KiraNatural von KiraNear ================================================================================ Kapitel 1: Und plötzlich war da Regen ------------------------------------- „Also dann, wir sehen uns dann übermorgen wegen dem Essen! Ich schreib dir noch wegen der Uhrzeit“, sagte uns sein Vater, als wir gerade das Haus verließen. Es war genau 1:30 nachts und obwohl es mitten im Winter war, war die Temperatur mehr als angenehm. Nicht einmal Schnee lag herum, was ich als sehr angenehm empfand. Wie immer hatten wir Silvester und dazugehörig auch Neujahr wieder bei der Familie meines Freunds verbracht, das Fondue war wie immer ein Genuss und das Ballern zur Jahreswende ein Riesenspaß. Buntes Feuerwerk hatten wir eins nach dem anderen hochgejagt, einzelne Raketen, komplette Batterien und kleine Handböller. Sogar seine Stiefschwester, wie auch sein Stiefbruder und deren jeweilige Partner hatten sich dieses Mal zu uns gesellt, was den Spaß nochmal verstärkt hat. Anschließend haben wir wie gewohnt den groben Müll zusammengesammelt, da wir keiner dieser Leute sein wollten, die einfach faul ihren Kram auf der Straße liegen lassen, weil die Müllabfuhr das ja schon holen würde. Ich wusste, die Heimfahrt würde wieder zum Slalom-Parcours werden, mit den ganzen Flaschen und leeren Raketenbatterien auf dem Boden, die zurückgelassen wurden. Da wir erst im November in eine gemeinsame, neue Wohnung gezogen waren, hatten wir nun auch einen weiteren Reiseweg als die Jahre zuvor, sprich, wir würden dieses Mal etwas länger wie betrunken auf den Straßen fahren müssen. Oder wie in Mario Kart, je nach Betrachtungsweise. Am Ende haben Sinni und ich uns entschieden, nach Hause zu fahren und die restliche Nacht zu zweit zu verbringen, vermutlich würden wir Far Cry 6 fertig spielen. Bereits mit dem Vorgänger, dem fünften Teil der Reihe, hatten wir viel Spaß und auch der hier machte richtig viel Laune, auch, wenn ich den Endgegner nicht mochte. So hatten wir uns verabschiedet und von seinem Vater erfahren, dass er uns in zwei Tagen zum Hendl-Essen einladen möchte. Allein schon bei dem Gedanken, wieder dieses sauleckere Knoblauchhuhn zu essen, lief mir das Wasser im Mund zusammen. Ich hatte schon mindestens ein halbes Jahr lang dort keins mehr, nicht mal als uns Merina letzte Woche besucht hatte, hatten wir uns ein Hendl geholt. „Gut, machen wir das“, bestätigte mein Freund das, wir winkten alle nochmal kräftig zum Abschied, dann drehten wir beide uns um und gingen zum Auto. Es gab keinen Grund zur Eile, aber da wir recht nah geparkt hatten, saßen wir recht schnell drin und fuhren los. Wie gewohnt nahm ich meine zwei Handys zur Hand und startete auf beiden Pokémon Go. Das Neujahrsevent war noch im vollen Gange und ich hoffe, noch auf ein Shiny Schmerbe mit Partyhut zu stoßen. „Hach, das war jetzt schön. Auch wenn sich Hannes beinahe seinen Pulli angezündet hätte“, sagte ich und meinte es auch. Ich konnte meinen Freund seufzen hören. „Ja, was für ein Depp. Was zündet der auch in der Nähe des Pullis nen Böller an? Gut, dass der nicht so leicht brannte, aber mein Vater hätte ihn bestimmt löschen können.“ „Das denke ich auch“, sagte ich, nur um etwas zu sagen, während ich so gut wie jedes interessante Pokémon, das ich auf meinen beiden Accounts finden konnte, shiny-checkte. Wie von mir und vermutlich auch von ihm erwartet, umfuhren wir großzügig immer wieder irgendwelchen Müll, den andere Leute mitten auf der Straße haben liegen lassen. „Uff, es ist echt jedes Jahr so. Jagen ihr Zeugs hoch und lassen es dann liegen. Faule Idioten“, sagte ich als Reaktion auf die Slalomfahrt und mein Freund stimmte mir zu. „Ja, echt ey, das ist so nervig. Naja, wenigstens sind wir bald zuhause … hey, sag mal, liegt da nicht jemand?