Metanoia von Zaizen (The Journey of Changing One's Mind, Heart, Self or Way of Life) ================================================================================ Kapitel 1: Frühling ------------------- My best friend gave me the best advice He said each day's a gift and not a given right Leave no stone unturned, leave your fears behind And try to take the path less traveled by That first step you take is the longest stride If today was your last day And tomorrow was too late Could you say goodbye to yesterday? Would you live each moment like your last? Leave old pictures in the past Donate every dime you have? If today was your last day (If today was your last day) ~ Was würdest du tun, wenn du nur noch einen Tag zu leben hättest? Diese Frage wird oft in irgendwelchen Lifestyle-Magazinen aufgegriffen, um kuriose und radikale Änderungen der eigenen Lebensweise zu verkaufen. Oder sie ist der Bestandteil eines herzzerreißenden Dramas, das in Windeseile zum internationalem Bestseller wird, nur um von viel zu schönen Schauspielern in einem überteuerten Setting verfilmt zu werden. Die Realität sah jedoch ganz anders aus. Das lernte Clay, als sie ihre Diagnose bekam. Chronische myeloische Leukämie. Das Wortgebilde hörte sich komisch an, als ihr Arzt es ihr gegenüber zum ersten Mal aussprach. Die Worte prallten dumpf auf Clays Ohren, wollten sie jedoch nicht so ganz durchdringen. Irgendwann taten sie es aber dennoch und damit das Verstehen, welche Art von Krebs ihr Körper zugrunde richtete. Und kaum hatte sie es verstanden, setzten die Phasen der Leugnung, der Wut, der Depression und am Ende all dieser Emotionen, die schlichte Resignation. Währenddessen hatte sich der Krebs munter durch ihren Körper gefressen und überall dort Schaden angerichtet, wo die Massen an Medikamenten nicht mehr helfen konnten. Eine Aussicht auf vollständige Heilung wurde immer unwahrscheinlicher, auch wenn Clays Mutter ihr ständig das Gegenteil beteuerte. Wie ein Mantra betete sie der Zweiundzwanzigjährigen jeden Tag herunter, dass es morgen schon besser sein würde. Leere Worte für einen unschlagbaren Feind. Kurz nach der Diagnose verließ Clay die Uni, an der sie Marketing studiert hatte. Ihr neues Zuhause wurden die verschiedenen Krankenhäuser, in die ihre Eltern sie schleiften. Sie hatte nicht einmal wirklich Zeit gehabt, sich von den wenigen Freunden, die sie gehabt hatte, zu verabschieden. So verlor sie nicht nur ihre Zukunft, sondern auch jegliches soziale Umfeld, was ihr ein kleiner Trost in dieser Zeit hätte sein können. Lediglich Nic, ihr bester Freund seit der achten Klasse, blieb treu an ihrer Seite. Eben jener bester Freund saß aktuell neben ihr und hatte die Nase tief in einen Batman-Comic gesteckt, den er nicht nur Lesen, sondern vollkommen zu absorbieren schien, während er mit Clay zusammen auf ihre nächste Untersuchung wartete. Generell war Nic der einzige gewesen, der nicht vollkommen überreagiert hatte, als er von Clays Diagnose erfahren hatte. Oder zumindest hatte er es ihr gegenüber nicht gezeigt – dafür war sie ihm mehr als dankbar gewesen. Nic hatte schon immer eine hervorragende Menschenkenntnis besessen. In der Schule war er mit Leichtigkeit etwaige Mobbing-Attacken aufgrund seines Comic-Hobbies ausgewichen, während er gleichzeitig genug Coolness-Faktor besessen hatte, um nicht als Nerd abgestempelt zu werden. Hin und wieder hatte sogar eines der Mädchen für ihn geschwärmt, darauf eingegangen war er jedoch nie. Clay hatte immer den Witz gemacht, dass jeder, der nicht Bruce Wayne höchstpersönlich war, wohl nie Chancen bei ihm haben würde. Nach ihrem Abitur hatten sie sich beide an der gleichen Uni eingeschrieben. Clay für Marketing, Nic für Literaturwissenschaften. Etwa ein halbes Jahr später kam die Diagnose und legte etwaige Karrierepläne erst einmal auf Eis. „Clarissa bitte“, rief die Sprechstundenhilfe nach einer Gefühlten Ewigkeit endlich Clay auf, die sich auch prompt erhob und ins Arztzimmer marschierte. Hinter dem Schreibtisch saß ihr Onkologe, der wie immer mit einem leichten Lächeln auf den Lippen darauf wartete, dass sie auf der anderen Seite des massiven Schreibtisches Platz nahm. „Clarissa, schön, dass du da bist“, begrüßte er sie, während Clay sich still und leise fragte, was sie denn für eine andere Wahl gehabt hätte. Es war ja schon ein riesiger Kraftakt gewesen, ihre Mutter davon zu überzeugen, dass sie nicht bei jeder Routineuntersuchung dabei sein musste. „Hey“, erwiderte sie endlich und imitierte das Lächeln des Arztes auf ihrem eigenen Gesicht. Doktor med. Karsten Egelsbach war ein dürrer Mann in seinen Mit-Fünfzigern, der sie seit Beginn ihrer Diagnose betreute. Er war kein schlechter Mann und auch ein mittelmäßiger Arzt, allerdings neigte er dazu, die Dinge zu beschönigen und ihr immer wieder gut zuzureden. Das nervte Clay, weil sie so immer in ihrem Kopf die Euphemismen übersetzen musste, allerdings war sie zu höflich, ihn direkt darauf anzusprechen. „Wie geht es dir heute, ich sehe, du konntest dein Gewicht halten. Das ist ein gutes Zeichen“, begann er das Gespräch und musterte die Patientenakte vor ihm. Seitdem Clay die Krebsmedikamente nahm und die Krankheit ihr übriges tat, hatte sie stark abgenommen und kämpft um jedes Kilo. In ihrer Pubertät hatte sie einmal lästige Fettpolstern mit sich herumgeschleppt, das war seit beginn der Krankheit jedoch Geschichte. Mittlerweile hatte sie weder Brüste, noch Bauch und war zu einem fragilen Strich in der Landschaft mutiert. „Kann mich nicht beklagen. Hatte heute morgen etwas Kreislaufprobleme, ansonsten aber alles gut. Fieber hatte ich lange keines mehr und auch sonst ist alles okay“, berichtete sie und verschränkte die Arme vor der Brust, als ob das die Musterung ihres Arztes unterbinden würde. „Das sind gute Anzeichen, Clarissa. Denk immer dran genug zu trinken und deine Medikamente zu nehmen.“ Der Onkologe machte eine bedeutungsschwangere Pause, bevor er ernster fortfuhr: „Ich habe hier deine letzten Testergebnisse“, worauf sich Clay sofort auf schlechte Nachrichten einstellte. ~ „Wenn ich Glück habe, bleiben mir noch anderthalb Jahre, bis ich zur Chemo muss“, berichtete Clay mit einem tiefen Seufzer. Lustlos schwenkte sie den Kaffee in ihrem Becher umher und sah der braunen Flüssigkeit dabei zu, wie sie fast über den Rand schwappte. Nachdem ihr Arzt ihr diese Nachricht vermittelt hatte und ihr versicherte, dass es noch immer Hoffnung auf vollständige Heilung gab, war Clay wie ein Zinnsoldat aus dem Arztzimmer marschiert. Sie hatte sich wie bei der erstmaligen Bekanntgabe ihrer Diagnose gefühlt. Sie hatte es bis ins Wartezimmer und mit Nics Hilfe sogar bis vor die Tür geschafft, ehe still und leise die ersten Tränen ihre blassen Wangen herunterliefen und ihr bester Freund sie in eine wortlose Umarmung zog. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, gingen die beiden in ihr Stammcafé, das nicht unweit vom Krankenhaus entfernt war. „Und von da an mutierst du zur wandelnden Leiche?