Twenty-four dayz til xmas #2x20 von Daisuke_Andou ================================================================================ Prolog: Vorwort von Kurokawa Natsuo ----------------------------------- Hallo! Hier ist Kurokawa! Vielen Dank, dass ihr dieses Jahr wieder dabei seid bei der Winter-Collection. Diese geht nun schon in die dritte Runde! Ja, was soll ich sagen? Ich bin teils überrascht aber fühle mich auch geehrt. Bereits im ersten Jahr habe ich bei diesem Zusammenschluss von zahlreichen Autoren unseres Verlages eine meiner Geschichten beisteuern können. Vergangenes Jahr war ich selbst mit meinen Projekten zu sehr eingespannt, sodass ich anderen Autoren den Vortritt gelassen habe ihre Geschichten erzählen zu dürfen. Es war Anfang September als mein Verleger bei mir zu Hause aufschlug. Er hatte eine ominöse, schwarze Mappe dabei und dann ging alles ganz schnell. Zu schnell für meinen Geschmack. Meine bisherigen Arbeiten wurden für dieses Projekt eingefroren und da saß ich nun mit einer neuen Aufgabe: Der Verlag hat sich in letzter Minute doch noch dafür entschieden, dass die Winter-Collection auch im Dezember 2020 veröffentlicht werden soll. Und das trotz der recht ernüchternden Absatzzahlen des Vorjahres. Und ich bin nun ein essenzieller Teil dieser Veröffentlichung! Das alles kam aus heiterem Himmel und auf einmal hatte ich den Arsch voll Arbeit. Besonders überrascht war ich davon, dass es dieses Jahr nicht nur eine Geschichte sein sollte, sondern gleich zwölf. Und dann noch mit einem speziellen Konzept von ‚zwei Autoren‘. Das war echt sportlich! Die Einschränkungen wurden immer mehr, je weiter ich die Unterlagen durchgearbeitet hatte. Ich war mir echt nicht sicher, ob ich den Anforderungen gerecht werden konnte, aber als ich las, wer mein Mitstreiter ist, konnte ich gar nicht mehr absagen. Und schließlich wächst man mit seinen Herausforderungen. Watanabe! Ich weiß, dass viele uns als Rivalen ansehen, aber ich glaube, dass in diesem Verlag genug Platz für uns beide ist. Außerdem bin ich schon länger dabei! Seit seinem Debüt bei uns mit seinem Roman ‚Lunatic Wonderland‘ ist er gar nicht mehr wegzudenken. Vielleicht ist es auch ein genialer Schachzug unserer Verleger gerade uns beide zusammenarbeiten zu lassen. Wobei sich das auch nur auf ein paar Treffen zum Brainstorming bezogen hat. Und ganz egal, was Watanabe im Nachwort schreibt – glaubt ihm kein Wort! Ich habe nicht spioniert oder mich von seinen Gedanken beeinflussen lassen! Alles gelogen! 2020 – der Aufhänger für das neue Konzept. So gleich und doch so unterschiedlich. Genau wie Watanabe und ich. Trotzdem hoffe ich, dass wir euch ein unvergleichliches Lesevergnügen bereiten können! Im Nachhinein kann ich sagen, dass unsere Treffen sehr inspirierend waren und einige Geschichten haben sich wie von alleine geschrieben, andere wiederum nicht. Zusammen haben wir uns darauf geeinigt unsere Geschichten im modernen Japan spielen zu lassen und die uns vorgegebenen Thematiken ganz unterschiedlich zu interpretieren. Um nicht zu sagen, total gegensätzlich. Was nun dabei herausgekommen ist, müsst ihr selbst lesen, denn auch ich kenne nur meine Hälfte der Geschichten. Umso gespannter bin ich darauf, selbst jeden Tag eine Kurzgeschichte lesen zu können. Mir bleibt nur noch zu sagen: Danke für die Unterstützung. Viel Spaß mit den verschiedenen Geschichten. Sagt mir ruhig, wie ihr sie fandet und lest auch meine anderen Bücher! Euer Kurokawa Natsuo Kapitel 1: Sparkling Stars -------------------------- Sparkling Stars by Masato Watanabe Schon immer war ich fasziniert von den frühen Geschichten dieses Landes. Mythen und Sagen. Ich liebte, diese teils verträumten, teils brutalen Erzählungen aus einer anderen Zeit. Sei es der starke Held, der die Dämonen besiegt und das Dorf rettet, oder doch nur eine Erzählung über fabelhafte Wesen aus dem Wald, ich verschlang jede Geschichte mit Begeisterung, träumte mich in der Zeit zurück und war fast schon enttäuscht, wenn ich die Magie, welche diese Überlieferungen umgab, nicht in meinem Alltag sehen konnte. Doch ich war mir ganz sicher, dass ich irgendwann selbst zum Teil einer solch faszinierenden Geschichte werden würde. Neben meinem Geburtstag und Weihnachten fiebere ich jedes Jahr dem Sternenfest entgegen. Klar, das Feuerwerk ist sehr hübsch anzusehen und jedes Jahr versammeln sich hunderte auf den Wiesen der Stadt, um es anzusehen, aber mich fasziniert etwas anderes: die Geschichte der beiden Liebenden, die sich nach langer Abstinenz wiedersehen dürfen. Ihre Geschichte ist so traurig, aber auch so schön und jedes Jahr schreibe ich meine sehnlichsten Wünsche auf bunte Papierstreifen in der Hoffnung, dass sie in Erfüllung gehen. Ich bin eben doch ein kleiner Romantiker. So ereignete es sich, dass ich auch dieses Jahr einen gelben Zettel an einen Bambusstrauch band. Seit dem Ende der Schule hatte sich mein Leben um 180 Grad gedreht. Meine Freunde verschwanden in alle Himmelsrichtungen und ich war allein an einer der heimischen Universitäten. In den Vorlesungen saß man zwar nicht allein, aber ich hatte es noch nicht geschafft, wirkliche Freunde zu finden. Ab und an wechselte man ein paar Worte miteinander oder tausche Unterlagen aus, aber die Nachmittage oder die Wochenenden verbrachte ich meist allein oder im Kindergarten bei gemeinnütziger Arbeit. Das ergab sich so, da meine Mutter dort arbeitete und die Kinder mich liebten, weil ich klein bin. Jedenfalls scheint eine innere Verbundenheit zwischen uns zu bestehen. Trotzdem wünschte ich mir doch lieber Freunde in meinem Alter. „Taka-chan!“, hatte mich Tarou laut gerufen und kam auf mich zugerannt, als ich gerade anderen am Bambusstrauch Platz machen wollte, die ebenso ihre Wünsche anbinden wollten. Er war total aufgeregt und deutete auf ein Plastiksäckchen mit einem Fisch darin. „Guck mal! Den hab ich vorhin gefangen! Das war voll schwer!“, erklärte er mir mit funkelnden Augen. Um seine Beute anzusehen, hockte ich mich hin und streichelte ihm durch seine kurzen Haare. „Aber nicht zu schwer für dich! Ich bin stolz auf dich, Tarou-chan!“, lobte ich einen der vorlautesten Jungen aus der Gruppe, die meine Mutter betreute. „Was willst du damit denn machen?“, erkundigte ich mich nach dem gefangenen Lebewesen. „Aki-chan meint, es ist das Beste, ihn wieder freizulassen! Damit er Babys machen kann und ich nächstes Jahr einen noch viel größeren Goldfisch fangen kann!“ „Aki-chan?“, fragte ich verwirrt nach. „Das bin dann wohl ich!“, drang eine tiefe Stimme an mein Ohr und mein Blick wanderte einer schmalen Hüfte nach oben, die von einem grau gestreiften Yukata umhüllt wurde. Ich blinzelte, als ich blond gefärbte Haare erblickte und erhob mich wieder. „Das ist Aki-chan, mein großer Bruder!“, verkündete Tarou derweil die freudige Nachricht. Natürlich verbeugte ich mich rein aus Reflex. „Und du bist?“, hörte ich die informelle Frage des anderen, der seinen kleinen Bruder schützend an die Hand nahm. „Matsumoto Takanori. Tarou-kun ist in der Vorschule in der Gruppe meiner Mutter. Ich helfe dort immer mal aus. Daher kennen wir uns!“, weihte ich den mir Fremden ein. „Ah, cool!“, tat der es jedoch ab und wenn ich ehrlich war, wusste ich nicht, was ich von seiner verschrobenen Art halten sollte. Äußerlich sah er aus wie ein Punk in traditioneller Kleidung. Charakterlich wirkte er wie ein Stoffel, was ich recht schnell revidierte. „Willst du mit uns Dango essen gehen?“ „Au ja! Taka-chan, du musst unbedingt mitkommen! Die haben da vorn einen Stand mit Mitarashi Dango, auf denen sind Sternenstückchen!“ Und ehe ich es mich versah, hatte mich Tarou an der Hand genommen und schleppte mich weg. Natürlich war ich der romantischen Illusion erlegen, dass ich dieses Kennenlernen nur dem Sternenfest zu verdanken hatte, denn dies sollte nicht der einzige Tag bleiben, an dem ich Akira traf. Komischerweise tauchte er immer öfters in der Vorschule auf, um seinen Bruder abzuholen. Dabei war natürlich auch ein Plausch mit mir drin, bis wir uns eines Nachmittags auf einen Spaziergang im Park verabredeten. Die Blicke, die wir uns zuwarfen, wurden immer deutlicher und da war wohl von beiden Seiten Interesse da. Dem ersten Date folgten ein Zweites und auch ein Drittes. Aki-chan war gar nicht so stoffelig, wie er anfänglich rüberkam. Er war speziell, teils kurz angebunden, aber auch aufmerksam. Es ereignete sich, dass ich ihm auch von meinem Hang zu Mythen und Sagen berichtete und er fand das nicht einmal merkwürdig oder warf mir schräge Blicke zu. Viel mehr nutzte er dieses Wissen aus, um mich mit kleinen Aufmerksamkeiten zu überraschen. Auch heute steckte mit Tarou einen Brief mit einer Nachricht von Akira zu. ‚Wenn der Mond den Schnee silbern färbt, kannst du die Sterne im See funkeln sehen!‘ Diese Nachrichten brachten mich zum Lachen. Sie hörten sich so verdammt kitschig an, vor allem, da Akira versuchte, den Ausdruck der damaligen Zeit zu imitieren. Trotzdem ging ich am Abend des Vollmondes zum See im Park. Eingepackt in einen Mantel und umschlungen von einem dicken Schal wartete ich fast eine halbe Stunde in der Kälte, ehe sich warme Hände von hinten über meine Augen legten. Sofort zog ich sie weg und drehte mich um. „Es ist arschkalt!“, beschwerte ich mich. Schließlich war es nicht die Jahreszeit, um lange im Park zu bleiben. „Darum hab‘ ich uns heiße Maissuppe aus dem Automaten gezogen!