“ Ich, die die ganze Zeit auf meine Handys und nicht rausgeguckt hatte, blickte nun auf und sah in die Richtung, in die mein Freund deutete. Da er recht langsam fuhr, und keiner unterwegs war, konnte er es sich erlauben, die Hand mal für eine längere Zeit nicht am Steuer zu haben. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich es erkannte, aber ja, dort lag eine Person. Ob verletzt oder tot oder besoffen, das konnte ich nicht sagen. Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob wir weiterfahren sollen. Aber was, wenn es jemand ist, der verletzt ist oder in Not und noch gerettet werden kann? Das wäre unterlassene Hilfeleistung. Naja, vielleicht sollten wir lieber nachsehen, wenn’s dann am Ende  ein Penner ist oder ein Besoffener, können wir ja immer noch weiterfahren. „Sollten wir uns das nicht mal ansehen? Nur, um zu gucken, ob er ok ist.“ Da fuhr mein Freund sein Auto schon an den Straßenrand und stellte es dort ab. „Uns sieht zwar keiner, aber wer weiß. Unterlassene Hilfeleistung ist kein Spaß, da kann man schon richtig Ärger von der Polizei bekommen“, meinte Sinni und stieg aus. Ich steckte meine Handys in die Jackentasche, verschloss diese und verließ ebenfalls das Auto. Mein Freund näherte sich ihm und fing an, auf ihn einzureden. „Hey, alles in Ordnung bei Ihnen?“, fragte er und beugte sich über ihn herüber. Wenige Sekunden stand ich ebenfalls daneben. Es kam keine Antwort und nachdem wir ein paar Augenblicke lang gewartet hatten, sahen wir uns unsicher an. „Wen sollen wir rufen? Polizei? Krankenwagen?“, fragte ich Sinni unsicher und ich konnte erkennen, dass er selbst auch nicht so recht wusste, was er nun tun sollte. Schließlich schnappte er sich sein Handy, ging ein paar Schritte weg und begann zu telefonieren. „Hey Vater, du, ich hab da mal ‚ne Frage …“, konnte ich ihn reden hören, da widmete ich mich wieder der Person auf dem Boden. Es schien sich um einen Mann mittleren Alters zu handeln, welcher jetzt nicht gerade wie ein Penner aussah. Vorsichtig, mit der Paranoia im Hinterkopf, dass das hier eine Falle ist und der mich gleich überfallen würde, kniete ich mich zu ihm hinunter. Versuchte herauszufinden, ob der Mann noch lebte oder nicht. Doch so richtig traute ich mich nicht, ihn anzufassen, also guckte ich auf seine Brust, ob ich dort eine Bewegung sehen konnte oder nicht. Leicht hob sich seine Brust, ich konnte es an seinem Shirt erkennen, welches sich dabei bewegte. Na wenigstens lebt er noch. Immerhin. Dann werden wir wohl nur einen Notarzt brauchen. Ich sah kurz zu Sinni hinüber, er stand immer noch ein paar Meter weiter und telefonierte mit seinem Vater, hatte ihm wohl die Situation erklärt und holte sich eine dritte Meinung ein. Dann sah ich wieder hinunter zu dem Bewusstlosen … doch ich sah nichts. Verwirrt blickte ich auf den Boden vor mir, doch dieser war leer. Vor mir befand sich nichts. Kein bewusstloser Mann, aber auch keine Spur davon, dass hier gerade eben noch gelegen war. Hatte ich mir das etwa nur eingebildet? Das kann doch gar nicht sein, so viel Alkohol habe ich doch gar nicht getrunken. Außerdem hat Sinni ihn ja auch gesehen, sogar vor mir … also was soll das? War das doch eine Falle? Während ich noch verwirrt auf den Boden starrte, spürte ich, wie schlagartig Wasser auf mich prasselte. Noch verwirrte blickte ich mich um, erst zur Seite, dann nach oben. Mit einem Mal hatte es zu regnen angefangen, mit einem richtig starken Wolkenbruch. Blitz und Donner ließen ebenfalls nicht lange auf sich warten. Achja, richtig, der Wetterbericht meinte doch, dass die Regenwahrscheinlichkeit für die spätere Nacht bei 80% liegt. Ich hab doch extra nachgesehen… nur ich hab es wieder vergessen. Ich sah wieder zu der Stelle zurück, doch die Person blieb verschwunden. Erneut sah ich mich nach möglichen Richtungen um, in die die Person hätte verschwinden können, doch ich wurde nicht fündig. Das ist ja seltsam … egal, dann fahren