“, wollte Nic wissen, der die ganze Nachricht mit Fassung trug. „Naja, ab dann ist Kotzen ein Dauerzustand und ich werde mit wohl eine schicke Perücke aussuchen können“, scherzte Clay und spielte mit ihren schulterlangen, blonden Locken. „Sieh’s so, dann kannst du jeden Tag eine andere, aufwändige Frisur tragen, ohne stundenlang vorm Spiegel zu stehen. Und solche Desaster wie das zum Abschlussball bleiben aus“, erinnerte sie Nic an ihre grandiose Idee, ihre Haare zum Ball selbst zu toupieren und zu einer Hochsteckfrisur binden zu wollen. Trotz detailliertem YouTube-Video und etlichen Versuchen sah sie am Ende aus wie ein explodierter Wellensittich und wurde so lange ausgelacht, bis sie sich auf eines der gackernden Mädchen gestürzt und ihr eine blutige Nase verpasst hatte. Spätestens dann war der Hexenlook komplett gewesen und sie wurde von ihrem Mathelehrer von den Feierlichkeiten ausgeschlossen. Immerhin war das alles passiert, nachdem ihre Eltern gegangen waren. Einen Brief und viel Ärger hatte es trotzdem gegeben. „Da hast du wohl recht“, gab Clay lächelnd zurück, wurde dann jedoch wieder ernst, „Sobald die Chemo beginnt, sehe ich aber schwarz. Normalerweise hat man dann nicht mehr lange. Außer, es geschieht ein Wunder und sie finden einen Stammzellenspender.“ Obwohl sie sich sicher war, dass sie die Fassung behalten würde, kullerten erneut heiße Tränen über ihr Gesicht und die Verzweiflung über ihren kommenden Tod verdrängte die Resignation über ihre beinahe unheilbare Krankheit. „Denk nicht drüber nach, was in einem Jahr passiert, was willst du jetzt tun?“, riss Nic sie aus ihrer Traurigkeit und nahm ihre Hand. Durch den Tränenschleier konnte sie erkennen, dass er sie eindringlich ansah. „Anstatt traurig darüber zu sein, was du in einem Jahr nicht mehr haben wirst, nimm dir doch lieber die Zeit, die du noch hast und verschwende sie nicht.“ Traurig lächelte Clay ihren besten Freund an, unterbrach dann jedoch den Blickkontakt: „Ein einziges Jahr, vielleicht mehr, vielleicht weniger. Das ist nicht viel Zeit, Nic.“ „Und wenn es dein letzter Tag auf Erden wäre, was willst du machen?“, fragte er sie und drückte sanft ihre Hand. Clay schüttelte lediglich den Kopf. Ihr Hirn war wie leergefegt. „Was weiß ich, was würdest du machen, wenn du nicht mehr lang zu leben hättest?“, stellte sie die verzweifelte Gegenfrage, auf die Nic anscheinend schon gewartet hatte. Verschwörerisch grinste er sie an. „Was ich tun würde? Hier abhauen.“ ~ Zuerst hatte Clay Nics Vorschlag für einen schlechten Scherz gehalten. Doch je länger sie der Junge mit den braunen Wuschelhaaren aber angegrinst hatte, desto schneller war dieser Eindruck wieder verschwunden. „Das kannst du doch nicht ernst meinen“, hatte sie entgeistert eingeworfen, die ganze Trauer und Verzweiflung für einen Moment vergessen. Doch Nic hatte es ernst gemeint, denn in der nächsten Stunde, in der Clays Kaffee kalt wurde, erkläre er ihr haargenau seinen Plan. Sie würden ihr Erspartes zusammenkratzen, Visum und Flugtickets besorgen und in die USA fliegen. Dort würden sie die erstbeste Schrottkarre mieten, von der sie sich sicher waren, dass sie die Strecke von Westen nach Osten noch überleben würde. Sie würden in San Francisco starten, irgendwo mit Gelegenheitsjobs etwas Geld für das Auto, Proviant und das Benzin sammeln und dann losziehen. Das Ziel war New York, wo sie gemeinsam Weihnachten verbringen und in das neue Jahr starten würden, insgesamt wären sie dadurch etwa acht bis neun Monate unterwegs. „Und dann?“, hatte Clay gefragt und Nic kurz aus der Fassung gebracht. Verwirrt musterte er sie kurz und zuckte dann leichthin mit den Schultern. „Dann sehen wir weiter“, hatte er gesagt und gewusst, dass es nun beschlossene Sache war. Dieses kurze Gespräch in einem Café nach einer furchtbaren Nachricht hatte alles auf den Kopf gedreht. Die beiden Freunde hatten sich verabschiedet mit dem Versprechen, sich in anderthalb Monaten wiederzutreffen und loszuziehen. Kaum war Clay jedoch Zuhause angekommen, bekam sie kalte Füße. In ihrem Kopf schwirrten allerlei Dinge herum wie zum Beispiel, dass sie ihre Eltern nicht im Stich lassen konnte, oder was die Ärzte sagen würden. Generell gäbe es vermutlich keine Möglichkeit, regelmäßig prüfen zu lassen, wie weit der Krebs sich in ihrem Körper ausgebreitet hatte. Ob sie genug Geld für die Medikamente auftreiben konnte? Ruhelos streifte sie wie ein Käfigtier durch ihr altes Kinderzimmer, dass sie seit Verlassen der WG wieder bezogen hatte und blieb schlussendlich vor dem Spiegel stehen, der auf die Tür ihres Kleiderschranks geklebt war. Lange betrachtete sie die magere, blasse Gestalt eines Mädchens, das vermutlich bald sterben würde. „Verschwende nicht die Zeit, die du hast“, murmelte Clay und wiederholte damit die Worte, die ihr Nic heute im Café gesagt hatte. Sie würde vermutlich bald sterben. Wenn sie Glück hatte erst in einigen Jahren, wenn sie Pech hatte, in nur wenigen Monaten. Entschlossen ballte sie die Fäuste, setzte sich an ihren Laptop und fing an, ihr Visum zu beantragen. ~ „Ich hätte nicht gedacht, dass du kommst“, neckte sie Nic, der am Bahnhof auf Clay gewartet hatte. Es war kurz nach fünf in der Früh, doch Clay war bereits hellwach vor Aufregung. Der Rollkoffer, den sie hinter sich herzog, polterte in einem ohrenbetäubendem Lärm über das Kopfsteinpflaster. Aus Angst davor, ihre Eltern zu wecken, hatte sie ihn den ersten Kilometer getragen. „Und lasse dich allein den ganzen Spaß haben? Ich glaube du spinnst“, erwiderte sie mit einem leichten Lächeln. Ihr Magen war flau und ihre Hände feucht vor Schweiß. Sie hatte die ganze Nacht nicht schlafen können. Doch auch ein Blick auf ihren besten Freund verriet, dass seine Ruhe und seine Coolness ebenfalls nur Fassade waren. Anstatt davon aber noch beunruhigter zu sein, verschaffte es ihr die Gewissheit, dass auch er das Ganze nicht auf die leichte Schulter nahm. „Hast du alles?“, fragte Nic sie mit Blick auf ihren Wanderrucksack, den sie auf dem Rücken trug. Wie besprochen hatten die beiden nur das Nötigste mitgenommen. Außer Kleidung für alle Wetterlagen, einige Hygieneartikel, Clays Medikamente, etwas Bargeld in beiden Währungen und die Reiseunterlagen hatten sie alles Zuhause gelassen. Clay hatte einen Abschiedsbrief an ihre Eltern auf deren Esstisch gelegt. In ihm hatte sie ihre Entscheidung begründet und ihre Eltern darum gebeten, nicht nach ihr zu suchen. Clay wusste, dass sie damit den beiden das Herz brach hoffte aber, dass sie ihrer Bitte nachkommen würden. „Ich denke schon.