Von Vorurteilen und Veränderungen von Kerstin-san ================================================================================ Kapitel 1: Von Vorurteilen und Veränderungen --------------------------------------------                                                                                                                         ~ Fr, 15. Oktober 1976 ~   Im Gemeinschaftsraum der Gryffindors ist lautes Stimmengewirr zu vernehmen. Ein Teil der Schüler ist schon vom Abendessen zurück, während andere gerade erst hastig Taschen und Bücher in ihren Schlafsälen verstauen, um dann die Große Halle anzusteuern. Ein größerer Menschenauflauf hat sich in einer Ecke des Turms gebildet. „Na, wie siehts aus, Evans? Wir könnten doch zusammen nach Hogsmeade gehen.“ Fröhlich deutet James Potter auf den Aushang am schwarzen Brett, der den ersten Ausflug dieses Schuljahres in das Zaubererdorf für Anfang November ankündigt. Das Mädchen, das er anspricht, verdreht im Gegenzug allerdings nur genervt die Augen. „Und warum sollte ich das tun? Nenn mir einen guten Grund, warum ich mit dir ausgehen sollte“, will Lily kühl wissen und verschränkt abwehrend ihre Arme vor der Brust. Überraschtes Schweigen ist die Antwort, während James Potter sie ansieht, als hätte sie ihn mit dieser Frage auf dem völlig falschen Fuß erwischt. Er klappt seinen Mund auf, um zu einer Antwort anzusetzen, ehe er ihn doch wieder schließt, ohne einen einzigen Ton hervorzubringen. „Ich meine“, fährt sie giftig und mit einem Mal unglaublich wütend fort, „habe ich dir je den Eindruck vermittelt, dass ich dich mag? Denn falls ja, kannst du mir glauben, dass das ganz sicher nicht meine Absicht war.“ Immer noch keine Antwort, stattdessen runzelt ihr Mitschüler die Stirn und legt den Kopf etwas zur Seite, als würde er angestrengt darüber nachdenken, was er darauf nur entgegen könnte. „Dachte ich mir“, murmelt die Vertrauensschülerin leise und ist plötzlich wesentlich ausgelaugter als noch vor zehn Sekunden. „Also nein, Potter.“ Entschieden schlängelt sie sich an ihm vorbei, um den Gemeinschaftsraum zu verlassen und zum Abendessen zu gehen. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass sie die schlimmsten Sommerferien aller Zeiten hinter sich hat (Petunia war zickiger und abweisender denn je; kein Sev mehr, mit dem sie durch die Gegend stromern konnte und zu allem Überfluss musste sie auch noch die besorgten Nachfragen ihrer Mutter über sich ergehen lassen, warum sie so bedrückt aussieht und warum sich der liebe Severus denn nicht blicken lässt), nach knapp sechs Wochen Schule bereits in Hausaufgaben zu ertrinken scheint (wer hätte gedacht, dass es nach dem ZAG-Jahr einfach noch schlimmer kommen kann?) und nebenbei noch ihre ganzen Vertrauensschülerpflichten zu erledigen hat (Halloween rückt immer näher und es muss einiges für die alljährliche Feier organisiert werden), nein, jetzt muss ihr auch noch dieser Quälgeist weiter auf die Nerven fallen, der einfach nicht in der Lage ist ein unmissverständliches „Nein“ als das zu akzeptieren, was es ist. Sie hat es so satt. Am liebsten würde sie sich im Schlafsaal einsperren und diesen die nächsten beiden Wochen nicht mehr verlassen. Schneller als gedacht, hat sie die sieben Stockwerke hinter sich gebracht und lässt sich noch immer schlecht gelaunt am Gryffindortisch zwischen Emma und Alice nieder. Da Alice eher eine Zuhörerin ist, besteht keine Gefahr, dass sie Lily sofort in ein Gespräch verwickelt und Emma, die immer vor Lebensfreude sprüht, ist gerade damit beschäftigt, sich quer über den Tisch hinweg mit Marlene und Mary zu unterhalten. Letztere wirft Lily einen fragenden Blick zu, immerhin sitzen die beiden für gewöhnlich nebeneinander, aber diese schenkt ihrer besten Freundin lediglich ein halbherziges, aber wie sie hofft ausreichend überzeugendes, Lächeln und beginnt damit, sich einen Berg Bratkartoffeln auf den Teller zu laden. Mit halben Ohr lauscht sie den Gesprächen um sich herum und bemüht sich, ihre gereizte Stimmung so gut es geht zu verbergen. Sie hat wirklich keine Lust irgendjemandem zu erklären, warum sie kurz vor dem Wochenende so schlecht drauf ist und vor allem will sie ihren Unmut nicht versehentlich an ihren Hauskameraden auslassen. Momentan geht sie sich mit ihrer Stimmung selbst auf die Nerven.                                                                                                                           ~ So, 24. Oktober 1976 ~   „Weil ich dich wieder lächeln sehen will“, ertönt es urplötzlich aus dem Hintergrund und Lily, die bis eben konzentriert an ihren Aufsatz für Verteidigung gegen die dunklen Künste gearbeitet hat („Nennen und beschreiben Sie die Wirkungsweise der drei sogenannten Unverzeihlichen Flüche. Erörtern Sie, ob und wenn ja, in welchen Situationen, der Gebrauch dieser Flüche dennoch gerechtfertigt sein könnte.“), zuckt erschrocken zusammen und bekleckst versehentlich ihr halb beschriebenes Pergament mit Tinte. „Was?“ Überrascht fährt sie herum und stößt dabei auch noch beinahe ihr Tintenglas vom Tisch. Mitten in der Bibliothek, die Hände in den Hosentaschen vergraben und krampfhaft darum bemüht irgendwie locker auszusehen, steht James Potter. Lily weiß nicht, was sie mehr überrascht. Ihn überhaupt in der Bibliothek zu sehen oder dass er tatsächlich ohne seinen siamesischen Zwilling Black unterwegs ist. „Ich hab über deine Frage von neulich nachgedacht“, meint Potter ruhig. „Warum du mit mir ausgehen solltest und die Antwort ist: 'Weil ich dich wieder lächeln sehen will.' Du rennst seit Wochen mit einer Miene herum, als ob du jeden, der dich auch nur schief ansieht, einen Fluch aufhalsen willst. Du lachst nicht mehr, Evans und du hast ein tolles Lachen, glaub mir. Und ich...“ Er fährt sich nervös mit der Hand über den Nacken, während das Mädchen vor ihm ihn völlig entgeistert mustert. „Ich will dich einfach nur wieder lachen sehen. Ob du es glaubst oder nicht, aber man sagt mir nach, dass ich die Eigenschaft besitze, Menschen zum Lachen zu bringen“, fährt er mit schiefen Grinsen fort und das ist wieder so typisch James Potter, dass Lily ein tiefes Schnauben ausstößt, was die Augen ihres Klassenkameraden sofort zum Leuchten bringt. „Ha! Siehst du?“ Triumphierend deutet er auf ihr Gesicht und es fällt Lily äußerst schwer, ihre zuckenden Mundwinkel wieder unter Kontrolle zu bringen. Prüfend wirft sie einen Blick in Richtung Eingangstür, aber Madam Pince, die Bibliothekarin, ist nicht zu sehen und auch sonst scheint sich gerade kein Schüler in ihrer Nähe aufzuhalten. Überrascht und seltsam berührt mustert Lily ihren Mitschüler. „Ich… Also… Danke?“, murmelt sie unsicher und streicht sich äußerst verlegen eine dunkelrote Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie hat keine Ahnung, was jetzt eine passende Antwort wäre, aber es sieht nicht so aus, als würde der Rumtreiber vor ihr überhaupt eine erwarten. „Ist das jetzt ein ja?“, fragt er nur halb hoffnungsvoll, halb scherzend und es tut Lily mit einem Mal irgendwie leid, ihm schon wieder eine Abfuhr erteilen zu müssen, aber sie hat weder die Zeit noch die Nerven, um mit dem Jungen vor ihr auszugehen. Ganz zu schweigen davon, dass sie einfach keine Lust hat, einen freien Nachmittag damit zu verschwenden, etwas mit Potter zu unternehmen, nur weil der sich einmal in seinem Leben nicht wie ein Vollidiot aufführt. Trotzdem haben seine offenen Worte dafür gesorgt, dass es ihr sehr viel schwerer als sonst fällt, ihm eine ruppige Abfuhr zu erteilen. Sie seufzt auf, während ihr Blick prüfend über sein Gesicht gleitet. Die haselnussbraunen Augen sehen sie durch ein Paar Brillengläser auffordernd an und Lily zwingt sich dazu, eine gewisse Lockerheit in ihre Stimme zu packen. „Wie du ja gerade festgestellt hast, bringst du mich auch zum Lachen, ohne dass wir uns dafür verabreden müssen, also ist die Antwort immer noch nein.“ Sie kommt nicht umhin, zu bemerken, wie seine Schultern etwas in sich zusammensinken und seine Augen auf einmal angelegentlich an ihr vorbei starren. „Aber“, setzt sie nach und fragt sich entsetzt, was da auf einmal aus ihrem Mund stolpert, „ich bin sicher, dass du noch einen anderen Grund findest.“ James Potter neigt fragend seinen Kopf zur Seite und beobachtet sie mit zusammengekniffenen Augen. „Warte mal… Ermunterst du mich gerade, Evans?“, fragt er ungläubig und Lily bemüht sich krampfhaft um eine geistreiche Antwort, während ihr Kopf seltsam leer gefegt ist. Bei Merlin, was tut sie hier eigentlich gerade? Hat ihr etwa jemand heimlich einen Plappertrank untergemischt? „Ich glaube nicht, dass du so etwas wie Ermunterungen überhaupt brauchst“, murmelt sie schließlich nachdenklich und wird sich augenblicklich dem Paar Augen, das sie immer noch gespannt mustert, bewusst. Entschieden wendet sie sich wieder ihrem Aufsatz zu und hofft, dass Potter die verräterische Röte, die ihr gerade über die Wangen kriecht, nicht bemerkt hat. Meine Güte, wie peinlich! „Ich nehm dich beim Wort“, murmelt er vergnügt und Lily tunkt ihre Feder energisch in die Tinte, um ihm verstehen zu geben, dass das Gespräch jetzt beendet ist. Fröhlich vor sich hin summend verlässt ihr Mitschüler daraufhin die Bibliothek und die Vertrauensschülerin lässt ihren Kopf aufstöhnend auf den Tisch sinken, nachdem sie sich vergewissert hat, dass er auch wirklich verschwunden ist. Was war das denn bitte?                                                                                                                           ~ Sa, 27. November 1976 ~   Müde verhext Lily das Bündel Lametta vor ihr, das sich daraufhin wie von Geisterhand aus dem Korb erhebt, durch die Luft gleitet und sich dabei selbstständig über Rüstungen und Bilderrahmen verteilt. Einige Porträtbewohner huschen eilig davon, um die weihnachtliche Dekoration von anderen Bildern aus zu begutachten und ihr lauthals Verbesserungsvorschläge zuzurufen. „Zupf das noch ein bisschen nach oben!“ „Das da weiter nach links!“ „Nein! Stop! Das war zu viel! Ja, so ist es gut!