Zu den Strömen von Babylon von Encheduanna (eine schier endlose Wandung) ================================================================================ Kapitel 8: Tage 43 bis 48 ------------------------- Tag 43   Es geht weiter, doch anders als zuvor, haben wir jetzt, wie andere auch, einen kleinen Wagen zugeteilt bekommen, auf den wir unser Gepäck laden können. Gezogen werden diese Wagen von Kühen und Ochsen. Es heißt, dass diese Tiere nach Bawel gebracht werden sollen, wir also keinerlei Rechte an ihnen hätten. Doch der Umstand, jetzt einen eigenen Wagen zu haben, nimmt uns etwas von der Last, denn wir wissen, dass der Weg noch weit ist. Unser nächstes Etappenziel, so sagen die Kasdim, sei der Perat, von dem es heißt, er sei der größte Fluss überhaupt. Jechonja murmelt daraufhin: „Der Strom in Mizrajim ist länger.“ Unwillkürlich muss ich grinsen. Woher er das bloß alles weiß?   Wenig später finde ich mich mit meiner Mutter und meinen Geschwistern auf dem kleinen Wagen wieder, während Vater und Jechonja neben der Kuh herlaufen. Da ich mich nun nicht mehr anzustrengen brauche, ertappe ich mich dabei, wie ich immer mal wieder zu Jechonja hinüberlinse und so als hätte er das bemerkt, wendet er sich um. Wieder lächelt er und kommt zu uns heran. Dann reicht er mir ein kleines Säckchen. „Hier hab ich noch was für euch.“   Ich öffne es – wieder sind es Datteln und Nüsse.   „Danke“, sage ich und berühre ihn kurz an der Hand. Dann wendet er sich ab und ich reiche das kleine Säckchen weiter an meine Mutter.   So auf dem Wagen vergeht der Tag recht schnell. Und am Abend sind wir kaum müde – nur mein Vater und Jechonja sehen erschöpft aus.   Da die uns begleitenden Kasdim jetzt wirklich andere sind – sie sagten uns vor Anbruch der Reise, dass sie uns nichts tun würden, solange wir ihre Befehle befolgen würden … Na ja, aufgrund dessen wollen meine Eltern, dass ich wieder bei ihnen im Zelt schlafe. Und im Grunde haben sie ja auch Recht, aber ich mache ihnen einen Gegenvorschlag.   „Wie wäre es, wenn wir Simche zu uns nehmen würden?“   Das Thema wird beim Abendessen diskutiert und schließlich kommen wir tatsächlich überein, dass noch immer eine Restgefahr bestehen könnte … mein Vater scheint nicht sehr überzeugt zu sein, willigt aber schließlich ein, dass Simche mit ins Zelt von Jechonja zieht. Zwar haben wir jetzt weniger Platz, doch das ist unwichtig. Wir teilen es uns so auf, dass Simche an der oberen Zeltwand schläft. Da er zum ersten Mal bewusst von seinen Eltern getrennt ist, krabbelt er rasch in meine Arme, ohne zugeben zu wollen, dass er ein klein wenig traurig ist und auch Angst hat. Nein, er sei ja schon ein großer Junger, sagt er und ich streiche ihm über den Kopf.   „Jechonja“, beginne ich nach einer Weile, als ich Simches tiefe Atemzüge vernehme.   Er wollte gerade das Öllämpchen löschen, sieht jetzt aber auf.   „Danke für die Datteln.“   Er schmunzelt.   „Sie haben so gut geschmeckt.“   Er beugt sich hinüber, berührt meine Wange.   „Sehr sogar“, sage ich und halte seinem Blick stand. „Und ich möchte wieder mit dir den Geheimnissen des Wassers lauschen.“   „Am Perat“, flüstert er und in diesem Moment beginnt mein Herz schneller zu schlagen.     Tag 44   Es hat wieder zu regnen begonnen und die Temperaturen sind stark gesunken. Mein Vater sagt: „Das war überfällig. Die ganze Zeit war es zu warm für diese Jahreszeit.“   Es geht leicht bergab – das habe ich schon kurz nach Ḥalab bemerkt – und wenn der Regen nicht wäre, würden wir noch schneller voran kommen. Unsere neuen Begleiter scheinen, anders als die früheren, kein großes Interesse daran zu haben, uns ständig zu überwachen. Sie gehen an unserem Tross nur dreimal täglich vorbei und zählen uns. Dann sind sie wieder weg und wir uns selbst überlassen.   