wir mal heim. Meine Jacke ist zwar wasserdicht, aber naja, das wäre besser. Gerade, als ich mich aufrichtete und meinen Freund über das seltsame Verschwinden des fremden Mannes aufklären wollte, bemerkte ich, dass ich gar nichts mehr sah. Nicht nur der fremde Mann waren verschwunden, sondern auch Sinni. Weder konnte ich ihn, noch sein Auto sehen. Mit weit offenen Augen blickte ich mich um, versuchte mich daran zu erinnern, ob ich sein Auto gehört hätte, doch meine Erinnerung sagte nein. Außerdem würde er nie ohne mich wegfahren, da war ich mir sicher. Dennoch war es mehr als mysteriös. Glücklicherweise hatte ich noch alles bei mir: Handys, Geldbeutel, weil ich dachte, den würde ich für irgendwas brauchen und eben mein Schlüsselbund, weil ich mich ohne unsicher fühlte. Dazu noch meine zwei Mund-Nasen-Masken, die tief in meiner Jackentasche vergraben waren und ein Amulett in Form eines Zeichens, welches mir nichts sagte. Dennoch fühlte ich  mich sehr unsicher, so ganz alleine auf der Straße.   Da ich keine Lust hatte, noch weiter nass zu werden, sah ich mich nach einem Unterstand um, irgendwas, wo ich mich kurz unterstellen und meinen Freund anrufen konnte. Mich erkundigen, was jetzt genau passiert ist. War irgendwas mit seinem Vater, dass Sinni Hals über Kopf zu ihm gefahren ist? Nein, das würde nicht passen, immerhin hätte er was gesagt, dass ich schnell in den Wagen einsteigen soll, weil er schnell zu seinem Vater zurückfahren will. Ich ging die Straße ein paar Schritte, dann ein paar Meter weiter, auf der Suche nach einem geeigneten Ort, der mich vor dem Regen schützen würde. Schließlich wurde ich auch fündig: Eine Art Unterstand, welcher simpel, aber auch stabil aussah. Mit schnell Schritten lief in zu dem Unterstand und atmete erleichtert auf, damit würde ich zumindest nicht noch mehr Regen abgekommen als ich sowieso schon habe. Da es jedoch aufgrund der Uhrzeit und der schlechten Straßenbeleuchtung zu dunkel war, um irgendwas zu erkennen, schaltete ich bei Handy eins die Taschenlampe an. Nun konnte ich besser erkennen, was sich mir bereits bisher nur schemenhaft gezeigt hatte: An der Innenwand des Unterstands hing ein Rahmen. Ich ging auf die Wand zu und sah mir diesen merkwürdigen Rahmen an: Es war ein Busfahrplan! Folglich musste ich mich in einem kleinen Bushaltehäuschen befinden. Zwar hatte ich das bisher noch nie in meinem neuen Wohnort gesehen, aber so selten, wie ich beim Autofahren aus dem Fenster schaute, wenn ich nicht gerade selbst fuhr, ist es auch kein Wunder. Außerdem kannte ich mich noch nicht in allen Stadtteilen genau aus und schob es daher auf meine fehlenden Ortskenntnisse, dass ich das Häuschen nicht kannte. Neugierig versuchte ich den Busfahrplan zu lesen, um eine kleine Übersicht zu bekommen, wo ich mich befand und welche Linie hier halten würde, doch … es ging nicht. Der Busfahrplan war schon lange nicht mehr ausgetauscht worden, die komplette Schrift war mehr als unleserlich verblasst. Offenbar hielt man es bei der Busgesellschaft auch nicht für nötig, das Papier mal gegen ein neues auszutauschen, was ich noch seltsamer fand. Ich bin in meiner neuen Heimat des Öfteren mit dem Bus gefahren und habe auch oft genug auf den Busfahrplan geguckt, doch dieser war bisher immer in Ordnung gewesen, sah man mal von den Stickern ab, die von irgendwelchen Teenies mal dort angebracht worden war. Das muss ich Sinni erzählen, das ist ja echt schräg, dachte ich, obwohl ich mir nicht sicher war, ob so ein ausgebleichter Fahrplan wirklich so interessant zum Weitererzählen war. Dann fuhr es mir durch den Kopf. Ich hatte in der kurzen Zeit komplett vergessen, dass ich Sinni anrufen und ihn befragen wollte, was passiert war und warum er auf einmal nicht mehr da war. So nahm ich Handy zwei und während ich mir mit Handy eins das Bushaltehäuschen ein wenig erhellte, suchte ich auf dem anderen die Nummer von Sinni heraus und versuchte ihn anzurufen. Doch statt von ihm und seiner lieben Stimme begrüßt zu werden, antwortete mir nur die elektronische Stimme: „Diese Nummer ist leider nicht vergeben!