“ Eine ältere, hutzelige Hexe lüftet höflich ihren Spitzhut und Lily macht sich eilig zu einigen angestaubten Rüstungen davon, ehe die übrigen Porträtbewohner noch weitere Wünsche anmelden können. Gähnend murmelt sie ein leises  „Ratzeputz“, um mehrere Spinnweben zu beseitigen. Normalerweise würde sie schon längst im Gemeinschaftsraum sitzen und sich von dem anstrengenden Schultag erholen, denn eigentlich hätten die Vertrauensschüler der fünften und siebten Klassen die weihnachtliche Dekoration der Flure übernehmen sollen, während die Vertrauensschüler der sechsten Klassen sich gemeinsam mit den Lehrern der Verschönerung der Großen Halle widmen wollten. Da aber aktuell eine Krankheitswelle unter der Schülerschaft von Hogwarts umgeht, die nicht nur die Viert- und Fünftklässler besonders stark getroffen hat, sondern auch gut die Hälfte aller Hogwartsvertrauensschüler vorübergehend außer Gefecht gesetzt hat, und Madam Pomfrey kaum noch mit den Aufpäppeltränken hinterher kommt, müssen die übrig gebliebenen Sechstklässler nun für ihre erkrankten Mitschüler einspringen und sich nach der Hallendekoration auch noch einigen Korridoren widmen. Und da es auch Remus wieder einmal erwischt hat, ist Lily an diesem Abend alleine unterwegs. Sehnsüchtig denkt sie an das prasselnde Kaminfeuer im Gryffindorturm, während sie fröstelnd den schwarzen Umhang enger um ihre Schultern zieht. Während Lily eine Rüstung anstupst und so verzaubert, dass sie ab morgen hoffentlich Weihnachtslieder von sich gibt, starrt sie geistesabwesend aus dem Fenster. Die Mondsichel steht bereits am Himmel und Lily wendet sich nur widerwillig von diesem Anblick ab, um ihre Arbeit fortzusetzen. Der Anblick des Mondes lässt ihre Gedanken unweigerlich zu Severus Anschuldigungen aus dem letzten Schuljahr, dass Remus ein Werwolf sei, wandern und wie immer kommt sie zu keinem befriedigenden Ergebnis. Im letzten Schuljahr hat sie auf der Suche nach einer plausibleren Erklärung - denn ein Werwolf wäre zwar eine logische Schlussfolgerung, aber gleichzeitig ist der Gedanke an einen Werwolf in Hogwarts so absurd und unvorstellbar, dass sie es einfach nicht glauben wollte - monatelang die Bibliothek nach magischen Krankheiten durchsucht, die in Schüben verlaufen und in regelmäßigen, zeitlichen Abständen auftreten, aber ohne Ergebnis. Dann standen die ZAG-Prüfungen vor der Tür, die all ihre Konzentration erfordert haben, dazu kam das abrupte Ende ihrer Freundschaft mit Severus und irgendwie hat sie in diesem Jahr vollkommen vergessen weiter nachzuforschen. Geistesabwesend lässt sie ein Bündel Mistelzweige in die Luft steigen, das sich, unter stetigem um sich selbst kreisen, langsam zur Decke des Korridors bewegt und dort von Lily magisch befestigt wird. Und jetzt fragt sie sich, ob es überhaupt eine Rolle spielt, welche Krankheit Remus hat, weil es sie eigentlich nicht das Geringste angeht. „Abend, Evans“, ertönt es hinter ihr und wie könnte es auch anders sein, es muss natürlich James Potter sein. Wie macht er das nur immer? Ständig taucht er genau dort auf, wo sie auch gerade ist. Fast so, als wüsste er einfach, wo sie in diesem riesigen Schloss immer anzutreffen ist. „Potter“, entgegnet sie nur knapp und ohne sich dabei umzudrehen. Sie wedelt kurz mit ihrem Zauberstab, um einem Porträt eine Ladung Stechpalmenzweige zu verpassen. „Wie kommst du voran?“, fragt er und Lily zuckt nichtssagend mit den Achseln. „Geht so“, murmelt sie schließlich. „Wir sind momentan etwas unterbesetzt.“ Sie dreht sich widerwillig herum, um den Korb, der noch immer zur Hälfte mit weihnachtlicher Dekoration gefüllt ist, weiter den steinernen Gang herunterschweben zu lassen. Mit einem unauffälligen Schnippen ihres Zauberstabs sorgt sie außerdem dafür, dass sich die restlichen Mistelzweige unten auf dem Boden sammeln, ehe Potter sie erspähen kann. Nur zur Sicherheit. Ihr Mitschüler nicht verstehend. „Ich komme gerade aus dem Krankenflügel. War Remus besuchen. Da ist es wirklich gerappelt voll. Sie mussten sogar die Betten zusammenrücken, damit sie noch einige Liegen unterbringen konnten. Remus lässt dich übrigens grüßen. Er sagt, es tut ihm leid, dass er dich in dem Weihnachtsstress alleine lässt, aber - und ich zitiere - dafür wird er dich im Januar bei deinen Pausenaufsichten entlasten und bis dahin sollst du deinen hübschen Kopf nicht hängen lassen.“ Lily blinzelt ihn verdutzt an. „Gut, ich gebs zu...“ Potter lächelt sie entwaffnend an und hebt entschuldigend die Hände. „Das mit dem hübschen Kopf hat er nicht gesagt.“ Müde kneift Lily sich in die Nasenwurzel, ehe sie beschließt das mit dem hübschen Kopf lieber zu überhören. „Das ist nett von ihm“, sagt sie stattdessen. „Aber er muss sich wirklich nicht dafür entschuldigen ausgerechnet jetzt krank geworden zu sein.“ Mit einem weiteren Wedeln ihres Zauberstabs lässt sie eine Reihe unschmelzbare Eiszapfen an einem Kronleuchter am Ende des Ganges erscheinen. Potter zuckt mit den Achseln. „Ach, du kennst doch Remus. Der fühlt sich doch immer für alles verantwortlich. Sag mal, brauchst du eigentlich Hilfe?“ Lily schüttelt entschieden den Kopf. „Du weißt doch ganz genau, dass Zauberei auf den Schulgängen für Schüler verboten ist. Nur wir Vertrauensschüler und die Schulsprecher sind davon ausgenommen“, erklärt sie und tippt zur Verdeutlichung ihr rot-golden glänzendes Vertrauensschülerabzeichen an, das gut sichtbar auf ihrem dunklen Umhang prangt. Ihr Mitschüler grinst sie schelmisch an. „Klar, weiß ich das, aber es war einen Versuch wert.“ Unschlüssig reibt er sich über das Kinn. „Stimmt es eigentlich, dass Slughorn dieses Jahr wieder eine Weihnachtsparty schmeißt?“, erkundigt er sich neugierig und Lily gibt ein zustimmendes Geräusch von sich. Sie weiß nicht recht, was sie von Slughorns regelmäßigen Treffen halten soll. All dieses elitäre Gehabe ist so gar nicht ihr Fall, aber Slughorn ist ein netter Lehrer, der Zaubertränke mit sehr viel Begeisterung unterrichtet. Außerdem scheint er sie wirklich zu mögen und bis vor den Sommerferien hatte sie ja auch Severus, mit dem sie dort reden konnte. Traurig senkt sie den Kopf. Severus. Aus genau diesem Grund hat sie es vermieden, zu den letzten Treffen zu gehen, aber auf den Weihnachtspartys von Slughorn sind auch immer Leute, die Hogwarts schon verlassen haben und vielleicht würde es sie ja auf andere Gedanken bringen. Außerdem fällt es ihr zunehmend schwerer, Slughorn gegenüber plausible Vorwände zu finden, warum sie nicht zu den Treffen kommen kann. „Und stimmt es auch, dass ihr andere Schüler einladen dürft?“, bohrt Potter hartnäckig weiter und urplötzlich ahnt Lily ganz genau, wo das hinführen wird. Sie wirft ihm einen kühlen Blick zu und will gerade zu einer schnippischen Antwort ansetzen, als sie bemerkt, dass der Zauberer gar nicht mehr auf sie achtet, sondern sich umgedreht hat und mit zusammengekniffenen Augen den Gang hinunter späht.  „Hey, Schniefelus, man belauscht andere Leute nicht! Hat dir deine Mutter nicht beigebracht, dass so etwas unhöflich ist?“, ruft er durch den Korridor. Mit einem Ruck dreht Lily sich um und tatsächlich, Severus steht nur ein paar Meter von ihnen entfernt und sieht sie beide mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck an. Trotzig reckt Lily das Kinn und erwidert herausfordernd seinen Blick, während ihr Herzschlag sich beschleunigt. Selbst mehrere Monate Abstand haben nicht dazu geführt, dass sie den Anblick ihres ehemals besten Freundes ertragen kann, ohne dass Wut und Enttäuschung in ihr hochkochen. So sehr sie es sich auch wünschen mag, sie kann die vielen Jahre, die sie zusammen verbracht haben, genauso wenig bei Seite schieben wie seine Beleidigung aus dem letzten Schuljahr. Im Unterricht gelingt es ihr meistens ganz gut ihre Gefühle im Zaum zu halten, weil sie sich vorab darauf einstellen kann, ihm zu begegnen, aber jedes Mal wenn sie ihm ungeplant in den Korridoren über den Weg läuft, hat sie das Gefühl, dass sie gleich aus der Haut fahren wird. Ob sich das jemals ändern wird? Lily glaubt Unsicherheit und fast so etwas wie Angst in Severus dunklen Augen zu erblicken, während er ihrem Blick ausweicht, aber das erscheint ihr so unwahrscheinlich, dass sie den Gedanken sofort wieder verwirft. Sev zeigte nie einen Anflug von Angst und Potter würde ihn wohl kaum verhexen, wenn sie direkt daneben steht. Außerdem ist Lily nicht so tief gesunken, dass sie ihn in diesem Fall nicht dennoch verteidigen würde. Egal, wie enttäuscht sie von ihm ist und wie wütend es sie macht, wenn sie ihn sieht. Ihr Blick wandert über sein blasses Gesicht, ehe sie sich entschieden wieder ihrer eigentlichen Aufgabe zuwendet und anfängt, in dem Korb vor ihr zu wühlen, als würde sie nach etwas bestimmten suchen. In Wahrheit braucht sie nur eine Beschäftigung für ihre auf einmal zittrigen Hände. „Es ist schon kurz vor neun, ihr solltet beide mal langsam in eure Schlafsäle verschwinden“, erklärt sie kurz angebunden und hofft, dass man ihrer Stimme ihre innere Unruhe nicht anmerkt. Als niemand auf ihre Worte reagiert, dreht sie sich um und wirft beiden Jungen einen auffordernden Blick zu. Severus verzieht kurz das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen, wendet sich dann aber wortlos ab, um den gleichen Weg zurückzugehen, den er gerade erst gekommen ist. Stirnrunzelnd wirft Lily einen Blick auf Potter und bemerkt, wie dieser seinen Zauberstab gerade wieder in seiner Tasche verschwinden lässt. „Das solltest du lassen“, meint sie knapp, aber Potter wirft ihr einen scharfen Blick zu, ehe sein Blick über ihre Hände gleitet, die sich gerade anschicken, das bunte Lametta zu erwürgen. Eilig bemüht sich Lily, ihre Hände zu entkrampfen und versetzt dem geflochtenen Korb vor ihr stattdessen einen kurzen, heftigen Stoß, der die Kiste einen halben Meter weiter den Gang hinuntertrudeln lässt, bevor sie ihm hastig folgt. „Weißt du, Evans“, erklingt Potters Stimme in ihrem Rücken. „Er ist es nicht wert. Vergiss ihn einfach.“ Lilys Stimmung schlägt im Bruchteil einer Sekunde um, während sich gleichzeitig ihr Magen verkrampft. Was bildet sich dieser unverschämte Kerl eigentlich ein? „Ich hab eh nie verstanden, was du an ihm findest“, fährt der notorische Störenfried hinter ihr nachdenklich fort, aber Lily konzentriert sich entschlossen auf die Rüstung vor ihr, anstatt sich zu ihrem Mitschüler umzudrehen. „Sei still!“, stößt sie mit seltsam rauer Stimme hervor, während ihre Hände unkontrolliert zu beben beginnen. „Red nicht von Sachen, von denen du nichts verstehst.“ Zu ihrem Ärger zittert ihre Stimme mehr als sie sollte. „Was soll das denn heißen?“, ertönt es beleidigt hinter ihr und wütend wirbelt Lily herum, während sich ihre grünen Augen zornig verengen. „Das soll heißen, dass du die Klappe halten sollst! Es soll heißen, dass du dich nicht in Sachen einmischen sollst, die dich nichts angehen und vor allem soll es heißen, dass du es dir sparen sollst, mir irgendwelche Ratschläge zu erteilen, nach denen ich dich nie gefragt habe!“ Zu ihrem eigenen Entsetzen spürt sie, dass ihre Augen zu brennen beginnen und dass ihre Unterlippe zittert, wie immer, wenn sie kurz davor ist, in Tränen auszubrechen. „Ich- Evans- Was-“, stößt Potter unsicher hervor und sieht auf einmal schrecklich besorgt und erschrocken zugleich aus. Sie kann es ihm nicht verübeln. Dieser Wutausbruch kommt auch für sie selbst überraschend. Aber lieber wütende Worte als verzweifelte Tränen, auch wenn sie spürt, wie diese sich langsam, aber sicher nach oben kämpfen. „Er war mein Freund, mein allerbester Freund seit- seit einer halben Ewigkeit und jetzt-“ Fahrig bricht sie ab und atmet tief ein, um nicht völlig die Beherrschung zu verlieren. „Stell dir einfach mal vor Black hätte so was gemacht“, murmelt sie schließlich mit zittriger Stimme, in der Hoffnung, dass das etwas ist, was er nachvollziehen kann. Potter starrt sie aber nur entrüstet an. „Er würde nie!