Zu den Strömen von Babylon von Encheduanna (eine schier endlose Wandung) ================================================================================ Kapitel 10: So viele Tage bis Mari ... -------------------------------------- Tag …   Die Kasdim sagten uns heute, dass wir in den nächsten Tagen, wahrscheinlich schon übermorgen, Mari erreichen würden. Mari, die uralte Palaststadt, die einst Hammurabi, einer der Urahnen Newuchadrezzars, eroberte … So hatte es uns Jechonja gesagt. Ich erinnere mich noch genau an diesen Moment. Es war beim Mittagessen. Da war er so fröhlich gewesen und hatte jeden von uns angelächelt.   Und am Abend dann hatte ich ihm diese Frage gestellt. Diese eine Frage! Wie hatte ich nur so dumm sein können und wissen zu wollen, wie er den Mord an seiner Frau und seinem ungeborenen Kind hat überwinden können.   Jetzt, da ich im Zelt meiner Eltern neben Simche liege und auf den Schlaf warte, spüre ich Jechonjas Schmerz fast körperlich und ich schlage mir die Hände vors Gesicht. Er hatte alles verloren, was er sich je gewünscht hatte. Ich hätte es anfangs nicht gedacht, dass ihm so etwas wiederfahren war. Wie er so entspannt im Wasser gestanden hatte, wie er immer wieder gelächelt und gesagt hatte, dass wir Glück hätten, leben zu können … Wie kann man so sein, wenn man doch gleichzeitig einen so großen Kummer in sich trägt?     Mari   Heute sind wir in Mari angekommen und die Kasdim gaben uns die Erlaubnis, uns frei auf dem Gelände des uralten Palastes zu bewegen. Sie sagten auch, dass sie uns nichts tun würden, solange wir ihren Befehlen Folge leisten würden.   „Die neue Truppe scheint wirklich vernünftiger zu sein als die alte“, sagte mein Vater.   „Aber können wir ihnen wirklich trauen?“, fragte meine Mutter.   „Ich fürchte, uns bleibt nichts anderes übrig.“   Da meine Brüder die Ruine unbedingt erkunden wollten, ging ich mit, nicht ohne jedem eine Öllampe anzuzünden. Wer auch immer hier gewohnt haben mochte, musste sich schon sehr gut orientieren können, um sich in dem Wirrwarr an Räumen zurechtzufinden. Aber wahrscheinlich war das damals, als der Palast noch intakt war, leichter als jetzt, da die Mauern an einigen Stellen nur noch mannshoch waren und auf dem Boden Schuttberge lagen. Und augenblicklich fragte ich mich, wie man hier gelebt hatte, als der Palast noch stand. Wahrscheinlich waren die Menschen reich gewesen, viel reicher als wir in Jeruschalajim. Klar, bei so einem großen Palast! Vor 1000 Jahren lebten sie hier, so alt sollte diese Ruine sein. Unvorstellbar. Ich hob meine Hände. 1000 Jahre – wenn jeder Finger zehn Jahre waren, dann waren es 100 Finger mal 10 … Vor so langer Zeit lebten hier Menschen – und wir, meine Brüder und ich, liefen nun hier umher – müde, erschöpft und dennoch wollten wir wissen, wie es hier aussah. Abwechslung von der Wanderung entlang des Perat. Und ein wenig Freiheit. Unwillkürlich blieb ich stehen und schloss die Augen. Freiheit! Ja, die kannten die Menschen, die hier lebten, ganz sicher – bis … bis … Wenn ich mich recht erinnere, dann waren es die Vorfahren der Kasdim, die diesen Ort zerstörten. Hammurabi war ihr König. Sie belagerten den Palast, ehe sie seine Mauern brachen. Wie bei uns in Jeruschalajim. Nur 1000 früher. Und wie bei uns trieben sie Rammböcke in die Mauern und schossen Brandgeschosse in die Stadt, ehe sie selbst kamen und alles verheerten. Den Schutt, den ich ringsum mich her sah, stammte von diesem