“, verkündete Aki und umschloss mein Gesicht mit seinen Fingern, ehe er mir einen Kuss auf die Lippen drückte. Wie konnte ich ihm böse sein, wenn er doch so süß war? Er zog die warmen Dosen aus seiner Umhängetasche und stellte sich nah neben mich. Kommentarlos schlürften wir die Suppe und blickten auf den kleinen See. Und er hatte recht: Die Sterne, die sich im See spiegelten, ließen ihn funkeln. Vielleicht war nicht nur an mir ein hoffnungsloser Romantiker verloren gegangen… Kapitel 2: Deine Spuren im Schnee --------------------------------- Deine Spuren im Schnee by Masato Watanabe Masa. Blutgruppe B. Geburtstag 2. April. Blutjunge 18. Abschlussklasse. Schwarze Haare, seit geraumer Zeit aufgehellt, sodass sie aschfarben schimmern. Ja, das sind so die groben Eckdaten, die ich bisher über dich herausgefunden habe. Leider gehörst du zu den Menschen, die einen Stock im Arsch haben, denn alles muss man dir aus der Nase ziehen. Auf deinem Ausweis steht, dass du 170 cm groß bist. Allerdings glaube ich, dass du gewachsen bist. So viel kleiner als ich bist du nämlich nicht. Deine hübschen braunen Augen versteckst du immer hinter grauen oder blauen Kontaktlinsen. Generell missfällt es mir, dass du so einiges vor mir zu verstecken versuchst. Leider muss ich zugeben, dass unser erstes Aufeinandertreffen nicht gerade reibungslos abgelaufen ist. Es fühlte sich ehrlicherweise an wie ein Blind Date, denn wir hatten vorab nur über Mails kommuniziert. Bis es schließlich eines Freitagabends zu einem ersten Treffen kam. Leider war dieses nicht privater Natur, denn du bist nur auf der Suche nach einem Gitarristen für deine Schulband. Und das lässt du immer wieder heraushängen. So hübsch du auch anzusehen bist, du bist wortkarg. Dein Style soll darüber hinwegtäuschen, dass du dich hier nicht wohlfühlst. Also hier, in diesem Land. Als ich versuchte unsere Gespräche auf eine private Schiene zu lenken, erfuhr ich, dass du dein halbes Leben in Miami verbracht hast. Anfänglich war ich neidisch, da ich gerne auch einmal im Ausland gewesen wäre, aber du hast mir erzählt, wie schwer es für dich war, am anderen Ende der Welt akzeptiert zu werden. Und dann doch wieder zurückzukommen, um hier wieder bei null beginnen zu müssen. Ich glaube, diese Erfahrungen haben dich gezeichnet. Ich glaube nicht, dass du so zurückgezogen leben willst, aber du hast auch keine Ambitionen Energie in Beziehungen zu stecken, die auf kurze oder lange Sicht wieder zerbrechen. Trotz dieses Korbes hast du mein Interesse geweckt. Du strahlst etwas aus, was mich magisch anzieht. Vielleicht ist es deine Leidenschaft für Musik. Du hast nicht beabsichtigt mit Bassspielen angefangen. Fast nebenbei hast du erwähnt, dass ein Freund in Amerika dir seinen Bass geschenkt hat, weil er ihm überdrüssig war. Damit hat er in dir aber wohl die Box der Pandora geöffnet. Du scheinst glücklich zu sein, wann immer du über Musik sprichst. So viele unerfüllte Träume verbindest du mit den verschiedensten Melodien und doch liebst du sie wie einen Begleiter, der dich durch und durch erfüllt. Woher ich das weiß? Ich beobachte dich! Ich hatte Zweifel, ob ich in deiner kleinen Band mitmachen sollte, schließlich bin ich ein paar Jahre älter als du. Trotzdem ging mir unser Treffen nicht aus dem Kopf und ich musste immer wieder an dein hübsches Gesicht denken. Dieses Funkeln in deinen Augen, wenn du Bass spielst. Dieser Anblick erfüllt mich. Umso ernüchternder ist es, wenn ich deinen leeren Blick sehe, wann immer es um andere Dinge geht. Ich wünschte mir, dass du mich auch mit diesen funkelnden Augen ansiehst, aber das blieb mir bisher verwehrt. Ich entschied mich dazu, mehr über dich in Erfahrung zu bringen. Und da du so wortkarg bist, laufe ich dir nach. Du merkst es nicht einmal. Dabei ist es so einfach dir zu folgen. Als würdest du Spuren in frisch gefallenen Schnee hinterlassen. Meine Beobachtungen brachten mir einige neue Erkenntnisse über dich. Deine Ernährung ist eine absolute Katastrophe. Du kaufst meist irgendwelche Sandwiches im Supermarkt. Sind es nicht diese, dann greifst du auf No-name-Instant-Ramen für 88 Yen zurück. Dafür liebst du diese Teddykekse und ich fand heraus, dass du die mit Milchcreme allen anderen Sorten vorziehst. Paprika sortierst du stets aus. Du trinkst lieber schwarzen Tee als Grünen, aber meistens hast du einfaches Wasser bei dir. Nach der Schule verziehst du dich stundenlang im Proberaum deiner Schule, machst selbst alle Schularbeiten dort. Generell habe ich das Gefühl, dass man dich nur an drei verschiedenen Orten antrifft: Deinem zu Hause, der Schule inkl. Proberaum oder du bist in irgendwelchen Live Houses, um dir andere Bands anzusehen. Es ist schwierig an dich heranzukommen oder Zugang zu finden. Du wirkst so verloren, als würdest du nur einen Schubs in die richtige Richtung benötigen. Einen Schubs, weg von deinen Zweifeln. Du bist Perfektionist. Das merkte ich recht schnell. Alles, was du machst, versuchst du mit deinen bescheidenen Mitteln umzusetzen. Das Ergebnis soll aber perfekt sein. Du willst alles allein schaffen, tust dich schwer darin, Hilfe anzunehmen. Wobei sich das gebessert hat, seitdem du es geschafft hast, eine komplette Band auf die Beine zu stellen. Trotzdem verziehst du immer wieder deinen Mund als hättest du in eine saure Zitrone gebissen, wenn du die Führung abgeben musst. Ich gebe es nicht gerne zu, aber es amüsiert mich, auch wenn ich weiß, dass es für dich innerlichen Stress bedeutet. Noch immer ist es mir nicht gelungen einen Weg zu dir zu finden. Du machst es mir aber auch nicht leicht. Ich befinde mich seit unserem ersten Treffen – und unserer ersten Meinungsverschiedenheit – augenscheinlich in der ‚friends zone‘. Moment, nein, nicht mal da. Keine Ahnung, wie du die Menschen um dich herum kategorisierst, aber mich hast du wohl unter ‚business‘ eingeordnet. Nicht einmal zum Freund habe ich es geschafft, obwohl ich dich unmissverständlich angebaggert habe. Aber du hast lediglich den Rückzug angetreten. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob eine Beziehung zu einem anderen Mann für dich überhaupt infrage kommt. Deine einzig große Liebe ist halt einfach die Musik. Doch so einfach gebe ich nicht auf. Wie lange wird es wohl noch dauern, bis ich dich zum Funkeln bringen kann? Kapitel 3: Soaked ----------------- Soaked by Natsuo Kurokawa „Wo bleibst du denn?“, fragte Kuloe nach, als seine Begleitung auf einmal verschwunden war. Recht schnell drehte er sich um, nur um zu sehen, dass sein Arbeitskollege vor einem Shop stand und nachdenklich ein Poster studierte. Er seufzte entnervt und ging die paar Meter zurück. Schließlich hatten sie nicht mehr allzu lange Zeit, ehe ihre Arbeit begann. „Was ist denn?“, hakte er nochmals nach. „Dieser Shop veranstaltet einen Fotowettbewerb.“ Yui deutete auf den aufwändigen Aushang, der einen Großteil der Fensterfront für sich beanspruchte. „Und du willst daran teilnehmen oder wie? Ich wusste gar nicht, dass du fotografierst!“, äußerte der Größere der beiden seine Bedenken. Auch sein Blick wanderte nun über das Poster und er las die wenigen Informationen zu dieser Ausschreibung. „Du weißt einiges nicht über mich! Aber ja, ich war in der Schule mal in einer AG. Da haben wir alles über Fotografie gelernt. An Wettbewerben habe ich bisher zwar noch nie teilgenommen, aber warum nicht? Und ich denke, mit dem Thema ‚Wasser‘ kann ich schon was anfangen.“ Yui tippte sich nachdenklich mit seinem Zeigefinger gegen seine rosafarbenen Lippen. „Außerdem ist der erste Preis eine teure Fotoausrüstung! Das wäre der Hammer, wenn ich das gewinne! Guck, der Einsendeschluss ist erst in 2 Wochen! Also noch genug Zeit sich was auszudenken! Trotzdem sollte ich mich ranhalten!“ Der Kleinere schien Feuer und Flamme zu sein. „So ein Blödsinn! Da machen doch Tausende mit. Da gewinnst du doch eh nicht! Los, komm! Die Arbeit ruft!“, versuchte Kuloe seinen Kollegen wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Für ihn war diese Sache damit abgehakt. Für Yui allerdings nicht, denn der belagerte ihn Tage später und erbat seine Mithilfe. *** „Kuloe! Kuloe!“, rief Yui, als er die Umkleidekabine stürmte, kaum, dass er ihren Arbeitsplatz betreten hatte. Aufgeregt wedelte er mit einem Brief in der Hand umher. Der andere Schwarzhaarige sah nur skeptisch auf und war bereits dabei, seine Boots neu zu schnüren. „Was ist? Du bist ganz schön spät!“, erkundigte er sich trotzdem. „Ich habe gewonnen!“, verkündete der kleinere Schwarzhaarige und ignorierte die skeptischen Blicke der anderen Jungs im Raum. Er schmiss sich auf die Couch neben Kuloe. Hektisch rupfte er das Papier aus dem Umschlag. „Dieser Fotowettbewerb von neulich?“ „Ja, Mann! Da, guck! Ich hab den 2. Platz belegt!“, quiekte Yui freudig und hielt Kuloe das Schreiben vor die Nase. Dieser besah dieses argwöhnisch. Aber zweifelsohne handelte es sich um eine Gewinnbenachrichtigung. „Eine Reise?“ „Jap! Onsen! Inklusive eines Ausflugs in den Jigokudani Affenpark!“, gab Yui freudig die Info weiter. „Und du kommst mit!“, stellte der Kleinere seinen Kollegen vor beschlossene Tatsachen. „Wieso ich?“ „Weil die Reise für 2 Personen ist und du bist schließlich auf dem Foto drauf. Soll sich doch auch für dich lohnen, dass du ohne Schirm im strömenden Regen standest und ausharren musstest, bis ich ein brauchbares Foto geschossen habe!“ Yui strahlte, Kuloe hingegen weniger. „Außerdem wird das Foto für drei Monate im Shop ausgestellt!“, sagte der Kleinere stolz, was von dem anderen aber auch nur mit einem Augenrollen kommentiert wurde. *** Warum Kuloe letztendlich doch eingewilligt hatte mitzufahren, wusste er selbst nicht. Vielleicht war es die Verlockung von drei freien Tagen und die Tatsache, dass sie auf Arbeit nur als Team funktionierten. Nun jedenfalls fand er sich nach einer sehr anstrengenden Tour durch den Affenpark am Rande einer heißen Quelle wider. Er stand im eiskalten Schnee und sah sich skeptisch um. Besonders die Falte zwischen seinen dunklen Augen war deutlich zu sehen. Es war arschkalt und er hatte nur ein Handtuch um die Hüften gebunden, das seine Blöße verdeckte. Trotzdem war ihm die Situation sichtlich unangenehm. Und das, obwohl Yui bereits entspannt in der heißen Quelle zu seinen Füßen hockte und sich wärmte. Er aber sah sich argwöhnisch um und kräuselte leicht seine Nase. Sie waren nicht alleine und noch dazu hockten dort alte, ausländische Männer. „Nun komm schon rein!“, schimpfte Yui ihn und öffnete nur ein Auge, um zu seinem Kollegen nach oben zu sehen. Kurzerhand grapschte er nach seiner Hand. Fast hätte Kuloe sein Gleichgewicht verloren und wäre ins Wasser gestürzt, doch zum Glück hatte Yui doch Gnade walten lassen. „Es ist trotzdem peinlich! Und wehe, hier tauchen Affen auf!