“, beginnt er aufbrausend und ballt entschlossen die Hände, aber Lily unterbricht ihn ehe er zu einer Verteidigungsrede auf seinen besten Freund ansetzen kann. Natürlich würde er nicht. Sie mag Black für einen arroganten, eingebildeten Unruhestifter halten, der in Potter sein nerviges Gegenstück gefunden hat, aber es steht außer Frage, dass Black die dunklen Künste verabscheut. Praktisch jeder weiß, dass er wegen seiner Haltung in seiner Reinblutfanatischen Familie keinen leichten Stand hat und wenn man den Gerüchten glauben darf, die in Hogwarts umhergehen, hat er sich im letzten Jahr sogar so mit seiner Familie überworfen, dass er nicht einmal mehr zu Hause wohnt, aber das ist ja auch gar nicht der springende Punkt. „Ja“, murmelt sie und dreht sich ein weiteres Mal zu der Rüstung vor ihr um. „Aber genau das dachte ich von Sev auch.“ Verstohlen wischt sie sich über die Augen. Sie wusste, dass Sev von den dunklen Künsten fasziniert war, aber sie hat nie wirklich geglaubt, dass er sich auch irgendwann gegen sie stellen würde. Irgendwie hatte sie die kindische Hoffnung, dass sie es schaffen könnte, ihn zum Umdenken zu bewegen. Sie hat sich noch nie so geirrt. „Könntest du mich jetzt bitte in Ruhe lassen?“, fragt sie mit heiserer Stimme, während sie die Rüstung vor ihr auf einmal nur noch seltsam verschwommen wahrnimmt und daraufhin hastig blinzelt. „Ich muss noch einen Korridor dekorieren.“ Sie wartet seine Antwort nicht ab, sondern marschiert weiter zur nächsten Statue, die aussieht, als könnte sie noch einen Schwung Dekoration vertragen, obwohl ihr das im Moment nicht gleichgültiger sein könnte. So hört sie nur, wie sich die Schritte des Rumtreibers nach einigen Momenten zögernd von ihr entfernen, obwohl ihr Hauskamerad eigentlich in die entgegengesetzte Richtung müsste, um zum Gryffindorturm zu kommen. Erst als seine Schritte verklungen sind, erlaubt Lily sich den Tränen nachzugeben, gräbt aber gleichzeitig wütend ihre Zähne in ihre bebende Unterlippe, um wenigstens das verräterische Schluchzen zurückzuhalten.                                                                                                                           ~ Fr, 17. Dezember 1976 ~   „Kommt, hier ist noch Platz!“ Emma winkt Marlene, Mary und Lily zu sich hinüber. Sie und Alice haben sich schon in einem leeren Zugabteil niedergelassen und Emmas Koffer sowie den Käfig mit ihrer schlafenden Schleiereule sicher in die Gepäckablage gewuchtet. Dankbar quetschen sich die drei Mädchen durch die Schülermenge in das Abteil hinein. Im Gegensatz zu dem Großteil ihrer Mitschüler haben weder Lily noch Alice einen Koffer mitgeschleppt, sondern sich mit Umhängetaschen begnügt, aber Mary und Marlenes volle Koffer werden erst noch eilig in das Gepäckfach verfrachtet, ehe sich die Mädchen glücklich in die Sitze plumpsen lassen. „Wo ist Annie?“, erkundigt sich Mary, deren Augen aufmerksam durch das Abteil spähen, als würde sie erwarten, ihre Hauskameradin in irgendeiner Ecke zu finden. „Bei ihren anderen Freundinnen“, sagt Alice leise, die bis eben noch in ihrer Tasche gekramt hat und nun mit einer entschiedenen Geste ihre schwarzen Ponyfransen aus dem Gesicht streicht. Emma neigt sich verschwörerisch vor. „Sie hat gesagt, dass sie es keine Minute länger mit mir aushält.“ Ihre braunen Augen funkeln schalkhaft, als sie sich wieder normal hinsetzt. „Ist das zu fassen? Wir teilen uns seit mehr als fünf Jahren einen Schlafsaal und jetzt sind die paar Stunden, bis wir in London sind, auf einmal eine unerträgliche Zumutung.“ Marlene lacht hell auf. „Ooooh, ich wette, das hat dich zutiefst verletzt.“ Mit dramatischer Geste greift Emma sich an ihre Brust. „Zutiefst“, bestätigt sie, bevor sie sich auf ihrem Sitz zusammenrollt und ihren zusammengeknüllten Umhang gegen die Glasscheibe presst. „Und deshalb werde ich Zuflucht in einem erholsamen Nickerchen suchen. Weckt mich, wenn wir in London sind“, sagt sie gähnend, ehe sie ihren Kopf auf dem Umhang ablegt und die Augen schließt. Marlene beobachtet sie fasziniert. „Ich werde nie verstehen, wie du es hinbekommst, in praktisch jeder Situation zu schlafen. Ich kann das einfach nicht. Aber du bist da einfach wie eine Katze.“ Merlin - Marys Kater - gibt daraufhin ein lautes Fauchen von sich, als würde er betonen wollen, dass er die einzige Katze weit und breit ist und Mary gluckst fröhlich, bevor sie ihren Kater aus seinem Transportkorb lässt, der daraufhin glücklich schnurrend auf den einzig leeren Sitz im Abteil springt und mit seiner Fellpflege beginnt. Emma antwortet nicht, sondern vergräbt sich nur noch tiefer in ihrem Ersatzkissen. Als der Hogwarts-Express sich langsam und quietschend in Bewegung setzt, wippen ihre blonden Locken leicht auf und ab. Wirbelnde Dampfwolken ziehen an der Scheibe vorbei und Marlene zückt ein zerknittertes Quidditchmagazin, um sich in einen Bericht zu den Holyhead Harpies zu vertiefen. Alice starrt geistesabwesend aus dem Fenster und Lily streckt seufzend ihre Beine aus. So sehr sie sich auch darauf freut ihre Eltern und Petunia wiederzusehen und die Weihnachtstage bei ihnen zu verbringen, auf die langen Zugfahrten könnte sie gut und gerne verzichten. Immerhin muss sie heute aber nicht auf den Gängen des Hogwarts-Express patrouillieren. Da nicht alle Schüler über Weihnachten nach Hause reisen, haben die Vertrauensschüler vereinbart die Schichten aufzuteilen und Remus hat angeboten die Hinfahrt zu übernehmen, sodass Lily erst auf der Rückfahrt in knapp zwei Wochen zum Einsatz kommt. Mary trommelt rhythmisch auf ihrem Oberschenkel herum und als Lily aufblickt, erkennt sie, dass ihre beste Freundin wieder einmal ihren aktuellen Lieblingshit der Hobgoblins vor sich hinsummt. Die Vertrauensschülerin lässt sich tiefer in ihren Sitz sinken, während das regelmäßige Rattern des Zuges sie allmählich einlullt.   Als sie wieder aufschreckt, ist es im Abteil merklich heller geworden. Die Sonne hat sich doch noch hervorgewagt und taucht das gesamte Zugabteil in ihre wärmenden Strahlen. Gähnend fährt sich Lily über die Augen und streckt sich ausgiebig, um richtig wach zu werden. „Wie spät ist es?“, murmelt sie verschlafen, während sie mit ihren Händen ihr steifes Genick massiert. „Kurz vor halb drei“, sagt Alice leise. „Wir sollten in etwa zwei Stunden da sein.“ Sie hat sich mittlerweile in einem Buch vergraben und taucht nach diesen beiden Sätzen sofort wieder in die Welt von Mimi und deren magischen Abenteuern ab. Merlin hat es sich derweil auf Lilys Schoß bequem gemacht und abwesend streichelt sie ihn durch sein dunkles Fell, was er mit einem zufriedenen Brummgeräusch quittiert. „Hier!“, Mary wirft Lily einige Schokofrösche und eine Packung Bertie Botts Bohnen jeder Geschmacksrichtung zu, die sie überrascht auffängt. „Du hast den Imbisswagen verpasst und ich weiß doch, dass du deinen Eltern etwas mitbringen wolltest.“ „Danke“, sagt Lily glücklich, während sie die Süßigkeiten vorsichtig einpackt. Ihre Eltern haben eine geradezu kindliche Freude an den Leckereien der magischen Welt entwickelt und es ist gewissermaßen Tradition, dass Lily ihnen immer etwas mitbringt. Petunia weigert sich die Schokolade auch nur anzufassen, seit sie vor einigen Jahren eine Bertie Botts Bohne erwischt hat, die ihr nicht bekommen ist. Sie wollte zwar nicht verraten, welche Geschmacksrichtung es war, aber Lily wird nie den entsetzten Gesichtsausdruck ihrer älteren Schwester vergessen, als sie Hals über Kopf zur Spüle gestürzt ist, um alles auszuspucken und sich panisch den Mund auszuspülen. Selbst die Schokofrösche rührt sie seitdem nicht mehr an, obwohl bei denen ja nun wirklich keine Überraschungsgefahr besteht. Mit ein Grund, warum Lily eindeutig die Schokobohnen favorisiert. Ihr Magen macht sich grummelnd bemerkbar und sie wühlt in ihrer Tasche, um einige Sandwiches hervorzukramen, die sie sich heute Morgen aus Toastscheiben zusammengestellt hat. Emma gibt am Fenster leise Schnarchlaute von sich und Marlene macht sich einen Spaß daraus, die leeren Schokofroschpapiere auf ihrem Kopf zu einer Art Müllkrone zu drapieren. Als alles zu ihrer Zufriedenheit arrangiert ist, streckt sie sich ausgiebig, wobei ein lautes Knacken zu hören ist. „Ich muss mir mal die Füße vertreten“, verkündet sie stöhnend und Mary schließt sich ihr an. Die beiden stolpern fast in Alice hinein, als der Zug unerwartet eine Kurve nimmt und Marlene flucht unterdrückt, während sie sich hilfesuchend an Marys Schulter festklammert, die daraufhin fast selbst das Gleichgewicht verliert. Merlin ist derweil maunzend unter einen der abgewetzten Sitze geflüchtet und beäugt alles aus sicherer Entfernung. Als die beiden brünetten Mädchen die Glastür hinter sich zuschieben, angelt Lily nach Marys Zeitschrift, in der diese bisher gelesen hat und beginnt nur mäßig interessiert durch die aktuelle Monatsausgabe von Trend - Das Magazin für die Hexe von heute zu blättern. Neben „30 magische Methoden für deine Haarrettung“ finden sich dort auch zahlreiche Schminktipps und tiefgründige Artikel wie „Zehn todsichere Wege, um IHM den Kopf zu verdrehen“. Das einzige, was sich daraufhin verdreht, sind Lilys Augen, als sie die Zeitschrift entnervt wieder auf Marys Sitz zurückwirft und beschließt, sich lieber in ihrem Buch für Alte Runen zu vergraben. Nicht einmal Marlenes missbilligendes Schnalzen, nachdem sie und Mary schließlich wieder zurückkommen, kann sie dazu bewegen, das Schulbuch bei Seite zu legen und so taucht sie erst wieder aus den Mysterien der Runen auf, als sie nur noch wenige Minuten von King’s Cross entfernt sind, Mary ihren Kater gerade wieder in seinen Korb zurückgesetzt hat und Marlene Emma dadurch weckt, dass sie ihr eine Ladung Wasser überspritzt. Diese fährt kreischend hoch, wobei die Schokofroschpapiere von ihrem Kopf durch das halbe Abteil fliegen und stolpert aus ihrem Sitz, nur um sich auf einmal auf dem Zugboden wiederzufinden. Ihre Schleiereule stößt daraufhin einen lauten, verärgerten Schrei aus und blickt aus ihren tiefschwarzen Augen missbilligend auf das Chaos unter ihr herab, das sie aus ihrem Schlaf gerissen hat. Ähnlich wütend schaut auch ihre Besitzerin drein. Erbost fixiert Emma Marlene, die jetzt auch noch lauthals zu lachen beginnt, und greift flink zu ihrem Zauberstab, während sie sich mit ihrem Ärmel das Gesicht trocken reibt. Ehe sie zu einer Vergeltungstat ansetzen kann, zückt Lily bereits ihren eigenen Zauberstab und drückt besänftigend Emmas Schulter. Mit einem Schlenker lässt sie die Pfütze auf dem Boden des Zugabteils verschwinden. „Musste das sein?“, fragt sie missbilligend und wirft Marlene einen strafenden Blick zu, den diese aber ungerührt an sich abperlen lässt. Während Lily Emma nun warme Luft überpustet und sie langsam trocknet, zieht Mary das blond gelockte Mädchen wieder auf ihren Sitz. Marlenes grün-blaue Augen funkeln Emma derweil spitzbübisch und ohne den Anflug eines schlechten Gewissens an. „Was denn? Du wolltest doch geweckt werden.