Ich ertappe mich wieder dabei, wie ich, mit meinen Geschwistern auf dem Wagen sitzend, Jechonja beobachte. Er ist ganz nass, ebenso wie mein Vater. Und er geht ganz krumm mit hochgezogenen Schultern. Wenn es weiter so regnet, werden wir wohl einen Tag abwarten müssen.   Die Kasdim sagen, dass wir bald am Perat seien und dann wieder in einer Ruinenstadt lagern würden. Ihr Name lautet Emar.   Es ist kaum möglich, die Zelte aufzubauen. Immer wieder reißt uns der Wind die Planen aus der Hand. Wir schaffen es schließlich, aber nur mit Hilfe von anderen, denen wiederum wir helfen. Es ist ein komisches Gefühl. Seit Wochen reisen wir zusammen und nun helfen wir uns das erste Mal … ich denke schon, dass das auch etwas mit den neuen Wächtern zu tun hat, die eben nicht mehr so sehr darauf achten, dass wir immer still sind. Wir dürfen uns unterhalten, auch mit anderen zusammengehen. Und schon spüre ich wieder, wie es damals in Jeruschalajim war: allein waren wir nie! Nie! In unserem Viertel kannte einer den anderen. Wir hielten zusammen, unterstützten uns. Ganz sicher kam das auch daher, weil unsere Väter alle am Palast tätig waren und wir, die Kinder, gemeinsam die Schule besuchten und Schreiben und Rechnen lernten. Ich hatte viele Freundinnen, Hannah war nur meine liebste. Mit ihr war alles so schön. Wenn wir gemeinsam durch die Straßen gingen, konnten wir über alles lachen … Ein schlechter Tag in der Schule war durch sie wie ausgelöscht.   Ich kenne sie seit meiner frühen Kindheit. Das erste Mal sahen wir uns auf der Straße vor unseren Häusern – ganz friedlich neben unseren Müttern stehen. Aber das war nur die halbe Wahrheit! Dass wir uns schon zuvor kennengelernt hatten, sagten wir niemandem. Das sollte unser Geheimnis bleiben. Und ich habe mich bis heute daran gehalten.   Ich entdeckte das kleine Loch in der Mauer, die unsere Höfe voneinander trennte, durch Zufall. Ich musste mich hinknien, um hindurchzusehen und das tat ich auch, weil ich gespannt war, was ich sehen würde. Nun ja, dass mir ein anderes Auge entgegenstarren würde, damit hatte ich nicht gerechnet …   Unwillkürlich muss ich bei dem Gedanken daran lächeln: Was hatten wir uns damals beide erschrocken!   Der Wind und der Regen sind so stark, dass wir unser Abendessen im Zelt einnehmen müssen und dann gehen Simche, Jechonja und ich in unser Zelt. Seit ich gestern Herzrasen hatte, möchte ich Jechonja nicht mehr so nahe kommen, denn ich weiß, dass es dadurch wiederkommt.     Tag 46   Wir haben Emar am Perat erreicht! Und Regen und Wind sind fort. Wir nächtigen tatsächlich mitten in der alten Stadt – in noch halbüberdachten Ruinen, die wohl einmal Häuser gewesen sind. Vielleicht sogar große. Das aber weiß ich nicht.   Da es uns gestattet ist, gehen einige von uns in der Ruine umher. Ich überlege, ob ich auch gehen soll, sehe dann Jechonja und schließe mich ihm an. Warum nicht? Mit uns kommen Simche und meine anderen beiden Brüder. Schnell haben wir uns im Dämmerlicht des sich neigenden Tages in den schmalen Gängen verloren. Jechonja vorneweg, scheint Ahnung zu haben – oder tut er nur so? Denn alles kann er doch nun auch nicht wissen. Oder? Er geht mit uns ziemlich weit. In der Hand halten wir Öllämpchen, die wir bemüht sind, nicht ausgehen zu lassen. Simches ist natürlich als erste aus. Er greint leise, auch, weil es uns anderen nicht gelingt, sie ihm wieder zu entzünden. Ich nehme ihn an die Hand, achte darauf, dass meine beiden anderen Brüder ihre Leuchte nicht verlöschen lassen und gemeinsam folgen wir Jechonja.   „Was ist das hier eigentlich?“, lässt sich Jochanan da plötzlich vernehmen.   „Vielleicht ein ehemaliger Herrschersitz.“   „Ein Palast?“   „Glaube ich nicht, aber auf jeden Fall etwas Bedeutendes“, erwidert Jechonja.   „So wie die Davidsstadt?“   „Ja, so ähnlich, nur größer.“   „Immer ist alles größer. Ich habe auf der Reise noch nichts gesehen, was nicht mindestens ebenso oder viel, viel größer war als das, woher wir kommen“, sagt Jochanan und erntet dafür ein schnaubendes Lachen von Jechonja.   „Langsam frage ich mich, was so besonderes an Jeruschalajim sein soll, wo doch alles, aber auch wirklich alles viel größer und viel bedeutender ist als sie.“   Jochanan wirkt ehrlich enttäuscht. Aber wieder lacht Jechonja. Er ist stehen geblieben. Sein Gesicht wird durch das leicht flackernde Licht der Öllampe erhellt.   „Sie ist etwas ganz Besonderes“, erwidert er.   „Und warum?“   „Nun, schon allein deswegen, weil es unsere Stadt ist.“   „Na ja, und?“   „Und weil König David und sein Sohn Schelomoh dort König waren.“   „Ja, und außerdem?“   „Weil wir dort lebten“, erwidert Jechonja.   „Und was sind wir?“   „Jehudim.“   „Und was heißt das?“, will nun auch Schimschon wissen.   „Wir kommen aus Jehuda. Jehuda ist unser Land …“   „… gewesen“, vervollständigt Jochanan den Satz. „Jetzt sind wir ohne Land und ob wir es je wieder zurückbekommen, ist unklar.“   Im Schein der Öllampen kann ich erkennen, dass er die Stirn kraus zieht.   „Würde es dir denn wehtun, zu wissen, dass du nicht wieder in das Land zurückkehren könntest?“, fragt Jechonja und Jochanan zuckt mit den Achseln. „Ja, vielleicht, weiß nicht ganz. Aber ich denke, doch.“   „Und warum?“   „Weil es unser Land ist. Weil es uns gehört.“   „Warum gehört es uns?“   „Weil wir dort lebten.“   „Man kann auch an einem Ort leben, ohne dass er einem gehört“, erwidert Jechonja.   „Weil es schon unseren Vorvätern Ja’akow und Jitzchak gehörte. Weil sie dort ihre Schafe und Ziegen hüteten und von dem Ertrag des Landes lebten“, schalte ich mich ein und Jechonja nickt mir zu.   „Ja, das ist richtig. Unsere Vorväter lebten schon dort. Von denen werdet ihr doch schon gehört haben?“   Schimschon und Jochanan nicken. „Ja, Ima hat etwas von ihnen erzählt.“   „Und vor wie lange haben sie gelebt?“, will Schimschon wissen.   „Wie bitte?“   „Vor wie viel Zeit war das?“, wiederholt Schimschon und ich wende mich an Jechonja: „Er will wissen, wann genau das war.“   „Oh, lange, lange vor unserer Zeit. So weit können wir gar nicht zurückdenken, da gab es Jitzchak und Ja’akow schon…“   „Und von denen stammen wir ab?“   Jechonja nickt.   „Dann sind wir ja alle verwandt.“   „Deswegen könnt ihr mich Onkel nennen“, lacht Jechonja. „Im Ernst: Jitzchak und Ja’akow waren Kinder viel größerer Familien, so großer Familien, dass man sich untereinander heiraten konnte, ohne dass es verboten gewesen wäre. Aber ja, verwandt sind wir dennoch alle, wenn auch um so viele Ecken herum, dass wir sie gar nicht mehr zählen können. Und ich finde, das macht uns zu etwas Besonderem, oder nicht?“   „Na ja.“   Jochanan zuckt mit den Schultern. „Doch, schon.“   „Unser Land und unsere Stadt mögen vielleicht kleiner sein als andere Länder und andere Städte, aber wir sind eine riesengroße Familie“, fügt Jechonja hinzu.   Wir gehen weiter. Immer hinter Jechonja her und auch Schimschon geht das Lichtlein aus.   „Mist!“, flüstert er und ich streiche ihm über den Kopf.   „Und weil wir eine riesige Familie sind“, höre ich Jechonja sagen. „… ist es wichtig, dass wir alle zusammenhalten und uns gegenseitig helfen, wie man das so in einer Familie tut.“   „Ja? Meinst du, dass ich auch einem Unbekannten helfen muss, wenn er bloß ein Jehudim ist?“, fragt Jochanan.   „Ja!“   „Und anderen dafür nicht?“   „Das habe ich nicht gesagt.“   Plötzlich bleibt Jechonja stehen und winkt uns heran, dann leuchtet er.   „Und wisst ihr auch, wer Jitzchak und Ja’akow das Land gab?“   Einen Moment lang herrscht Stille und ich sehe mich um. Meine drei Brüder sehen Jechonja unverwandt an.   „Na?“, fragt dieser.   „Äh, weiß nicht …“, beginnt Jochanan.   „Ihre Eltern?“, fragt Schimschon und hält den Zeigefinger am Mund.   Doch Jechonja schüttelt den Kopf. „Nicht ihre Eltern, sondern …“   „… der Ewige?“, schalte ich mich neuerlich ein und Jechonja nickt.   „Ja, der Ewige. Er gab ihnen das Land, damit sie dort lebten. Sie zeugten Kinder und vererbten das Land an sie und die zeugten wieder Kinder und die vererbten das Land weiter – immer weiter wurde das Land gegeben. Immer weiter bis zu uns heute.“   „Und nun haben wir es verloren“, bemerkt Jochanan und presst die Lippen fest aufeinander.   Wieder entsteht eine Pause, in der ich nur den Atem der anderen höre, dann öffne ich den Mund, denn ich möchte sagen, dass dieser Gott, der unseren Ahnen das Land gegeben hat, uns nun preisgegeben habe. Das möchte ich sagen, doch unterlasse es, als ich Jechonjas Blick bemerke.     Tag 47   Ich habe in der Nacht nicht viel geschlafen, weil ich über Jechonjas Worte nachdenken musste. Zwar weiß ich, dass ich eine Jehudit bin und auch von Jitzchak und Ja’akow abstamme, aber ich kann nichts dagegen tun, dass mich der Gedanke daran nicht berührt. Ganz im Gegensatz zu meinen Geschwistern – allen voran Jochanan. Ihm scheint es sehr nah zu gehen. Aber ich, ich habe Jeruschalajim nicht geliebt, weil ich weiß, dass dort König David regierte und er – ebenso wie ich – ein Nachfahre unserer beiden Ahnen war, nein, sondern weil ich die Stadt so sehr mochte. Weil ich das Leben, das sich im Frühling auf ihren Straßen und Plätzen abspielte, liebte. Dieser Trubel von Menschen. Und weil Jeruschalajim dann so gut roch und weil es so leicht war, an gute Datteln heranzukommen und weil die Oliven dort so gut schmeckten und weil Hannah meine Freundin war und ich mit ihr zusammen sein konnte, und auch mit ihrem Bruder, der mir diese rote Murmel, die er einst von diesem Händler erhalten hatte, schenkte … Ja, weil es eben einfach Jeruschalajim ist. Deswegen vermisse ich Jeruschalajim … Und während ich das denke, kommen mir die Tränen.   Der Perat – er ist wirklich ein großer Fluss. Mir ist es vollkommen egal, ob es da noch einen größeren gibt. Der Perat ist groß, er ist breit und …   … und als wir wieder badeten, da traute ich mich nicht, zu Jechonja hinüber zu paddeln, aber ich versuchte auch allein, auf das Wassers zu lauschen … doch es gelang mir nicht so recht ...   Es ist kalt, sehr kalt als wir alle wenig später beim Feuer sitzen. Wir sind noch immer in Emar, in diesem halb überdachten Raum. Ich hebe den Kopf, sehe die uralte Deckenkonstruktion aus langen Holzstämmen – wahrscheinlich sind es Zedern. Wie gut sie sich erhalten haben!     Tag 48   Heute Morgen sah ich durch Zufall Secharjahu wieder, der, den die Kasdim vor Wochen geblendet hatten. Er stand allein da und wusste nicht, wohin er sich wenden sollte. Er tastete um sich, tat einige Schritte, fand keinen Halt, taumelte und wäre gefallen, wenn ihn nicht im letzten Moment jemand gestützt hätte.   Unwillkürlich schlug ich die Hände vors Gesicht. Wie hatte ich die letzten Tage über nur so unbekümmert leben und mir Gedanken darüber machen können, dass ich in Jechonjas Nähe Herzklopfen bekommen könnte? Wo doch gleichzeitig Menschen litten …   Secharjahu geht es nicht gut. Seine Augen oder besser seine Augenhöhlen sind noch immer blutunterlaufen. Niemand reinigt ihm die Wunden. Wahrscheinlich lässt er niemanden heran, weil er starke Schmerzen hat. Ich überlege, ob ich zu ihm gehen und mit ihm sprechen soll, aber ich traue mich nicht. Was sollte ich ihm denn auch sagen? Wir kennen uns ja nicht, auch wenn wir, wie Jechonja sagt, alle miteinander verwandt sind. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)