“, gab Kuloe zu bedenken. Er ließ sich in die heiße Quelle gleiten und rutschte so weit nach unten, sodass gerade noch sein Kopf herausguckte. Yui begann sofort zu lachen. Der Kerl war ja so albern! „Die kommen doch nicht hierher und baden mit Menschen! Das sind wilde Tiere! Und genauso wenig klauen die dir dein Handtuch oder gehen dir an dein Heiligstes!“ „Verarsch‘ mich nicht! Kann doch alles sein!“, sagte Kuloe. Paranoid sah er sich um. So recht konnte er noch nicht entspannen. „Und selbst wenn! Um eins musst du dir keine Sorgen machen: Du bist immer noch das niedlichste Äffchen von allen!“, zog Yui seinen Begleiter mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen auf. Kapitel 4: Nachtmahr -------------------- Nachtmahr by Masato Watanabe Es ist nicht so, dass ich zu der Sorte dieser gefühlsduseligen Menschen gehöre, dennoch befinde ich mich seit einem halben Jahr in einer Beziehung. In einer Beziehung mit einem Mann. Und das, obwohl ich selbst ebenso ein Mann bin. Wie es dazu gekommen ist, kann ich noch nicht einmal genau sagen. Ich gehöre nicht dieser Art Mensch an, die jemanden sieht und weiß, dass er mit ihm zusammen sein will. Oftmals fallen mir Menschen gar nicht auf oder ich ignoriere sie weg. Anziehung verspüre ich nicht. Bisher jedenfalls nicht. Ich hatte immer geglaubt, ich würde schon wissen, wenn ich jemandem begegne, der zu mir gehört. Aber das war wohl Irrglaube. Trotzdem ließ ich mich auf eine Vielzahl sogenannter Beziehungen ein. Ich verbrachte Zeit mit der anderen Person, machte Dinge, die mir selbst nicht einmal Spaß machten, nur um in die mir zugedachte Rolle zu passen. Ich ließ es zu, dass jemand in mein Leben eindrang und von diesem Besitz ergriff. Stück für Stück wurde versucht, mich zu einer Existenz zu biegen, die möglichst angenehm für mein Gegenüber war. Ich selbst aber nahm alles nur an, hinterfragte eher dieses Nebeneinander. Es dauerte nicht lange und man war meiner überdrüssig. Das liegt wohl an meiner eigensinnigen und verschrobenen Art. Das Miteinander inspirierte mich nicht und ich verfiel schnell in einen passiven Modus. Ändern kann ich dies jedoch nicht. Auch die Sache zu beenden lag mir fern. Ich wartete lieber ab, bis das Unausweichliche eintraf. So kam es immer, früher oder später und das Spiel ging von vorn los. Es wunderte mich immer, dass es nach wie vor Menschen gibt, die sich von mir angezogen fühlen. Es ist nicht so, dass ich wunderschönes Haar oder eine makellose Haut hätte. Auch das Parfüm, welches ich benutzte, hat einen eigenwilligen Geruch, der nicht von allen als angenehm empfunden wird. Mal ganz davon zu schweigen, dass ich recht kurz geraten bin und einen Hang zu Extremen habe. Das äußert sich vorwiegend in meinem Erscheinungsbild. Nun ereignete es sich, dass ich diesen Jungen traf. Mitten auf der Straße. Auf dem Heimweg nach meinem Aushilfsjob. Er ist einige Jahre jünger als ich, wie sich herausstellte. Er färbt sich seine Haare ebenso wie ich blond. Ich hatte das Gefühl, in einen Spiegel zu blicken. Seine Augenbrauen waren abrasiert, genau wie meine. Er trug ein auffälliges Piercing, welches sich um seine volle Unterlippe schlang. Ich muss nicht erwähnen, dass auch meine Lippen gepierct sind. Generell habe ich eine Vorliebe zu derartigen Löchern in meinem Körper, was er mit mir teilt, denn nach genauem Hinsehen erkannte ich weitere metallene Highlights. Er war mit mir so ziemlich auf Augenhöhe und der erste Satz, den er zu mir sagte, war „Hey, cooles Shirt!“. Das war der Moment, in dem ich auf seinen Style aufmerksam wurde und ich musste mir hinsichtlich dieser Sache eingestehen, dass wir auf der Stelle die Klamotten hätten tauschen können. Ich hätte mich trotzdem wohlgefühlt. Dass dieses Treffen auf offener Straße kein Zufall war, hatte mir Mao Wochen später gestanden. Im gleichen Zuge, in dem er mir auch offenbarte, dass er tiefgehende Gefühle für mich hat. Er war mir bisher nie aufgefallen, obwohl er – seiner Aussage nach – an der gleichen Schule war, wie ich. Nur, dass ich diese vor zwei Jahren verlassen hatte, um mit meiner Kunst erfolgreich zu werden. Ich muss nicht erwähnen, dass mein Plan große Lücken aufwies. Trotzdem verurteilte er mich nicht. Viel mehr gab er mir das Gefühl, dass mein Freigeist ihn anzog. Er war nicht aufdringlich, ließ mir Zeit und ich ließ seine Annäherungen geschehen. Ehe ich mich versah, war er Teil meines Lebens geworden. Doch diesmal war es anders. Ich hatte nicht das Gefühl, dass es einen Eindringling gab. Auch das ernüchternde Gefühl des nebeneinander her Lebens blieb aus. Viel mehr war es ein miteinander, denn, wann immer er nur konnte, kritisierte er meine Arbeiten, verbesserte sie oder ließ mich an seinen Gedanken dazu teilhaben. Das wiederum brachte mich auf neue Gedanken, inspirierte mich, brachte mich voran. Ich fühlte mich nicht eingeengt, glaubte eher, mich entfalten zu können, mich weiterzuentwickeln. Und doch ist es dieser Junge, der mir nun in diesem Straßencafé gegenüber sitzt und mich ernst ansieht. „Kyo, ich kann das nicht mehr! Du bist wie ein Parasit! Und bevor du mich wegwirfst, weil du nichts mehr aus mir ziehen kannst, beende ich es lieber. Es ist aus!“, sprach Mao. Noch ehe ich mich dazu äußern konnte, stand er auf und verschwand. Ich drehte mich auf meinem Stuhl um und starrte in die Richtung, in die er verschwunden war. Mein Herz klopfte wild in meiner Brust, tat es noch, als ich aufwachte. Und da lag er, der Junge, mit dem ich seit einer Woche eine Beziehung führe: Mao. Der Junge, der mit mir vor gefühlten Ewigkeiten zusammen in der Kunst-AG unserer alten Schule war und mich und meine Kunst seitdem anhimmelt. Ich weiß nicht, ob ich wirklich ein Parasit bin, der nur das Beste aus ihm herauszieht, aber ich habe zumindest das Gefühl, dass er das Beste in mir hervorbringt. Auch, wenn die Angst bleibt, dass er mich jetzt, so kurz nach Weihnachten, absägt, wie diese sogenannten Wegwerf-Boyfriends, glaube ich, dass er mir viel über mich selbst beibringen kann. Umso mehr genieße ich den Anblick seines schlafenden Gesichts nah an meinem. Kapitel 5: Weiß wie Schnee und Rot wie Blut ------------------------------------------- Weiß wie Schnee und Rot wie Blut by Natsuo Kurokawa Heute war wieder einer dieser Tage, an denen einfach so rein gar nichts lief. Er hatte verpennt, war innerhalb von 3 Minuten in seine Klamotten geschlüpft und hatte einen Abstecher ins Badezimmer gemacht. Dann war er überstürzt aus der Wohnung gestürmt. Zwar mit Handy, aber ohne Geldbörse. In der Uni hatten sie Stoff durchgenommen, der ihm einfach nicht lag. Wer brauchte auch diesen Marketingkram schon? Also ja, wichtig war es schon und in der Praxis verstand er den Kram auch, aber die Theorie und diese tausend Fachbegriffe wollten einfach nicht in seinen Kopf. Marketingpläne, Strategieumsetzungen und Marktanalyse. Das war alles nicht seins. Blöd nur, dass ihm der Prof auch noch ein Referat reingedrückt hatte. Und das natürlich noch vor Weihnachten. Manchmal glaubte er echt, dass dieser Typ ihn nicht leiden konnte. Nichtsdestotrotz musste Tomo nun zu seinem Nebenjob. So ein Unileben finanzierte sich halt auch nicht von alleine und Rechnungen wollten bezahlt werden. Daher sah er zu, dass er immer mal einen Job vom Schwarzen Brett abstaubte. Umzugshelfer, Aktensortierer oder Lieferkurier. Alles war schon dabei gewesen. Heute aber stand Kellnern auf dem Plan. Wenigstens durfte er in einem kleinen, mediterranen Restaurant einmal die Woche fest für ein paar Stunden aushelfen. Doch auch der Job lief heute einfach nicht. Er war mit den Gedanken noch immer bei Subventionen, Rezipientenmärkten und den verschiedenen Marktmodellen. Davon schwirrte ihm schon regelrecht der Kopf. Der junge Japaner hatte absolut keinen blassen Schimmer, wo er mit seinem Vortrag beginnen sollte. Immer wieder strich er sich seine langen Ponyfransen aus dem Gesicht und brachte die Bestellungen an die entsprechenden Tische. „Ich mach kurz Pause! Tisch 3 bekommt noch die Putensteaks, gefüllte Auberginen und einmal die Tomatensuppe. Getränke haben sie schon!“, sprach die junge Frau in Kellneruniform ihren Kollegen an. Der nickte ihr zu. Nur ein paar Sekunden später kam das Essen aus der Küche und er packte die Teller auf sein Tablett. Routiniert bestritt Tomo den Weg zu dem Tisch, nuschelte seinen Satz, dass er sich für die Unterbrechung entschuldigte. Floskeln eben. Er stellte den länglichen Teller mit den Auberginen ab, nahm den Teller mit den Putensteaks und hatte schon Probleme damit, noch genügend Platz auf dem Tisch der beiden Gäste zu finden. Geschickt schob er den Teller noch auf den Tisch, ließ dabei sein Tablett aber außer Acht und es kam, wie es kommen musste: Die Schale mit der Tomatensuppe kippte und mit seinem Versuch das Unglück zu verhindern, machte er es nur noch schlimmer. Das gesamte Tablett kippte und die Tomatensuppe landete im Schoß des Gastes zu seiner Rechten. Hektisch sprang das Mädchen auf, während sich die kalte Suppe auf ihrer weißen Hose verteilte und nun nach unten lief. „Oh, mein Gott! Das tut mir leid! Warten Sie! Ich hole einen Lappen und was zum Saubermachen!“, reagierte Tomo wie ein aufgescheuchtes Hühnchen auf seinen Fauxpas. Er stürmte davon und versuchte sein Bestes diesen Fehltritt wieder gutzumachen. Es tat ihm schon leid um das cremefarbene Outfit dieses Mädchens. Sie war schon hübsch mit den rot geschminkten Lippen und der schneeweißen Haut. Nur dieser riesige rote Fleck in ihrem Schoß machte es nicht besser. „Es tut mir wirklich sehr leid! Ihr Essen geht natürlich aufs Haus!“, versuchte es Tomo irgendwie wieder geradezubiegen, aber letztendlich lief es nur darauf hinaus, dass er das Essen einpackte, inkl. eines Rabattcoupons und die Gäste angesäuert das Restaurant verließen. Eigentlich hatte Tomo auch angenommen, dass diese Pechsträhne irgendwann mal abreißen musste, aber leider hatte auch ein schlechter Tag 24 Stunden. Nach der Arbeit hatte er zu Hause gerade mal eine Stunde Zeit um sich fertigzumachen. Leider Gottes hatte er einem Kumpel aus der Uni zugesagt zu einem dieser Kuppeltreffen mitzukommen. Eigentlich war das alles nicht sein Fall, aber er war so lange bekniet worden, bis es einfach nur noch unhöflich gewesen wäre, nein zu sagen. Es fehlte schließlich auch nur noch eine Person! Also hatte er sich breitschlagen lassen. Am verabredeten Treffpunkt sah er seinen Kommilitonen und stellte sich zu ihm. „Schön, dass du gekommen bist! Wird heute sicherlich super! Es sind einige Mädchen von einer anderen Uni dabei!