“ „Aber nicht so!“ Die beiden streiten noch immer, als der Zug seine Fahrt verlangsamt und in den Bahnhof einrollt. Lily greift seufzend nach ihrer Tasche. „Vorab schon mal frohe Weihnachten“, sagt sie. Emma schnaubt auf, als wäre Weihnachten das allerletzte, an das sie gerade denken würde, aber Alice, Mary und Marlene erwidern ihre Grüße, während sie zusammenpacken. „Wir sehen uns in zwei Wochen“, verabschiedet sich Alice und winkt zum Abschied in die Runde. Sie und Lily sind die ersten, die das Abteil verlassen, da die anderen noch mit ihren sperrigen Koffern kämpfen. Die beiden quetschen sich auf den überfüllten Flur und schieben sich langsam, aber sicher zur Tür vor. Kalter Wind weht ihnen entgegen und es tanzen sogar einige Schneeflocken durch die Luft, sodass Lily rasch ihre Handschuhe überzieht. Fröhliches Geschnatter hallt über den Bahnsteig, während alle in Richtung des magischen Übergangs, der zurück in die Muggelwelt führt, strömen. Während Alice sich auf dem Bahnsteig nach rechts wendet, erspäht Lily ihre Eltern und ihre Schwester im hinteren Teil des Bahnhofs nahe des Ausgangs. Tannenzweige und Lichterketten sind überall zu sehen und wenn Lily nicht alles täuscht, kann sie sogar den Geruch von frischen Maronen ausmachen, der über den Bahnsteig weht. Weihnachten kann kommen.                                                                                                                           ~ So, 30. Januar 1977 ~   „Aufgewacht, du Schlafmütze!“ Mit diesen Worten wird ihre Bettdecke abrupt bei Seite gerissen und Lily grummelt angesichts der kalten Luft, die sie auf einmal trifft, protestierend auf. Blinzelnd öffnet sie ihre Augen und wälzt sich schlaftrunken auf die andere Seite. Ihre vom Schlaf platt gedrückten Haare fallen ihr wirr auf die Schulter und die grinsenden Gesichter von Mary, Marlene - die triumphierend Lilys Bettdecke durch die Gegend schwenkt - und den drei anderen Gryffindormädchen aus ihrem Jahrgang tauchen in ihrem Blickfeld auf, als sie sich gähnend umsieht und sich schließlich langsam aufsetzt. „Was soll das denn?“, krächzt sie heiser, aber hörbar empört und reibt sich dabei den Schlaf aus den Augen. „Überraschung!“, verkündet Mary strahlend und bugsiert einen Schokoladenkuchen, auf den mit Sahne eine 17 aufgesprüht ist, die im Sekundentakt ihre Farbe wechselt, hinter ihrem Rücken hervor. „Alles Gute zum Geburtstag!“ wünschen die Mädchen im Chor und Lily kann zunächst nur sprachlos von einer zur anderen sehen, ehe urplötzlich ein warmes Gefühl in ihr aufsteigt und jeden Gedanken an Schlaf vertreibt. „Ich- Danke!“, stammelt sie nur und nimmt vorsichtig den Kuchen entgegen, den Mary ihr immer noch auffordernd entgegen reckt. „Wie habt ihr das denn hinbekommen?“, will sie neugierig wissen, während sie gerührt die 17 betrachtet, die gerade von hellrot zu einem satten Gelb und dann zu knalligem lila wechselt. „Ach, das war einfach“, winkt Marlene ab, die Lilys Bettdecke mittlerweile achtlos bei Seite geworfen hat und sich auf der Bettkante des Geburtstagskindes niederlässt. „Wir haben den Kuchen schon beim letzten Wochenende in Hogsmeade in Auftrag gegeben, heute Morgen noch einen kleinen Farbwechselzauber drüber gesprochen und deinen Wecker heimlich ausgeschaltet-“ Lilys Kopf ruckt bei diesen Worten herum und tatsächlich: Die Uhr zeugt bereits kurz nach zehn an. „-damit du nicht zu früh wach wirst und uns die ganze Überraschung verdirbst.“ „Aber“, fährt sie protestierend auf, während ihr Herzschlag urplötzlich zulegt und Emma und Alice einen wissenden Blick tauschen, „ich wollte doch heute Morgen noch schnell...“, stammelt sie, wird aber von Marlene, die genervt ihre Augen verdreht und Annies leise gemurmelten „Ich habs euch doch gesagt“, unterbrochen. „Ahahah“, würgt auch Mary ihren Protest mit mahnend erhobenem Zeigefinger ab. „Kein Wort davon, dass du schon in aller Herrgottsfrühe irgendwelchen Vertrauensschülerkram machen wolltest - dafür gibt es schließlich mehr als nur einen Vertrauensschüler an dieser Schule.“ „Und außerdem ist heute Sonntag!“, wirft Emma gut gelaunt ein. „Und außerdem ist heute Sonntag!“, wiederholt Mary sofort, bevor sie kurz stutzt, als ihr aufgeht, dass Lily an einem Sonntag nur schwer eine Pausenaufsicht haben kann. „Egal!“, meint sie und wischt etwaige Widerworte von Lily einfach bei Seite, die folgsam wieder ihren Mund schließt. „Und erzähl uns ja nicht, dass du noch etwas in der Bibliothek erledigen musst. Musst du nicht. Jedenfalls jetzt nicht. Was du jetzt aber unbedingt tun musst, ist diesen Kuchen zu probieren und deine Geschenke auszupacken.“ Bei dem entschlossenen Tonfall, den Mary anschlägt, breitet sich urplötzlich ein großes Lächeln auf Lilys Gesicht aus und sie ist einfach nur glücklich, dass sie solche Freundinnen hat. „Gut“, sagt sie daher nur folgsam und dass sie so schnell einlenkt, hat wohl auch Mary nicht erwartet, die sie merklich verdutzt ansieht und schließlich ihren Mund, den sie bereits für eine weitere Belehrung geöffnet hatte, wieder schließt. „Na kommt! Dann lasst uns mal probieren, ob dieser Kuchen auch nur halb so gut schmeckt, wie er aussieht.“ Auffordernd klopft Lily auf ihr Bett und eilig verteilen sich die Mädchen um sie herum. „Ich hoffe, ihr habt auch an Teller gedacht?“, fragt sie und sieht sich suchend um. „Wofür hälst du uns denn?“, lacht Emma, während ihre Locken munter umherwippen und lässt mit einer peitschenden Bewegung ihres Zauberstabs nicht nur Teller, sondern auch Gabeln und ein scharfes Messer auf sie zufliegen. „Haben wir extra vom Frühstückstisch heute Morgen hierher geschmuggelt.“ „Du hast doch nicht mehr alle Zauberstäbe im Kessel! Willst du mich etwa umbringen?“, fragt Annie empört, die sich flach auf den Rücken werfen musste, um der scharfen Messerspitze zu entgehen und gerade von Alice wieder in eine sitzende Position hochgezogen wird. Aus ihren grauen Augen wirft sie Emma einen wütenden Blick zu, den diese aber gekonnt ignoriert. „Verdammt, da hast du mich aber erwischt!“, grinst Emma gut gelaunt und macht sich daran, den Kuchen in halbwegs gleichmäßige Stücke zu schneiden und zu verteilen. „Danke!“, sagt Lily noch einmal, der nicht mal die Tatsache, dass kurzzeitig Geschirr vom Gryffindortisch entwendet wurde, gerade etwas ausmacht. „Ehrlich, das ist ein toller Start in meinen Geburtstag“, meint sie, ehe sie jedes der Mädchen umarmt, was auf dem Bett, mit all den beladenen Tellern, gar nicht so einfach ist, aber letztlich doch unfallfrei über die Bühne geht. „Oh, verdammt!“ Mary schlägt sich an die Stirn. „Wo hab ich nur den Kürbissaft gelassen?“, murmelt sie und blickt sich suchend um. „Du hast manchmal aber auch wirklich ein Gedächtnis wie ein Flubberwurm“, meint Alice amüsiert und zwirbelt an ihren kinnlangen Haaren, während Mary, immer noch über sich selbst den Kopf schüttelnd, schließlich ihren Zauberstab zückt und mittels eines Aufrufezaubers ein halbes Dutzend Flachen Saft durch den Schlafsaal gleiten lässt. „Auf das Geburtstagskind! Auf die Volljährigkeit!“, ruft Marlene begeistert und schwenkt ihre volle Flasche so schwungvoll durch die Gegend, dass Annie schon wieder in Deckung gehen muss, um nicht versehentlich von dem herausspritzenden Saft getroffen zu werden. „Zum Glück gibt es hier Hauselfen“, grummelt das blonde Mädchen, als sie sich wieder aufrichtet und sich dann dem munteren Zuprosten anschließt. „Der ist wirklich lecker“, sagt Lily genießerisch, während sie ganz langsam den fluffigen Kuchen zerkaut, um den Geschmack noch besser auskosten zu können. Ihr Blick wandert über die mampfenden Mädchen auf ihrem Bett, die begeisterte Laute der Zustimmung von sich geben und bleibt schließlich an Emma und Marlene hängen, die sich kichernd Kuchenkrümel überschnipsen. „Und jetzt die Geschenke!“, ruft Mary enthusiastisch und fällt fast kopfüber vom Bett hinunter, als sie sich zu Lilys Geschenkestapel hinab bückt, den diese bisher noch gar nicht gesehen hat. Emma kichert hilflos los, während Annie sich vor lauter Lachen an ihrem Kürbissaft verschluckt, als sie Marys hektische Versuche, ihr Gleichgewicht zu halten, beobachten. Alice klopft Annie hilfsbereit auf den Rücken, aber dann müssen selbst sie und Lily losprusten, als Mary schließlich wenig elegant halb auf dem Bett und halb auf dem Boden kauert, während sie die Geschenke einzeln an die lauthals lachende Marlene übergibt, die sie an Lily weiterreicht. Mary pustet sich eine Strähne ihrer langen Haare aus den Augen und schafft es, sich mit Marlenes Hilfe zurück in das Bett zu hieven, wo Lily sich vor lauter Lachen mittlerweile die Tränen aus den Augen wischen muss. Der empörte Blick ihrer Freundin wandert über ihre Hauskameradinnen, die quer über das ganze Bett verteilt sind und sich vergeblich um ernste Mienen bemühen. „Oh Mary!“, japst Marlene, während sie sich die Rippen hält und keuchend versucht, wieder zu Atem zu kommen. „Elegant wie eine Elfe“. Sie imitiert Marys hektisches und unbeholfenes Gewedel mit ihren eigenen Händen und Mary betrachtet entgeistert die Mädchenschar, als eine neue Lachsalve losbricht. Aber als sie Marlenes zappelnde Hände sieht, ist es auch um sie geschehen. „Ach, halt die Klappe!“, entfährt es ihr, während ihre Mundwinkel bereits verräterisch zu zucken beginnen. „So sah das bestimmt nicht aus.“ Als Marlene zu einer erneuten Imitation ansetzt, stürzt sich Mary auf sie, um sie zur Strafe durchzukitzeln, was diese mit einem entsetzten, hohen Quieken quittiert und vergeblich versucht, der Attacke zu entkommen. Während die beiden über das Bett rollen, springen Annie und Emma hastig außer Reichweite der beiden und lassen Lilys Geschenke eilig bei Seite schweben, die diese immer noch nicht geöffnet hat. Alice sorgt geistesgegenwärtig dafür, dass die leeren Teller, Flaschen und das benutzte Besteck empor steigen, bevor sie sich kopfschüttelnd auf ihr eigenes Bett sinken lässt und aus ihren großen, veilchenblauen Augen den Tumult auf dem Bett gegenüber von ihr beobachtet. Lily hingegen lässt sich nur heillos kichernd in ihr gemütliches Kissen zurück sinken und zieht lediglich ihre Beine an, um nicht aus Versehen von Marlenes umherwirbelnden Armen getroffen zu werden. Vor lauter Lachen ist sie schon ganz außer Atem, aber in ihren Augen ist dieser Geburtstagsmorgen einfach nur perfekt.                                                                                                                           ~ Di, 08. Februar 1977 ~   Lily hat gerade das Abendessen beendet und ist auf dem Weg in den Gemeinschaftsraum, als aus dem Gang vor ihr wütende Stimmen und lautes Gepolter erklingen. Unwillkürlich beschleunigt sie ihre Schritte und als sie um die Ecke hastet, sieht sie einen blonden Erst- oder Zweitklässler aus Hufflepuff auf dem Boden knien, der fahrig nach seiner Brille tastet, die zerbrochen und verbogen neben ihm liegt. Ein Stapel Bücher, den er offensichtlich getragen hat, liegt verstreut um ihm herum und nur ein paar Schritte weiter steht James Potter, der gerade lässig seinen Zauberstab in die Tasche gleiten lässt und höchst zufrieden mit sich selbst aussieht. „Potter!“, ruft sie wütend, während sie schon neben dem jungen Hufflepuffschüler in die Knie geht. „Was soll das hier?“ Ausladend deutet sie auf das Chaos im Gang, während ihr Mitschüler überrascht herumwirbelt. „Nach was sieht es denn aus, Evans?“, fragt er unschuldig und Lily erdolcht ihn beinahe mit ihrem Blick, während sie gleichzeitig ihren Zauberstab zückt und leise „Reparo“ murmelt. Sofort setzt sich die Brille wieder zusammen und sie reicht sie dem Schüler, der sie mit zittrigen Fingern auf die Nase schiebt und sie verwirrt, aber dankbar zugleich aus seinen blauen Augen anblinzelt. Lily wendet sich dem Jungen vor ihm zu und richtet sich zu ihrer vollen Größe auf. „Es sieht danach aus, als würdest du es äußerst unterhaltsam finden, jüngere Schüler zu schikanieren!“, faucht sie aufgebracht und sieht ihn verächtlich an. Potter klappt daraufhin allerdings verdutzt der Mund auf und er schüttelt entschieden den Kopf, während der blonde Hufflepuffschüler auf einmal „Nein, so war es nicht“, dazwischen piepst. Überrascht wendet sich Lily ihm zu, als der Junge sich eilig aufrappelt und Potter ein unsicheres Lächeln schenkt. „Er hat mir geholfen“, erklärt er. „Da waren zwei ältere Schüler, ich weiß nicht wer sie waren, aber sie haben auf einmal angefangen mich herumzuschubsen, mir die Brille abgenommen, um drauf zu treten und dann kam er“ - er deutet auf Potter - „vorbei und hat angedroht, ihnen ein paar Flüche auf den Hals zu hetzen, wenn sie mich nicht in Ruhe lassen. Da sind sie abgehauen.“ Auf dem falschen Fuß erwischt und mit fragend hochgezogenen Augenbrauen, wendet Lily sich ihrem Mitschüler zu, der bestätigend nickt. „Ich schwöre, ich hab den kleinen nicht angerührt, Evans“, sagt er entschieden und klingt entrüstet, dass Lily auch nur glauben konnte, dass er etwas anderes getan hat, als zu helfen. Unter seinem etwas verletzten Blick überkommen Lily Gewissensbisse. Es ist sonst nicht ihre Art so rasch mit Anschuldigungen herauszuplatzen, aber wenn man Potters bisheriges Verhalten im Schulalltag in Betracht zieht, schien es ihr nur logisch zu sein, dass er den jüngeren Schüler verhext hat. „Okay“, sagt sie knapp und mit einer ausholenden Bewegung ihres Zauberstabs schichten sich die auf dem Boden des Gangs verteilten Bücher des Hufflepuffjungen wieder zu einem sauberen Stapel auf. „Kanntest du sie?“, fragt sie ihren Klassenkameraden und Potter nickt bestätigend. „Den einen jedenfalls. Das war Jake Williams aus der vierten, der Treiber der Ravenclaws, den anderen kenn ich nicht, aber auch aus Ravenclaw.“ „Williams?“, piepst der Hufflepuffschüler dazwischen. „Hat der zufällig einen Bruder?“ Sowohl James als auch Lily wenden sich ihm zu. „Das weiß ich ehrlich gesagt nicht“, sagt Lily überrascht. „Wieso fragst du?“ Der blonde Schüler nagt unschlüssig an seiner Unterlippe, während er nervös an einem losen Faden seines Umhangs herumzupft. „In meinem Jahrgang gibt es auch einen Williams, David Williams, in Ravenclaw. Wir sind letzte Woche in Verwandlung etwas aneinandergeraten und er hat Nachsitzen von Professor McGonagall bekommen. Er hat mir zugezischt, dass das alleine meine Schuld war und er mich dafür noch drankriegen würde“, murmelt er bedrückt und mit gesenktem Kopf. Seufzend richtet Lily sich auf, fährt sich nachdenklich über die Stirn und winkt den zwei Zauberern, ihr zu folgen. „Kommt, wir gehen zu Professor McGonagall“, erklärt sie und folgsam heften sich die beiden Jungen an ihre Fersen. Potter hievt sogar den Bücherstapel in seine Arme und der Hufflepuffjunge wirkt verdutzt, aber gleichzeitig begeistert, dass er die Bücher nicht selbst tragen muss. Nach mehreren Minuten haben die drei das Büro der Hauslehrerin von Gryffindor erreicht und Lily klopf vorsichtig an, ehe sie auf das strenge „Herein“ hin, die Tür öffnet. „Guten Abend, Professor“, sagt sie. „Hätten Sie kurz Zeit? Es gab da einen kleinen Zwischenfall im vierten Stock“, erklärt sie und ihre Lehrerin winkt sie sofort ins Zimmer. Die Augen der strengen Hexe verengen sich, als ihr Blick auf James Potter und den jungen Hufflepuffjungen fällt, die beide etwas verhalten „Guten Abend“, murmeln. Lässig lässt ihre Lehrerin zwei weitere Stühle erscheinen und bedeutet den dreien vor ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen. Lily fasst kurz zusammen, was sie gesehen oder eher gehört hat, bevor Potter und Connor O'Neill - so heißt der Erstklässler nämlich - ihre Version der Ereignisse schildern. Professor McGonagall schürzt missbilligend die Lippen, als sie hört, dass es zwei gegen einen waren, lauscht den Berichten aber ohne Unterbrechung. „Ich werde Professor Sprout und Professor Flitwick unverzüglich über diesen Vorfall in Kenntnis setzen. Seien sie versichert, dass Mr. Williams dafür mehr als nur Nachsitzen erhalten wird, sofern sich diese Vorwürfe als zutreffend erweisen.“ Verärgert schüttelt sie ihren Kopf, sodass ihr Spitzhut, der normalerweise fest auf ihren schwarzen Haaren sitzt, etwas verrutscht. „Sollte Mr. Williams sich zu der Frage, wer ihn begleitet hat, in Schweigen hüllen, werden sie beide“ - sie deutet auf O'Neill und Potter - „dabei sicher auch noch eine helfende Rolle spielen können. Sie können gehen Mr. Potter. Mr. O'Neill, Sie bleiben noch hier. Ich werde Filius bitten gemeinsam mit Mr. Williams unverzüglich hier zu erscheinen.“ Nachdem Potter den Bücherstapel vom Boden auf einen leeren Stuhl gewuchtet hat, verlassen die beiden Gryffindors das Büro ihrer Hauslehrerin. Lily nickt Connor noch kurz aufmunternd zu, der nun, da die beiden Sechstklässler ihn alleine mit seiner Verwandlungslehrerin zurücklassen, wesentlich nervöser als noch vor einigen Augenblicken aussieht. Auf dem Gang holt Lily tief Luft, ehe sie sich ihrem Klassenkameraden zuwendet. „Tut mir leid wegen vorhin“, sagt sie rasch, aber klar vernehmbar. „Ich bin da wohl ein bisschen zu vorschnell an die Sache ran gegangen.“ Potter schnaubt auf. „Vorschnell? Wohl eher vorurteilsbehaftet“, murmelt er und Lily hat das Gefühl, dass sie ihn mit ihrer ersten Einschätzung der Situation wirklich gekränkt hat. „Also gut“, räumt sie widerwillig ein, denn auch wenn sie nicht stolz darauf ist, trifft er mit seiner Bemerkung den Nagel auf den Kopf. „Dann eben vorurteilsbehaftet.“ Ihr Klassenkamerad sieht immer noch nicht zufrieden aus, also bleibt Lily in der Nähe einer Nische stehen. „Was ist? Los, sag schon“, fordert sie ihn auf und Potter blickt sie ernst an und verschränkt seine Arme vor der Brust. „Kannst du mir mal sagen, warum du eigentlich immer vom schlimmsten ausgehst, wenn du mich siehst?“, fragt er und Lilys Augenbrauen schießen überrascht nach oben. „Wann habe ich jemals grundlos irgendwelche Erstklässler verhext? Und dann auch noch einen aus Hufflepuff?“, will er anklagend wissen und Lily reckt kampfeslustig ihr Kinn hervor, als ihr die Bedeutung seiner Worte klar wird. Wütend stemmt sie ihre Arme in die Seiten. „Ach, verstehe!“, faucht sie zurück. „Wenn es also ein Erstklässler aus Slytherin gewesen wäre, wäre es etwas völlig anderes, oder was?“ Potter verdreht genervt die Augen. „Das habe ich nicht gesagt!“ „Aber gedacht!“, feuert sie zurück und jetzt sieht er wirklich sauer aus. „Nein, auch nicht gedacht, Evans! Ob du es glaubst oder nicht, aber auch ich habe so was wie Grundsätze, an die ich mich halte. Und dazu gehört bestimmt nicht, dass ich Erst- oder Zweitklässler terrorisiere.“ Er klingt so entschieden, dass Lily ihr wütendes Schnauben im letzten Moment unterdrückt und sich fragt, ob sie hier vielleicht diejenige ist, die dieses Mal mit ihrer Einschätzung gründlich daneben liegt. Denn was sie auch sonst von Potter halten mag, ein Lügner ist er im Allgemeinen nicht. „Und was war mit de Burgh?“, hakt sie schließlich widerwillig nach. „Du weißt schon, der Junge aus Slytherin, zwei Jahrgänge unter uns, dem du vor ein paar Jahren eine Ganzkörperklammer aufgehalst hast und der vor dem Abendessen die komplette Treppe in die Kerker runtergefallen ist. Der war damals auch in der ersten. Du nicht.“ Potter schaut betreten zu Boden. „Das ist fast drei Jahre her, Evans“, murmelt er beschämt. „Und es war nur ein einziges Mal. Ich bin nicht stolz darauf, das kannst du mir glauben. Er hatte kurz vorher was ziemlich gemeines zu Tatze gesagt.“ Abwehrend hebt er die Hände, als er Lilys missbilligenden Blick bemerkt. „Nicht, dass das eine Entschuldigung sein soll, ich schätze, ich hab in dem Augenblick einfach nur eine Möglichkeit gesehen, es ihm heimzuzahlen. Du kannst mir glauben, dass ich das heute nicht mehr machen würde.“ Er holt tief Luft, bevor er seine Brille gerade rückt und sie vorsichtig ansieht. „Flipp jetzt bitte nicht schon wieder aus, aber sieh mal: Hat dein ehemals bester Freund dir nicht eindrucksvoll bewiesen, wie sehr sogar du dich in einem Menschen täuschen kannst?“, fragt er und Lily will darauf einfach keine passende Antwort einfallen. In ihren Ohren ertönt ein merkwürdig hoher Piepston, der alle anderen Geräusche in der Umgebung zu überlagern scheint, während sie hektisch schluckt und förmlich spürt, wie ihr jedwede Farbe aus dem Gesicht weicht. Seufzend stößt der größte Unruhestifter der Schule seinen Atem aus, als sie nicht antwortet. „Warum fällt es dir dann so schwer zu glauben, dass auch andere Leute sich verändern und sogar weiterentwickeln können?“, fragt er bedrückt. Als sie ihm immer noch eine Antwort schuldig bleibt, fährt Potter sich frustriert durch seine dunklen Haare, die daraufhin in alle Richtungen abstehen. „Ich will damit nur sagen, dass nicht immer alles so ist, wie es auf den ersten Blick scheint, in Ordnung? Menschen ändern sich, Evans. Auch zum positiven.“ Die einzige Reaktion zu der sie fähig ist, ist ein knappes Nicken, ehe Potter sich abwendet und sie alleine, aber mit viel zu vielen Gedanken, zurück lässt.                                                                                                                           ~ Mi, 30. März 1977 ~   „Bin ich froh, wenn diese Woche endlich rum ist“, seufzt Mary entnervt, während sie ihre heillos überfüllte Tasche schultert, um sich gemeinsam mit Lily auf den Weg zu Verwandlung zu machen. „Ich brauche unbedingt Ferien.