Ereignis. Unwillkürlich bückte ich mich, nahm etwas auf und zerrieb es zwischen den Fingern. Wenn dieser Staub erzählen könnte. Wenn … Ich würde ihm so gerne lauschen. Die Menschen müssen gelitten haben. Schon als die schwerbewaffneten Truppen sich von Süden her näherten. Das Land ist hier flach. Man muss sie schon lange vorher als dunklen, später schwarzen Fleck am Horizont gesehen haben. Ein Fleck, der rasch größer wurde. Und was taten die Menschen hier im Palast? Bewaffneten sie sich ebenfalls? Wehrten sie sich gegen den Feind? Oder wussten sie, dass jede Gegenwehr sinnlos wäre? Versuchten sie es trotzdem, sich zu wehren? Irgendwie? Um ihren Palast und letztlich sich selbst zu retten? Wo versteckten sie sich, als die Truppen von Hammurabi in den Palast einbrachen? Gibt es geheime Räume – vielleicht tief unter der Erde bei den Toten, wo niemand freiwillig hingeht? Hockten sie dort neben den Gebeinen ihrer Ahnen und warteten darauf, dass der Feind wieder abzöge, während sie die Schreie ihrer Brüder und Schwestern vernehmen mussten. Rückten sie noch enger zusammen in dem Wissen, nichts für sie tun zu können, ohne Gefahr zu laufen, selbst entdeckt zu werden? Und rochen sie nach einiger Zeit das Feuer, das über ihren Köpfen loderte? Brannte sich der Rauch in ihre Kehlen, sodass sie kaum noch Luft bekamen? Was taten sie, als sie bemerkten, dass sie hier unten ersticken würden? Dass es keinen Ausweg mehr gab? Und hörten sie dann wieder diese Schreie? Was geschah da oben mit ihren Brüdern und Schwestern?   Oder entdeckte man sie noch während sie sich verstecken wollten und zerrte sie hervor. Waren es ihre eigenen Schreie, die sie vernahmen, als sie die enthaupteten Leichen ihrer Eltern und Freunde sahen und augenblicklich wussten, welches Schicksal ihnen selbst drohte, als man sie zwang, sich hinzuknien und vornüberzubeugen?   Mit welchem Recht zerstören Menschen Städte und ermorden andere Menschen? Warum hat der Stadtgott von Mari es zugelassen, dass so etwas geschieht? Und warum unser Gott? Sind sie wirklich zu schwach, sich Menschen entgegenzustellen?   Wir überquerten einen Hof, der gepflastert war, als Simche wie angewurzelt stehen blieb.   „Konja!“, rief er und riss an meiner Hand.   „Wo?“, fragte Jochanan.   „Da.“   Unwillkürlich sah ich in seine Richtung und tatsächlich: da stand er – allein – und mein Herz … ach … es schlug noch heftiger, als er auf uns zukam. Er wirkte noch schmaler als vor Wochen, aber er lächelte.   „Konja“, rief Simche wieder und packte seine Hand.   „Da seid ihr ja, ihr vier! Und wie ich sehe, geht es euch gut, auch wenn du etwas traurig schaust, Michal. Aber das musst du nicht – wir sind in Mari. Mari! Einst war das hier der schönste und größte Palast weit und breit. Voll des Lebens.“   Wieder sprach er so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. „Was meinst du? Haben es sich die Menschen, die hier lebten, schwer sein lassen? An diesem Ort? In diesem Land? Hier am Fluss? Am Perat?“   Er unterbrach sich.   „Die Menschen hier lebten zufrieden, waren fröhlich, feierten ihre Feste, beteten zu ihren Göttern – vor allem zu Dagan, dem Gott des Korns …“   Wieder unterbrach er sich und ich sah ihn nur an.   „Wenn du mir nicht glaubst …“   „Doch“, erwiderte ich, er aber lächelte: „Ich glaube dir nicht, dass du mir glaubst. Aber ich habe vorhin etwas gefunden …“   „Was?“, rief Simche und auch Jochanan und Schimschon drängten sich um uns, während Jechonja etwas aus seiner Tasche holte.   „Hier“, sagte er. „Weiß jemand, was das ist?“   „Zeig!“   Und Jechonja beugte sich zu uns hinab und beleuchtete seine geöffnete Hand.   „Na, was ist das?“   Ich sah ein kleines Viereck, nicht größer als sein Handteller.   „Ihr könnt es ruhig nehmen, aber lasst es nicht fallen“, forderte er uns auf und Jochanan schnappte es sich.   „Es ist … oh man …“, sagte er dann mit großen Augen.   „Sag es nicht!“, erwiderte Jechonja und legte einen Zeigefinger an seine Lippen. „Gib es weiter.“   „Hier.“   „Ein Stempel“, rief Schimschon, aber Jechonja schüttelte den Kopf. „Nein, kein Stempel.“   „Schade, hätte ich auch gedacht.“   „Zeig!“, forderte Simche und Schimschon legte es ihm auf seine beiden Hände. Einen Moment blieb Simche – beinahe möchte ich sagen – andächtig stehen und besah sich das Ding, ehe er aufblickte. „Da ist nen Tier drin … Es sieht so aus, als könnte man was reintun.“   „Richtig!“, sagte Jechonja. „Und habt ihr eine Ahnung, was man da reingetan hat?“   Ich beugte mich ebenfalls über den kleinen Gegenstand, nahm ihn dann auch selbst. Er war aus Lehm und er besaß eine Vertiefung und in dieser war ein Tier, ein Esel oder ein Pferd, eingeprägt. Seltsam.   „Keine Ahnung?“   Wir schüttelten die Köpfe.   „Habt ihr eurer Mutter noch nie in der Küche geholfen?“   „Nein“, rief Simche.   „Aber ihr esst doch alle gern Kuchen?“   „Na klar! Am liebsten Rosinenkuchen.“   „… und Dattelkuchen.“   „Honigkuchen.“   Und in dem Moment, da meine Brüder ihre liebsten Kuchen aufzählten, dämmerte es mir. „Ist das eine …?“   „Ja“, nickte Jechonja. „Das ist eine Backform. Man füllte in sie den Teig und stellte ihn dann in den Ofen. Und wenn er fertig gebacken war, stürzte man ihn und hatte einen kleinen Kuchen – einen Kinderkuchen mit einer Verzierung oben drauf. Wir in Jeruschalajim hatten auch solche Backformen, stimmt’s?“   Während er das sagte, sah er mich an.   „Hier lebten Frauen, die ihren Kindern Kuchen backten. Das muss man sich einmal vorstellen …“, fügte er hinzu und lächelte.   „Bis Hammurabi kam und alles zerstörte“, erwiderte ich.   „Ach, Michal …“, seufzte er und legte mir seine Hand auf die Schulter.   „Zeig uns noch etwas“, rief Jochanan.   „Ja, hast du noch was?“   „Und eurer Vater, was sagt der dazu, wenn ihr mit mir zusammen seid?“   „Ach, der muss es ja nicht wissen“, sagte Jochanan und lächelte überlegen.   Rasch sah sich Jechonja um. „Gut, ihr habt Glück. Ich habe wirklich noch etwas entdeckt.“   „Was denn?“   „Einen Schatz“, sagte er und machte große Augen. Das sah so komisch aus, dass auch ich grinsen musste.   „Einen Schatz? Och … Einen großen?“   „Riesengroß.“   „Och“, machte Jochanan und stieß Schimschon an, der daraufhin beinahe sein Öllämpchen hätte fallen lassen und seinem Bruder einen Klaps versetzte.   „Manno!“   „Depp!“   „Du Pups!“   „Na, na“, schaltete sich Jechonja ein. „Beruhigt euch, denn mit unartigen Kindern gehe ich nicht los.“   „Ja, seid liebe Kinder!“, krähte Simche und zerrte an Jechonjas Hand.   Einen Moment später befanden wir uns auf Erkundungstour, so wie damals in Emar – im Gänsemarsch, immer einer hinter dem anderen her. So gingen wir durch noch halbüberdachte Räume und schmale Korridore. Und unwillkürlich streckte ich meine Hand aus und strich mit den Fingern aber die Wände. Sie fühlten sich rau an und wieder wünschte ich mir, sie könnten mir von dem erzählen, was sie erlebt hatten. Aber wollte ich das tatsächlich erfahren? All das Elend? Die Zerstörung? Vielleicht buck eine Mutter ihren Kindern gerade einen Kuchen, als die Truppen über den Palast herfielen?   