“, wurde ihm erklärt. Geistesabwesend nickte er und ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen, als dieser an einem Mädchen hängen blieb. Langer cremefarbener Mantel mit Fellbesatz am Kragen und an den Ärmeln, endlos lange Beine, platinblonde Haare, schneeweiße Haut, extrem hübsch geschminkte Augen mit langen Wimpern und rote Lippen. Noch dazu strahlte sie wunderschön, sodass er selbst die Kälte und die Rückschläge des Tages für einen kurzen Moment vergaß. „Takashi, komm mal her!“, rief Tomos Mitstudent und winkte genau dieses Mädchen zu ihnen heran. „Das ist Tomo. Der Kumpel aus der Uni, von dem ich dir erzählt habe!“ Tomos Augen weiteten sich, als sich Synapsen in seinem Hirn bildeten und er erkannte, wer da vor ihm stand. „Darf ich vorstellen? Mein kleiner Bruder Takashi!“ „Ah, der dusselige Kellner!“, waren die ersten Worte, die Takashis rote Lippen verließen und genau da trafen, wo es weh tat. Er machte eine abwinkende Geste und drehte sich auf dem Absatz um, um wieder von dannen zu ziehen. Anscheinend kein Interesse. „Huh? Kennt ihr euch?“, wollte Tomos Bekannter wissen, doch Tomo atmete tief durch, schüttelte resignierend seinem Kopf. „Schneeweiß und rosenrot – und leider so nachtragend!“, seufzte er kellertief. Das würde noch ein sehr langer Abend werden. Kapitel 6: Angel undercover --------------------------- Angel undercover by Natsuo Kurokawa “I’m a little bit of everything.” Der grauhaarige Junge summte, hielt seine Ohrstöpsel fest, damit diese nicht durch seine ausschweifenden Bewegungen aus seinen Ohren rutschten. Schwungvoll warf er seinen Kopf von rechts nach links und ließ die fließenden Bewegungen mit der Musik harmonieren. Gut gelaunt summte er die Melodie des Liedes mit, welches er gerade hörte. Es kam einer Performance gleich. „I’m a bitch, I’m a lover!“, formten seine Lippen, die von einigen Piercings kunstvoll umrahmt wurden, die Zeilen des Songtextes, während seine Hüften wie von selbst den rhythmischen Bewegungen folgten. Er war komplett in seiner eigenen Welt als er durch die Straßen des winterlichen Shinjuku lief. Ein kühler Windhauch kitzelte seine Nase. Nicht zufällig hatte er die Seitenstraßen für seinen Weg gewählt. Der Ort, der von Begierde und Lust nur so durchzogen wurde. Und das gerade zur Weihnachtszeit, wo sich jeder nach Liebe sehnte. Natürlich wurde gerade er davon angezogen wie eine Motte vom Licht. Emotionen – die Essenz seines Daseins. „I’m a sinner! I’m a SAINT!“ Luvias Blick richtete sich nach vorn. Dabei blitzte die Iris seiner Augen eisblau auf. Da waren sie: neue Opfer - Menschen. Genau er, der Host, der gerade den Club verließ. Luvia lächelte, überheblich, wobei seine spitzen Eckzähne kurz zu sehen waren. Er wusste, keiner von ihnen konnte ihm etwas anhaben. Daher beschleunigte er seinen Schritt, rempelte den Jungen absichtlich an, drehte sich mit der Bewegung zu ihm. „I’m your hell, I’m your dream! I’m nothing in between!“ Seine Stimme, säuselnd. Er lächelte, formte mit seinen Lippen einen Kussmund und setzte seinen Weg fort. In ihm flammte eine Hitze auf, die es aber nicht vermochte seinen eiskalten Körper für längere Zeit zu erwärmen. Recht schnell durchzog der Frost seine Adern wieder und ließ ihn unter der Kälte erzittern. Davon hatte er sich mehr erhofft. Schade eigentlich. Also ging seine Suche unter den Menschen weiter. Luvia sah eine Gruppe Businessmen, die gerade einen Club verließen. Sie schienen zufrieden zu sein. Lachen, freudiges Plappern, rot gefärbte Wangen. Sicherlich hatten sie die meisten Emotionen mit einer Ladung ihres Spermas verschenkt. Verpufft im Nichts. Aber er war nicht wählerisch. So drängte sich der Junge zwischen den Männern entlang, bedacht darauf, jeden einzelnen von ihnen zu berühren. Hand, sanftes Streicheln über die Wange oder gar ein verspieltes Tippen gegen die Lippen eines der Männer. Kaum war dies geschehen, verflog der Glanz aus ihren Augen und ihre Haut wurde fahl. Luvia hingegen strotzte nur so vor Energie. „Innocent and sweet!“ Wieder ging er ein paar Schritte weiter, genoss die Musik auf seinen Ohren und wackelte zum Takt mit seinem Hintern, während er seine Arme schwungvoll in die Luft warf. Man konnte sehen, dass der Dämon sein Dasein durch und durch genoss und die Energie, die er bisher gesammelt hatte, ihm sichtlich guttat. Es war wie eine Droge und er wollte mehr. Erneut sah er geradeaus, erblickte einen rothaarigen Jungen in Lederkluft, der total cool an einer Hauswand lehnte. Sicherlich wartete er nur auf sein nächstes Date. Wieder eine arme Seele, die nur an der Nase herumgeführt werden würde. Er strotzte nur so vor Selbstzufriedenheit. Blöder Kerl! Obwohl sich Luvia schon eingestehen musste, dass er recht hübsch anzusehen war: seidige Haare, mit schwarzen Kajal betonte leuchtende Augen, fein geschwungene und vor allem verführerische Lippen. Dazu recht groß gewachsen, feingliedrige Statur und makellose Haut. Definitiv eine Sünde wert. Das war also sein neues Opfer. Wieder blitzten Luvias Augen voller Vorfreude auf. Und auch er schien von dem anderen nicht unbemerkt geblieben zu sein. Ein Grund mehr diesen Kerl alle Emotionen zu rauben. Er setzte sich in Bewegung und blieb demonstrativ vor dem anderen stehen. Dieser sah ihn unbeeindruckt an, drückte sich aber von der Wand ab und erwiderte neugierig den Blick des Kleineren. „I’m a bitch. I’m a tease. I’m a goddess on my knees, when you hurt, when you suffer”, sprach Luvia melodisch den Songtext mit und legte locker seinen Arm auf die Schulter des Rotschopfes, der seinen durchdringenden Blick erwiderte. Luvia störte sich nicht daran, dass der andere ihn um einige Zentimeter überragte und er in einem körperlichen Kampf zweifelsohne den Kürzeren ziehen würde. „I’m your angel undercover!“, wisperte der grauhaarige Junge und leckte sich mit seiner gespaltenen Zunge über die vollen Lippen. Die Vorfreude auf sein neues Opfer stieg und er schob seine Finger in die weichen Haare des Größeren. Doch der unnachgiebige Blick seines Gegenübers schwand nicht. Ganz im Gegenteil: Ein freches Grinsen legte sich auf seine roten Lippen, als er sich nach vorn beugte. Luvia zuckte zusammen. Wieso funktionierte es nicht? Er sah nach unten, machte dessen Hand aus, die frei lag. Hektisch griff er mit seiner anderen Hand nach dieser, aber der Strom der Emotionen, die sein Innerstes wärmten, riss einfach nicht ab. Sein Kinn wurde nach oben gedrückt und er wurde regelrecht dazu angehalten, in die rot glühenden Augen des Größeren zu starren. „You know, I wouldn’t want it any other way!“, waren die Worte, die Kosuke sprach, ehe er den Mund Luvias mit seinem verschloss. Die unnachgiebige Hitze entlud sich explosionsartig in Luvias Körper und durchströmte ihn bis in seine frostigen Fingerspitzen. (* Songtextauszüge von Meredith Brooks - Bitch -> please support the artist!) Kapitel 7: In den Fängen des Mäusekönigs ---------------------------------------- In den Fängen des Mäusekönigs by Masato Watanabe „Willkommen im GlamKing! Danke, dass Sie uns besuchen! Darf ich Sie zu einem Tisch führen?“ Das sind die Sätze, die ich im Schlaf herunterrasseln kann. Sie hängen mir zum Hals raus, genau wie das aufgesetzte Lächeln, egal, wer vor mir steht. „Möchten Sie etwas Trinken?“ Natürlich folgt danach der Hinweis auf den teuersten Wein unseres Hostclubs. Immerhin möchte ich auch überleben können und meine Zahlung hängt von dem Umsatz dieses Ladens ab, in dem ich bereits seit zwei Jahren einen der ersten Plätze der Rangliste der beliebtesten Jungs für mich beanspruche. Warum das so ist? Sicherlich nicht nur, weil ich hübsch anzusehen bin. Kazuma – so wie ich mich für meine Arbeit nenne – kennt wenig Tabus und macht es mit jedem! Das sagen sie über mich. Und ich möchte meine Energie nicht dafür nutzen, um Gerüchte im Keim zu ersticken. Reden sie über mich, dann bin ich präsent. Und das ist gut fürs Geschäft. Ich wäre also ein Schalk, würde ich etwas dagegen unternehmen. Trotzdem ist das nicht der Hauptgrund, warum ich zu den beliebtesten Jungs gehöre. Gefangen im Schloss des Mäusekönigs bin ich einer von den Lieblingen unseres Bosses. Ich weiß nicht einmal, woran es liegt, dass er einen Narren an mir gefressen hat, aber er liebt es, mich in seine privaten Gemächer dieses unscheinbaren Hauses zu bestellen, wann immer er Bock auf mich hat. Bisher vermochte es keine Katze mich aus den Fängen des Mäusekönigs zu befreien! „Kazu-kun! Der Boss verlangt nach dir! Nimm den Bourbon mit!“ Auch diese Worte sind mir vertrauter als mir lieb ist. Das ist die Einladung zu weiteren Demütigungen und mir wird aufgezeigt, wo mein Platz ist: Meist zu den Füßen des Mäusekönigs. Dennoch nehme ich ohne Widerworte die Flasche Bourbon vom Barkeeper entgegen und mache mich auf den Weg nach oben. Vor der schwarzen Tür angekommen, streiche ich meinen Anzug glatt und richte meine Krawatte. Bereits hier im Gang kann ich den Geruch der Zigarren meines Bosses wahrnehmen. Ich hasse diesen Gestank. Er nimmt mir die Luft, aber ich gehöre eben doch nur zum Gefolge des Mäusekönigs und bin nur einer seiner Untergebenen. Kurz: meine Meinung interessiert niemanden. Ich ergebe mich meinem Schicksal und klopfe an die Tür, bekomme unmittelbar eine Reaktion. Er wartet auf mich, dort in seinem dunkelroten Sessel mit den goldenen Ornamenten, die den Rand der Lehne zieren. Er fläzt regelrecht in dem weichen samtenen Stoff, eine Hand auf der Armlehne abgelegt, seine Zigarre in der anderen. Diese führt er zu seinen Lippen und sofort fällt mir der Dreitagebart auf. Auch an seinem Kinn sind die dunklen Stoppeln zu erkennen. Damit macht er nur noch mehr den Eindruck eines schleimigen Unterweltbosses. Von den nach hinten gegelten blonden Haaren ganz zu schweigen. Seine Erscheinung kann nicht einmal sein teurer Anzug aufwerten. „Kyo-sama, ihr habt nach mir verlangt?“, zeige ich mich unterwürfig und verbeuge mich, während ich seinen stechenden Blick auf mir spüre. „Mein Drink ist leer!