Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 141: Am Ende der Selbstbeherrschung ------------------------------------------- Am Ende der Selbstbeherrschung   „So ehrlich kann ein Mensch gar nicht sein, dass er sich nicht selbst belügt.“ (Rupert Schützbach)   Mit dem Erwachen war alles wieder da. Die bedrückenden Gedanken des Vorabends drangen mit unveränderter Intensität auf sie ein und erneuerten das Leid. Dabei hatte sie so sehr gehofft, dass die Enttäuschung, die Schwere und Erschöpfung, die sie mit in den Schlaf genommen hatte, am nächsten Morgen verschwunden sein würden. Sie spürte das einnehmende Gefühl auf ihr lasten, welches ihr das logische Denken wie eine Sinnlosigkeit erscheinen ließ. Es war doch unbedeutend, wie sehr sie sich anstrengte, wie extrem sie sich zusammenriss und wie geduldig sie ausharrte. Es hatte alles keinen Zweck. Es änderte nichts daran, dass … Sie wusste, dass sie diese Gedanken nicht zulassen durfte! In einem Versuch ihrem Kopf zu entkommen, setzte sie sich auf und schwang ihre Beine aus dem Bett. Es waren doch nur Gedanken! Nichts als unglückselige Interpretationen! Ihr Gesicht verzog sich in Pein. Der Schlaf hätte ihr doch die Kraft zurückgeben sollen, sich gegen ihre Gedankengänge zu wehren! Doch dem war nicht so. Der Schmerz der Enttäuschung presste ihr das Herz zusammen. Sie ließ den Kopf hängen. Zu lange hatte sie gegen all das angekämpft. Zu lange hatte sie verzweifelt versucht, aufrecht stehen zu bleiben, egal was passierte. Fast hätte sie vor lauter Erschöpfung geschluchzt. Kurz zog sie den Kopf ein. Sie ballte die Hände zu Fäusten und zwang sich aufzustehen.   Während Vivien aus der Haustür trat, fühlte sich alles an ihr und in ihr wie eine ungeheure Last an. Ihre Gesichtsmuskeln waren mit einem Mal so schwer, sie zu einem Lächeln zu bewegen ein Ding der Unmöglichkeit. Bei dem verbissenen Versuch verzog sich ihre Miene zu einem völlig anderen Ausdruck. Sie ging nicht hinüber zu Justins Haus wie sie es sonst tat. Reglos stand sie da, zu sehr von ihren Emotionen belastet, als dass sie die Kraft besessen hätte, bei ihm zu klingeln und sich seinem Anblick zu stellen. Sie blieb einfach stehen und wartete. Die Verkrampfung um ihr Herz ließ nicht nach. Es dauerte nicht lange, dann bekam sie mit, wie jemand aus der Tür von Justins Haus trat. Sie ging davon aus, dass er es war. Den Blick heben wollte sie nicht. Der vertraute Klang seiner Schritte.  „Vivien…?“ Sorge schwang in seiner Stimme. Auch einen Hauch Angst glaubte sie herauszuhören. Sie zwang sich, aufzusehen, aber es war ihr unmöglich, ihn anzulächeln. Justins Gesichtsausdruck spiegelte seine Bestürzung wider. Er schien nach Worten zu ringen, machte den Ansatz, sie mit der Linken zu berühren, stockte jedoch in der Bewegung, als halte er das für etwas, das er nicht tun durfte. Die Erkenntnis schmerzte und peitschte die grausigen Gefühle in ihrem Inneren zusätzlich auf. Sie glaubte, kurz davor zu stehen, die Kontrolle zu verlieren. „Ist… Willst du mir was sagen?“ Vivien atmete frustriert aus. Sie hatte keine Lust, ihm etwas zu erklären. Allein die Vorstellung fühlte sich unendlich mühsam an. Sie schüttelte nur den Kopf. „Geht es dir nicht gut?“ Sie schwieg. Er wartete. Wieder seufzte sie stumm. Sie versuchte, Worte hervorzupressen. Es kam ihr entsetzlich schwierig vor. Alles war so unsäglich anstrengend. Ihr entwich ein weiterer Seufzer. Sie spürte den Schmerz in ihrer Brust. „Möchtest du lieber zu Hause bleiben?