“ Um kurz vor halb Sechs bestiegen sie den Zug, der sie zum Flughafen bringen würde. Dort würden sie ihr Gepäck aufgeben, durch die etlichen Sicherheitskontrollen gehen, erst fragende, dann traurige Blicke wegen der Medikamente über sich ergehen lassen und schlussendlich das Flugzeug betraten, was sie in etwa 12 Stunden ohne Zwischenlandung auf einen anderen Kontinent und auf eine neue und vielleicht letzte Reise bringen würde. In San Francisco waren es fünfzehn Grad und Sonnenschein als sie landeten. Es war Mitte April und ihre Reise begann mit einem letzten Gedanken an all das, was sie zurückgelassen hatten und einer ersten Idee, was sie jetzt tun wollten. ~ Wenn heute dein letzter Tag wäre, könntest du dich von der Vergangenheit verabschieden? Kapitel 2: Sommer ----------------- Against the grain should be a way of life What's worth the prize is always worth the fight Every second counts 'cause there's no second try So live like you're never living twice Don't take the free ride in your own life If today was your last day and tomorrow was too late Could you say goodbye to yesterday? Would you live each moment like your last? Leave old pictures in the past? Donate every dime you had? ~ Der Sommer in San Francisco war angenehm mild. Obwohl die Sonne stark schien, wurde es nie unerträglich heiß, was die Arbeit erleichterte. Clay bedankte sich mit einem freundlichen Lächeln bei den zahlenden Kunden des Cafés, indem sie Arbeit gefunden hatte. Das kleine Etablissement lag direkt am Upper Great Highway, also direkt neben der Ocean Beach, die gefühlt zu jeder Tages und Nachtzeit besucht war. Gleich nach ihrer Ankunft im Land der unbegrenzten Möglichkeiten hatten Clay und Nic den Rest ihres Geldes in einen alten, reparaturbedürftigen Van gesteckt, der einige Kilometer weiter auf einem Parkplatz stand. Sie hatten auch bereits einen Mechaniker finden können, der ihnen das Auto für einige hundert Dollar reparieren würde. Bis dahin diente er zwar nicht als fahrbarer Untersatz, durchaus aber als Wohnort für die beiden jungen Erwachsenen. Nic hatte nicht unweit des Parkplatzes Arbeit an einem Fastfood-Stand gefunden, die es gefühlt an jeder Straßenecke zu geben schien. Während ihr bester Freund fettige Würstchen und Bagles verkaufte, servierte Clay in einem mittelständischen Café Getränke und Snacks. Zwar war ihr Arbeitsweg länger, dafür war der Ausblick umso wundervoller. Ihre Gehaltsschecks bekamen die beiden wöchentlich, was die Einteilung ihrer Finanzen enorm erleichterte. Jede Woche konnten sie gemeinsam etwa zweihundert Dollar an die Seite legen, während sie ihre anderen Kosten auf ein Minimum reduzierten. Wenn sie diese Quote durchhielten, hatten sie Mitte August genug Geld gesammelt um ihr Auto zu reparieren, die Benzinkosten bis New York zu finanzieren und gleichzeitig genug Geld für Essen und Hygieneartikel übrig zu haben. Bis dahin würden sie von den Resten des Fastfood-Standes und des Cafés leben, die am Ende des Arbeitstages sonst im Müll landen würden. Für die tägliche Hygiene nutzen sie öffentliche Waschräume. „Über was denkst du nach, Clay?“, fragte Gabriela auf Englisch, die soeben auch ihren Tisch abkassiert und sich zu der zierlichen Deutschen gesellt hatte. Aus ihren Gedanken gerissen schaute Clay ihre Kollegin an. Die junge Spanierin mit den dunkelbraunen Locken war nicht viel älter als sie und studierte am Community College Journalistik. Um sich die Miete und einige andere Annehmlichkeiten zu finanzieren, jobbte sie als Aushilfskellnerin im Café. „Ach, nichts Besonderes“, gab Clay zu, „Nur wie lange ich und Nic wohl noch hier sein werden.“ Daraufhin verzog Gabriela traurig das Gesicht und schaute wie ein Hund, den man im Regen hatte stehenlassen. „Ich habe gerade mal angefangen, euch ins Herz zu schließen und schon redest du über das Abhauen, also ehrlich. Dabei gibt es noch so viel, was ihr sehen müsst!“ Gabriela war Clays erste Freundin in San Francisco gewesen. Die offenherzige Spanierin war ein lebensfroher Mensch, bei dem man gar nicht anders konnte, als sie mit Lichtgeschwindigkeit ins Herz zu schließen. Sie war auch diejenige, die Clay und Nic an Wochenenden durch die Stadt führte, mit ihnen Sightseeing-Touren machte und Abends mit auf Partys ihrer Kommilitonen nahm. Clay hatte die leise Vermutung, dass sie einen kleinen Narren an Nic gefressen hatte, da sie Clay bereits am Tag nach ihrem ersten Wochenendausflug sehr genau über ihn ausgefragt hatte. Das hatte Clay ihrem besten Freund natürlich nicht verheimlicht, dem die ganze Schwärmerei etwas unangenehm war und so machte sich Clay einen Spaß daraus, ihn immer ein wenig damit zu piesacken aufzuziehen. „Dann lass uns nach Feierabend an den Strand gehen. Nic holt mich ab. Heute ist Corndog-Friday und er bringt uns vermutlich wieder eine kleine Wagenladung von den Dingern mit“, schlug Clay vor und schnappte sich einen Putzlappen, um die Tische zu wischen. Gabrielas freudiges Geplapper plätscherte derweil im Hintergrund dahin. ~ Da die Tage nicht besonders heiß waren, konnte auch von warmen Sommernächten keine Rede sein. Trotzdem mochte Clay nichts lieber, als nach Feierabend am Strand zu sitzen, den kühlen Sand zwischen ihren Zehen zu fühlen und dem Rauschen der Wellen zuzuhören. In ihrem Magen schlugen die verspeisten Würstchen im Teigmantel kleine Rollen und verursachten ein angenehmes Völlegefühl. „Und dann meinte das Arschloch wirklich, mir auch noch das Trinkgeld zu kürzen, weil ich nicht zwei, sondern nur ein Stück Zucker zu seinem Cappuccino serviert hatte“, regte sich Gabriela bei Nick über einen ihrer Kunden auf, um ein aufmunterndes Schulterklopfen von ihm zu erhalten. „Vielleicht solltest du ihm nächstes Mal einfach gleich eine ganze Wagenladung an den Tisch bringen“, schlug Nic vor, woraufhin Gabriela mit den Schultern zuckte. „Sobald ich mit dem Studium fertig bin, werde ich um einen Job und eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung kämpfen. Dann schreibe ich über all die widerlichen Kunden und die Ladenbesitzer, die ihre Angestellten besser bezahlen und schützen müssen“, grummelte die sonst so fröhliche Spanierin. „Was habt ihr nach eurem Road Trip vor? Wollt ihr auch in den USA bleiben oder möchtet ihr nach Deutschland zurückkehren?“ Auf Gabrielas frage hin schauten sich Nic und Clay unsicher an, sodass Gabriela besorgt zwischen den beiden Freunden hin- und herschaute. „Habe ich was Falsches gesagt?“, wollte sie wissen, woraufhin Clay den Kopf schüttelte. „Nein, nein. Alles gut. Wir wissen schlicht und ergreifend noch nicht, was wir tun wollen oder ob wir uns überhaupt zurück nach Hause trauen können. Immerhin sind wir einfach abgehauen“, überspielte Clay das Thema. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Nics angespannte Haltung sich langsam löste. Sie beide hatten ausgemacht, ihren neuen Freunden nichts von Clays Diagnose zu erzählen. Das würde nur unschöne Fragen und ungewolltes Mitleid auslösen, die sie gar nicht gebrauchen konnten. „Ach, eure Eltern werden das alles vergessen, wenn sie euch erst wieder sehen. Und sollten sie Rabeneltern gewesen sein, dann bleibt einfach hier oder geht nicht zurück nach Hause. Die Welt ist groß“, sagte Gabriela leichthin und damit schien das Thema für sie zumindest gegessen zu sein, denn schon im nächsten Moment sprang sie freudig auf und winkte übertrieben einer kleinen Gruppe zu, die einige Meter weiter von der Straße zum Strand hinunter gingen. Kaum hatte die Gruppe Gabriela entdeckt, schlugen sie auch schon den Weg zu ihr ein. Insgesamt waren es drei Männer und eine Frau, die alle in ausgewaschenen Jeans und löchrigen T-Shirts verschiedene Musikinstrumente mit sich trugen. Sie alle hatten eine dunkelblaue Strähne in ihre Haare gefärbt, was wohl ihre Gruppenzugehörigkeit untermalen sollte. „Alex, schön dich wiederzusehen!“, begrüßte die Spanierin den vordersten Mann der Gruppe. Dieser lächelte und nahm Gabriela freundschaftlich in den muskulösen Arm, bevor er den beiden Sitzenden zunickte. „Hi“ , begrüßte er sie knapp, eher er sich wieder seiner Bekannten zuwandte. „Du bist ja noch immer in diesem Drecksloch, Gabby.