“, folgt die indirekte Aufforderung seinerseits und ich mache mich auf den Weg zu dem kleinen Beistelltisch, auf dem Eiswürfel in einem Glas nach und nach der Wärme des Zimmers zum Opfer fallen. Ich hadere nicht lange mit mir, knie mich neben dem Tisch und schenke meinem Boss nach. So nah an ihm kann ich sein teures Aftershave wahrnehmen, welches schwer in der Luft hängt. Diese Kombination des Zigarrengeruchs und dieses Wässerchens schnürt mir die Luft ab. Ich bekomme Kopfschmerzen. Kyo greift nach dem Glas und die Eiswürfel klirren durch die Bewegung. Er nippt an dem alkoholischen Getränk, mustert mich. Mein Blick aber bleibt an dem Siegelring an seiner rechten Hand kleben. Dieser ist genauso protzig wie sein Auftreten. Kaum, dass er sein Glas wieder abgestellt hat, berührt seine Hand meine Wange und sein Daumen fährt regelrecht schon zärtlich über meine volle Unterlippe. Leider Gottes hatte er schon immer eine Vorliebe für meine kantigen Gesichtszüge und meine vollen Lippen. Ich ahne nur zu gut, was als nächsten folgen wird. Auf dem Boden bin ich sowieso schon, also fehlt nicht mehr viel und ich werde zwischen seinen Beinen knien. „Mund auf“, fordert er und ich gehorche, bin aber verwundert, als ein viereckiges Stück Käse in meinen Mund geschoben wird. Er zieht den kleinen Spießer zurück und legt ihn bei Seite. Ich kaue genüsslich, sehe aber das selbstzufriedene Grinsen auf seinen vollen Lippen. „Weißt du, Kazuma, mit Käse fängt man Mäuse!“ Ja, das weiß ich nur zu gut, denn ich bin auch nur eine unbedeutende Maus unter der Regentschaft des Mäusekönigs. Und natürlich wehre ich mich nicht, denn vielleicht ist es doch nicht so schlecht in seiner Gunst zu stehen. Das verrät mir der Blick auf das Sideboard neben dem Sessel. Dort stehen neben Käse- und Kavierhäppchen auch noch ein hübsch verpacktes Geschenk. „Wenn du ein bisschen nett zu mir bist, dann gehört es dir!“ Den süßen Worten folgt das Klacken seiner Gürtelschnalle und ich rutsche willig zwischen seine Beine. Auch, wenn ich mich im Moment nicht aus den Fängen des Mäusekönigs befreien kann, so sehne ich mich doch nach dem Tag, an dem ich diesen Club verlassen und ein anderes Leben führen kann. Kapitel 8: Eislabyrinth ----------------------- Eislabyrinth by Natsuo Kurokawa Er lief nach Hause, eine weiße Plastiktüte aus dem Conbini in der Hand. Sie raschelte und bei jedem Schritt schlug der Inhalt gegen sein Bein. Sicherlich befand sich in ihr sein Abendessen: Heiße Bohnensuppe und ein Sandwich. Wahrscheinlich wieder mit Schinken und Ei. Eben das, was er immer kaufte nach einem langen Arbeitstag. Nur noch der Weg durch den kleinen Park und dann noch zwei Seitenstraßen. Yui lief über die Wiese, sah nach oben zu dem klaren Sternenhimmel. Ein Grund, warum es heute so eisig war und er trotz seines Schals fror. Die Kälte war unangenehm, aber irgendwas anderes bereitete dem Jungen Unbehagen. Nur konnte er nicht sagen, woran es lag. Allerdings war dieses Gefühl allgegenwärtig. Unweigerlich beschleunigte er seinen Schritt, verließ den Rasen und hatte wieder den gepflasterten Weg vor sich. Eine Ampel und einen weiteren unsicheren Blick, den er hinter sich warf, später, bog er in die dunkle Seitenstraße ein. Vertraut war die weiße Aufschrift auf dem Teer, die Autofahrer dazu aufforderte anzuhalten. Und da war es wieder: Das Gefühl, verfolgt zu werden. Schritte? Oder waren es nur seine eigenen, die zwischen den Mauern der Hochhäuser widerhallten? War es dunkler geworden? Oder gar kälter? Ein Schatten? Dort, hinter den Müllsäcken, die von dem kleinen Ramenrestaurant stammten! Der schwarzhaarige Junge sah sich um und ihn beschlich, dass er diese Gegend so gar nicht mehr kannte. Alles war ihm fremd. Der Geruch, die Gebäude. Was blieb war die Beklemmung in seiner Brust. Sollte er weitergehen? Oder zurück? Wo lang überhaupt? Seine Ausweichmöglichkeiten wurden weniger und er trat zurück an die Wand hinter sich. Kalt! Eiskalt! Sogleich wirbelte er herum, doch das, was Yui da erblickte, ließ ihn staunen. Eis! Die gesamte Oberfläche des Hauses war mit Eis überzogen. Mit diesem neuen Bewusstsein merkte er, dass seine gesamte Umgebung aus Eis bestand, verschwunden die vertraute Umgebung der Stadt. Sofort nahm Yui seine Beine in die Hand, rutschte aber auf dem eisigen Boden aus. Benommen rappelte er sich auf. Er musste dringend hier weg! Eis! Überall nur spiegelndes, glattes Eis! Ausweglos! Wieder kam er ins Straucheln, fiel auf die Knie. Atemlos krabbelte er auf allen vieren zur nächsten Wand, ließ sich mit dem Rücken dagegen fallen. Die Wände wurden immer höher und er fror immer mehr. Würde er nicht bald einen Ausweg finden, würde er hier sicherlich noch erfrieren. Yui wand sich um, wollte sich an der eisigen Wand hochziehen, doch da fiel ihm sein Spiegelbild auf. Rot geschminkte Lippen. Grüne Augen starrten ihn an. Er war aufwändig geschminkt. Eben so, wie immer auf Arbeit. Sauberer Lidstrich, künstliche Wimpern, helle Akzente, die seine Augen strahlen ließen. Seine Haut weiß wie Marmor. Der Puppenspieler?! Erschrocken wich Yui zurück, sah an sich nach unten. Er hatte die Kleidung an von damals: langer, schwerer Stoff umhüllte seinen Körper. Hier und da verzierte Spitze aufwändig sein Gewandt. Sofort stieß sich der Junge vom Boden ab, krabbelte weiter zurück und konnte sich nun komplett in der spiegelnden Eiswand sehen. Er, wie er am Boden saß, Stricke, die um seine Hände, Beine und seinem Hals lagen. Er – die Marionette! „Nein!“, schrie Yui auf und schüttelte seine Gliedmaßen in der Hoffnung, seine Fesseln loszuwerden. Das konnte alles nicht sein! Er war nicht mehr der von damals! Er war weg von dort. Niemand mehr, der ihn manipulierte. Niemand mehr, der ihn in der Hand hatte. Vergangen! Gelächter ertönte. Dieses ging Yui durch Mark und Bein. Aus Reflex hielt er sich die Ohren zu und kniff die Augen zusammen. Sein Albtraum von damals war doch vorbei. Er war nicht mehr an diesem Ort! Warum jetzt? Als er die Augen öffnete, wurde es noch schlimmer. Er sah sich. Mehrfach. Sich und die Männer, an die er verkauft worden war. Er, immer lächelnd, zuvorkommend, gut gelaunt und höflich. Yui, das Püppchen. Zu haben für jeden. Doch innerlich war er gefangen in einem Labyrinth, aus dem er so dringend einen Ausweg gesucht hatte. Dort war er zusammen mit einem Mann in dessen Limousine. Er hatte Alkohol zu trinken bekommen. Dann wurde der Typ immer aufdringlicher, hatte ihn angefasst, ihn schließlich um eine Gefälligkeit gebeten. Kaum war es zu Ende, war er außerhalb der Stadt vor die Tür gesetzt worden. Da, die Frau, die ihn gebucht hatte als hübsches Accessoire zur Eröffnung einer Ausstellung. Sie hatte ihn keines Blickes gewürdigt. Er hatte gute Miene zum bösen Spiel gemacht, doch am Ende hatte er sich eine gefangen, weil er mit einer anderen Frau geredet hatte. Sie hatte sich bei seinem Vorgesetzten beschwert, der ihm seine Unzufriedenheit spüren ließ. Und da war auch er. Draußen, im Regen. Durchnässt bis auf die Knochen, aber er durfte nicht zurück, da er die Vorgaben des Abends noch nicht erfüllt hatte. Doch es war fast so, als sah ihn niemand. Keiner, der ihm helfen konnte, dem Puppenspieler zu entkommen. Die Gefälligkeiten wurden immer mehr. War es am Anfang ein einfaches Treffen, setzte sich dies bald fort mit Berührungen und ehe er wusste, was mit ihm geschah, schlief er mit Fremden. Wenig später fand er sich in einem Hotelbett wieder, hartes Plastik zwischen seinen Zähnen und kaum die Chance zu atmen, während sich das Metall der Handschellen in seine Haut schnitt. Erniedrigt bis aufs letzte. „Ich will da nicht wieder hin! Lass mich in Ruhe!“ Die Panik in dem Jungen stieg und er wischte sich hektisch über die Lippen, um den roten Lippenstift loszuwerden. „Ich will das nicht mehr!“, sagte er entschlossen und rappelte sich wieder auf. Dort war ein Licht, ganz sicher. Und wo das Licht war, da ging es nach draußen aus diesem Irrgarten! Er musste es nur erreichen. Also rannte er los, dem heilbringenden Licht entgegen. Mittlerweile hatte Yui die Orientierung komplett verloren. Rechts. Links. Sackgasse. Zurück. Rechts. Rechts. Einfach geradeaus. Doch wieder zurück und links. Kein Ausweg. Er lehnte seine Stirn gegen das kalte Eis. „Wie komm ich hier nur raus?“, wisperte er der Verzweiflung nahe und blickte in blauen Augen, die ihn von der Eisfläche aus anstarrten. Er blinzelte. Er trug nie blaue Kontaktlinsen. Yui wich zurück, sah in das Gesicht eines anderen Mannes. Das war nicht sein Spiegelbild, auch wenn er ihm sehr ähnlich sah. Schon allein wegen des gleichen Make-ups. „Yui, was ist denn los? Wieso schläfst du denn so unruhig?“ Yui blinzelte, versuchte seine Umgebung wahrzunehmen. Schlafzimmer. Gelbliches Licht. Vertrauter Geruch. Nähe. Und nun wurde auch eine warme Decke um ihn gelegt. „Du hast dich sogar frei gestrampelt. Du bist ja richtig kalt. Na los, komm her!“, sprach Kuloe ihn liebevoll an. Dieser Einladung kam der Jüngere der zwei Männer nur zu gern nach und schmiegte sich an die Wärmequelle. „Nur schlecht geträumt“, nuschelte er leise, verdrängte blitzschnell die Bilder, die ihn eben noch verfolgt hatten. „Aber morgen legen wir definitiv anderes Make-up auf. Und ich denke, ich sollte es mal mit blauen Kontaktlinsen versuchen. Kein Lippenstift. Und nach der Arbeit gehen wir zusammen Burger essen.“ Kapitel 9: Spuren im Schnee --------------------------- Spuren im Schnee by Natsuo Kurokawa Die schweren Eisenketten, die um die Reifen gespannt waren, drückten sich unnachgiebig in den frisch gefallenen Schnee, als der junge Mann den kleinen Lieferwagen in die Einfahrt des Hotels steuerte. Das laute Röhren des Motors verstummte, als er den Schlüssel in seine Richtung drehte und ihn abzog. Kurz darauf sprang er aus seinem Gefährt. Nun begann das anstrengende Prozedere des Ausladens der Ware. Aber auch diese Aufgabe erledigte der blonde Junge gewissenhaft. Es schien ihn fast mühelos von der Hand zu gehen. Seiner verschneiten Umgebung schenkte er dabei wenig Beachtung. Nao betrat das Hotel durch den Dienstboteneingang und setzte seinen Weg in die Küche des kleinen Hotels fort. Die schwere Kiste, die er dabei in seinen Armen balancierte, stellte er auf der Ablage ab. „Hab‘ alles bekommen! Die anderen Kisten stehen bereits im Lager!