“ Vivien holte Luft und sah wieder zu ihm auf. Sie schüttelte den Kopf. Dann wandte sie sich einfach zum Gehen. Sie wusste, dass es Justin verletzen würde, dass sie ausgerechnet heute nicht seine Hand nahm. Das tat ihr leid, aber sie konnte nicht mehr.   Serenas und Arianes Streit hatte den Gedanken an Viviens Situation in den Hintergrund gedrängt. Am Morgen hatte die Aufmerksamkeit beider nur darauf gelegen. Den ganzen Schulweg über hatten sie sich bei einander für ihr Verhalten entschuldigt und die Missverständnisse geklärt. Da Vivien sich nicht mehr bei ihnen gemeldet hatte, waren sie davon ausgegangen, dass ihr Gespräch mit Justin gut verlaufen war. Doch als Vivien das Klassenzimmer betrat, war offensichtlich, dass etwas Unerfreuliches vorgefallen sein musste. Weder rief Vivien ihr überschwängliches Hallo, an das die anderen so gewöhnt waren, noch hob sie überhaupt den Blick, um irgendjemanden in Augenschein zu nehmen. Sie wirkte erschöpft und bedrückt, als hätte man sie ihrer Lebensfreude beraubt. Justin neben ihr sah sie voller Sorge und Reue an. „Ey, was is’n mit euch los?“, rief Vitali irritiert zu den beiden. Justin sah kurz zu ihm und machte den Eindruck, als würde ihn eine schwere Last zu Boden drücken. Sein Blick ging zurück zu Vivien, die nicht auf Vitalis Frage reagiert hatte, sondern sich einfach an ihren Platz begab, als hätte sie nicht mehr die Kraft, stehen zu können. Keiner antwortete Vitali. Vitali verzog das Gesicht in Unglauben. „Ist wer gestorben?“ Justin hatte sich ebenfalls gesetzt und senkte bloß den Blick, als könne er nicht darauf antworten. Sofort sprang Vitali von seinem Platz auf und trat an Viviens Seite, während Serena und Ariane sich besorgt zu ihr umdrehten. Er versuchte seiner Stimme, einen sanften Klang zu verleihen. „Hey, was ist denn?“ Vivien sah zu ihm auf und wirkte blasser und sogar noch kleiner als sonst. Ihre Stimme hatte nicht halb so viel Kraft wie üblich. „Mach dir keine Sorgen.“ Sie versuchte sich an einem Lächeln, sah damit aber nur umso trauriger aus. Vitalis Versuch, mit ihr zu reden, wurde vom Eintritt des Klassenlehrers unterbrochen. „Vitali, setzen.“, forderte Herr Mayer in knappem Befehlston. Unwillig folgte Vitali der Anweisung. Nochmals sah er besorgt zu Vivien. Erik flüsterte ihm zu: „Sie wird es dir später erzählen.“ Doch Vitali wollte darauf nicht warten. Viviens Zustand nahm ihn offensichtlich mit.   Als die Wirtschaftsdoppelstunde endlich vorbei war, wandte sich Serena umgehend an Vivien. „Kommst du kurz mit raus?“ Erschöpft sah diese sie an, als würde sie das zu viel Kraft kosten. „Bitte.“, ergänzte Serena. Entkräftet erhob Vivien sich. Ariane stand ebenfalls auf. „Du nicht.“, sagte Serena streng, nahm Vivien an der Hand und führte sie nach draußen. Es war Ariane anzusehen, als wie kränkend sie das empfand. Während Vitali in Windeseile an Justins Seite stürmte, trat Erik neben sie und schenkte ihr einen stummen Blick. Als das nichts half, legte er ihr kurz die Hand auf die Schulter. Da ihr vertraut war, wie sehr er körperliche Nähe sonst mied, verfehlte dies seine Wirkung nicht. Vitali setzte sich auf Viviens nun freien Platz. „Was ist los?“ Betrübt blickte Justin auf die Schulbank, er antwortete nicht. Als er immer noch schwieg, sprach Ariane. „Ihr seid doch gestern zusammengekommen. Was ist passiert?“ „Hä?“, stieß Vitali verwirrt aus. „Wie zusammengekommen?“ „Als Paar.“, antwortete Ariane. Vitali schaute verständnislos. „Die sind doch schon die ganze Zeit ein Paar.“ Ariane schüttelte den Kopf, wie um Vitali klarzumachen, dass er damit falsch lag. Daraufhin gaffte Vitali Justin fassungslos an. „Hääää? Wieso hast du nichts gesagt?!!