“ Verwirrt nahm ich mein Handy vom Ohr weg, ja, ich hatte den richtigen Kontakt ausgewählt und seine Nummer auch nie bearbeitet. Gut, da ich seine Handynummer größtenteils nicht auswendig wusste, konnte ich es auch nicht zu 100% beurteilen, aber ich war mir sicher, dass ich daran nie etwas geändert hatte. Schaufend legte ich auf und versuchte es noch einmal. Und noch einmal. Und zum vierten Mal. Doch jedes Mal sagte mir mein Handy, dass die Nummer nicht vergeben sei. Genervt legte ich auf und überlegte mir, eine andere Nummer zu wählen, doch ich wusste nicht, wen ich anrufen könnte. Meine Tante wollte ich nicht anrufen, da ich sie nicht unnötig in Sorge bringen wollte. Meine beste Freundin wohnte zu weit weg, sie hätte mir nicht helfen können. Und sonst? Viel mehr Kontakte hatte ich nun auch wieder nicht. Ich schickte Handy zwei in den Standby-Modus und schob es zurück in die Jackentasche. Der Regen ließ nicht nach, überhaupt machte das Gewitter keine Anstalten dazu, in irgendeiner Form leichter zu werden. Na das konnte ja heiter werden. Hätte ich das noch beim Verlassen der Wohnung gewusst, hätte ich einen Schirm mitgenommen. Doch das hätte mir auch nicht viel gebracht, da ich diesen dann im Auto vergessen hätte, welches sich nun sonst wo befand.   Unsicher, was ich nun tun sollte, lief ich in dem kleinen Häuschen auf und ab. Normal, wenn man verloren gegangen war, sollte man an dem Ort bleiben, an dem man sich befand, damit man leichter gefunden werden konnte. Doch würde überhaupt jemand nach mir suchen? Oder wäre es nicht besser, nach Hause zu laufen, trockene Sachen anzuziehen und mir erst mal einen leckeren Tee zu machen? Immerhin war der Weg jetzt nicht so weit, über die Hälfte hatten wir jetzt geschafft und so könnte ich auch den Weg zu unserer neuen Wohnung besser kennenlernen. Seufzend sah ich mir das Wetter an. So richtig Lust hatte ich jetzt nicht wirklich, da wieder rauszugehen und noch mehr vom Regen abzubekommen. Zwar wollte ich auch eigentlich am liebsten auf der Couch sitzen, Tee trinken und irgendwas auf meiner Switch zocken, am besten Animal Crossing, aber der vernünftige Teil in mir hielt es für besser, erst mal abzuwarten, ob das Wetter nicht irgendwann nachlassen würde. Zumindest ein bisschen warten, sollte sich irgendwann später abzeichnen, dass es immer noch regnen würde, konnte ich ja immer noch heimgehen. Oder versuchen, ein Taxi zu rufen, davon gab es hier in diesem Ort Unternehmen wie Sand am Meer. Gerade, als ich mir selbst im Geiste zunickte, um meine Entscheidung irgendwie zu bestätigen, sah ich, wie jemand heran gesprintet kam. Schnell ging ich in eine Ecke des Häuschens, zwar hatte ich keine Bedenken, dass mir diese Person etwas tun würde, die wollte auch nur vor dem Regen flüchten, aber ich wollte dennoch so weit wie möglich von der Person wegstehen. Überhaupt mochte ich es, wenn zwischen mir und Fremden eine gewisse Distanz war und Corona hatte dies dann auch erst verstärkt. Unsicher überlegte ich mir, ob mir die Maske aufsetzen sollte oder nicht. Doch da ich mich im Freien befand, entschied ich mich dagegen, dazu war das Häuschen dann doch zu offen. Solange es dabei blieb und wir unseren Abstand einhielten, würde es gehen.   Nun hatte die Person das Häuschen erreicht, es stellte sich als ein junger Mann heraus, welcher in etwa in meinem Alter herum sein durfte. Möglicherweise war er jünger, aber sicher war ich mir nicht und fragen wollte ich es ihn auch nicht. Er stellte sich nun ebenfalls unter den Unterstand und sah sich den Regen an. Offenbar war er wie ich vom Regen überrascht worden und wartete nun, bis er wieder vorbei sein würde. Bis dahin waren wir Unterstands-Brüder. Im ersten Moment dachte ich, er hätte mich nicht gesehen oder würde mich ignorieren, doch mir wurde das Gegenteil bewiesen, als er sich zu mir umdrehte. „Hi! Auch vom Regen überrascht worden?