“, teilte er den beschäftigten Anwesenden diese Information mit. Unter ihnen auch seiner Mutter. „Danke, Schatz!“, erwiderte sie, aber sogleich legte sich ihre Stirn in Falten. „Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass Straßenschuhe nichts in der Küche zu suchen haben?“, maßregelte sie ihren Sohn jedoch unmittelbar. Der lächelte sie entschuldigend an und huschte wieder zur Tür. „Ich weiß! Will aber noch schnell eine Runde gehen!“, weihte er sie in seinen Plan ein. „Aber nicht mehr so lange, es dämmert schon!“ Die gut gemeinten Worte erreichten ihn allerdings nicht mehr, denn Nao war schon auf den Weg zu dem Zwinger, in dem sein Hund untergebracht war. Er wunderte sich schon, dass kein freudiges Winseln zu hören war, als er den Schnapper öffnete. Die Hütte, einst auch ein Lagerraum des Hotels, war leer. Hundekissen leer. Hundehütte leer. Kein Shiba, der hastig sein Fressen herunterschlang. „Häh?“, entkam das Unverständnis dem Jungen. Er hockte sich extra nochmal vor die Hundehütte, fand dort allerdings nur eine Kiste vor. Auf dieser klebte ein Zettel mit der Aufschrift ‚Wenn du deinen Hund wiederhaben willst, dann öffne mich!‘ „Hahaha… Was soll das denn? Natürlich will ich meinen Hund wieder!“, grummelt er vor sich hin und positionierte die Box vor sich. Anschließend öffnete er den Deckel, stutzte. Ein Kompass, eine Karte der Umgebung, eine Taschenlampe, ein Sandwich, sowie ein Zettel. „Klasse!“, murrte Nao. So viel zum Feierabend und was war? Man spielte Spielchen mit ihm. Er besah sich die Karte, identifizierte diese aber nur als einen der Prospekte, die sie in ihrem Hotel den Touristen anboten. Hier waren nützliche Informationen hinterlegt und anhand der Karte konnte man sich einen Überblick über die Skipisten der Umgebung verschaffen. Er hatte das eher weniger nötig, denn er war hier aufgewachsen und kannte die Umgebung wie seine Westentasche. Auch den Wald. Also besah sich Nao den Kompass, doch sofort schlich sich Ernüchterung ein. Das war sein alter Kompass, den er vor Ewigkeiten kaputt gemacht hatte. Das erkannte er an dem Sprung im Glas. Aber hatte er den nicht bereits weggeworfen? „So ein Müll!“, fluchte er, da er es nicht leiden konnte, wenn man ihn an der Nase herumführte. Missmutig riss er das Sandwich auf und angelte eine der belegten Weißbrotscheiben heraus. Er hatte seit dem Frühstück nichts gegessen, daher biss er gierig in das fluffige Brot. Zumindest befand sich darauf sein Lieblingsbelag. Mit seiner freien Hand entfaltete er den Zettel und sah, dass auf diesem mehreren Anweisungen notiert waren. „Lass es dir schmecken“, brummelte er gedanklich und schluckte herunter. Dann schob er sich den Rest des Sandwiches in die Futterluke. „Begib dich zur großen Kreuzung! Wenn du dort angekommen bist, wende dich nach Norden und folge dem Weg!“, las er vor. Entnervt stöhnte Nao auf, schnappte sich dann die zweite Scheibe aus dem Plastik und ging zur Tür. „Vergiss die Taschenlampe nicht!“ Nao rollte mit den Augen und ging zurück, schnappte sich die besagte Lampe aus dem Karton und machte sich auf den Weg. Was für ein albernes Spiel. Die ersten Anweisungen konnte er mühelos befolgen, auch wenn sein Proviant bereits aufgegessen war. Diesen Weg wäre er auch mit seinem Hund gegangen, was nicht verwunderlich war, denn hier so fernab der Zivilisation in Hakuba gab es nicht sonderlich viele befestigte Straßen. Hier war nun einmal ein Skigebiet und die Natur wurde so belassen, wie sie eben war. „Finde einen Wegweiser!“, nuschelte Nao. Noch konnte er in dem Licht des endenden Tages die Wörter ausmachen. Aber lange würde das nicht mehr gutgehen. Glücklicherweise fand er Steine, die in Form eines Pfeils auf dem Boden verteilt worden waren. Also verließ er den Weg und stieg der verschneiten Treppe nach oben, die weiter in den Wald führten. „Gehe dorthin, wo die Rehe sich am liebsten aufhalten!“ Nao schnaubte. Ernsthaft? Er wusste doch, dass dieser Weg zur Futterstelle der Rehe führte. Immerhin brachte er oftmals ihre Küchenabfälle genau dorthin. Was ihn aber stutzen ließ war die Tatsache, dass sich keine weiteren Anweisungen auf seinem Papier befanden. Irritiert blickte er sich um, als er an der Futterstelle war. Von seinem Hund aber war nichts zu sehen und auch nicht von dem Entführer seines Lieblings! Total genervt ging er um das Holzgestell, entdeckte dann aber einen weiteren Zettel, der an das Holz genagelt war. Darauf befand sich auch nur wieder ein Pfeil, in dessen Richtung er weiterging. So langsam hatte er keine Lust mehr. Er ging immer weiter in den Wald und es wurde dunkler, sodass er nun doch die Taschenlampe anschaltete. Dabei fielen ihm Fußspuren auf. Nur von einer Person, da hier sonst nie jemand lang ging. Warum auch? Dort war schließlich nichts weiter, was von Interesse wäre. Dann aber checkte Nao, dass sich neben den Fußabdrücken auch noch andere Spuren befanden. Tapsen! Zweifelsfrei von seinem Hund! Dieser hatte die Angewohnheit sich ungeduldig im Kreis zu drehen, wenn man ihm nicht schnell genug folgte. Und genau diese Spuren auf einer Stelle konnte er gerade im Schnee erkennen. Also lief er weiter, etwas schneller als nötig, aber er hatte das Gefühl, seinem Ziel nah zu sein. Und dann stand er vor einer Hütte. Mitten im Wald. Er konnte sehen, dass Licht brannte. Ob das sein Ziel war? Nao gab sich einen Ruck und ging zu der Tür, an der er einen weiteren Hinweis las: ‚Klopfen!‘ Aber das war gar nicht mehr nötig, denn er hörte hinter dem Holz bereits aufgeregtes Tapsen und vertrautes Jaulen. Und dann öffnete sich die Tür vor ihm. „Du bist so ein Penner!“, schimpfte Nao und streichelte seinem Hund bereits durch das weiche Fell, da dieser sich gleich mit den Vorderpfoten gegen seine Beine gestemmt hatte. „Hast uns doch gefunden!“, erwiderte der großgewachsene Mann mit den grau gefärbten Haaren, die ihm wild ins Gesicht hingen. „Du hast meinen Hund entführt!“, schimpfte Nao seinen langjährigen Freund. „Der Zweck heiligt die Mittel! Wie soll ich denn sonst in den Genuss kommen, allein mit dir Zeit verbringen zu können?“, fragte Tatsumi nach und zog den Kleineren schließlich ins Innere der Hütte, damit er endlich die Tür schließen konnte. „Wie wäre es mit einfach fragen?“, sagte Nao vorwurfsvoll, aber da fummelte Tatsumi bereits an seinem Schal herum und zog ihn verspielt zu sich. „Würdest du heute eine Nacht mit mir in dieser warmen, lauschigen Waldhütte bei Gulasch und Rotwein verbringen? Kuscheln im Bett inklusive!“, fragte der Größere mit verführerischer Stimme nach und stupste seine Nase gegen die kalte Nase seines Gegenübers. „Das Essen hat mich überzeugt!“, lenkte Nao ein, da er nun auch bemerkte, dass dies alles wohl zu einer Überraschung für ihn gehörte. Also überbrückte er die wenigen Zentimeter, um dem anderen einen Kuss zu stehlen. Kapitel 10: Wasted ------------------ Wasted by Masato Watanabe Und da fängt es wieder an. Überall tauchen von einem Tag auf den anderen leuchtende Dekorationen in der Stadt auf. Gerade so, als würde man dazu genötigt werden, an diesem Fest namens Weihnachten teilzunehmen. Selbst, wenn man nicht wollte, könnte man diesem Irrsinn doch nicht entkommen. Es ist geradezu eine Pflicht, Lichterketten aus dem Hinterzimmer zu kramen, Schneemänner oder Weihnachtsmänner aufzustellen und dazu dudelnde Weihnachtssongs oder zumindest deren bekannte Melodien rauf und runter laufen zu lassen. Mittlerweile kann ich sicherlich alle Liedtexte auswendig. Mich persönlich nervt das alles nur an. In meiner Wohnung jedenfalls wird man nichts davon finden. Reicht, wenn ich das Zeug in meinem kanadischen Café verteilen muss. Feiern Kanadier überhaupt Weihnachten? Egal, spielt sowieso keine Rolle, denn hier gehört es zum guten Ton. Je schriller und aufdringlicher, desto besser. Aber nicht nur, dass sich visuell einiges zu dieser Zeit in den Geschäften, Restaurants oder Cafés tut, nein, auch die Menschen werden urplötzlich anders. Endjahresstimmung oder so ein Schrott. Alle sentimental und drücken auf die Tränendrüse und alle müssen sich auf einmal so furchtbar schrecklich lieb haben, auch wenn sie sich den Rest des Jahres nicht mal mit dem Arsch ansehen! Solche Heuchelei widert mich an! Aber so richtig! Mir zumindest stellen sich dabei die Nackenhaare auf. Begleitet wird alles von dem Gefühl, als würde mir eine Pistole auf die Brust gedrückt werden. Es muss ein Fazit vom vergangenen Jahr gezogen werden. Ob es erfolgreich war, Repetition, was hätte anders laufen können. Sich und sein Tun hinterfragen, aus Fehlern lernen und all so ein Mist. Schon jetzt neue Vorhaben fassen, ein besserer Mensch zu werden. Und dann, als wäre das alles unwichtig und nie etwas gewesen, feiert man Weihnachten, um das Jahr zu einem glücklichen Ende zu bringen, ehe der ganze Wahnsinn wieder von vorn losgeht. In mir jedenfalls sträubt sich alles, an dieser Scharade teilzunehmen. Mit Weihnachten habe ich nichts am Hut! Ach ja, ich bin übrigens Hazuki, 34 Jahre alt und Co-Inhaber eines kanadischen Cafés. Letzteres ist auch der Grund, warum ich mich gerade in einem der größten Einkaufszentren befinde, um dem Importladen einen Besuch abzustatten. Schließlich benötigt man in so einem Café massenweise Ahornsirup – selbstverständlich made in Canada. Trotzdem sinkt meine Laune immer mehr gen Null, je weiter die Tage voranschreiten und der Weihnachtstag in greifbare Nähe rückt. Warum das so ist? Das kann ich ganz genau sagen! Es war auf den Tag genau der 25. Dezember letzten Jahres. Das letzte Weihnachtsfest. Ich hatte mir an dem Tag freigenommen, um ihn mit meinem Freund verbringen zu können. Takashi war alles, was ich je wollte. Er war jung, hübsch, quirlig, hatte einen ausgefallenen Geschmack, manchmal war er schüchtern und ich liebte es, Zeit mit ihm zu verbringen. Selbst, wenn sich das nur auf Besuche im Café bezog oder wir uns nach Feierabend nur für ein paar Stunden sahen. Das war alles okay, denn ich hatte auch Verständnis dafür, dass er wenig Zeit hatte, denn sein Studium und die Band, in der er neben dem Studium aktiv war, beanspruchten auch sehr viel Zeit. Trotzdem konnte ich mir eine Zukunft vorstellen. Zusammenziehen, gemeinsame Ausflüge und so weiter. Er hatte nur noch ein paar Monate bis zum Ende seines Studiums und mit seiner Musik lief es auch gut. Nichts sprach dagegen unsere Beziehung zu vertiefen. Immerhin half ich ihn ab und an auch finanziell aus oder vermittelte ihm Kontakte, die ihm weiterbrachten. In meinem Café gingen schließlich viele verschiedene Leute ein und aus. Daher erweitert sich mein Bekanntenkreis ständig. So, und dann kam der 25. Dezember. An und für sich kein Thema. Die Wohnung war geputzt, dekoriert, Plätzchen aus der Konditorei standen bereit und alles war in gemütliches gelbes Licht getaucht. Das Essen war vorbereitet und ich hatte ihm Geschenke gekauft. Nichts Weltbewegendes. Eine Kette und Equipment für seine Gitarre sowie eine Schachtel Pralinen. Wir waren für 19 Uhr verabredet. 