“ Justin schaute, als verstünde er nicht, warum er Vitali etwas hätte sagen sollen. Vitali verzog daraufhin beleidigt das Gesicht. „Du musst nicht darüber reden.“, sagte Erik und bekam von Vitali einen eindeutigen Blick zugeworfen. Er war anderer Meinung! Ariane versuchte, Justin einen Punkt zu geben, an dem er ansetzen konnte. „Sie wollte dich gestern auf deine Vergangenheit ansprechen.“ Die Betroffenheit ließ Justins Stimme zusammenschrumpfen. „Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe.“ „Habt ihr euch gestritten?“, hakte Ariane nach. „Nicht… wirklich.“, antwortete Justin, weiterhin ohne einen von ihnen anzusehen. „Aber was hat sie dann?“, fragte Ariane. Justins Gesicht verzog sich gequält. Eriks Tonfall war nüchtern. „Vielleicht hat es gar nichts mit dir zu tun.“ Nun blickte Justin auf und sein Gesichtsausdruck sagte deutlich, dass er davon überzeugt war, dass er für Viviens Zustand verantwortlich war. „Ich kapier das nicht.“, stieß Vitali aus. „Wenn ihr vorher nicht zusammen wart, aber jetzt zusammen seid, warum freut ihr euch dann nicht?“ Justin machte sich klein. Vitali sah verwirrt zu Ariane und Erik. „Freut man sich dann nicht?“ Die beiden antworteten nicht „Freust du dich?“, wollte Vitali von Justin wissen. Justin schien von der Frage völlig überrumpelt, als wäre er unfähig sich zu freuen, solange Vivien so niedergeschlagen war. „Hat sie irgendwas zu dir gesagt?“, fragte Erik. Justin schüttelte den Kopf. „Nicht mehr seit gestern Abend. Sie war heute Morgen völlig anders. Ich hab mehrfach gefragt, ob es ihr nicht gut geht, aber sie meinte nur, dass ihr heute nicht nach Reden zumute ist.“ „Und wieso beziehst du das dann auf dich?“, wollte Erik von ihm wissen. Justin ballte die Hände zu Fäusten und blieb ihm eine Antwort schuldig.   Serena brachte Vivien in eine möglichst stille Ecke des Schulhauses. „Was ist passiert?“, fragte sie besorgt. Vivien zuckte mit den Schultern. „Willst du nicht mit mir reden?“ Viviens Mund verzog sich gequält. Sie sagte immer noch nichts. Serena zog sie kurzerhand in eine Umarmung. „Es tut mir leid, dass ich gesagt hab, dass du mit ihm reden sollst, das war eine dumme Idee. Es tut mir so leid!“ Serena spürte, wie Vivien eine Bewegung mit ihrem Kopf machte. Sie konnte allerdings nicht einordnen, ob es sich um ein Kopfschütteln oder ein Nicken handelte. Dann spürte sie, wie sich Viviens Finger an ihr Oberteil krallten. Einen Moment lang hielt Serena sie einfach. Mit ihrer Größe, einen ganzen Kopf kleiner als Serena, wirkte Vivien zerbrechlich, obwohl sie eher kurvig als zierlich gebaut war. Serena ging wieder einen Schritt zurück und sah sie an. Vivien wich ihrem Blick aus. „War es so schlimm?“ Vivien schüttelte den Kopf. „Was ist es dann?“, fragte Serena hilflos. Erneut antwortete Vivien nicht. Serena seufzte. „Du weißt nicht, was los ist?“ Vivien schwieg, ihr Blick war weiter zu Boden gerichtet. Serena war am Ende ihres Lateins. Sie wusste nicht, wie sie Vivien beistehen sollte, wenn Vivien sich ihr nicht öffnete. Vielleicht lag es ja auch an ihr. Vielleicht war sie zu ungeschickt darin, Vivien zu helfen, nicht einfühlsam genug. Sie verzog den Mund. „Willst du wieder rein?“, fragte sie vorsichtig. Vivien nickte.   Zurück im Klassenzimmer sah Vivien, dass die anderen wie zu einer Notsitzung um ihren Tisch herum standen. Sie fühlte einen Stich in ihrer Brust. War es so schlimm, dass sich jeder um sie sorgte? Vitali räumte ihren Platz und auch Erik ging zur Seite. „Wir müssen rüber.