Wir gelangten auf einen großen Hof – viel größer als der letzte. Und Jechonja drehte sich um.   „Hier ist es.“   „Hier? Der Schatz?“, rief Simche und Jechonja nickte.   „Wo?“   „Na, sucht ihn! Wer ihn zuerst hat, der bekommt etwas“, sagte er.   „Was bekommen wir?“   Jechonja lächelte erneut: „Das ist eine Überraschung. Michal, möchtest du nicht auch suchen?“, entgegnete er und deutete auf meine umher rennenden Brüder.   Erst in diesem Moment begriff ich, dass ich die ganze Zeit vor Jechonja gestanden und ihn angesehen hatte.   „Hier nichts“, rief Schimschon.   „Hier auch nichts“, echote Jochanan.   „Kannst du mir einen Tipp geben?“, fragte ich ihn, doch er schüttelte den Kopf. „Du wirst es finden.“   Ich sah mich um, konnte aber nichts Außergewöhnliches ausmachen. Überall nur Schutthaufen an den Wänden und ich wandte mich ab.   „Geh ein bisschen umher, bleib nicht stehen, sonst wirst du es nicht finden“, hörte ich Jechonja sagen.   „Hier!“, rief Simche und deutete auf die uns gegenüberliegende Wand. „Hier!“   Sofort waren Jochanan und Schimschon bei ihm und schubsten ihn weg.   „Na, na, immer mit der Ruhe“, rief Jechonja und zu mir gewandt: „Deine Brüder sind schneller als du.“   Ich zuckte mit den Schultern. „Es sind ja auch Jungs.“   „Nichts als Ausreden!“   „Da hat jemand was an die Wand gemalt“, rief Simche und hüpfte umher, wie es seine Art war, wenn es ihm richtig gut ging.   „Richtig! Und? Kann mir jemand sagen, was zu sehen ist?“   Einen Moment blieben wir alle vor der Malerei stehen und betrachteten sie.   „Ist das ein Schatz?“, ließ sich dann Schimschon vernehmen.   „Ja.“   „Find ich nicht so spannend.“   „Es ist aber uralt.“   „Wie alt?“   „1000 Jahre und mehr.“   „1000 Jahre?“, fragte ich. „Also so alt wie der Palast selbst?“   Jechonja nickte.   „Eine uralte Malerei, von jenen Menschen stammend, die hier lebten, als …“   Er unterbrach sich.   „…als was?“   „Als hier Zimrilim, der letzte König regierte …“   „Ach so, ist trotzdem nicht spannend“, erwiderte Schimschon etwas enttäuscht und wandte sich ab.   „Gut, aber bleibt in der Nähe.“   „Ja.“   Im ersten Moment wollte ich meinen Brüdern schon zustimmen, doch dann bemerkte ich, wie große das Bild war, mehr als 5 Ellen lang und mindestens ebenso hoch. Also riesig. Und dann diese Farben. So leuchtend, als wären sie gerade erst aufgetragen worden. Schon war ich versucht, meine Hand auszustrecken, um es zu prüfen. Ich stand genau vor zwei Figuren mit Hörnerkronen, die Gefäße in den Händen hielten, aus denen etwas hervor kam. (*)   „Das ist Wasser“, sagte Jechonja.   „Es wirkt so, als würde er fließen.“   „Das soll es auch. Es sind Wassergötter.“   „Und das ist wirklich 1000 Jahre alt?“   „Wohl noch älter.“   Ich stand nur da, nickte und beleuchtete das Bild mit meinem Lämpchen. Wenn ich mir vorstellte, dass Menschen vor 1000 oder mehr Jahren hier gestanden und dieses Gemälde angebracht hatten und ich mir ihr Werk gerade ansah, dann überkam mich ein Schauer.   „Und darüber?“   Ich reckte mich und Jechonja sah mich einen Moment lang an. „Möchtest du es sehen?“   Ich nickte und er, er umfasste mich bei den Hüften und hob mich einfach hoch.   „Siehst du’s?“   Ich nickte und stützte mich auf seine Schulter. „Vier Personen, zwei auf der einen, zwei auf der anderen … zwei tragen die gleiche Hörnerkrone wie die Wassergötter.