20 Uhr saß ich immer noch allein in meiner Wohnung, hatte versucht ihn zu erreichen. Ich machte mir Sorgen, da auch irgendwas hätte passiert sein können. Auch, wenn wir bereits seit über 2 Jahren ein Paar waren, hatte ich seine Familie nie kennengelernt und bei einem Notfall wäre ich wohl der Letzte, der benachrichtigt werden würde. Also war ich umso erleichterter, als er schließlich gegen 22 Uhr an sein Handy ging. Jedoch klang Takashi anders als sonst. „Zuki, du nervst!“, meldete er sich. „Aber wir waren doch verabredet!“, erwiderte ich verwirrt. Und dann kam die Nachricht, die alles kaputtmachte. „Verstehst du nicht? Ich habe keinen Bock mehr auf Verabredungen mit dir. Oder generell auf dich. Es ist Schluss! Melde dich nicht mehr bei mir!“ Und dann hatte er aufgelegt. Es hatte nur ein paar Sekunden gedauert und viele Monate voller Zuwendung, Zuneigung, gemeinsamen Treffen, Liebeleien und Liebesbekundungen waren über Bord geworfen worden. Ich weiß bis heute nicht, was ich falsch gemacht habe, dass ich so abserviert worden bin. Ich wollte es auch nicht hinterfragen. Der Schock sitzt mir heute noch in den Knochen. Immer, wenn ich nun diesen Kitsch sehe, der Weihnachten ankündigt, werde ich an diese Situation erinnert und in mir steigt unbändige Wut auf. Wut und Unverständnis. Diese ganze Liebesnummer ist doch nur eine Farce und ich weiß noch nicht, wie ich dieser Weihnachtsspirale entkommen soll! Missmutig stoße ich mit meiner Schulter beim Vorbeigehen einen dieser verkleideten Weihnachtsmänner an, der sich daraufhin lautstark bei mir beschwert. Ich zeige ihm nur meinen Mittelfinger und gehe weiter zur Treppe. Dieses ganze Weihnachtsfest kotzt mich sowas von an! Aber ich weiß auch nicht, wie ich dem entgehen kann! Knurrig und weiterhin schnaubend, da ich nichts an der Routine dieser Tradition ändern kann, verpasse ich die nächste Treppenstufe, rutsche ab und lande schmerzlich auf dem Boden der Tatsachen. Kapitel 11: Virtuelles Schneegestöber ------------------------------------- Virtuelles Schneegestöber by Masato Watanabe „Wie lange musst du heute denn noch arbeiten?“, fragte der feminin wirkende Mann mit den lagen, grau gefärbten Haaren, die er zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden hatte. Dabei schob er seine leere Kaffeetasse über den Tresen, vor dem er saß. Der großgewachsene blonde Schönling hinter diesem nahm sie sofort entgegen, um sie wegzuräumen. „Ich bin bis 8 eingetragen. Aber ich denke, ich werde danach noch beim Aufräumen helfen“, kam die Antwort, während Shiyu die Ärmel seines weißen Hemdes nach hinten schob, um anschließend die Tasse abzuwaschen. „Du bist auch echt der einzige, den ich kenne, der freiwillig an einem Freitag noch länger arbeitet. Du brauchst echt mal wieder ein Date!“, riet sein Freund ihm. Shiyu kommentierte das mit einem Augenrollen. Das war wieder so ein Thema, das er bestenfalls umgehen wollte. „Willst du noch einen Milchkaffee?“, fragte er stattdessen. Ryu holte sein Smartphone aus seiner Jackentasche, nickte dann. „Ja, für einen Kaffee ist noch genug Zeit. Im Gegensatz zu dir habe ich nämlich für heute Abend eine Verabredung!“ „Oh? Wo geht es denn hin?“, fragte der Barista und bereitete die Bestellung vor. Natürlich würde er einen Teufel tun und auf diese Anspielung eingehen. Ryu war schließlich schon immer gut angekommen. Er war offen, redselig, hatte immer ein Lächeln auf den Lippen. Dazu sah er gut aus und war gebildet. Er hingegen war einfach nur groß, blond und wohnte noch zu Hause. Damit konnte man nicht zwingend jemanden aufreißen. „Kino. Roppongi. Danach vielleicht noch einen Absacker in einer Bar. Aber du lenkst ab, CU!“ „Ich find halt niemanden. Was soll ich denn machen? Is nicht so, dass hier täglich Leute reinspazieren, die man aufreißen kann. Ich arbeite schließlich hier!“ „Du sollst auch niemanden auf der Arbeit aufreißen, sondern wenn du privat unterwegs bist! Aber warte mal! Ich hab da neulich was gesehen!“ Ryu, der sein Smartphone noch in der Hand hatte, tippte nun wie wild auf dem Display herum. „Ah ja, hier! Eine neue Dating-App! Die verspricht, dass man noch vor Weihnachten einen Partner findet! Also, gib mal dein Handy her!“, forderte Ryu und Shiyu gehorchte. Neben der neuen Tasse Milchkaffee gab er seinem Freund auch sein Smartphone. „Ist auch kostenfrei. Also… Nickname: CU und dann deine Mailaddy“, murmelte Ryu und gab die Infos von seinem Kumpel ein. Der verschwand kurz, um einen weiteren Gast abzukassieren. „Shiyu, herkommen! Ich brauch ein Foto von dir!“, übernahm Ryu komplett die Führung und erstellte das Profil für seinen Freund. „Muss das echt sein?“, fragte der aber, doch der Blick des Kleineren sprach Bände. „Ja, ja, schon gut!“ Shiyu gab sich Mühe wenigstens nicht so blöd zu gucken. Wobei er nicht glaubte, dass er damit einen Blumentopf gewinnen konnte. „Och, guck mal! Das Foto ist doch hübsch geworden! Und dein Profil ist nun auch online!“ Ryu klang schon jetzt sehr stolz. Nun aber war es an der Zeit, dem anderen sein Smartphone wieder zurückzugeben. „So, und was mache ich nun damit?“, wollte Shiyu wissen, da über den Bildschirm tausende Schneeflocken wirbelten. „Keine Ahnung! Ich hab die App nicht! Du bist jetzt das Versuchskaninchen!“ Besonnen schlürfte der Grauhaarige von seinem Kaffee. Shiyu aber seufzte nur. „Was ein neumodischer Scheiß“, resignierte der großgewachsene Mann. „Ich weiß nicht, was ich da machen muss.“ Daher wischte er einfach mal über den Bildschirm, aber nichts tat sich. Also tippte er auf den Bildschirm und schon wirbelte eine vereinzelte Schneeflocke auf ihn zu und ein Foto tauchte auf. „Häh? Was denn das für ne Tussi?“, fragte er verwundert nach. Die passte ja so gar nicht zu ihm. „Warte, gib nochmal her!“, bot Ryu nochmals seine helfende Hand an und öffnete dann auch schon das Menü. „Aha, hier kann man noch eingeben, was für einen Partner man sucht! Also, was hättest du denn gern?“ „Groß, hübsch, muss Katzen mögen!“ „Und männlich! Versteh schon!“ Ryu fütterte die App mit noch ein paar weiteren Daten und trank nebenbei weiter seinen Kaffee. „Ehrlich, ich glaub nicht an den Mist. Vor allem bis Weihnachten. Hallo? Das sind nicht mal mehr 2 Wochen! Ich hab 2 Jahre lang keinen brauchbaren Typen mehr kennengelernt!“ „Wir versuchen das jetzt einfach mal! Mehr als nicht funktionieren kann doch auch nicht passieren!“, blieb Ryu optimistisch. Es dauerte noch eine Weile, ehe er mit allen Einstellung durch war. Er wusste zwar nicht, ob es zielführend war so viele Sachen anzugeben, aber er wünschte es seinem Freund schon, dass er mal wieder jemanden kennenlernte und sich verliebte. Da Shiyu mit der Arbeit beschäftigt war, informierte er sich über die App und las sich ein paar Bewertungen durch. Er sah wieder auf, als der andere zu ihm kam. „Und? Hast du es zum Laufen gebracht?“ „Klar! Alles hinterlegt und nun kannst du loslegen. Ich muss nämlich jetzt los!“, sagte der Kleinere. Er legte das Geld für seine beiden Milchkaffees auf den Tresen und rutschte von seinem Hocker. „Halt‘ mich auf dem Laufenden, ob es geklappt hat! Ciao!“ Und mit diesen Worten war er verschwunden und Shiyu blieb mit seinem Smartphone und der neuen App zurück. „So ein Spinner. Als wenn das funktioniert!“ Kopfschüttelnd startete Shiyu die Applikation und wieder erschien das Schneegestöber auf dem Bildschirm. Diesmal aber färbten sich einige der Schneeflocken rot und aus reiner Neugier tippte er auf eine von diesen. Wie auch zuvor öffnete sich ein Foto, diesmal aber von einem recht hübschen Kerl, der zusammen mit seiner Katze für das Bild posierte. Na, vielleicht war die App ja doch nicht so doof! Kapitel 12: Neujahrsküsse ------------------------- Neujahrsküsse by Natsuo Kurokawa 365 verschwendete Tage. Und die paar Stunden vom heutigen Tag. Was für ein scheiß Jahr! Das waren die Gedanken, die dem jungen Yoshi durch den Kopf gingen, als er am letzten Tag des Jahres in einem Club in Shinjuku allein abgestiegen war. Es war nicht die Bar, in die er sonst immer ging. Aber das lag daran, dass er in seiner eigentlichen Stammbar seit geraumer Zeit Hausverbot hatte. Der schwarzhaarige Junge seufzte und sog mit seinen vollen Lippen an dem Strohhalm seines Cocktails. Die gekühlte Flüssigkeit rann seiner Kehle herunter. Auch dieses Gesöff schmeckte nicht so gut wie die Cocktails, die sonst eigens für ihn gemixt wurden. Aber an die kam eh keiner ran. Das lag wohl an dem Barkeeper. Nur ein weiteres Kapitel dieses verfluchten Jahres. Alles aus und vorbei. Da passte dieses zuckersüße Zeug mit hohem Alkoholgehalt sehr gut zu seinem desillusionierten Ich. „Geht alles den Bach runter“, nuschelte er zu sich selbst, und sank etwas mehr in sich zusammen. Während er sein leeres Glas zum Barkeeper schob und ihm mit der Hand andeutete, dass er noch einen wollte sortierte er die roten Schokolinsen aus einer kleinen Schale und legte sie in einer Reihe vor sich hin. Der nächste war dann also sein vierter Drink. Aber sei es drum. Dieses Jahr würde er eh nichts mehr reißen können. Dieses Jahr stand unter keinem guten Stern. So gar nicht. Und wenn er es Revue passieren ließ, dann war ihm einiges total peinlich oder unangenehm. Wieso stolperte er eigentlich ununterbrochen von einer Katastrophe in die Nächste? Es begann damit, dass er unter