“, sagte Erik zu Ariane. Der Spanisch-Unterricht fand im Zimmer der Parallelklasse statt. Vivien setzte sich und getraute sich nicht, Justins Blick zu erwidern. Es war ihr nicht entgangen, wie entsetzlich von Kummer zerfressen er aussah. Das tat ihr im Herzen weh. Sie wollte nicht, dass er sich Sorgen machte, aber sie konnte ihn nicht anlächeln. Nicht heute. Sie wollte nicht, dass die anderen mitbekamen, wie es ihr ging, aber sie hatte nicht die Kraft, sich den Anschein zu geben, alles wäre bestens. Sie fühlte sich so erschöpft und enttäuscht von sich selbst. Sie wollte einfach nur den Schultag hinter sich bringen. Als Justin sie heute Morgen gefragt hatte, ob sie lieber zu Hause bleiben wollte, hatte die Aussicht, alleine zu sein, allerdings ebenso bedrückend und einschnürend gewirkt wie jetzt die Nähe zu ihren Freunden. Sie hatte das Gefühl, keine Luft zum Atmen zu haben, egal ob allein oder in der Gesellschaft anderer.   Während der Französischstunde, in der sie sich sonst immer zu Serena setzte, blieb Vivien dieses Mal an ihrem Platz sitzen. Einfach weil es sie zu viel Überwindung gekostet hätte, irgendetwas zu tun. Während des Unterrichts waren die anderen wenigstens auf etwas anderes als ihren Gemütszustand konzentriert. Sie ertrug es kaum zu sehen, wie viel Kummer sie allen bereitete. Das schlechte Gewissen peinigte sie. Normalerweise war sie so gut darin, ihre Gefühle zu kontrollieren. Sie war eine Meisterin darin, eine Schauspielerin, aber sie fühlte sich so ausgelaugt.   In der Pause kamen Erik und die anderen zurück ins Klassenzimmer und wieder sahen sie direkt zu ihr. Vivien erhob sich. Dieses Mal rang sie sich ein möglichst natürliches Lächeln ab und versuchte ihrer Stimme den gewohnt quirligen Klang zu verleihen: „Ich geh kurz aufs Klo.“ Es klang sehr viel schwächer als sie gehofft hatte. Sie musste mehr Energie in ihre Gesten und ihre Stimme legen! Aber allein Justins Anblick ließ sie sich so schwach fühlen, geradezu ohnmächtig. „Ich komme mit.“, rief Serena und wollte aufstehen. Vivien legte so viel Energie wie nur möglich in ihre Stimme. „Nicht nötig!“ Sie kicherte und tänzelte in ihren üblich fröhlichen Bewegungen schnell aus dem Zimmer. Auf dem Flur rannte sie, aus Sorge, die anderen könnten ihr doch noch hinterherkommen. Sie brauchte einen Moment ohne die Beobachtung von ihnen, einen Moment, um Kraft zu tanken, die sie dringend brauchte, um den restlichen Tag und besonders den Heimweg mit Justin zu überstehen. Allein der Gedanke daran, zog ihr das Herz zusammen.   „Wir sollten direkt in den Park gehen.“, verkündete Serena den anderen, nachdem Vivien den Raum verlassen hatte. Solange sie in der Schule waren, versuchte sie sich möglichst unverfänglich auszudrücken und vermied das Wort Hauptquartier. Die anderen sahen sie verwirrt an. „Sie ist doch offensichtlich besessen!“, rief sie, zu spät merkend, dass diese Wort alles andere als normal wirkte. „Ich glaube nicht, dass …“, druckste Justin. „Natürlich!“, rief Serena. „Ihr seht doch, wie sie sich verhält. Das ist nicht normal. Ich habe es auch nicht gemerkt, als ich…“ Kurz unterbrach sie sich. „Ich war total wütend, als Vitali Ewigkeit auf mich angesetzt hat!“ Vitali verzog kurz den Mund. Die noch allzu frische Erinnerung ging ihnen beiden nach. Erik wirkte wenig überzeugt. „Denkst du nicht, dass sie dann genauso wütend sein wird?“ „Doch.“, gab Serena zu. „Trotzdem. Ich will nicht, dass sie… ich will nicht, dass es ihr so geht wie mir.