“ Die Angesprochene presste die Lippen zu einer dünnen Linie und kniff die Augen zusammen. „Kann eben nicht jeder ein paar Liedchen für ein paar Dollar trällern“, gab sie zurück und wandte sich wieder an Nic und Clay. „Das sind Alex, Lindsey, Henry und Jason. Die Vier treten hin und wieder als „The Ocean Guys“ in ein paar schäbigen Clubs auf. Meistens verdienen sie ihre Kröten aber auf der Straße“, stellte Gabriela die Neuankömmlinge vor, woraufhin diese bei der Nennung ihres Namens kurz nickten. „Freut mich, ich bin Clay und das ist Nic“, erwiderte Clay den Gruß und rappelte sich auf, um den Vieren die Hand zu schütteln. „Und Deutsche seid ihr auch, wenn ich den Akzent richtig deute“, begrüßte Alex sie freundlich und schüttelte Clays Hand. „Ja, sind wir. Krauts, wie sie im Buche stehen“, scherzte Nic, der ebenfalls Alex Hand kräftig schüttelte und die anderen drei begrüßte. „Seid ihr Kommilitonen von Gabby?“, erkundigte sich Lindsey neugierig. Bevor Nic oder Clay die Chance hatten zu antworten, sprang Gabriela bereit s für sie ein: „Nein, die beiden wollen durchs Land ziehen, sich ein wenig das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ansehen.“ „Ja, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten – wenn du Kohle hast“, warf Jason sarkastisch ein. Nic zuckte gleichgültig mit den Schultern, wie er es so oft tat, wenn er vor größeren Problemen oder Fragen stand. „Die kriegen wir schon zusammen. Wir wollen keine Luxusreise machen, sondern einfach das Land sehen und die Zeit genießen“, antwortete er und traf anscheinend bei Alex voll ins Schwarze, der sich jetzt zu seinen Freunden umdrehte und mit dem Finger auf Nic zeigte. „Seht ihr, ihr Loser? Das ist Lebenswille und wahre Freiheit! Die Krauts haben Amerika besser verstanden, als ihr einheimischen Affen“, sagte er scherzhaft, was ihm einen stechenden Blick von Jason und ein genervtes Seufzen von Henry einbrachte. „Die machen die ganze Scheiße ja auch nur ein Jahr, Alex, du willst, dass wir den Rest unseres Lebens von Hamburgern und den paar Dollar leben, die wir durch unsere Musik verdienen“, sagte Henry und schüttelte den Kopf. „Sei nicht so ein verdammter Pessimist, Henry“, warf Alex ein, „Noch ein oder zwei Gigs oder einige Straßen-Performances und irgendein Produzent oder hohes Tier wird endlich merken wie verdammt gut wir sind.“ „Dude, wir sind nicht Ed Sheeran. Wir sind die verdammten Ocean Guys“, unterstützte Jason Henrys Argumentation. Entnervt warf Alex die Hände in die Luft. „Ich geb's auf. Da hätte selbst meine Oma noch mehr Kampfgeist im Blut.“ Entschuldigend wandte sich Lindsey an Clay und Nic und machte eine wegwerfende Handbewegung in Richtung ihrer Freunde „Vergesst die Idioten einfach, die streiten sich manchmal den ganzen Tag um nichts anderes. Lasst uns noch ein Stück zum nächsten Shop gehen, etwas zu Trinken kaufen und den Rest des Abends lieber über spannendere Dinge sprechen.“ Schlussendlich war es dann genau das, was die Gruppe tat. Über den Abend verteilt lernte Clay, dass die Band sich in Oregon an einer Uni gegründet hatte und seitdem an der Westküste entlangtourte, um irgendwann den Durchbruch im Musikbusiness zu schaffen. Bisher war ihnen der noch nicht gelungen, doch die Freunde glaubten fest an ihren Traum und wollten mindestens noch zwei weitere Jahre ihr Glück versuchen, bevor sie sich wieder dem „langweiligen Spießerleben“ widmen wollten, wie Alex es nannte. Insgeheim fragte Clay sich wie es wohl sein musste, klare Ideen und Vorstellungen von der Zukunft zu haben. Seitdem sie mit Nic aufgebrochen war, hatte sie in der Gegenwart gelebt und die Zukunft ganz vergessen. Ihr einziges Ziel bestand darin, genug Geld zusammenzukratzen, um ihre Tour durch die USA endlich offiziell zu starten. Vermutlich hatte ihre Mimik sie verraten, denn eine zaghaftes Drücken ihrer Hand riss sie aus den tiefen Gedanken, in die sie unbewusst versunken war. Nic, der neben ihr saß und erneut ihre Hand drückte, hatte seine Aufmerksamkeit weiterhin auf Jason gerichtet, der gerade erzählte, wie er und Lindsey mit einer Rolle Klopapier und einem Besenstiel ihr liegengebliebenes Auto wieder zum Laufen bekommen hatten. Dankbar für Nics diskreten Hinweis, drückte sie als Antwort ebenfalls seine Hand, konnte sich aber nicht dazu durchringen, die warme, weiche Hand ihres besten Freundes loszulassen, der sich jetzt noch ein Stücken weiter zu ihr lehnte, sodass sie bequem den Kopf auf seiner Schulter ablegen konnte und Trost in seiner Nähe fand. ~ Da Alex und seine Band noch eine Weile in San Francisco bleiben wollten, trafen sich Nic, Clay und Gabby fast jedes Wochenende mit den vier Musikern, um die Stadt unsicher zu machen. Oftmals feuerten sie die aufstrebende Band in den kleinen Clubs an, in denen sie ihre selbstgeschriebenen Songs zum Besten gaben. Mit Alex als Leadsänger, Lindsey an der Akustikgitarre, Jason am Bass und Henry an den Drums spielten „The Ocean Guys“ hauptsächlich Punkrock. Ihre Musik war laut, ihr Rhythmus dominant und ihre Texte strotzten vor gesellschaftskritischen Themen. Clay liebte es. In Deutschland war sie aufgrund ihrer Krankheit selten auf Konzerten gewesen, weil ihre Eltern Angst um sie hatten. Auch Alkohol hatte sie aufgrund der Medikamente nie trinken dürfen. Bisher hatte sie sich auch strikt an die Regeln ihrer Eltern gehalten. Das hatte sich mittlerweile geändert. Vor zwei Wochen hatte Clay aufgehört, ihre Krebsmedikamente zu nehmen. Eine Woche später hatte sie ihr erstes amerikanische Bier getrunken. Nic hatte nichts zu ihrer Entscheidung gesagt, sondern schweigend mit ihr angestoßen. Es blieb bei zwei Bier pro Wochenende. Auf die Frage der anderen, warum Clay so wenig Alkohol trank, sagte sie immer, irgendwer müsse den Haufen ja nach Hause bringen können. Zwar wussten ihre Freunde, dass das nicht die ganze Wahrheit war, drängten sie aber nicht weiter. Vielleicht hatte Nic aber auch einfach eine fantastische Lüge gefunden, die er den anderen erzählt hatte, als sie hinter Clays Rücken nach dem Grund fragten. ~ „Fuck, ich hätte auf dich hören sollen, Clay“, seufzte Nic , der sich schwer auf seine kleinere Freundin stützte, die verbissen das Gewicht trug und sie langsam die Straße entlang zu dem Parkplatz manövrierte, auf dem ihre rollende Behausung stand. Mittlerweile war es August und ihr Plan war aufgegangen: Sie hatten den Van reparieren können, wollten aber noch bis zum Ende des Monats in der Stadt bleiben, um noch ein paar letzte, unvergessliche Tage mit Gabriela und den Ocean Guys verbringen zu können. Dann wollten sie endlich ihre Reise fortsetzen. „Tja, ich sagte ja, dass man Absinth anzündet, bevor man ihn trinkt. Aber du musstest ja auf die idiotische Wette mit Henry eingehen“, belehrte Clay Nic, der daraufhin nur belustigt schnaubte. „Danke für die Lehrstunde, Frau Neunmalschlau.“ „Ganz ehrlich Nic, sei froh, dass ich während meines Jobs so viel schweres Geschirr durch die Gegend trage und deinen dicken Hintern nach Hause schleifen kann“, beschwere Clay sich und knuffte Nic spielerisch in die Seite, der reflexartig ausweichen wollte, was die beiden vom Kurs abbrachte und sie, Schlangenlinien laufend und lachend, versuchten das Gleichgewicht wiederzufinden. „Gabby findet meinen Arsch nicht fett, im Gegenteil. Sie meinte ich hätte das schönste Hinterteil ganz San Franciscos“, verteidigte sich Nic, was Clay ein Schnauben entlockte. „Gabby würde sich auch auf die Golden Gate Bridge stellen und das in die Welt hinausschreien, wenn sie dann endlich eine Chance bei dir hätte.