“ Achtlos drängt sie sich an einer Gruppe Drittklässler vorbei, die gerade die Große Halle betreten und wirft ihrer Freundin einen ungeduldigen Blick zu, weil diese die jüngeren Schüler erst passieren lässt, bevor sie zu Mary aufschließt. „Sind ja nur noch zwei Tage“, meint Lily gutmütig, da sie nur zu vertraut mit Marys pessimistischer Stimmung ist, wenn freie Tage in greifbarer Nähe sind. Irgendwie hat sich das seit der ersten Klasse kein bisschen verändert. „Zwei ein halb“, wird sie griesgrämig verbessert und das Mädchen neben ihr zieht ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. „Nur noch zwei ein halb“, meint sie daher und knufft ihre beste Freundin in die Seite. „Deine gute Laune ist ja unerträglich“, grummelt Mary. „Wie kann man nur so optimistisch sein, wenn heute noch Professor McGonagall, der alte Kesselbrand und Slughorn auf uns warten?“ „Ich mag Zaubertränke“, meint Lily achselzuckend „Und im Gegensatz zu dir erwartet mich statt Pflege magischer Geschöpfe immerhin eine Freistunde.“ Obwohl sie sich bemüht die Freude aus ihrer Stimme zu halten, ist sie sich nicht sicher, dass ihr das allzu gut gelingt. Mary stöhnt auf. „Das Leben ist einfach unfair“, murmelt sie niedergeschlagen, ehe sie und Lily sich vor dem Klassenzimmer einfinden, wo sich schon eine Warteschlange gebildet hat. Im Sonnenlicht, das durch die Fenster in den Gang fällt, tanzen einige Staubkörner durch die Luft. Blinzelnd reißt Lily sich von diesem irgendwie hypnotischen Anblick los und lehnt sich gegen die kühle Wand des Korridors. „Denk lieber an die Ferien“, sagt Lily. „Immerhin kannst du dich darauf freuen, deine komplette Familie wiederzusehen.“ Mary verzieht nachdenklich das Gesicht, während sie ihre braune Tasche achtlos zu Boden plumpsen lässt. „Wohl war. Außerdem gibt es Schokolade“, ergänzt sie grinsend und diese Aussicht scheint sie tatsächlich etwas von ihren trüben Gedanken abzubringen. Zumindest bis Professor McGonagall erscheint und die Klasse mehr oder weniger motiviert hinter ihr her ins Klassenzimmer schlurft, wo alle murmelnd ihre Plätze einnehmen. Lily ist sich nicht sicher, ob sie sich auf die bevorstehenden Osterferien freuen soll. Ihr Vater wird geschäftlich unterwegs sein und da ihre Großmutter letzte Woche schwer gestürzt ist, ist ihre Mutter zu ihr gefahren, um sie zu versorgen. Keiner weiß, wie lange sie dort bleiben wird, also sieht es so aus, als würde sie ihre Ferien nur mit Petunia verbringen. Und wenn sie sich vor Augen führt, wie die Weihnachtsferien vor knapp drei Monaten verliefen - und da waren ihre Eltern immerhin noch beide mit dabei - , ist das wirklich kein Grund, sich auf die nächsten beiden Wochen zu freuen. Lustlos zückt Lily Pergament und Tinte, während Professor McGonagalls stechender Blick über die Schüler gleitet, die bereits größtenteils verstummt sind. Normalerweise reicht alleine ihre Anwesenheit aus, um die komplette Klasse zu absoluter Ruhe anzuhalten, aber die nahenden Ferien haben zu einer allgemeine Welle der Antriebslosigkeit und Demotivation geführt. Die Augen der strengen Hexe verengen sich hinter ihren Brillengläsern und bleiben bei einer Bank in der letzten Reihe hängen. „Mr. Black! Mr. Potter! Ruhe, wenn ich bitten darf!“ Augenblicklich verstummt das leise Getuschel und ihre Verwandlungslehrerin wendet sich nach einem weiteren drohenden Blick über das nun mucksmäuschenstille Klassenzimmer abrupt der Tafel zu. Mit einem Stupser ihres Zauberstabs erscheinen dort mehrere Zeichnungen, auf denen zu sehen ist, wie sich ein menschlicher Arm in den Arm eines Tieres verwandelt. „Wir setzen das Thema der menschlichen Verwandlungen fort. Während wir uns bisher mit den magischen Veränderungen am rein menschlichen Organismus beschäftigt haben, wird es heute um die partielle Verwandlung vom menschlichen in den tierischen Zustand gehen.“ Ihr Blick gleitet strafend über die Schüler, da bei diesen Worten ein aufgeregtes Raunen durch das Klassenzimmer gegangen ist und von weiter hinten ein lautes „Krass!“ ertönt. „Ich warne sie eindrücklich davor, dieses Thema auf die leichte Schulter nehmen“, mahnt Professor McGonagall und wirkt zufrieden, als sie wieder die Aufmerksamkeit der gesamten Klasse hat. „Zuerst lesen Sie sich bitte sorgfältig die Anweisungen an der Tafel durch. Anschließend werde ich ihnen den Zauber und die notwendige Zauberstabbewegung demonstrieren. Selbstverständlich erwarte ich, dass Sie den Zauber später ungesagt ausüben.“ Professor McGonagalls Augen verengen sich erneut, da aus der hinteren Reihe wieder Gemurmel erklingt und ihr zusammengepresster Kiefer verrät ihre Unzufriedenheit über dieses Betragen. „Wie ich sehe, hat sich Mr. Black so eben dazu bereit erklärt, mir als Freiwilliger zu assistieren und uns am Ende der Stunde außerdem vorzuführen, wie gut ihm der Zauber gelingt“, fügt sie trocken hinzu, worauf das Getuschel von Lilys Klassenkameraden abrupt verstummt. Nur der Gedanke daran, vielleicht ebenfalls am Ende der Unterrichtsstunde vor der kompletten Klasse den neuen Zauber präsentieren zu müssen, verhindert, dass daraufhin das übliche hämische Gekicher erklingt. „Anschließend werden sie jeweils zu zweit zusammen gehen und abwechselnd versuchen, den Arm ihres Partners zu verwandeln“, fährt die Verwandlungslehrerin ungerührt fort. „Nun gut, beginnen Sie.“ Gehorsam wendet sich die Klasse der Tafel zu und als Professor McGonagall nur einige Minuten später vorführt, wie aus Blacks linken Arm im Nu eine fellüberzogene Pfote mit spitzen Krallen wird, hat Lily keine Zeit mehr, um sich über die bevorstehende Ferien Gedanken zu machen.                                                                                                                           ~ Do, 28. April 1977 ~   „Du solltest einfach mal mit mir ausgehen. Ich mag dich, Evans, wirklich, und wenn du nur ein bisschen Zeit mit mir verbringen würdest, würdest du feststellen, dass ich nur ein halb so schlechter Kerl bin, wie du eigentlich denkst“, erklärt James Potter ernsthaft und Lily fragt sich, wieso er sie gerade jetzt überfallen muss, wo sie doch eigentlich die freie Stunde nach Kräuterkunde dazu nutzen wollte, um in der Bibliothek einige Hausaufgaben zu erledigen. Sie klopft hastig einige Erdkrümel von ihrem flatternden Umhang, während die gläsernen Gewächshäuser langsam hinter ihnen zurückbleiben. Ihr unfreiwilliger Wegbegleiter lässt sich davon ebenso wenig aus der Ruhe bringen, wie von der Tatsache, dass Lily bisher noch kein einziges Wort gesagt hat. Vermutlich wertet er es als gutes Zeichen, dass sie ihm noch keine Abfuhr erteilt hat. „Ich meine“, fährt er im Weitergehen fort, als hätte er diese kleine Rede minutiös vorbereitet und würde sich von nichts auf der Welt davon abbringen lassen, sie genau jetzt zu halten, „wann hast du mich zum letzten Mal jemand auf den Gängen verhexen sehen? Selbst mein letztes Nachsitzen liegt schon Wochen zurück und oh!“ Hektisch wedelt er mit seinen Händen. „Was ist mit Averys blödem Spruch in McGonagalls Unterricht gestern? Zeigt das etwa nicht, dass ich mich sogar dann zurückhalten kann, wenn ich völlig unberechtigterweise provoziert werde?“ Lily unterdrückt nur mühsam ein Schnauben. „Hat diese ungewohnte Zurückhaltung nicht vielmehr etwas mit der Tatsache zu tun, dass es in dem Moment gerade geläutet hat, du noch mit McGonagall über deinen Verwandlungsaufsatz reden musstest und es außerdem dein lieber Tischnachbar Black bereits übernommen hatte Avery eine Minute später auf dem Gang einen Stolperfluch aufzuhalsen, für den er dann von mir Punktabzug kassiert hat?“, fragt sie spöttisch, aber Potter sieht sie darauf hin nur treuherzig an und hebt entwaffnend die Hände. „Willst du jetzt etwa sagen, dass du mich für die Taten meiner Freunde verantwortlich machst?“, fragt er mit hochgezogenen Augenbrauen und Lily gibt sich innerlich seufzend geschlagen, denn er hat nicht Unrecht. Was kann er schon dafür, wenn Black beschließt, jemanden zu verhexen und er zudem nicht mal in der Nähe war? Wenn sie genauer darüber nachdenkt, hat er sich seit Monaten wirklich überraschend gut benommen. Tatsächlich kann sie sich nicht erinnern, dass sie ihm dieses Schuljahr überhaupt schon einmal Hauspunkte abziehen musste und wenn er das alles wirklich gemacht hat, um seinen guten Willen zu demonstrieren… Nachdenklich beißt sie sich auf die Unterlippe. Kann es wirklich sein, dass er sein Verhalten Ihr zu Liebe vorübergehend geändert hat? Weil sie es seit Jahren als unreif und arrogant kritisiert? Falls ja... Lily kann nicht anders als sich plötzlich geschmeichelt zu fühlen. Vielleicht kann er sich ja dann auch dauerhaft ändern? „Also gut“, meint sie aus einem plötzlichen Impuls heraus und Potter starrt sie misstrauisch an. „Ich gehe mit dir nächstes Wochenende nach Hogsmeade.“ „Wie jetzt? Echt?“, fragt er verdattert und bleibt so abrupt stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer geprallt. Als sie sein ungläubiges Gesicht sieht, kann Lily gar nicht anders als hell aufzulachen. Sie weiß gerade selbst nicht, was in sie gefahren ist, aber irgendwie kommt es ihr richtig vor. „Ja, ernsthaft“, grinst sie und fühlt sich seltsam befreit, als sie mit ansieht, wie sich sein verdutztes Gesicht langsam in ein strahlendes Lächeln verwandelt. „Aber“, unterbricht sie einen etwaigen Wortschwall seinerseits mit erhobenem Zeigefinger, „dann ist Schluss damit, dass du mich alle paar Tage aufs Neue mit der Frage nach irgendwelchen Verabredungen löcherst, verstanden? Und komm ja nicht auf die Idee, dass es dann plötzlich wieder in Ordnung ist, Leute zu verhexen, völlig egal, ob im Schloss oder hier auf den Schlossgründen, klar?“, fügt sie hinzu und zieht ihre Nase kraus. Sie kann förmlich sehen, wie Potter etwaige Widerworte herunterschluckt und einen inneren Kampf mit sich ausficht. Geistesabwesend leckt er sich über die Lippen und sieht sie abwägend an. „Aber wir reden hier schon von einer richtigen Verabredung, ja? Nicht nur, ich weiß nicht, ein 10-Minuten-Abstecher in die Drei Besen und das wars dann?“, hakt er misstrauisch nach und Lily nickt bestätigend. „Ein ganzer Nachmittag.“ Mit zusammengekniffenen Augen blickt Potter sie an. „Für den Rest des Schuljahres, okay?“ „Hä?“, kommt es nur unintelligent aus dem Mund der Vertrauensschülerin, die nicht ganz folgen kann und der Junge vor ihr grinst sie spitzbübisch an. „Du gehst mit mir aus und ich löchere dich bis zum Schuljahresende nicht mehr mit Fragen nach weiteren Verabredungen. Hey, das sind dann immerhin noch mehr als zwei Monate“, schiebt er eilig nach, da Lily ihn nur zögernd anblickt. „Plus die Ferien!“, ergänzt er dann noch hastig, als sie immer noch nicht antwortet. Sie schürzt nachdenklich die Lippen und kommt zu dem Schluss, dass das vermutlich tatsächlich das beste Ergebnis ist, dass sie heraushandeln kann. Außerdem findet sie den Gedanken daran, einen Nachmittag in seiner Gesellschaft zu verbringen, nicht mehr halb so abstoßend, wie noch vor einigen Monaten. Tatsächlich hat sich sogar so etwas wie ein Gefühl der Vorfreude eingestellt. „Einverstanden“, sagt sie mit leicht schrägt gelegtem Kopf und bei dem erfreuten Grinsen, das sich auf dem Gesicht ihres Gegenübers ausbreitet, kann sie gar nicht anders als mitzulächeln. „Also dann“, murmelt sie mit einem Mal verlegen. „Ähm, wir sehen uns dann nächsten Samstag. 