“ Ihr war anzusehen, wie sehr sie Vivien beschützen wollte. Justin presste hervor: „Sie ist einfach nur enttäuscht von mir.“ „Das glaubst du doch selbst nicht!“, blaffte Serena ihn an. „Keiner ist wegen jemand anderem so drauf!“ Ariane warf ihr einen zweiflerischen Blick zu. „Das hat immer persönliche Gründe.“, ergänzte Serena halblaut mit verschränkten Armen. „Okay.“, antwortete Vitali. „Und ihr wollt ihr das wann sagen?“, fragte Erik mit deutlicher Skepsis in der Stimme. „Nach der Schule.“, entschied Serena.   Vivien fuhr den Computer herunter, der Unterricht in Textverarbeitung war überstanden. Endlich war das Ende des Schultags erreicht. „Vivien?“ Sie blickte zu Serena neben ihr. „Wir gehen noch ins … Hauptquartier.“, eröffnete Serena ihr. Vivien antwortete mit einem irritierten Blick. „Okay?“, hakte Serena nach. Vivien antwortete nicht, sie fühlte sich nicht in der Lage zu widersprechen. Die Situation kam ihr surreal vor. Sie nahm ihre Jacke vom Stuhl und zog sich an. Aus Einfachheitsgründen hatten die anderen entschieden, dass Vitali sie alle teleportierte. Vivien sagte nichts dazu. Im Hauptquartier angekommen, wandte sich Serena direkt an sie. „Es könnte sein, dass du besessen bist.“ Vivien spürte, dass sich ihre Augenbrauen senkten, ohne dass sie das willentlich gewählt hätte. „Ich hab das auch nicht gemerkt.“, sprach Serena weiter, wie um sie von dieser Idee zu überzeugen. „Aber du benimmst dich seltsam und –“ Viviens Augenbrauen zogen sich noch weiter zusammen. Sie sah zu den anderen und musste feststellen, dass alle der Meinung zu sein schienen, dass nur eine Besessenheit ihren heutigen Zustand erklären könnte. Nur Justin senkte den Blick. Natürlich bezog er wieder alles auf sich und bildete sich ein, dass er an allem Schuld war! Vivien biss die Zähne zusammen. Serena redete einfach weiter. „Ariane, kannst du deinen Schutzschild rufen?“ Vitali rief dazwischen: „Wir wissen doch noch nicht, welche Welle!“ Vivien ballte die Hände zu Fäusten. Nun erschien auch Ewigkeit. „Was ist los?“, fragte sie aufgeregt. „Vivien ist besessen.“, sagte Vitali, als wäre das etwas, worauf man sich einfach einigen konnte, um es wahr zu machen. Nun trat auch auf Ewigkeits Züge dieser mitleidige Ausdruck. „Vivien, wie fühlst du dich denn?“, drängte Ariane zu erfahren. Das war zu viel: die Blicke der anderen, die Erwartungen, der Druck. Vivien hielt es nicht länger aus. „Lasst mich in Ruhe!“, kreischte sie kraftlos.   Alle sahen sie an, als hätte sie sich vor ihren Augen in etwas Fremdartiges verwandelt und dadurch bestätigt, dass nicht sie selbst die Ursache für ihr Verhalten sein konnte. Alle bis auf Erik. Sein Blick war gefasst und ruhig. Er trat festen Schrittes zu ihr. „Komm.“ Ohne Umschweife führte er sie mit einer flüchtigen Berührung ihres Arms weg von den anderen. Vivien wehrte sich nicht. Dazu hatte sie nicht die Kraft. Wenn sie doch nur die Energie besessen hätte, den anderen vorzugaukeln, dass es ihr gut ging! Aber … etwas in ihr wollte nicht mehr, war nicht nur erschöpft, sondern auch wütend. Alles in ihr verkrampfte bei der Frage, auf wen oder was. Erst als sie im Trainingsbereich angekommen waren, nahm Erik wieder einen größeren Abstand ein. Sie machte sich auf eine weitere Befragung gefasst, denn offensichtlich würden die anderen keine Ruhe geben, bevor sie nicht wieder so war, wie sie sie kannten. Doch wie durch ein Wunder waren sie ihnen nicht gefolgt. Ohne sie anzusehen, lehnte Erik sich an die Wand neben dem Eingang und seufzte. Es war seltsam, dass er sie nicht zwang zu sprechen, noch ihr seine Aufmerksamkeit aufdrängte. Doch den Raum, den er ihr ließ, nahmen ihre erstickenden Gefühle und Gedanken ein. Davor wäre sie gerne davongelaufen. Vor sich selbst. Erik drehte nun doch sein Gesicht ihr zu. „Was hat Justin zu dir gesagt?