“ „Ich weiß, aber ich wette mir dir, Alex würde sich glatt daneben stellen, so wie er dir immer au- ach du scheiße!“, unterbrach Nic sich selbst, als sie schlussendlich um die letzte Ecke gebogen waren und der Parkplatz vor ihnen lag. Die Tür ihres kleinen Vans war verbeult und wies tiefe Kratzer im Lack auf, die anscheinend von einem langen Gegenstand stammen mussten, mit dem die Einbrecher versucht hatten, die Tür aufzubrechen. Schlussendlich schienen sie sich aber doch dafür entschieden zu haben, einfach die Scheiben einzuschlagen, um so ins Innere des Vans zu kommen. Mit zitternden Händen öffnete Clay die Beifahrertür, während Nic hinter hier krampfhaft versuchte, einen klaren Kopf zu kriegen und das Gleichgewicht zu halten. Vorsichtig wischte Clay einige Glasscherben beiseite und kletterte dann in das demolierte Auto. Im Inneren sah es nicht viel besser aus. Ihr ganzes Hab und Gut war durchsucht worden. Ihre Rucksäcke lagen ausgeleert auf dem Boden, ihr Bett war durchwühlt und die Kopfkissen auf der Suche nach verstecktem Bargeld aufgeschlitzt worden. Alles, was nur ansatzweise von Wert sein könnte, hatten die Diebe mitgenommen. Auch das kleine versteckte Seitenfach hatten sie gefunden und das dort enthaltene Bargeld und Clays Krebsmedikamente gestohlen. Ihr Magen wurde flau und ihr Sichtfeld begann zu verschwimmen. Verzweifelt sank die junge Frau auf die Knie, schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte leise. Das war’s. „Es ist alles weg, Nic“, heulte sie und hörte, wie ihr bester Freund wütend mit der Faust auf die Motorhaube schlug und eine Fluch brüllte, bevor er plötzlich vor Schmerzen aufschrie. Die Sorge um Nics Wohlergehen holte sie aus ihrem Tränenschleier und ließ sie wieder auf die Füße kommen. Mit noch immer flauem Magen kletterte sie wieder aus dem demolierten Bus, der bis vor Kurzem noch ihr Ticket durch die USA gewesen war. Nic presste mit zusammengebissenen Zähnen seine blutende Hand gegen seinen Körper. Sein Blick und sein Kopf hatten sich durch den Schmerz etwas geklärt, aber er musste sich noch immer gegen die Motorhaube lehnen, auf der überall Glasscherben lagen. „Zeig her“, forderte Clay ihn sanft auf und nahm die blutende Hand unter die Lupe. Mit spitzen Fingernägeln zog sie vorsichtig die Splitter aus Nics Hand, der darunter anscheinend nur wenig zu leiden schien – Alkohol sei dank. „Ich wette mit dir, das waren irgendwelche Junkies, die schnelles Geld gesucht haben“, knurrte Nic, der nichts mehr von seiner üblichen Coolness übrig zu haben schien. „Verdammte Junkies, verdammte USA. Clay, was machen wir jetzt?“ Die Frage traf Clay unvorbereitet. Normalerweise war immer Nic immer derjenige, der ihre Pläne schmiedete oder bei Problem mit einem kühlen Kopf eine Lösung suchte. Das war im Moment aber nicht möglich, dachte sie, als sie in die glasigen, verzweifelten Augen ihres Gegenübers blickte. „Wir müssen deine Hand erst einmal verbinden. Und wir brauchen einen Platz für heute Nacht. Ich rufe jetzt Alex an und packe das, was von unseren Sachen übrig geblieben ist, während du hier wartest und aufpasst, dass die verdammten Arschlöcher nicht wiederkommen, um uns auch noch direkt abzuziehen“, entschied sie mit einer Entschlossenheit, die sie selbst nicht erwartet hätte. Sie hatten noch etwas Bargeld, sowie ihre Pässe bei sich. Clay war dankbar dafür, dass Nic und sie zumindest schlau genug gewesen waren, die wichtigsten Dinge bei sich zu tragen, denn das gab ihnen immerhin ein wenig Hoffnung. Noch wusste sie nicht, was der morgige Tag bringen würde. Vielleicht mussten sie ihre Eltern anrufen und zurück nach Deutschland fliegen, vielleicht würden sie den Rest des Jahres in San Francisco verbringen. All das waren Gedanken für später, entschied Clay, als sie endlich Alex Nummer wählte und vorsichtig wieder in den Van einstieg. Jetzt mussten sie erstmal einen Platz für die Nacht finden, ohne ein zweites Mal ausgeraubt zu werden. Danach konnten sie weitersehen. ~ Jede Sekunde zählt, denn eine zweite Chance gibt es nicht. Kapitel 3: Herbst ----------------- And would you call old friends you never see? Reminisce old memories? Would you forgive your enemies? And would you find that one you're dreaming of? Swear up and down to God above That you'd finally fall in love if today was your last day? If today was your last day Would you make your mark by mending a broken heart? You know it's never too late to shoot for the stars Regardless of who you are ~ „Ihr werdet mir fehlen, wisst ihr das?“, schluchzte Gabriela und zog Clay in die dritte Umarmung, die der zierlichen Frau fast die Luft raubte. Beschwichtigend strich sie Gabriela über den Rücken und versuchte, mit tiefen Zügen zu atmen. „Wir schicken dir eine Menge Bilder. Und über Weihnachten sehen wir uns doch eh in New York wieder“, versuchte Clay zum x-ten Mal den Tränenfluss zu stoppen, „Das sind nicht mal vier Monate.“ „Nicht mal vier Monate? Clarissa, das ist ein Vierteljahr, wo wir uns nicht sehen! Wer weiß, ob ihr nicht den Kontakt abbrecht oder ich zurück nach Spanien muss oder…“, fing Gabriela an und benutzte dabei Clays vollständigen Namen, was ihr das Gefühl gab, sie sprach nicht mit ihrer Freundin, sondern ihrer Mutter. „Gabby, beruhig dich. Niemand bricht den Kontakt ab und wir melden uns in regelmäßigen Abständen beieinander. So haben wir es doch ausgemacht“, kam Nic ihr zu Hilfe und drang endlich zu Gabriela durch, die nun Clay aus ihrer festen Umarmung freigab. „Ihr werdet mir einfach fehlen“, sagte sie kleinlaut und brach einem fast damit das Herz. „Du wirst uns auch fehlen, Gabby“, sagte Nic lächelnd und strich ihr die zerzausten Haare aus dem Gesicht. Die Geste wirkte so fürsorglich, dass Clay sich ungewollt fragte, wie es sich wohl angefühlt haben musste und ob Nic das jemals bei ihr getan hatte. „Seid ihr fertig?“, rief Alex vom Sprinter herüber, den er gerade mit den letzten Sachen belud. Nic und Clay verabschiedeten sich ein letztes Mal von ihrer Freundin, ehe sie zu Alex und den drei anderen Bandmitgliedern hinübergingen. Mit einer Mischung aus Abschiedsschmerz und Vorfreude stiegen die beiden Deutschen in das Auto ein. Nachdem Clay und Nic vollkommen fertig in der Nacht des Diebstahls vor dem Wagen der Band aufgetaucht waren und Clay unter Tränen von ihrem Unglück erzählte, hatte Alex nicht lange gezögert und die beiden Verzweifelten bei sich aufgenommen. Nachdem er von ihrem Traum, durch die Staaten zu reisen, um am Ende Weihnachten und Silvester an der Ostküste zu verbringen, gehört hatte, beschlossen er und seine Freunde kurzerhand, dass sie die beiden begleiten würden. „Wenn wir es nicht an der Ostküste mit unserem Durchbruch schaffen, vielleicht wird es ja an der Westküste oder irgendwo dazwischen was“, hatte Alex auf die Frage geantwortet, warum die Band sie begleiten wollte. Nachdem sich Clay und Nic etwa zehntausend Mal bei den vier Musikern bedankt hatten, war ihre gemeinsame Weiterreise beschlossene Sache gewesen. Lediglich Gabriela blieb in San Francisco zurück, um ihr Studium nicht zu vernachlässigen. Als der Sprinter endlich losfuhr, sahen sie, wie die Studentin erneut in Tränen ausbrach. „Oh man, wir haben Gabby echt das Herz gebrochen“, meinte Jason und schüttelte traurig den Kopf. „Wir sehen sie ja bald in New York wieder“, sagte Henry und wandte sich an Alex, der am Steuer saß. „Wo geht’s jetzt eigentlich hin, Captain?