“   „Das sind ebenfalls Götter, die einem Herrscher, wahrscheinlich Zimrilim, die Herrschaft über den Palast übertragen.“   „Aha …“   Dann sah ich weiter und mein Herz begann schneller zu schlagen, als ich begriff, was ich da vor mir hatte.   „Palmen“, rief ich. „Ein ganzer Palmenwald.“   Und er breitete sich genau über meinem Kopf aus. Lauter Palmen. Ich kam mir so vor, als stünde ich genau in diesem Wald, als ich weiter leuchtete.   „Und hier, diese geflügelten Wesen links und rechts. Sie haben Menschengeschichter und Katzenkörper.“   „Das sind Wesen, die den König beschützen, damit diesem nichts Böses widerfährt.“   Schon wollte ich sagen, dass dem König aber schließlich etwas Schlimmes geschehen sei, verkniff es mir aber, denn wieder waren da die Farben, die mich dazu brachten, zu glauben, dass alles echt sei. So wie ich das Licht bewegte, schienen sich auch die Tiere zu bewegen – und ebenso die Palmen. Wenn ich es so wollte, dann hörte ich den Wind, der durch ihre Kronen strich und sie leicht rascheln ließ.   „Das ist so schön“, sagte ich, als ich wieder neben Jechonja stand.   „Ja, aber etwas hast du übersehen.“   Und wieder nahm er mich hoch, wieder spürte ich seine Hände auf meinen Hüften. „Sieh von dir aus nach rechts.“   Ich leuchtete. „Palmen.“   „Ja, und noch?“   „Oh, Menschen, die am Stamm hochklettern.“   „Was wollen sie da?“   Ich leuchtete nach oben und beinahe kam es mir so vor, als kletterte ich ebenfalls hinauf in die Baumkrone, als ich es plötzlich sah.   „Früchte!“, rief ich und berührte Jechonjas Hände. „Na klar, Früchte, was denn auch sonst!“   In diesem Moment ließ mich Jechonja wieder herab. „Welche werden es sein?“   Er lächelte und kam mir etwas näher. Durch das Licht seiner Öllampe sah ich seine Augen genau und ich bemerkte, dass sie blau waren. Blau – so wie der Himmel in diesem Gemälde. Und mein Herz begann wieder schneller zu schlagen.   „Jechonja“, murmelte ich.   „Na?“   Ich zuckte mit den Schultern und er schmunzelte: „Kann es sein, dass das Datteln sind?“   „Datteln?“, erwiderte ich. „Wo gibt’s hier denn Datteln?“   „Überall – wir sind schon an vielen Dattelpalmen vorbeigekommen.“   „Wirklich?“   „Ja, du musst dich nur umsehen. Überall …“   Und in dem Moment gab er mir eine.   „Ich will auch“, maulte plötzlich Simche neben mir.   „Und ich auch“, rief Jochanan.   „Du bekommst dein Geschenk noch“, sagte Jechonja und deutete auf Simche.   „Wieso der?“   „Weil er die Wandmalerei als erstes entdeckt hat.“   Und mit diesen Worten holte Jechonja einen kleinen Stein hervor, der an einer Schnur hing und legte ihn Simche um den Hals. Dieser nahm den Stein.   „Was ist das?“   „Ein Rollsiegel. Das trugen früher ganz edle Herren.“   „Ha ha ha“, lachte Jochanan. „Der ist doch nicht edel. Der kackt ja noch in die Windeln.“   „Du hast vor drei Jahren auch noch in die Windeln geschissen“, erwiderte ich.   „Michal, du stinkst.“   „Stimmt ja gar nicht“, widersprach Simche und stolzierte wie ein kleiner edler Herr neben mir her – die Brust vor Stolz geschwellt, da er solch einen Schatz um den Hals tragen durfte. Doch um unseren Eltern keinen Vorschub zu liefern, nahm ich ihm seinen Schatz ab. Natürlich greinte er, doch ich erklärte ihm, dass ich ihm das Steinchen nicht wegnehmen wolle. Nur, dass wir es verstecken müssten. Er dürfe es niemals im Beisein meiner Eltern tragen. Das verstand er und steckte es in seine Tasche.     Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, wird mir bewusst, was an diesem Abend tatsächlich geschehen ist. Jechonja brachte uns schließlich zurück zu dem Hof, in dem wir uns begegnet waren. Da verabschiedete er sich und umarmte jeden von uns. „Der Ewige segne euch alle vier!“, sagte er dann und wandte sich um.   „Wohin gehst du?“, rufe ich ihm nach.   Er bleibt stehen, lächelt mich an und sagt: „Nach Bawel, wohin sonst?“   „Aber … warum nur können wir nicht zusammen ...“   Da kommt er noch einmal auf mich zu. „Iss deine Dattel“, sagt er.   „Wie?“   „Du hast sie noch in der Hand.“   Ich sehe auf. „Es war … so schön mit dir, so wunderschön … Ich möchte nicht, dass du gehst.“   Und da er schweigt, suche ich verzweifelt nach etwas, was ich ihm sagen könnte – und es drängt mich auch. Hatte mich schon die ganze Zeit gedrängt. Nur getraut hatte ich mich nie. Nun aber, da wir uns trennen müssen, durchzuckt es mich ... Er hatte sich immer um mich gekümmert, mich getröstet, mir Kraft gegeben und ich, ich hatte ihn ... Ich spüre doch seinen Schmerz, diesen tiefen, tiefen Schmerz, der ihn immer begleitete … Aber ich hatte nie etwas getan, um ihn aufzumuntern ..., ja hatte ihn sogar noch ... Und nun geht er, einfach so ... ohne, dass ich ... Ich hätte das nie ... niemals ...   „Mir ... mir tut es so leid, dass du deine Familie verloren hast, deine Frau, dein Kind. Bitte verzeih mir, dass ich … das ich nie zuvor …“, stoße ich hervor.   Einen Moment lang tut er nichts, steht nur vor mir, sieht mir in die Augen, ehe er die Hand hebt und mir über die Wange streicht. Dann wendet er sich plötzlich ab, will tatsächlich gehen. Was, was kann ich tun, um ihn am Gehen zu hintern, um ihn zu halten? Was? Es muss doch etwas geben?   „Jechonja“, sage ich und noch einmal: „Konja, was ich dich noch fragen möchte: Woher weißt du das alles? Das mit dem Orontes, das mit den Ruinenstätten – einfach alles. Du denkst doch nicht nur über das Wesen Gottes nach, oder?“   Mein Herz rast, als er sich neuerlich umdreht, mir nur wieder in die Augen sieht, um dann meine Hand zu nehmen und sie ganz leicht zu drücken.   „Du willst wissen, woher?“   Ich nicke.    „Magst du Rätsel, Michal?“   Ich nicke erneut und um seinen Mund spielt ein Lächeln:   „Ein Haus, setzt er an, wie der Himmel (auf) einem Fundament fest gegründet. Ein Haus, das jemand wie eine Schatzkiste mit einem Leinentuch bedeckt hat. Ein Haus, wie eine Ente auf festem Sockel stehend. Geschlossenen Auges trat einer ein, geöffneten Auges kam er (wieder) heraus.“ (**)   Er unterbricht sich und sieht mich an: „Na, was ist die Lösung?“   Ich bin verwirrt, zucke mit den Schultern. Ein Haus? Eine Schatzkiste? Geschlossene und geöffnete Augen ...?   „Bitte“, stoße ich hervor und achte darauf, dass er meine Hand nicht loslässt.   „Wenn du die Antwort kennst“, fährt er fort, „weißt du nicht nur, was ich in Jeruschalajim war, sondern wirst mich ganz sicher auch in Bawel wiederfinden …“   „Jechonja, bitte“, krächze ich.   Er sieht mir nur in die Augen, schweigt aber und wendet sich dann auch wieder um, macht gar Anstalten zu gehen. Ich aber halte seine Hand fest, ganz fest.   „Konja!“ Ich will ihn nicht gehen lassen. „Ein Haus wie eine Schatzkiste, man geht mit geschlossenen Augen rein und kommt mit geöffneten wieder Augen hinaus ...? Bitte …“   Er drehte sich wieder um, nickt. „Ja, in solch einem Haus wirst du mich finden … in Bawel …“   „Und wir dich auch?