever und sehr umsichtig vom Schatthenmeister. Unite drehte sich zu ihm um und sah ihn einen Moment stumm an. „Was ist?“, fragte er gereizt. „Kümmerst du dich um Secret?“ Die Frage ließ ihn kurz innehalten. Dann wurde sein Gesicht betont ausdruckslos, doch der Ausdruck in seinen Augen ließ Unite vermuten, dass er gerade eine unliebsame Einsicht erlangt hatte. In Unites Hirn ratterte es. Wenn Grauen-Eminenz eine Bezugsperson für Secret war, ergab es langsam Sinn für sie, warum er sie und Grauen-Eminenz zusammengeführt hatte. Bei ihnen handelte es sich um die Menschen, die für ihn wichtig waren! Diese Erkenntnis mutete ihr ziemlich bahnbrechend an. Nochmals sah sie zu Grauen-Eminenz. Secret hatte eine gute Menschenkenntnis, wenn er den Schatthenmeister als Vertrauensperson anerkannte, dann musste das etwas bedeuten. Oder war das so eine Art Stockholm-Syndrom? „Mach schon!“, knurrte Grauen-Eminenz. Unite drehte sich wieder um und suchte auf dem Nachttischchen, am Boden und unter dem Bett nach einem Hinweis. Nichts. Dann schlug sie die Bettdecke beiseite und fand darunter einen Zettel. Alles, was du kannst, kann ich noch viel besser, stand darauf geschrieben. Unite hielt ihn Grauen-Eminenz hin. „Was soll das heißen?“, forderte er zu wissen. „Es geht um etwas, das du kannst.“, schlussfolgerte Unite. „Und offenbar will er dir beweisen, dass er es besser kann.“ Grauen-Eminenz verzog das Gesicht, als hielte er das für Unsinn. Sie trat vor ihn. „Was macht man denn als Schatthenmeister so?“ Nun schaute er wieder so argwöhnisch, als vermute er, sie erhoffe sich von seiner Antwort einen Vorteil. Unite überlegte und ging noch mal alle Infos durch, die ihr über Schatthenmeister bekannt waren. Als es um die Allpträume gegangen war, hatte Ewigkeit ihnen erklärt, dass Schatthenmeister Aufträge ihrer Organisationen erledigten. „Hast du gerade einen Auftrag, an dem du arbeitest?“ Grauen-Eminenz stockte. Unglaube zeichnete sich auf seinen Zügen ab.   Ha! Dieses Mal war Unites Lächeln echt.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)