“ „Wir fahren jetzt erst einmal bis nach Salt Lake City und versuchen da unser Glück, dann geht’s irgendwann weiter nach Denver, Kansas City, Chicago, Detroit und schlussendlich nach New York. Wir spielen nur in den großen Städten und nicht auf irgendeinem Kuhdorf irgendwo in Nebraska. Dafür sind wir zu gut“, erläuterte Alex die geplante Reiseroute und drückte zur Bestätigung seines Entschlusses auf das Gaspedal. „Hell yeah!“, schrie Lindsey lachen und gemeinsam starteten die vier Freunde Anfang September in ein ganz neues Abenteuer. ~ Hätte man Clay und Nic am Anfang ihrer Reise gefragt, was sie wohl erwarten würde, hätten sie sich nicht einmal im Traum ausmalen können, was sie erlebten. Zusammen mit Alex, Lindsey, Jason und Henry zogen die beiden Deutschen in Salt Lake City durch die Kneipen und Bars, machten einen Umweg über den Yellowstone National Park, den ältesten Nationalpark der Welt und feuerten die Ocean Guys im Red Rocks Amphietheater in Denver an, wo sie die einmalige Chance bekamen, als Vorband für eine aufsteigende Band aufzutreten. „Ich bin froh, dass du mich zu dieser wahnwitzigen Idee überredet hast, Nic“, sagte Clay eines Abends, als sie beide alleine am Wagen auf die Band warteten, die noch in einem Club in Denver mit dem Besitzer über mögliche Auftritte verhandelten. Überrascht über diesen aus heiterem Himmel kommenden Kommentar wandte Nic sich zu seiner besten Freundin um. Das Reisen und die gelegentlichen Jobs, die Nic und Clay in den verschiedenen Städten annahmen, hatten den jungen Mann erwachsener gemacht. Seine Arme und Beine waren durch die körperliche Arbeit muskulöser geworden und sein Gesicht zierte mittlerweile ein etwas stoppeliger Dreitagebart, der hin und wieder mit den langen Haarsträhnen kollidierte, die vor allem morgens zu allen Seiten abstanden. „Dazu waren keine Überredungskünste nötig. Sobald ich es dir vorgeschlagen hatte, wusste ich, dass du ja sagen würdest. Aber woher kommt auf einmal dieser Einwurf? Was geht in deinem Strohkopf schon wieder vor?“, fragte er mit einem leichten Lächeln. Betreten schaute Clay zu Boden. Im Gegensatz zu Nic hatte sie eher an Gewicht verloren, statt zugenommen und es gab Tage, an denen sie so schwach war, dass sie sich einige Minuten hinsetzen musste. Seitdem sie ihre Medikamente nicht mehr nahm, merkte sie immer mehr, wie ihr der eigene Körper zu schaffen machte. Bisher waren die Schwächeanfälle nur seltener Natur und sie hatte keine Schwierigkeiten, ihren körperlichen Zustand zu verbergen. Seit Wochen haderte sie mit der Entscheidung, ob sie Nic einweihen sollte, dass ihr Körper langsam aber sicher gegen den Krebs verlor und dass sie sich nicht sicher war, ob sie bis zum Ende des Jahres durchhalten würde. Auf der einen Seite hätte Nic es verdient zu wissen, dass er mit einer tickenden Zeitbombe reiste, auf der anderen Seite wollte sie die Zeit und den Spaß, den sie gemeinsam hatten, nicht durch diese düstere Zukunft ruinieren. „Was ist los , Clay?“, fragte Nic erneut und nahm ihre Hände in die seinen. In seinem Blick lag große Sorge und Angst, die Clay die Brust zuschnürte. Mit aller Kraft riss sie die Kontrolle über ihre Gedanken wieder an sich und zwang sich zu einem Lächeln, während sie vorsichtig Nics Finger mit den ihren massierte. „Ich habe nur darüber nachgedacht, dass dieser Trip wohl das Beste und Größte ist, was ich je erlebt habe und das ich froh bin, dass wir diese Reise gemeinsam machen“, log sie und schien Nic damit etwas beruhigen zu können. „Ich auch“, gab er zu. Schweigend standen sie sich gegenüber, Clays Hände immer noch mit denen von Nic beschäftigt. Über den Trip hinweg hatte es immer wieder Momente gegeben, wo die beiden die Grenzen ihrer Freundschaft kurzzeitig überschritten hatten. Das war nichts vollkommen Neues, da eine so enge Beziehung oftmals an einen Punkt kam, an dem sie entscheiden mussten, ob sie ihre Freundschaft für eine Liebesbeziehung aufs Spiel setzten. Bisher hatten sie allerdings noch nicht über diese Überschreitung gesprochen und Clay plagte das schlechte Gewissen. Auf der einen Seite sehnte sie sich nach Nics Nähe, auf der anderen Seite wusste sie, dass diese Beziehung keine Zukunft hatte – immerhin gab es keine Zukunft für Clay. Langsam ließ sie Nics Hände los, trat einen Schritt zurück und wandte ihm den Rücken zu, was ihr bester Freund stillschweigend hinnahm. „Die brauchen heute echt lange“, wechselte sie unbeholfen das Thema, war aber froh das Nic darauf einging und das Thema wieder unter dem Mantel des Schweigens begraben wurde. Vorerst. ~ Von Denver ging es weiter nach Kansas, wo sie allerdings nur wenig Glück mit Auftritten und gelegentlichen Jobs hatten, sodass sie schon nach wenigen Tagen entschieden, ihren Weg nach Chicago fortzusetzen. Alex war nach einem erfolglosen Abend fest entschlossen, ihre Reise direkt fortzusetzen und die knapp acht Stunden Fahrt an einem Stück zu fahren, sehr zum Leidwesen seiner Weggefährten. „Chicago Baby!“, versuchte Alex seinen Gefährten einzuheizen, doch das leidenschaftliche Feuer blieb unter Müdigkeit und Erschöpfung aus. Es dauerte auch nicht lange, da waren die müden Abenteurer bereits alle bis auf Alex als Fahrer und Clay, die neben ihm saß und die Karte las, eingeschlafen. „Man könnte meinen, wir reisen mit einer Gruppe Rentner auf Kaffeefahrt“, grummelte Alex, der durch den Rückspiegel seine schlafenden Freunde betrachtete. Auch Clay unterdrückte mühsam ein Gähnen. „Es war ein langer Tag. Wir haben den ganzen Tag Bars und Kneipen nach einer Auftrittsmöglichkeit abgesucht und nur Absagen erhalten oder sollten viel zu hohe Gebühren bezahlen. Sie sind eben niedergeschlagen, sieh es ihnen etwas nach“, nahm sie den Rest in Schutz. Gerade, als sie Alex fragen wollte, ob sie nicht bald mal eine kleine Kaffeepause an der nächsten Tankstelle einlegen wollten, durchzuckte sie ein stechender Schmerz im Bauch. Scharf zog sie die Luft ein und krümmte sich nach vorne, was Alex verschreckt zu ihr hinüberschauen lies. „Clay, alles in Ordnung?!“, fragte er mit lauter, angsterfüllter Stimme. Hastig hob Clay die Hand, um Alex zu beschwichtigen. Mit zusammengekniffenen Augen wartete sie die Schmerzenswelle ab, ehe sie sich wieder aufrichtete und tief durchatmete. „Mir geht’s gut, mach dir keine Sorgen“, winkte sie ab, konnte Alex jedoch nicht überzeugen. „Wir wissen, dass ihr uns etwas verheimlicht, Clay“, gestand Alex und stierte stur gerade aus auf die nächtliche Straße, die lediglich durch ihr Scheinwerferlicht und den Mond beleuchtet wurde. „Das ist okay, wir alle haben unsere Geheimnisse. Nur meinst du nicht, du solltest einen Arzt aufsuchen, wenn es dir so schlecht geht? Du wirst immer blasser, kannst nicht mehr so mit anpacken wie vor ein paar Monaten und mittlerweile bist du so dünn geworden, dass Lindsey schon Buch darüber führt, ob du genug isst.“ Alex Offenbarung und die Fürsorge der Anderen rührte Clay zu Tränen, sodass sich ein Klos im Hals bildete, der sie am Antworten hinderte. „Mir kann kein Arzt helfen, Alex. Nicht auf Dauer“, gestand sie traurig. Alex nickte grimmig und deutete dann mit seinem Kopf in Richtung seiner schlafenden Freunde. „Jason hat eine kleine Schwester mit Down Syndrom und Lindseys Dad ist Kriegsveteran und kämpft bis heute gegen seine Dämonen“, erklärte er, den Blick noch immer auf die Straße gerichtet. „Was ich sagen will, wir haben alle unsere Probleme, die wir nicht lösen können und die uns belasten. Aber es bringt dir nichts, wenn du sie in dich reinfrisst, denn irgendwann beißen sie zurück.