10:00 Uhr unten in der Eingangshalle?“ Der Junge vor ihr nickt begeistert. „Bis dann, Evans!“, sagt er freudig, als sie sich schließlich abwendet und sich auf den Weg zurück ins Schloss machst. „Aber hey!“, ruft er ihr laut nach, „Du weißt schon, dass du mich trotzdem nach weiteren Verabredungen fragen darfst, nicht?“ Gegen ihren Willen leicht amüsiert, dreht sich Lily noch einmal um und mustert ihn gespielt abschätzig. „Na dann musst du aber schon dafür sorgen, dass das ein wirklich unvergesslicher Nachmittag wird, Potter“, erklärt sie spöttisch und beobachtet zufrieden, dass ihm daraufhin der Mund offen stehen bleibt und ihm scheinbar keine schlagfertige Antwort einfallen will. Immer noch leicht grinsend setzt sie ihre Weg zur Bibliothek fort und saugt genießerisch die warme Frühlingsluft ein.                                                                                                                           ~ So, 15. Mai 1977 ~   „Alraune“, sagt Lily und die Fette Dame klappt zur Seite, um sie und Mary in den Gryffindorturm einzulassen. Beide Mädchen haben den halben Tag in der Bibliothek verbracht, um ihrem Hausaufgabenberg Herr zu werden und können sich nun entspannt zurücklehnen, um die letzten Stunden ihres freien Tages zu genießen. „Endlich!“, sagt Mary und lässt ihre Schultern kreisen, während sie ihre vollgestopfte Büchertasche sinken lässt und sich zufrieden in einem freien Sessel im Gemeinschaftsraum ausstreckt. Da der Großteil ihrer Hauskameraden noch beim Abendessen ist, sind die besten Plätze noch zu haben. „Ich dachte schon, wir werden mit Slughorns Aufsatz nie fertig. Nur gut, dass du so ein Ass in Zaubertränke bist. Ich hab keine Ahnung, was ich ohne dich machen würde“, fügt sie hinzu und schenkt Lily ein dankbares Lächeln, aber diese winkt nur verlegen ab. „Ist ja nicht so, als hättest du nichts gemacht“, meint sie abwehrend, während sie einen Sessel vom Feuer wegzieht und ihn neben den ihrer Freundin rückt. „Außerdem hast du mich in Kräuterkunde gerettet. Ich kann einfach nicht fassen, dass ich meinen Aufsatz verloren habe. Der war schon fast fertig und ich war sicher, dass ich ihn in „Tausend Zauberkräuter und -pilze“ gesteckt hatte, nachdem ich ihn am Donnerstag schon angefangen hatte“, fügt sie finster hinzu und beginnt zum fünften Mal damit, ihre Tasche auf den Kopf zu stellen. Aber es hilft nichts, der Aufsatz bleibt verschwunden. „Ach, lass doch“, meint Mary gut gelaunt. „Wenn du ihn jetzt doch noch findest, wirst du dich nur ärgern. Du hast ihn bestimmt versehentlich aus der Tasche geräumt und er ist in unserem Schlafsaal oder einem der anderen Bücher gelandet. Spielt jetzt aber auch keine Rolle mehr, wir haben ihn ja fertig.“ „Du hast recht“, gibt Lily widerwillig zu, ehe sie ihre Tasche wieder einräumt. Es ärgert sie trotzdem, dass sie ihn verloren hat, aber dank Marys Aufsatz und dem, was sie von ihrem eigenen noch wusste, hat sie wenigstens nicht wieder völlig bei Null anfangen müssen. Müde reibt sie sich die Augen und unterdrückt ein langes Gähnen. „Ich glaube, ich geh ins Bett“, murmelt sie. „Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal richtig lange geschlafen hab“, fügt sie sehnsuchtsvoll hinzu und stemmt sich mühsam aus dem bequemen Sessel. „Kommst du?“, fragt sie, aber Mary schüttelt den Kopf. „Ich warte noch auf Marlene“, erklärt sie. „Die müsste auch gleich kommen. Wir wollten noch kurz was zu unserem Erkling-Aufsatz für Pflege magischer Geschöpfe abgleichen.“ Ihr Blick wandert ein Stück nach links und sie hebt überrascht die Augenbrauen. „Du wirst beobachtet, Lily“, sagt sie amüsiert, während ihre Mundwinkel zu zucken beginnen. Irritiert fährt Lily herum, nur um dem Blick von James Potter zu begegnen, der ihr zuzwinkert und sich dann wieder in ein Gespräch mit seinen Freunden vertieft. Die vier sitzen auf dem Boden, während sie aufgeregt miteinander tuscheln und Lily dreht sich rasch wieder um. „Sag jetzt einfach nichts“, bittet sie Mary leise, weil sie nur zu genau merkt, dass ihre Freundin drauf und dran ist, das ganze zu kommentieren. Mary wirft ihr einen kalkulierenden Blick zu, beißt sich kurz auf die Unterlippe und richtet sich dann aus ihrer halb liegenden Position auf, um Lily genauer anzusehen. „Bist du sicher, dass du nicht über diese Blicke reden willst? Ich schwöre, das ist schon mindestens das fünfte Mal, dass ich bemerkt habe, wie er dich dieses Wochenende anstarrt. Und“, fährt sie mit erhobenen Zeigefinger fort, „da wir die meiste Zeit in der Bibliothek waren, hatte ich nicht viele Möglichkeiten, um das festzustellen.“ „Ich weiß“, faucht Lily, der urplötzlich die Hitze ins Gesicht steigt. Sie wünschte, sie könnte das mit der Wärme des prasselnden Kaminfeuers erklären, aber das ist viel zu weit weg. „Ich weiß“, wiederholt sie leiser. „Und ich habe keine Ahnung, was ich davon halten soll.“ Mary wirft ihr einen verdutzten Blick zu. „Also... Weißt du das wirklich nicht?“, fragt sie skeptisch und schüttelt ungläubig den Kopf. „Ich meine, es ist doch relativ offensichtlich, oder?“, bohrt sie nach und Lily wünscht sich inständig, dass sie dieses Gespräch nicht ausgerechnet jetzt führen müsste oder dass sie zumindest im Mädchenschlafsaal sein könnte, wo sie nicht befürchten müsste, dass irgendjemand etwas davon mitbekommt. Mary zieht an ihrem Arm und folgsam lässt sich Lily wieder in den Sessel sinken und lehnt sich näher zu Mary hinüber. Ihre Freundin scheint ihre plötzliche Unsicherheit zu spüren, denn sie wird mit einem Mal ernst. „Ich hab nur einen Witz gemacht, das weiß du doch, oder?“ Besorgt sucht Mary Lilys Blick und wartet ein kurzes Nicken ab. „Es ist ja nichts neues, dass er versucht deine Aufmerksamkeit zu erregen, aber normalerweise reagierst du nicht so.“ Eindringlich studiert sie Lilys Gesicht. „Es ist doch alles okay, oder? Du hast zwar nicht viel gesagt, aber ich dachte eure Verabredung letzte Woche lief ganz gut?“, hakt sie etwas vorsichtiger nach. James Potter ist kein Thema über das Lily sonderlich gerne spricht und abgesehen davon, dass Mary sie gelegentlich gutmütig damit aufzieht, hat ihre Freundin das auch so akzeptiert. Sie hat nicht mal groß etwas dazu gesagt, dass Lily und James vergangene Woche zusammen nach Hogsmeade gegangen sind, obwohl eigentlich geplant war, dass Lily zusammen mit Marlene und Mary dorthin gehen würde. Stattdessen hat Mary nur etwas verdutzt geschaut, ihr aber zu verstehen gegeben, dass es in Ordnung ist. Das ganze Marlene zu erzählen, war wesentlich unangenehmer, aber Lily hat insgeheim den Verdacht, dass ihre beste Freundin gegenüber Marlene einige klare Worte gefunden hat, denn abgesehen von deren erster überraschter, aber deutlich amüsierter Reaktion („Du machst Witze, oder? Du und James? Hat er dich mit einem Verwechslungszauber belegt? Oder nein, warte: Du hast ne Wette verloren, oder? Nein? Willst du Snape damit eins auswischen? Ha, das ist es, nicht wahr? Oh Merlin! Wenn ich mir sein Gesicht vorstelle, wenn er das hört!“), hat selbst diese sich danach sehr bedeckt gehalten. Offensichtlich hat sie auch gegenüber den anderen Mädchen im Schlafsaal nichts durchsickern lassen, sodass das große Getuschel erst losging, nachdem der Hogsmeadenachmittag bereits zu Ende war und die ersten Ausflügler die Nachricht des Tages - dass James Potter und Lily Evans den Tag zusammen in Hogsmeade verbracht hatten - pünktlich zum Abendessen im Schloss verbreiten konnten. Da die halbe Schülerschaft genaustens darüber im Bilde war, dass die Vertrauensschülerin ihren Klassenkameraden bisher ein ums andere Mal abblitzen gelassen hat, war es nicht verwunderlich, dass Lilys plötzliche Sinneswandel Anlass wilder Spekulationen und zahlreicher neugieriger oder auch eifersüchtiger Blicke war. Merlin sei Dank, hat sich der Klatsch und Tratsch auf den Korridoren mittlerweile aber wieder anderen Themen zugewandt. Als Lily jetzt nur schweigend ihre Hände mustert, wirft Mary einen weiteren Blick in Richtung der Rumtreiber, bevor sie ihre Freundin wieder fixiert. „Ich muss ihm doch keine Ohrfeige verpassen, oder?“, fragt sie entrüstet. „Er hat doch nicht irgendwas dummes angestellt?“ Sie sieht aus, als wäre sie durchaus bereit, James Potter einige unschöne Sachen an den Kopf zu werfen, wenn Lily zugeben sollte, dass er sich daneben benommen hat, aber Lily schüttelt nur den Kopf und starrt weiter angelegentlich auf ihre Finger. „Nein. Nein, hat er nicht“, sagt sie. „Es ist nur...“ Seufzend bricht sie ab und beginnt auf ihrer Unterlippe zu kauen, unsicher wie sie Mary etwas erklären soll, dass sie selbst nicht wirklich versteht. „Es war ein schöner Nachmittag“, sagt sie schließlich zögerlich und das ist sogar noch untertrieben. Genau genommen war es ein wunderschöner Nachmittag, der damit begonnen hat, dass sie durch die verschiedenen Läden in Hogsmeade gebummelt sind und sich anschließend in den Drei Besen etwas zu trinken gegönnt haben. Vielleicht lag es daran, dass sie James bisher nur selten ohne seine drei Freunde erlebt hat, aber sie hat ihn als viel aufmerksamer und erwachsener empfunden, als im hektischen Schulalltag. Sie haben über die Schule geredet, über Quidditch und dann sogar über Tennis. Und sie muss auch jetzt noch grinsen, wenn sie daran denkt, wie sie versucht hat, ihm zu erklären, was Tennis ist. („Also prinzipiell ist es so, als würden zwei Leute permanent versuchen, sich einen Quaffel zuzuspielen, aber es gibt Punkte, wenn einer ihn verfehlt?“, hat er irritiert gefragt und Lily hat bei dieser Zusammenfassung in ihr Butterbier geprustet. „So ähnlich“, hat sie lachend gemeint und sich anschließend beeilt das verkleckerte Butterbier mit Servietten aufzuwischen.) Und als krönenden Abschluss hat er sie dann noch zu einem kleinen Picknick eingeladen. Nichts großes, nur sein Umhang im Gras, einige Sandwiches (von denen sie keine Ahnung hat, wann oder wo er die besorgt hat) und zwei Flaschen Kürbissaft (die er wohl in den Drei Besen gekauft haben muss, ohne dass sie es mitbekommen hat), aber im Schatten einiger Bäume auf einem etwas abgelegenen, grasbewachsenen Hügel, kam es ihr so vor, als wären sie kurzzeitig in ihrer ganz eigenen Welt. Und selbst wenn sie nach dem Essen größtenteils nur schweigend nebeneinander gelegen und den Wolken im Himmel beim Vorüberziehen zugesehen haben, hat sie es bedauert, als sie sich schließlich auf den Rückweg ins Schloss machen mussten. Seitdem hat sie nicht mehr wirklich mit James geredet, was aber weniger an ihm liegt, sondern daran, dass sie einfach nicht weiß, wie sie nach dem unerwartet schönen Nachmittag weiter mit ihm umgehen soll. Und irgendwie ist seit diesem Tag in ihrem Kopf aus „Potter“ schlicht und einfach „James“ geworden und sie ist völlig ratlos, was das jetzt heißt. „Lily!