“   Er konnte Viviens Gesicht ansehen, dass sie nicht darüber reden wollte. „Ich verrate niemandem, was du mir hier anvertraust.“, versicherte er ihr und wartete ab. Doch auch das schien sie nicht zum Reden bewegen zu wollen. „Vivien.“, sprach er sie daher an. „Die anderen haben mir erzählt, dass du gestern noch mit Justin reden wolltest. Er wollte uns nicht sagen, worum es ging, aber er hat gemeint, dass du danach so warst wie jetzt. Worüber habt ihr geredet?“ Offenbar hatte er den wunden Punkt getroffen, denn etwas Leidendes trat in ihre Züge. Er ließ ihr Zeit. Ihre Körperhaltung verkrampfte sich, schließlich presste sie hervor: „Sex.“ Erst im nächsten Moment wurde Erik klar, dass er ziemlich blöd aus der Wäsche gucken musste. Hastig änderte er seinen Gesichtsausdruck. Es war bloß so seltsam, Vivien das sagen zu hören. Justin und sie waren doch gestern erst zusammengekommen. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen. „Wolltest du…“ Er wusste nicht recht, wie er das ausdrücken sollte, zumal er sich nicht wirklich vorstellen konnte, dass Vivien nach all ihrer Geduld mit Justin so überstürzt nach vorne geprescht war. Dazu kannte sie Justin doch viel zu gut. Entschieden schüttelte Vivien den Kopf. „Es ging nur ums Knutschen und dann… Er hat so darauf reagiert, als ich gesagt habe, dass ich mir -“ Sie seufzte. „Es ging doch nur darum, dass ich solche Gedanken habe, nicht dass ich irgendwas machen würde.“ „Und Justin hat das falsch verstanden.“, nahm er an. Vivien ließ den Kopf hängen. „Das ist sein Problem. Es hat nichts mit dir zu tun.“, versuchte er sie zu beruhigen. Aber seine Worte schienen Vivien nur zusätzlich zu schwächen. „Vivien?“, sagte er eindringlich. „Worum geht es wirklich?“ Sie sah getroffen zu ihm auf. Sie wirkte so zerbrechlich wie nie zuvor. „Ich kann nicht mehr.“, hauchte sie atemlos. Aus der jähen Sorge heraus, sie könne im nächsten Moment zusammenbrechen, machte er einen Schritt auf sie zu. Sie begann zu zittern. „Vivien…“ Ein innerer Kampf fand offenkundig in ihr statt. Er getraute sich nicht, sie zu berühren. Sie schien das nicht zu wollen. „Ich kann nicht mehr.“, schluchzte sie. Er konnte nicht einmal sagen, worauf sie das bezog. Meinte sie damit ihre Beziehung zu Justin? Nein, dafür machte sie zu sehr den Eindruck, als würde sie mit sich selbst hadern. Das hier ging viel tiefer als Zweifel an einer Beziehung. Auf einmal sank Vivien zu Boden, als könne sie sich nicht länger auf den Beinen halten. Sie zitterte, als würde sie von einem heftigen Schüttelfrost heimgesucht. Vorsichtig kniete er sich zu ihr. „Vivien?“ Er hatte Serenas nahen Nervenzusammenbruch wegen Amanda mitbekommen, aber das hier… Das war ... „Ich kann nicht mehr.“, schluchzte sie erneut und krümmte sich zu einer Kugel zusammen. Erik legte ihr nun doch die Hand auf den Rücken. „Du musst nichts tun.“ Er wusste gerade nicht, welche Worte die passenden waren. Eigentlich wollte er nur wissen, was sie nicht mehr konnte. Vivien gab ein Wimmern von sich. Er legte ihr beide Hände auf die angezogenen Schultern. „Vivien, was kannst du nicht mehr?“ Vivien hob ihr schmerzverzerrtes Gesicht. Sie gab jämmerliche Geräusche von sich. „Vivien.“, sagte er deutlich strenger als beabsichtigt. Ihr bitterliches Weinen war ihm unerträglich. Endlich drangen Worte aus ihrem Mund, mehr geschluchzt als gesprochen. „Ich kann nicht mehr ich sein.