“ Traurig blickte Clay in der Spiegelung des Seitenfensters in ihr eigenes Gesicht. „Ich weiß“, gab sie leise zu. „Weiß wenigstens Nic Bescheid?“, fragte Alex nach einem Moment des Schweigens, woraufhin Clay nickte. „Ja, er weiß es. Er ist der Grund, warum wir hier sind.“ „Weiß er auch, was du für ihn empfindest?“ Die aus dem Kontext gerissene Frage traf Clay unvorbereitet. Sie musste so dumm aus der Wäsche geschaut haben, dass Alex sich ein leises Lachen kaum verkneifen konnte und dann breit grinste, als Clay sich panisch zu den Schlafenden umdrehte. „Keine Sorge, die pennen alle wie ein Stein“, gab er nur zurück, schien aber weiterhin auf eine Antwort zu warten. Trotz der Blutarmut in Clays Körper, schlich sich ein leichter rosaner Schimmer auf ihre Wangen. „Keine Ahnung. Wir haben nicht darüber gesprochen“, gestand sie peinlich berührt. „Der Typ ist so ein Glückspilz, dass eine Frau wie dich sich für ihn interessiert. Aber ich glaube, das weiß er selbst.“ „Ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich so viel Glück mit mir hat“, murmelte sie und spielte nervös mit dem Zipfel ihres Hemdes. „Lass ihn das selbst entscheiden, Clay. Wenn du nicht mit ihm darüber redest, wird es irgendwann zu spät sein und du wirst es den Rest deines Lebens bereuen“, sagte Alex in einem so verbitterten Ton, das Clay zurückschreckte und stillschweigend fragte, ob Alex sich einmal in einer ähnlichen Situation befunden hatte. Dass der Rest ihres Lebens sehr kurz bemessen war, wusste er nicht. Clay hatte von Henry erfahren, dass Alex vor einigen Jahren eine Beziehung gescheiterte Beziehung schweren Herzens beenden musste. Laut Henry hatte es sich dabei für Alex um die Liebe seines Lebens gehandelt, die er bis heute nicht vergessen konnte. „Tut mir leid, Alex“, sagte Clay daher nur leise. „Mir auch Clay, mir auch.“ ~ Das nächtliche Gespräch zwischen ihr und Alex lies Clay für die nächsten Wochen nicht los. Der Zeitdruck, schnellstmöglich eine Entscheidung zu treffen, wirkte sich allerdings eher negativ als positiv auf sie aus. Mittlerweile war es so schlimm geworden, dass sie unbewusst anfing, Nic zu meiden. Anstatt mit ihm die Stadt zu erkunden, blieb sie lieber bei Jason, der ihr beibrachte, wie man Schlagzeug spielte oder ging mit Lindsey in die verschiedenen Boutiquen, um Kleidung anzuprobieren. Nic hingegen schien tief verletzt von ihrem Verhalten zu sein, konfrontierte sie aktuell aber nicht damit. Stattdessen war er am Tag oft stundenlang verschwunden oder verzog sich allein in eine Ecke. „Das kann so nicht weitergehen, Clay“, fuhr Lindsey sie eines Tages an, als Nic sich erneut von der Gruppe verabschiedet hatte, um allein durch die Stadt zu ziehen. Angeblich auf der Suche nach Arbeit. Genervt schnaubte Clay, die am liebsten gar nicht über das Thema reden wollte, doch ihre Freundin ließ sich nicht so einfach abwimmeln. „Du musst mit Nic sprechen. Wenn ich den armen Kerl noch einen Tag lang durch die Straßen laufen sehe, wie einen geprügelten Hund, dann drehe ich durch. Ich habe keine Ahnung, was da zwischen euch läuft. Aber was du gerade tust, bricht ihm mehr das Herz, als wenn du ihn wie jeder normale Mensch eine Abfuhr erteilen würdest.“ Wütend drehte Clay sich zu Lindsey um. „Einen Scheiß muss ich! Misch dich nicht in meine Angelegenheiten ein“, fauchte sie, als ihr der Geduldsfaden riss. „Deine Angelegenheit? Euer verdammter Streit oder was auch immer das ist, ist mittlerweile auch unsere Angelegenheit. Ob du es glaubst oder nicht, aber Nic ist auch mein Freund und es tut auch mir weh zu sehen, wie du ihn behandelst“, warf Lindsey Clay vor und stemmte die Hände in die Hüfte wie sie es immer tat, wenn sie etwas aufregte. „Wie ich ihn behandele? Er stellt mich vor eine Entscheidung, die ich nicht treffen kann“, platze es aus Clay heraus, „Ich breche ihm so oder so das Herz. Also mache ich das lieber früher als später. Von mir aus haltet mich für das kalte Miststück. Das ist mir egal, bald ist eh alles egal“, zischte sie und rannte davon. Noch während sie um die nächste Ecke bog, schlugen eine Welle des Selbsthass und der Verzweiflung über ihr zusammen. In den letzten Tagen hatte sie vermehrt das Gefühl gehabt, sie versinke in einem tiefen, schwarzen Loch aus Selbstmitleid, Angst und Hass aus dem sie selbst nicht mehr rauskam. Auch das Aufstehen wurde jeden Tag schwieriger. Hinzu kamen die Schmerzen im Oberbauch und die mittlerweile regelmäßigen Schwächeanfälle. Sie war gerade mal einen halben Block weit gerannt, da musste sie schon Halt machen. Ihre Lunge brannte wie Feuer und ihre Beine zitterten wie Espenlaub. Langsam schleppte sie sich zur nächsten Hauswand, an der sie langsam heruntersank um Kraft zu tanken. Sobald ihr Becken mit dem harten Asphalt kollidierte, brachen auch die Tränen aus ihren Augenwinkeln hervor. Beschämt schlug sie die Hände vors Gesicht. In ihrem Kopf hatte sich ein hämmernder Schmerz ausgebreitet und ihr Bauch fühlte sich an als würde jemand die Bauchdecke mit bloßen Händen zerreißen. „Clay?“, fragte eine bekannte Stimme und riss sie aus ihrer ewigen Spirale abwärts. Noch immer das Gesicht in beiden Händen vergraben, hörte sie wie sich jemand vor ihr in die Hocke begab. Dann spürte sie, wie sich raue Hände, um die ihren legten und sie ganz zärtlich von ihrem Gesicht nahmen. Durch den Tränenschleier konnte Clay Nics Gesicht erkennen. Doch da war noch mehr. Als Clay endlich wieder klar sehen konnte, erkannte sie in Nics Augen nicht nur die Sorge um seine beste Freundin, sondern auch ein Gefühl, das wesentlich tiefer ging - Angst. „Mir geht es nicht gut, Nic“, gestand Clay unter Tränen und ließ sich von ihm in eine Umarmung ziehen. „Es tut mir leid. Alles“, weinte sie weiter. Durch das Weinen fiel es ihr schwer richtig zu atmen. Ihre Atemzüge gingen Stoßweise und waren viel zu tief. Zudem wollten die Tränen nicht versiegen. Vorsichtig löste Nic ihre Umarmung, um Clay in das verweinte Gesicht zu sehen. „Clay , du musst ruhiger atmen. Langsam ein und wieder aus“, instruierte er und machte die Atembewegungen vor. Doch Clay hörte nicht auf ihn. „Ich wollte dir nicht wehtun. Ich wollte das alles nicht.