“, ruft Schimschon da plötzlich und springt uns vor die Füße. In seinen Augen blitzt es auf und er grinst – kess, wie ich finde. Und schon will ich ihn mit meiner freien Hand wegschieben. Er stört mich, doch Jechonja lächelt ebenfalls, nickt. „Ja“, sagt er, „ihr alle könnt mich dort finden. Ihr alle …“   „Oh, dann weiß ich die Lösung“, fährt Schimschon eilfertig fort. „Ich weiß es! Es ist die Schule. Stimmt’s, sie ist es … man geht mit geschlossenen Augen rein und kommt mit geöffneten heraus, weil man plötzlich ganz viel weiß … Stimmt’s?“   „Du bist schlau, Schimschon“, erwidert Jechonja ganz ruhig und legt ihm die Hand auf die Schultern. „In Jeruschalajim war ich Lehrer und werde es auch in …“   „Aber wie denn Lehrer?“, begehrt Jochanan da plötzlich auf. „Wenn du einer gewesen wärst, müssten wir dich doch aus Jeruschalajim kennen. Du kannst kein Lehrer gewesen sein …“   „Und doch war ich einer“, unterbricht ihn Jechonja.   „Na, das erklär mir mal“, ruft Jochanan, stellt sich vor ihn und sieht ihn von unten her an. Jechonja schmunzelt nur und streicht ihm über den Kopf. „Ich war einer, allerdings nicht für die Kinder der Oberstadt, die hatten ja genug, sondern für die …“   „… unten, in der Unterstadt“, entfährt es mir.   Wieder nickt Jechonja und ich halte seine Hand ganz fest.   „Was? Die hast du unterrichtet?“, fragt Jochanan ungläubig. „Die? Die brauchen das doch gar nicht … die …“   „Gerade die, denn derer gibt es so viele. So viele. Und glaubst du nicht, dass auch diese Kinder lesen und rechen lernen möchten?“   Jochanan zuckt mit den Schultern. „Haben die nicht etwas Anderes zu tun?“   „Ich will das auch werden, Lehrer“, ruft Schimschon dazwischen. „Lehrer, so, wie du, für die, die sich Lehrer gar nicht leisten können, die Armen …“   „Das ist schön. Wenn du das wirklich werden möchtest“, erwidert Jechonja und streicht auch ihm über den Kopf. „Dann solltest du zu mir in Bawel in die Schule kommen, damit ich dir alles beibringen kann. Ich freue mich auf euch alle …“   Ich hatte bisher geschwiegen, doch nun durchzuckt mich ein Gedanke, der sich mir beinahe schmerzhaft aufdrängt. „Was …“, setze ich an, „… wie, wie kannst du dir so sicher sein, dass du in Bawel wieder eine Schule haben wirst, ja, dass wir uns überhaupt wiedersehen werden? Wie, Jechonja?“   Mein Herz schlägt so schnell, als er sich an mich wendet. Und wieder lächelt er. Dann tritt er vor mich, nimmt auch meine andere Hand und ich, ich weiß nicht. „Man muss vertrauen …“, sagt er ganz leis.   „Was?“, frage ich und spüre, wie ich innerlich zu zittern beginne. „Was? Vertrauen? Denen, die uns …“   Ich unterbreche mich, will diesen Gedanken nicht ausführen, will sowieso nicht weiterdenken, frage mich dann aber plötzlich, warum Jechonja stets so ruhig geblieben ist, warum er den Kasdim gegenüber nie Hass gezeigt hat. Andere aus unserer Gruppe – ja, andere … selbst mein Vater, aber er niemals, obwohl, obwohl … Aber ich will ihn das nicht fragen. Nicht hier, niemals. Das gehört sich nicht.   „Ja“, höre ich ihn sagen, „ja … vertrauen …“   „Dass sie uns nicht wie Vieh halten werden?“   Er nickte. „Vertrauen darauf, dass alles gut wird.“   „Aber wie?“   „Das mag dich sicher nicht trösten, gar überzeugen, Michal, aber mein Freund Jirmejahu, du nanntest ihn einen Spinner, sagte mir kurz vor unserem Weggang, dass …“   „Was?“, schnappe ich. „Was, sagte er dir?