“, sagte er als Versuch, ein Gespräch aufzubauen. Offensichtlich war ihm nach Gesellschaft oder er rechnete nicht damit, dass der Regen in den nächsten Minuten enden würde. „Ja, hat mich auch sehr überrascht“, sagte ich, obwohl ich mir von dem Gespräch keinen Mehrwert für uns sehen konnte. Ich war noch nie ein Freund von Smalltalk, besonders mit Fremden, aber ich hatte nur die Wahl zwischen Regen oder dem Gespräch. Also entschied ich mich fürs letztere. „Mein Name ist Andy, und wie heißt du?“ „Mein Name ist Kira“, antwortete ich ihm höflich. Danach wurde es still, unangenehm still. Doch wie immer wusste ich nicht, was ich sagen sollte oder ob ich überhaupt etwas sagen wollte. Überhaupt darüber wieder nachzudenken erschien mir bereits als sehr anstrengend. Und, was machst du noch so spät unterwegs?, fiel mir als Frage ein, doch ich verkniff es mir. Es war Neujahr, natürlich war noch jemand unterwegs, auf dem Rückweg von einer Party oder ähnlichem. Stattdessen fragte ich: „Auch auf dem Heimweg?“ Das zu fragen kam mir dann doch etwas weniger doof vor. „Ja, so in etwa“, wich mein Gesprächspartner aus. „Ich hab versucht zu trampen, aber leider dann doch kein Glück gehabt. Und, was bringt dich in diese Gegend?“ „Das Gleiche, bin auch auf dem Heimweg. Naja, bis der Regen kam“, sagte ich und guckte demonstrativ aus dem Unterstand hinaus. Das Ereignis mit dem verschwundenen Bewusstlosen und der Tatsache, dass sowohl mein Freund, als auch sein Auto verschwunden waren, behielt ich lieber für mich. „Der Wetterdienst hat den Regen zwar angekündigt, aber ich bin ziemlich vergesslich, sonst hätte ich mir einen Schirm genommen. Aber so muss ich nun warten, bis er wieder aufhört. Hoffe, er tut es bald“, sagte ich und kam mir dabei so sozial unbeholfen wie immer vor. Doch er schien es entweder nicht zu bemerken oder es schien ihn nicht zu stören. „Ja, das hoffe ich ebenfalls. Allzu lange wollte ich auch gar nicht in der Gegend bleiben“, sagte er und blickte sich unsicher um. Erst jetzt bemerkte ich, dass er ein wenig unruhig, gar nervös wirkte. Und ein paar Minuten Beobachtung zeigte mir, dass er immer wieder die Gegend observierte, sich immer wieder umsah. Überhaupt machte er den typischen Eindruck wie jemand, der sich von irgendwas oder irgendwem verfolgt fühlte. So standen wir nun, für mehrere Minuten, doch wie lange wir genau dort standen, konnte ich nicht sagen. Weder blickte ich auf meine Handys, noch hatte ich überhaupt irgendwo eine Uhr, wo ich die Zeit hätte ablesen können. „Sag mal, kann ich dich was fragen? Du musst mir nicht antworten, wenn du nicht möchtest, aber damit würdest du mir einen Gefallen tun“, sagte er in einem Ton, den ich als unsicher interpretieren würde. „Klar, frag mich ruhig“, sagte ich und ich hatte aus einem mir unbekannten Grund das Gefühl, dass was immer er von mir wissen möchte, solange es nicht zu intim war, ich könnte es ihm erzählen. „Hast du schon mal jemanden aus deiner Familie verloren, der dir wichtig war? Wie bist du damit umgegangen?“, fragte er und ich blickte zur Seite, unschlüssig, wie er gerade von allen Themen auf dieses gekommen war. Doch noch immer hatte ich dieses seltsame Gefühl, geradezu als müsste ich ihm darauf eine Antwort geben, einfach, weil ich es so wollte. „Ja, habe ich, mehrfach“, antwortete ich und starrte hinaus in den Regen. Der Tod von anderen Menschen war schon immer ein Teil meines Lebens. „Als ich geboren wurde, starb nach ein paar Monaten mein Opa, aber den kannte ich nicht. Zählt also eigentlich nicht. Zwei Jahre später habe ich meinen Vater verloren, das hat mich damals sehr mitgenommen. Vor sechs Jahren war es meine Oma und vor einem halben Jahr meine Mutter. Die beiden mussten nicht lange leiden, das hat mir damals etwas Trost gegeben. Außerdem konnte ich mich von meiner Mutter noch verabschieden, das hat es mir auch noch etwas leichter gemacht.