“ Ihr Schluchzen wurde heftiger und sie sah, wie auch langsam Panik in Nic aufstieg. „Es ist alles gut, Clay. Konzentriere dich auf’s Atmen“, zwang er sich mit aller Kraft in ruhigem Ton zu sagen. Der Schmerz in ihrem Kopf und ihrem Bauch wurde unerträglich, sodass sie vor Schmerzen die Augen zusammenkniff und sich krümmte. Das Letzte was sie hörte, war wie Nic nach einem Krankenwagen schrie, ehe alles in Dunkelheit versank. ~ Würdest du blind zu Gott beten, dass du dich endlich verlieben könntest, wenn heute dein letzter Tag wäre? Kapitel 4: Winter ----------------- So do whatever it takes 'Cause you can't rewind a moment in this life Let nothing stand in your way 'Cause the hands of time are never on your side If today was your last day and tomorrow was too late Could you say goodbye to yesterday? Would you live each moment like your last? Leave old pictures in the past? Donate every dime you had? And would you call old friends you never see? Reminisce old memories? Would you forgive your enemies? And would you find that one you're dreaming of Swear up and down to God above That you'd finally fall in love if today was your last day? ~ Das erste, was Clay wahrnahm, als sie langsam wieder an die Oberfläche ihres Bewusstseins vorstieß, waren die piependen Maschinen, die gemeinsam mit ihrem Herzschlag im Gleichklang einen beruhigenden Rhythmus vorgaben. Die Schmerzen in Kopf und Bauch waren verschwunden, an ihre Stelle war ein betäubendes Gefühl getreten, dass ihr Denken und ihre Bewegungen verlangsamte. Als sie langsam ihre Augen öffnete, fühlte es sich an, als müsste sie durch dickflüssigen Sirup waten. Die Decke des Krankenhauses war nicht so weiß, wie die des letzten, in dem sie gelegen hatte. Diese Decke hatte braun-gelbe Ränder und hatte einen starken Grauschleier, der vermutlich von den langen Dienstjahren erzählte. Undeutlich nahm sie einen Druck an ihrer linken Hand wahr, dann spürte sie eine angenehme Wärme, die sich um ihre kalten Finger legte. Mühsam drehte sie den Kopf zur Seite. Nic saß neben ihrem Bett, ihre Hand in den seinen. Seine Augen waren vom Weinen gerötet und von einer langen Nacht blau unterlaufen. Sein Blick hingegen war hellwach und bündelte die Erleichterung, die vermutlich gerade durch seinen ganzen Körper strömte. „Hey“, krächzte Clay schwach und schaffte es, den rechten Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln anzuheben, das Nic erwiderte. „Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, weißt du das?“, fragte er sie ohne einen Hauch von Klage in seiner Stimme. Clay fühlte sich trotzdem schuldig. „Wir wussten, dass es irgendwann so kommen würde, Nic. Wir wussten nur nicht, dass es so früh passieren würde“, zwang sie sich zum Sprechen. Ihre Kehle fühlte sich rau und trocken an. Nic half ihr sich aufzusetzen und drückte ihr ein Wasserglas in die Hand, aus dem sie vorsichtig und dann immer gieriger trank. „Noch ist es nicht so weit, Clay. Die Ärzte sagen, es sieht schlecht aus, aber noch ist es nicht so weit“, sagte Nic, nachdem er ihr das Glas wieder vorsichtig aus der Hand genommen hatte und sich vorsichtig auf die Bettkante setzte. Ungläubig starrte Clay ihren besten Freund an. Es war ihr unverständlich, woher er diese Kraft und diesen Optimismus nahm. „Wie lange habe ich noch?“, stellte sie die entscheidende Frage, auf die eine lange Pause folgte. Nic stieß schwer und geräuschvoll den Atem aus. „Wenn du sofort mit der Chemo-Therapie beginnst, vielleicht noch ein halbes Jahr oder mehr. Wenn nicht… weniger.“ Das Gesagte sank wie ein Stein durch Clays Brust, bis es sich an der Stelle ihres Herzens festsetzte. „Ich werde meine letzten Tage nicht in einem Krankenhaus verbringen“, flüsterte Clay und sprach die Entscheidung aus, die sie bereits Anfang des Jahres getroffen hatte. „Dann lass uns hier abhauen, sobald es dir etwas besser geht. Du bekommst neue Medikamente und Schmerzmittel und wir setzen unsere Reise fort. Scheiß auf Detroit. Wir fahren direkt nach New York.“ Auf Nics Ansage hin musste Clay lächeln und schüttelte ungläubig den Kopf. „Warum tust du das für mich Nic? Warum kämpfst du für mich weiter, während ich schon aufgegeben habe?“, fragte sie und sah ihm fest in die Augen. Nic erwiderte den Blick ohne mit der Wimper zu zucken. „Wenn dir das noch immer nicht klar ist, bist du wirklich ein Holzkopf“, scherzte er und entlockte Clay ein weiteres Lächeln, dieses Mal jedoch trauriger Natur. „Ich liebe dich auch Nic“, sprach sie endlich aus, was so lange zwischen ihnen stand, „Aber ich kann dir nicht geben, was du verdienst.“ „Du gibst mir mehr als du denkst. Ich habe dir damals in Deutschland gesagt: Lass uns das beste aus der Zeit machen, die wir haben. Lass uns jeden Tag so leben, als wäre es unser Letzter“, erwiderte Nic und griff erneut nach ihren Händen. „Und genau das tun wir. Schau die die letzten Monate an. Wir sind von Zuhause abgehauen, wir wurden ausgeraubt, wir haben die besten Freunde gefunden, die man sich wünschen kann und wir haben Dinge erlebt, von denen andere nur Träumen“, zählte er auf. Clay beobachtete, wie sein Gesicht sich aufhellte und die Lebensfreude in ihm beinahe überzukochen schien. „Das haben wir“, stimmte sie leise ein und genoss für einen kurzen Moment den Anblick dieses wunderschönen und glücklichen Menschen. Dann wurde Nic wieder ernst. „Ich will mit dir zusammen sein, Clay. Scheiß egal wie lange du noch hast. Ich will jeden Moment mit dir genießen, dich jede Sekunde deines Lebens glücklich machen und am Ende, wenn es Zeit ist loszulassen, will ich auf unsere gemeinsame Zeit zurückblicken und wissen, dass wir nichts bereut haben.“ „Kannst du es denn? Loslassen, wenn es soweit ist?“, fragte sie ebenso ernst, auch wenn ihr Herz sich anfühlte, als wäre es im freien Fall. „Vielleicht nicht an jenem Tag, vielleicht nicht in jener Woche. Aber ich verspreche dir, ich werde dich loslassen, ohne dich zu vergessen“, antwortete Nic nach einigem Schweigen und trieb Clay damit Tränen in die Augen. Es waren keine verzweifelten Tränen, wie beim letzten Mal, sondern Tränen der Trauer und des Glücks, die sich gemeinsam einen Weg über ihre blassen Wangen bahnten und schlussendlich mit denen von Nic verschmolzen, als die beiden ihre Gesichter zueinander brachten und ihre Lippen sich berührten. ~ Es war Ende November, als Alex, Lindsey, Jason und Henry von Clays Krankheit erfuhren. Seitdem waren unzählige Stunden vergangen, in denen die vier Clay im Krankenhaus besuchten, Krankenzimmer-Konzerte gaben und Pläne für die Zukunft schmiedeten. Tränen hoben sie sich für die Zeit auf, in der sie nicht anwesend war. Nic war stets an ihrer Seite. Es war Mitte Dezember, als Clay ihr Behandlungsverweigerung schriftlich bestätigte und aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Zusammen mit Nic und ihre Freunden reiste sie endlich nach New York. Das Wiedersehen mit Gabriela war genau so, wie Clay es sich vorgestellt hatte: Emotional und wunderschön. Gemeinsam durchstreiften sie den Big Apple, kauften Geschenke für die Anderen und tranken heiße Schokolade in warmen Cafés. Es war kurz nach Weihnachten, als Clay in New York verstarb. Um den dünnen, blassen Hals trug sie die Kette, die Nic ihr an Heiligabend überreicht hatte. Die letzten Tage hatte sie kaum selbst stehen können, sodass Nic sie am ersten Weihnachtstag auf dem Rücken zum Broadway trug, wo sie sich irgendein kitschiges Weihnachtsmusical ansahen. Jede Nacht hielt sie Nic in den Armen, bis sie zwei Tage nach Weihnachten nicht mehr aufwachte. Silvester verbrachte Nic im Beisein seiner Freunde. Doch die Lücke, die Clay in ihre Mitte gerissen hatte, klaffte tief. Am Ende trat das ein, was Clay immer befürchtet hatte: Sie brach die Herzen ihrer Freunde, die sie über alles geliebt hatten. Sie trauerten um ihre Freundin, die ein so fester Teil in dieser kurzen Zeit gewesen war und versprachen sich, Clays größten Wunsch in Ehren zu halten: Sie würden gemeinsam nach vorn blicken. Nicht heute, nicht diese Woche, aber irgendwann. Clay vergessen würden sie niemals. ~ Wenn heute dein letzter Tag wäre, könntest du dich von der Vergangenheit verabschieden? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)