“ Mary schnipst vor ihrem Gesicht herum, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und Lily fährt erschrocken zusammen. Sie hat gar nicht bemerkt, dass sie nach diesem einen Satz gar nichts weiter gesagt hat. „Entschuldige“, seufzt sie. „Es war schön“, wiederholt sie bestimmt, nachdem sie sich vergewissert hat, dass in ihrer Nähe immer noch keine anderen Schüler sind, die ihnen zuhören könnten. „Aber ich bin mir einfach nicht sicher, was-“ Kopfschüttelnd bricht sie ab, aber Mary scheint sie auch so zu verstehen. „Was du denken sollst? Wo ihr jetzt steht? Was du jetzt machen sollst, wo du ihn doch jahrelang so hartnäckig abgewimmelt hast, er sich aber nicht als der Idiot entpuppt, für den du ihn die ganze Zeit gehalten hast?“ Lily nickt bestätigend und fühlt sich seltsam erleichtert, dass Mary sofort verstanden hat, wo das Problem liegt. Mary wirkt ebenfalls beruhigt. „Hey!“ Eindringlich sieht sie Lily an. „Ist doch ganz klar, was du jetzt machst. Du sortierst das alles jetzt erst einmal für dich selbst und sobald du weißt, ob du das ganze, na ja, wiederholen möchtest, sagst du ihm einfach was Sache ist. Und selbst wenn du der Meinung bist, dass das mit eurer Hogsmeadeverabredung nur etwas einmaliges war, solltest du ihm das auch direkt sagen, im Zweifel, wenn er dich das nächste Mal nach einer Verabredung fragt.“ „Also nächstes Jahr“, rutscht es Lily unwillkürlich heraus und weil Mary sie irritiert mustert, erzählt sie ihr kurzerhand von der Vereinbarung, die sie mit James getroffen hat. Ihre Freundin sieht merklich überrascht aus. „Und du glaubst wirklich, dass er das durchhält?“, fragt sie skeptisch, während ihr Blick zurück zu der Vierergruppe in der Ecke tanzt. Lily nickt entschieden. „Na, umso besser“, meint Mary. „Dann hast du ja noch ein paar Monate Zeit, um dir über alles klar zu werden. Und falls du je das Bedürfnis verspüren solltest darüber reden zu wollen oder meine Meinung wissen willst, weißt du ja, wo du mich findest“, fügt sie beiläufig hinzu und in Lily steigt tiefe Dankbarkeit auf. „Du bist die allerbeste Freundin, die man sich wünschen kann!“, sagt sie ernst und meint es auch so. „Oh, warte nur ab. Nicht, dass du denkst, ich würde dir das völlig uneigennützig anbieten“, scherzt Mary vergnügt. „Wir können Pro- und Contralisten machen“, sagt sie mit glänzenden Augen und blickt Lily verzückt an. „Ich liebe Pro- und Contralisten.“ „Weiß ich doch“, lacht Lily. „Könnte nützlich sein“, schiebt sie dann noch nach und knufft Mary in die Seite, als diese begeistert in die Hände klatscht.                                                                                                                           ~ Do, 30. Juni 1977 ~   Der Hogwarts-Express stößt ein letztes, tiefes Schnaufen aus, bevor der schwarz-rote Zug ruckelnd und quietschend am Bahnhof King's Cross zum Stillstand kommt. Sofort geht ein großes Gedränge auf den Gängen los, als der Großteil der Schüler versucht, möglichst schnell aus dem Zug zu kommen. Lily und Mary begnügen sich damit noch einige Minuten sitzen zu bleiben, bis die erste Schülerwelle hinaus auf den Bahnsteig geschwemmt wurde, ehe sie ihre Koffer aus der Gepäckablage wuchten und in Richtung Ausgangstür schieben. Merlin maunzt beleidigt, weil er die letzte halbe Stunde bereits in seinem Korb verbringen musste, aber seine Besitzerin krault ihn liebevoll hinter seinen Ohren und mit einem genießerischen Schnurren akzeptiert er die Entschuldigung. Ein wenig sehnsuchtsvoll betrachtet Lily den pechschwarzen Kater ihrer Freundin. Sie ist eine der wenigen Schülerinnen in Hogwarts, die kein eigenes Haustier hat. Ihre Eltern haben ihr und Petunia nie ein Tier kaufen wollen. Gemeinsam springen die beiden Mädchen die Stufen der Zugtreppe hinab und betreten das Gleis neundreiviertel. Lily blinzelt gegen das Licht der untergehenden Sonne, bevor sich die Freundinnen zusammen auf den Weg zum Durchgangstor, das sie zurück zum Bahnsteig bringen wird, machen. Der Wachmann winkt sie nach einem kurzen Moment durch und Lily und Mary betreten unbemerkt die Muggelwelt. Während Lily eilig einen Schritt zur Seite geht, um den Durchgang nicht zu blockieren, stürzt auch schon Marys jüngerer Bruder auf seine Schwester zu. Mary lacht glücklich auf und wuschelt ihm durch die dunkelblonden Haare. Sie zieht Lily in eine wacklige Abschiedsumarmung, während ihr Bruder gleichzeitig an ihrem Arm zerrt. „Henry! Jetzt warte doch mal eine Sekunde!“, ruft sie halb ärgerlich, halb lachend. „Hab einen schönen Sommer, Lily. Und vergiss nicht, mir zu schreiben.“ Lächelnd erwidert Lily die Umarmung ihrer Freundin, während sie gleichzeitig Ausschau nach ihren eigenen Eltern und Petunia hält. „Werde ich machen. Und euch viel Spaß in eurem Urlaub in Schottland“, wünscht sie. „Tschüss Henry“, fügt sie noch hinzu, aber der Junge achtet gar nicht auf sie, sondern bestürmt seine Schwester aufgeregt mit Fragen. Lily winkt Mr. und Mrs. Macdonald grüßend zu, die gerade auf ihre Tochter zugehen, ehe sie ihre eigenen Eltern bemerkt, die ihr glücklich zuwinken. Zu ihrer großen Enttäuschung muss sie feststellen, dass von Petunia jede Spur fehlt. Betrübt sinken ihre Schultern herab. Bisher war ihre Schwester immer da, wenn Lily aus ihrem Hogwartsjahr heimgekehrt ist. Nur langsam setzt sie sich in Bewegung und zwingt sich zu einem fröhlichen Lächeln. „Hey, Evans!“, ertönt es auf einmal von rechts und Lily dreht sich überrascht um und bleibt etwas unschlüssig stehen. James Potter löst sich von einem älteren Ehepaar, das neugierig zu Lily herüberspäht, und schlendert lässig auf sie zu. Black steht ebenfalls bei den beiden und verwickelt sie jetzt in ein Gespräch. „Hab schöne Ferien, ja?“, wünscht James und irgendwie schaffen es diese wenigen Worte, Lilys Laune zu heben. Ihr Blick gleitet über seine Brille, die ihm etwas schief auf der Nase hängt, über die verstrubbelten Haare bis zu seinen hochgezogenen Schultern, die nur zu deutlich verraten, dass er nicht ganz so entspannt ist, wie er tut. Irgendwie vermittelt er ihr dadurch den Eindruck, als würde er insgeheim nur auf einen harschen Kommentar von ihr warten und sich dafür schon im Vorfeld wappnen wollen und dieser Gedanke versetzt ihr einen schmerzhaften Stich. Sicher, er hat sich den Großteil ihrer Schulzeit wie ein Vollidiot verhalten, aber so eine Reaktion wollte sie bestimmt nicht erzielen. Schuldbewusst wird ihr klar, dass es vielleicht auch nicht gerade hilfreich war, dass sie ihn nach ihrem gemeinsamen Nachmittag in Hogsmeade förmlich ignoriert hat. Und dank des ganzen Lernstress, der mit den Abschlussprüfungen aufkam, hatte sie auch eine bequeme Ausrede, um nicht allzu sehr über ihn nachdenken zu müssen Fahrig streicht sich Lily eine Strähne ihres umherwehenden, roten Haares hinter die Ohren, bevor ihr Blick vorsichtig zurück zu seinen haselnussbraunen Augen wandert, die sie immer noch mit diesem warmen, hoffnungsvollen Ausdruck ansehen, der ihren Magen urplötzlich zum Flattern bringt. „Ich- danke“, murmelt sie nervös und schenkt ihm ein leichtes Lächeln. „Die wünsche ich dir aus. Fährst du in Urlaub?“, fragt sie und er sieht freudig überrascht aus, dass sie sich noch weiter mit ihm unterhalten will. James wirft einen Blick zurück zu seinen Eltern und seinem besten Freund und schüttelt den Kopf. „Nö, Tatze bleibt den Sommer über bei mir“, meint er locker, ehe er sich verschwörerisch nach vorne neigt und seine Stimme senkt. Unwillkürlich beugt sich auch Lily ein Stück vor, um ihm besser zu verstehen. „Meine Eltern lieben ihn, weißt du? Wahrscheinlich muss ich mir Sorgen machen, dass sie ihm von morgens bis abends jeden Wunsch von den Augen ablesen. Und was wird dann nur aus mir?“, fährt er mit aufgerissenen Augen fort und schüttelt gespielt verzweifelt seinen Kopf, als könnte er diese Vorstellung nicht ertragen. Lily lacht laut auf und James sieht merkwürdig zufrieden mit sich selbst aus. „Und was ist mit dir?“, erkundigt er sich neugierig. „Irgendwelche interessanten Pläne?“ Lily schüttelt bedauernd den Kopf. „Nicht wirklich, nein. Ich werd einfach zu Hause bleiben, versuchen den Sommer zu genießen und dabei nicht mit meiner Schwester aneinanderzugeraten“, erklärt sie. Sie würde wirklich gerne in Urlaub fahren und vor allem wünscht sie sich, dass Petunia normal mit ihr umgehen wird, aber während ein gemeinsamer Familienurlaub in diesem Jahr gar nicht erst zur Debatte stand, hat sie wenigstens bei dem zweiten Punkt noch etwas Hoffnung. Offensichtlich hat Petunia jetzt nämlich einen festen Freund. Sie war in den Osterferien schon seltsam geistesabwesend und nervös, sodass sie kaum auf Lily geachtet hat, was einerseits zwar besser als hämische Bemerkungen war, aber auch seltsam ungewohnt. Vielleicht sorgt eine glückliche und stabile Beziehung von Petunia ja dafür, dass sie allgemein besser gelaunt sein wird und dann womöglich auch mit Lily erwachsener und vielleicht auch wieder schwesterlicher umgehen kann. Und vermutlich gibt es auch einen guten Grund, warum Petunia heute nicht hier ist. Ihre Arbeit im Büro zum Beispiel. Ja, das wird es sein. Es ist schließlich unter der Woche, bestimmt konnte sie sich nicht frei nehmen. Bei dieser einfachen Erklärung wird Lily wesentlich leichter ums Herz. „Also dann“, beginnt sie, während James gleichzeitig „Dann machs mal gut, Evans“, sagt. Beide grinsen sich etwas unsicher an, während James ihr zum Abschied kurz zuwinkt. „Wir sehen uns dann in zwei Monaten.“ Dann wendet er sich ab, um zu seiner Familie zurückzugehen. „James?“, ruft sie ihm nach einem kurzen Zögern doch noch hinterher und der Junge dreht sich mit leicht zur Seite gelegten Kopf und überrascht nach oben gezogenen Augenbrauen wieder zu ihr um. Vielleicht ist er ähnlich verdutzt wie sie selbst, dass sie auf einmal seinen Vornamen benutzt. Lily könnte nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, wann sie ihn das letzte Mal so genannt hat. In der zweiten Klasse vielleicht? „Ich heiße Lily, weißt du? Du kannst mich ruhig so nennen, statt immer nur „Evans“ zu sagen“, sagt sie entschlossen und spürt, wie ihre Wangen zu brennen beginnen. James sieht allerdings hocherfreut auf und scheint mehrere Zentimeter zu wachsen. „Okay“, sagt er leise, während er aufmerksam ihr Gesicht studiert. „Wir sehen uns dann in zwei Monaten. Lily.“ Er spricht ihren Namen nur zögerlich aus, als würde ihm das ungewohnte Wort nur schwer über die Lippen kommen. Im Gegenzug scheint Lilys Herzschlag für einen kurzen Moment förmlich auszusetzen, ehe ihr Herz anschließend in doppelter Geschwindigkeit weiterpocht. „Machs gut“, murmelt sie undeutlich und hebt kurz die Hand, bevor sie ihren Koffer fester packt und sich wieder in Bewegung setzt, um endlich ihre eigene Familie zu begrüßen. Obwohl die Ferien gerade erst angefangen haben, kann sie es mit einem Mal kaum erwarten für ihr Abschlussjahr nach Hogwarts zurückzukehren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)