“ Ich unterdrückte die feuchten Augen durch wiederholtes Blinzeln, bis sie sich wieder halbwegs normal waren und zwang mich dazu, meinen Gesprächspartner wieder anzusehen. Kaum hatte ich ausgesprochen, was ich ihm erzählen wollte, war das Gefühl weg. Doch ich bereute es nicht. Es tat gut, mal darüber zu reden, auch wenn ich es vermutlich ohne dieses seltsame Gefühl nicht bei einem vollkommen fremden Menschen getan hätte. „Das mit deiner Mutter tut mir leid“, sagte er und fuhr sich durch die Haare. „Was mit meiner Mutter passiert ist, weiß ich nicht so genau, hab sie auch nie kennengelernt. Ich wurde damals nämlich zur Adoption freigegeben, musst du wissen“, sagte er, blickte sich misstrauisch in alle Richtungen um, bevor er sich wieder mir zuwandte. „Naja, ich hatte zwar eine Adoptivmutter und sie soll sehr nett gewesen sein, aber sie habe ich auch verloren. Sieht so aus, als hätte ich da genauso wenig Glück wie du.“ Ich nickte nur. „Dir auch  mein herzliches Beileid wegen deiner Adoptivmutter. Ja, sieht so aus, als wir beide da nicht so viel Glück gehabt.“ Ich überlegte kurz, ob ich meinen nächsten Satz sagen sollte, ob es angemessen wäre oder nicht, und entschied mich dann dafür, ihn auszusprechen. „Aber dafür hat mein Freund eine sehr große Familie mit vielen Verwandten, das wird auch irgendwann meine Familie sein und das ist schön, denke ich.“ Ich konnte ihn seufzen hören. „Ja, das wäre bestimmt schön. Sowas hätte ich auch gerne, glaube ich. Sicher bin ich mir aber nicht. Man kann schlecht sagen, ob einem etwas liegt oder nicht, wenn man es nie hatte.“ Nun sah er sich wieder nervös um und inzwischen sah er auch mich so an, als wäre ich von irgendeinem Geheimdienst oder ein Alien, das ihm etwas tun wollte. „Alles in Ordnung? Keine Angst, ich hab kein Messer oder Pfefferspray in meinen Jackentaschen“, sagte ich und hob meine Handys, um irgendeine Art von Beweis zu liefern. Doch er schüttelte nur mit dem Kopf. „Sorry, das kann ich dir nicht erklären, das ist … zu kompliziert“, sagte er und machte den Eindruck, als würde er nicht mehr dazu sagen wollen. Das kam mir zwar mehr als seltsam vor, doch da er keinen gefährlichen Eindruck machte, wollte ich das erst mal so stehen lassen. Zwar war meine Menschenkenntnis jetzt nicht gerade die beste, aber ich wollte jetzt auch nicht unbedingt in jedem Mann eine Gefahr oder gar potenziellen Vergewaltiger sehen, den Schuh wollte ich mir erst gar nicht anziehen. Stattdessen machte ich mir Sorgen. Was, wenn er in Schwierigkeiten war? Oder wenn er irgendwas genommen hat, was ihm nicht gut tut, was er nicht verträgt und nun dafür sorgt, dass er sich nun verfolgt fühlte? Hatte er Halluzinationen? Doch ich kam nicht dazu, allzu lange darüber nachzudenken, denn mit einem Mal wurde es hell, sehr hell. Meine Augen, die sich bereits an die Dunkelheit und die geringe Beleuchtung durch meine Handy-Taschenlampe gewöhnt hatten, schmerzten für ein paar Sekunden durch das helle Licht. Sie waren lichtempfindlich wie immer, wenigstens etwas, was noch einen normalen Eindruck auf mich machte. Es dauerte ein paar Sekunden, dann konnte ich meine Augen wieder aufmachen und versuchen etwas zu erkennen. Auch Andy hatte seine Augen mit seinem Arm abgedeckt, ihm schien es ebenfalls zu hell zu sein. Dann blickte ich wieder in die Richtung, aus welcher das Licht kam und konnte ein paar Scheinwerfer erkennen. Zumindest vermutete ich es, denn um genauer etwas erkennen zu können, dazu war das Licht dann doch noch viel zu hell. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)