“ Reflexartig riss er seine Hände von ihren Schultern zurück. Diese Worte... „Alle“, schluchzte sie. „erwarten, dass ich wieder fröhlich bin. Aber ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr.“ Erik zwang sich, seinen hektisch gewordenen Atem zu kontrollieren. „Das erwarten sie bestimmt nicht.“, sagte er ernst. Ruhe bewahren. Viviens Zustand durfte er nicht zu nahe an sich heranlassen. „Sie denken sogar, ich bin besessen.“, wimmerte Vivien. „Das denken sie nur, weil das gestern passiert ist. Sie machen sich Sorgen um dich. Das heißt nicht, dass du nicht auch mal traurig sein darfst.“ Vivien schüttelte den Kopf. „Justin.“ „Was ist mit Justin?“ „Er kann das nicht ertragen.“ „Justin gibt sich die Schuld, dass es dir schlecht geht. So wie er sich immer gleich die Schuld gibt. Das ist nicht das Gleiche wie dass er es nicht ertragen kann. Er denkt einfach, dass er der Grund dafür ist.“ Wieder schluchzte Vivien. Ein Gedanke formte sich in Eriks Kopf. Oder kam er aus einem Gefühl? Seine Stimme wurde fast unsicher. „Er ist nicht der Grund… Justin ist der Anlass.“ Das Zittern kam wieder. „Vivien, was geht in dir vor?“ Sie schüttelte vehement den Kopf. „Solange du dich dagegen wehrst, wird es nur schlimmer!“, schimpfte er. Plötzlich sprang Vivien in seine Arme und begann regelrecht zu schreien vor Leid. Sie erbrach solch erbärmliche Schluchzer, dass Erik sie nur hilflos festhielt. Sie schien sich gar nicht mehr beruhigen zu wollen. Erik schnappte nach Atem. Aus einem ihm unerfindlichen Grund gingen ihm Viviens Tränen näher als alles Bisherige. Ihm war auf einmal selbst zum Heulen zumute. Er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und atmete durch den Mund aus und ein, in einem Versuch, sich zu beruhigen. ‚Ich kann nicht mehr ich sein‘ Die Worte hallten durch seinen Geist. Er schluckte. „Du brauchst nicht immer fröhlich sein.“, sagte er mit beherrschter Stimme. „Du bist viel mehr als das.“ Auf seine Worte hin erbebte ihr ganzer Körper erneut, als wehre sie sich vehement gegen das, was er sagte. Erik konnte nicht fassen, dass es ihm die ganze Zeit entgangen war! Ja, er hatte gewusst, wie clever Vivien war und dass sie ein unheimliches Talent besaß, Menschen und Situationen zu lenken. Aber was für eine enorme Selbstkontrolle sie dafür brauchte, ja, wie extrem selbstbeherrscht sie die ganze Zeit über gewesen war, wurde ihm nun erst angesichts ihres aufgelösten Zustandes wirklich begreiflich. Dabei hielt er sich selbst für einen Experten auf dem Gebiet der Selbstkontrolle. Schließlich war er dazu erzogen worden, sich selbst stets im Griff zu behalten und nicht zu zeigen, was wirklich in ihm vorging. Aber die Art von Selbstbeherrschung, die er kennengelernt hatte, war immer kalt gewesen, distanziert und abweisend. Vivien dagegen nutzte ihre Selbstbeherrschung völlig anders. Deshalb hatte er es bisher nicht verstanden. Wenn Vitali fröhlich war, dann aus der Situation heraus, unkontrolliert, ohne Hintergedanken. Vivien dagegen war selbst in ihrer Fröhlichkeit kontrolliert, auf eine Art und Weise, die Erik so nicht kannte. Sie lenkte ihre Gefühle offenbar stets mit ihrem Verstand. Er wusste nicht, wie genau sie das machte. Vielleicht durch ihre Gedanken. Doch jetzt, in diesem Zustand, waren ihre Gedanken völlig außer Kontrolle geraten, weil sie nicht mehr die Kraft hatte, sie willentlich zu steuern oder sich von ihnen frei zu machen und selbst zu wählen. Er konnte nicht sagen, woher