“   „Er sagte, dass die Kasdim die Nachfahren eines großen Volkes seien, viel älter als wir und auch viel klüger. Dass einst deren Vorfahren die ersten Städte erbaut und die Schrift erfunden hätten und auch das Rad und die Töpferscheibe, den Kanalbau und die ersten literarischen Werke auf den Weg gebracht hätten. Den Gilgamesch, vielleicht kennt ihr den? Den werden wir lesen in Bawel. Sie, die ihn einst schrieben, nannten sich selbst saggiga, was so viel wie die Schwarzköpfigen bedeutet. Er sagte auch, dass sich die Kasdim in deren Tradition sähen und sich ihnen verpflichtet wüssten …“   Er unterbricht sich, sieht mich an. Vielleicht weiß er um meine Gedanken? Ganz sicher weiß er um sie. Wie denn auch nicht?   „Und?“, frage ich atemlos.   „Er sagte auch“, fährt er fort, „dass uns die Kasdim nicht in ihr Land holen würden, um uns zu foltern oder zu töten. Wenn sie das vorgehabt hätten, hätten sie das bereits getan. Nein, sie holen uns in ihr Land, um uns in den Berufen, die wir erlernt haben, einzusetzen, damit wir zum Erhalt ihrer Gesellschaft beitragen können.“   „Das sagte er dir?“   Jechonja nickt. „Uns drohe keine Gefahr, wenn wir erst einmal da seien, dort im Land zwischen den beiden Flüssen.“   „Und … und warum sagst du das erst jetzt?“, bringe ich stammelnd hervor.   „Weil …“, setzt Jechonja an, wird jedoch von Schimschon unterbrochen: „Weil wir ihn zuvor nicht danach gefragt haben. Ist doch klar!“   Jechonja nickt. „Und er sagte auch, dass wir, die wir nun künftig dort leben werden, für den Frieden der Stadt beten sollten, denn nur so sei auch uns Friede beschieden. Und wir sollten Häuser bauen und Gärten pflanzen, um von deren Früchten zu essen. Und wir sollten …“ (***)   Er unterbricht sich, sieht kurz zu Boden, so, als überlege er, und ich, ich halte es nicht mehr aus, neige mich vor, lege meine Arme um ihn und schmiege mich, die Augen ganz fest zusammenkneifend, an ihn. Ich weiß gar nicht, was er tut. Stehen bleibt er jedenfalls. Stutzt vielleicht. Doch dann spüre ich plötzlich seine Hand im Rücken und mich durchfährts neuerlich.   „Was sollten wir?“, höre ich da Schimschon fragen.   „Wir sollten ...“ Ich höre, wie sich Jechonja räuspert. Es kommt ganz tief aus seinem Inneren, so wie das, was er dann sagt: „Wir sollten vor allem eines tun: Familien gründen, dort in Bawel, um weiterzuleben, von Generation zu Generation.“   Und während er das sagt, spüre ich seine Hand ganz deutlich in meinem Rücken und ich höre, wie Schimschon ruft: „Das klingt doch gut. Das machen wir so. Wir lassen uns nicht unterkriegen. Wir machen das: Gärten pflanzen und Häuser bauen und … und … wenn ich alt genug bin, dann suche ich mir eine Frau und …“   „Hat das Jirmejahu wirklich so zu dir gesagt?“, frage ich wirr in die Worte meines Bruder hinein, hebe den Kopf und fange Jechonjas Blick auf.   „Ja, Michal“, erwidert er, „kein Wort ist gelogen. Wir sollen für den Frieden der Stadt beten, uns Häuser bauen, Gärten anlegen und einander finden, um Familien zu gründen ...“   „Und Schulen bauen“, kräht Simche.     ----------------------------- ENDE -----------------------------   (*) Michal und Jechnonja betrachten die sog. Investitur-Szene des Zimrilim, die heute - Gott sei Dank, nee, Parrot sei Dank!!! - in ihren Resten im Louvre zu betrachten ist. Hier ein Link: https://www.wikiwand.com/en/Investiture_of_Zimri-Lim (**) Übersetzung aus dem Sumerischen von Konrad Volk (***) In Rückgriff auf Jer 29,4-7, den sog. Brief an die Weggeführten.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)