diese Einsicht kam, doch er wusste dennoch, dass sie der Wahrheit entsprach. Wie musste jemand sich fühlen, der sich immer so extrem kontrollierte und jetzt all dem ausgeliefert war, das er sonst durch pure Willenskraft in Schach hielt? War sie überhaupt noch in der Lage einzuschätzen, was in ihr vorging? Für einen Moment kam es ihm reichlich töricht vor, dass er bisher geglaubt hatte, derjenige zu sein, der am wenigsten zeigte, wer er wirklich war. Wusste überhaupt einer von ihnen, was in Vivien vorging? Was sie dachte und fühlte? Vivien wirkte immer so aufgedreht, selbstbewusst und fröhlich. Sie schämte sich nicht, mit Konventionen zu brechen oder sich in den Augen anderer lächerlich zu machen. Es war, als gelten für sie andere Regeln. Regeln, die sie selbst aufstellte. Aber was, wenn ihre Offenheit nichts als eine besonders geschickte Maskerade war, die keiner durchschaute, weil sie ja nichts geheimzuhalten schien, sondern umso mehr zeigte? Der Gedanke war belastend. Mittlerweile hatten Vivien wohl die Kräfte verlassen, sie schluchzte nicht mehr, sondern lag nur noch wie leblos in seinen Armen. Erik hielt sie fest, während er darüber sinnierte, was sie an diesen Punkt gebracht haben mochte. Offensichtlich war Justin bisher immer so etwas wie Viviens Fels in der Brandung gewesen, von dem es sich jetzt herausgestellt hatte, dass er sie nicht erlösen konnte. Wenn er so darüber nachdachte… Vivien hatte sich immer so sehr um Justin bemüht und Justin hatte das einfach abgetan. Und jetzt, wo sie zusammen waren, hielt er sie offenbar immer noch von sich fern. Nicht mit böser Absicht. Es ging ihm ja selbst nicht gut dabei, soweit Erik das einschätzen konnte. Aber Vivien war nun wohl völlig desillusioniert und mit ihren Kräften am Ende. Nach all den Anstrengungen, die sie unternommen hatte, um mit ihm zusammen zu sein, war die Hoffnung, sich endlich in einem perfekten Happy End ausruhen zu dürfen, an den Klippen der Realität zerschellt. Diese Erkenntnis hatte ihr wohl schmerzhaft klar gemacht, dass ihre Bemühungen nicht zu einem finalen paradiesischen Zustand führen würden. Justin konnte ihr nicht das geben, was sie sich selbst schenken musste. Keiner von ihnen konnte das. Und in gewisser Weise hatte das Gegenteil der Plage, von der Serena besessen gewesen war, Vivien in diese missliche Lage gebracht. Erik ergriff das Wort. „Vivien, Geduld und Selbstbeherrschung sind auch irgendwann mal zu viel. Du brauchst eine Pause.“ Sie reagierte nicht. „He.“, sagte er sachte und versuchte, sie etwas aufzurichten, sodass er ihr ins Gesicht sehen konnte. Er hielt sie an ihren Oberarmen fest. „Vergiss die anderen mal für einen Moment und schau, was dir gut tut, ok?“ Sie machte ein Gesicht, als dürfe sie das nicht. „Die anderen kommen damit klar. Du musst sie nicht immer schonen.“ Etwas trat in ihr Gesicht, als verstünde sie nicht, dass sie jemand anderem etwas zumuten konnte, sich zumuten, in all ihrer Unvollkommenheit. „Vivien, es hilft niemandem, wenn du dich verstellst, um nicht zu zeigen, wie es dir wirklich geht.“ Sie senkte wieder den Blick. „Sieh mich an.“, forderte er. „Du gehst jetzt nach Hause und ruhst dich aus. Ich rede mit den anderen und erkläre ihnen alles.“ Nun trat Verunsicherung in ihr Gesicht. Offenbar fürchtete sie, dass er ihnen ihr Geheimnis anvertraute. „Ich sage ihnen, dass du nicht besessen bist. Du hast dich einfach übernommen und brauchst Ruhe.“, präzisierte Erik. „Keine Sorge.“ Vivien nickte resignierend. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)