Zugzwang geraten war. Dabei hatte er sich in den Kopf gesetzt so schnell wie möglich Erfahrungen zu sammeln. Egal mit wem, egal wie. Hauptsache er kannte sich mit Sex und solchen Zeug aus! Herhalten musste sein bester Freund, dem er regelrecht einen Blowjob aufgezwungen hatte. Geändert hatte dies nichts. Die Erfahrung genügte nicht und seine zarten Gefühle für einen anderen Jungen wurden immer stärker. Für den hatte er sich dann regelrecht zum Hampelmann gemacht. Wenn Yoshi daran zurückdachte, krampfte sich sein Magen zusammen. Er war einerseits nicht in der Lage gewesen, mit diesen neuen Gefühlen umzugehen und auf der anderen Seite war er total dumm gewesen, da ihn dieser Kerl zwar seinen ersten Kuss geraubt, aber ihn sonst auf ganzer Linie verarscht hatte. Getrieben von Enttäuschung hatte er diesen Kerl komplett aus seinem Leben gestrichen. Vor allem, da noch weitere Geheimnisse ans Licht gekommen waren. Yoshi zupfte das pinke Schirmchen aus seinem neuen Cocktail und legte dieses auf den Tresen neben sein Glas. Dann angelte er sich mit zwei Fingern die Ananasscheibe vom Rand und steckte sie sich umständlich komplett in den Mund. Mit dicken Bäckchen kaute er, lustlos. Wie ging es dann weiter? Ach, ja, er hatte seine Jungfräulichkeit in einem One-Night-Stand an einem ihm fast Fremden verloren. Tja, so war die Ausgangssituation gewesen, bis er ihn näher kennengelernt hatte. Ein Kerl, locker 10 Jahre älter als er und eine Niete im Bett. Seines Zeichens „sein Barkeeper“ und menschlich gesehen ein Volltreffer. Wäre da nicht diese eine Sache, die nicht lief. Den Fehler hatte er anfänglich bei sich selbst gesucht, sich sogar beim Doktor untersuchen lassen, weil er der Meinung war, dass mit ihm irgendwas nicht stimmen konnte. So viel zu seiner Blauäugigkeit. Trotzdem wollte er „seinen Barkeeper“ nicht einfach aufgeben und hatte er es mit ihm immer und immer wieder versucht, bis es zu dieser verhängnisvollen Nacht kam. Verhängnisvoll darum, da dies wiederum eine Lawine auslöste, die sein gesamtes Leben unter sich begraben hatte. Ähnlich wie ein Skifahrer auf frisch gefallenen Schnee löste eine unbedachte Tat einen ganzen Schneerutsch aus. Er hatte unter Alkoholeinfluss Sex mit einem anderen Jungen aus seinem Freundeskreis gehabt und der hatte ihm gezeigt, dass er nicht der Problemfaktor war. Kurz: er war gekommen! Und wie. Mit dem neuen Wissen bewaffnet, hatte er aber die Arschkarte und wusste nicht, wie er seinem potenziellen Freund beibringen sollte, dass er mies im Bett war. Es war schließlich generell schwer über Sex zu sprechen und erst recht, wenn es nicht lief. Damit überschritt man eine sensible Grenze. Doch dieses heikle Gespräch hatte sich wie von selbst erledigt. Es verbreitete sich wie ein Lauffeuer, dass er mit einem anderen Kerl – der auch noch dazu vergeben war – eine heiße Nacht verbracht hatte. Natürlich verpassten diese Tatsache und ein total unnötiges Geständnis dessen intakter Beziehung den Todesstoß. Wer war schuld? Er natürlich! Und als wäre das nicht genug, erfuhr auch „sein Barkeeper“ hinter seinem Rücken aus zweiter Hand davon. Der hielt mit seinem Wissen nicht lange hinter dem Berg und stellte ihn zur Rede. Damit war die Bombe geplatzt und die Trümmer seines Lebens lagen vor ihm ausgebreitet! Auf einmal war er der miese Ehebrecher und das, obwohl er und „sein Barkeeper“ noch nicht einmal in einer Beziehung miteinander gewesen waren. Natürlich wollte er ihn nicht mehr sehen und noch dazu wurde er hochkant aus der Bar geschmissen, inkl. Hausverbot. Radikaler Schlussstrich. Seine Gefühle aber konnte er nicht leugnen. Und so weinte er nun seiner unerwiderten Liebe zu Masa hinterher, während er sich aus reinen Schuldgefühlen auf so eine Art „Beziehung“ mit seinem Kumpel eingelassen hatte. Also Sex ja, Gefühle nein. Und auch das lief in letzter Zeit nicht mehr so reibungslos, wie er sich das gedanklich ausgemalt hatte. Alles zog ihn nach wie vor zurück zu „seinem Barkeeper“, den er noch nicht einmal mehr sehen konnte, da sich der blöde Türsteher sich ihm immer in den Weg stellte. Das war doch echt ein Teufelskreis. Während Yoshi so seinen Gedanken nachhing und seine Misere erörterte, leerte sich sein Glas immer weiter. Alles in allem sollte man auf diese Weise ein Jahr definitiv nicht beenden und auch kein Neues anfangen. Dem war sich Yoshi bewusst. Also krabbelte er umständlich von seinem Barhocker herunter. „Dann hole ich mir meine Neujahrsküsse eben hier ab!“ Und so mischte er sich unter die feiernde Meute. Kapitel 13: Frost in allen Herzen --------------------------------- Frost in allen Herzen by Masato Watanabe Es war nicht so, dass iZA gern seine Zeit in der Shoppingmall verbrachte. Viel mehr gab es einen Grund, warum er seit sicherlich zwei Wochen fast täglich nach der Schule einen Umweg machte, um sich auf eine der Bänke in der großen Halle zu setzen. Meist las er in seinen Schulbüchern, tat beschäftigt, aber nicht selten schweifte sein Blick ab und er starrte über den Rand seines Buches zu dem beleuchteten Aquarium, welches das Highlight der Halle bildete. Viele exotische Fische tummelten sich in dem riesigen Tank, schwammen von der einen Seite zur anderen und unterhielten die vorbeiziehenden Besucher, die doch nur auf ein weiteres Schnäppchen aus waren. Kaum jemand nahm sich Zeit, die Tiere eingehender zu beobachten. Doch da war dieser Junge. Er war hübsch und einfach anders als die anderen Leute, die hier vorbeikamen. iZA wusste selbst nicht, warum ausgerechnet dieser Typ seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Und schon gar nicht wusste er, warum sein Herz dabei so sehr in seiner Brust schlug. Es war Punkt 15 Uhr und wie jeden Tag erschien er, blieb kurz vor der Bank neben dem Aquarium stehen. Dann stellte er seine Tasche ab, zog eine kleine Box mit Essen aus dieser und bediente sich freudig an den mitgebrachten Speisen. Ab und an war es auch nur ein Sandwich aus einem Supermarkt. Heute aber knabberte er Möhrenstückchen. Irgendwie war es niedlich, wie er mit dicken Bäckchen das Gemüse zerkleinerte, nebenbei die Fische im Aquarium beobachtete. Dazu setzte er sich immer seitlich hin, überschlug seine Beine, wodurch die schweren, schwarzen Boots besonders zur Geltung kamen. Meist trug er sowieso schwarz, von Kopf bis Fuß. Selbst seine Haare waren pechschwarz. Aber genau das mochte iZA. Die feinen schwarzen Strähnchen umrahmten sein Gesicht, unterstrichen seine feinen Gesichtszüge und die mandelförmigen Augen. Besonders niedlich war es, wenn er redete und seine Oberlippe dabei leicht kräuselte. Das hatte er mitbekommen, als er einmal telefonierte. So hatte er auch herausgefunden, dass er Tsurugi hieß. Das war zwar nicht sein richtiger Name, aber das Pseudonym gehörte wohl zu seiner Arbeit. Leider hatte iZA es noch nicht geschafft herauszufinden, was er denn arbeitete. Oftmals ging ihm dabei aber die Fantasie durch. Für welchen Job benötigte man denn auch schon ein Pseudonym? Andererseits arbeiteten hier im Kaufhaus viele Menschen in den verschiedensten Jobs. Und irgendwie lag es nahe, dass er hier arbeitete, denn er kam immer um die gleiche Zeit. Es wäre also gut möglich, dass er seine Mittagspause hier routiniert verbrachte. Einmal war er ihm nachgelaufen, hatte ihn aber am Ende der Rolltreppe verloren. Und so blieb es ein wohl gehütetes Geheimnis, wohin der Hübsche verschwand, wenn er von seiner Bank aufstand. iZA aber wurde nicht müde, ihn zu beobachten. Wie er aß, wie er verträumt den Fischen zusah, wie er konzentriert auf seinem Handy Nachrichten abrief oder kurze Telefonate führte. Auch heute tippte er wieder auf seinem Smartphone herum, nachdem er sein Essen weggepackt hatte. Aber heute sollte auch der Tag sein, an dem iZA endlich seinen Mut zusammennahm und zu ihm ging. „Hey, darf ich?“, fragte der blonde Schüler mit dem femininen Gesicht frei heraus. „Oh! Sorry, ja, klar!“, entschuldigte sich der Schwarzhaarige sofort und zog seine Tasche von der Bank, um für den Jungen Platz zu machen. Dann aber wanderte sein Blick wieder zurück zu seinem Display. iZA nutzte diesen Moment und setzte sich auf die Bank. Sofort stieg ein angenehmer Duft in seine Nase. Männerparfüm. Nicht zu aufdringlich, genau richtig. Unweigerlich musste iZA zu seinem Schwarm gucken, bemerkte nun auch die vereinzelten Muttermale, die seinen Körper zierten. Besonders niedlich war das oberhalb seines Mundes. „Störe ich denn?“, fragte iZA weiter nach. Er konnte beobachten, wie Tsurugi die Worte wahrnahm, dann realisierte, dass er damit gemeint war. Verwunderte Augen blickten ihn an. „Eh… nein, eigentlich nicht“, kam eine zögerliche Erwiderung, die iZA mit einem breiten Lächeln erwiderte. „Das ist gut, weil ich dich etwas fragen wollte!“, erklärte der Schüler. Die Verwunderung des anderen aber stieg weiter. Doch er blieb still. „Nun, ich finde dich anziehend. Und da wollte ich fragen, ob du nicht mal mit mir ausgehen würdest!“ iZA war noch nie ein Freund von langen Reden. Lieber sagte er direkt, was Sache war. Sein Körper kribbelte angenehm, allein davon, dass er hier so nah bei Tsurugi saß. Doch der atmete tief durch, schüttelte dann seinen Kopf. „Nein, tut mir leid. Ich geh‘ nicht mit Jungs aus! Also, das solltest du dir generell überlegen. Irgendwie ist es eklig, einen anderen Jungen anzumachen!“, traf iZA die volle Wucht der Abweisung. Sofort schwand das angenehme Gefühl in seinem Körper. Es war so, als erlosch die Flamme der Liebe, die er für diesen ihm fast unbekannten Jungen empfunden hatte. „Das ist nicht eklig“, versuchte iZA seine Enttäuschung in Worte zu fassen, aber die Abscheu in den sonst so hübschen Augen des anderen sprach eine andere Sprache. „Nein heißt nein! Ich muss jetzt eh weg!“, war das Thema für den Schwarzhaarigen aber erledigt. Und selbst, wenn es eigentlich noch gar nicht Zeit war zu gehen, schnappte sich Tsurugi seine Tasche, stopfte sein Smartphone in seine Jacke und war auf und davon. iZA blieb allein vor dem Aquarium sitzen und starrte auf seine verschränkten Finger. Gerade jetzt kam ihm die Atmosphäre des Kaufhauses unpassend vor. Fast schon wie Hohn sang eine Frau von erfüllter Liebe und alle Shoppingwütigen freuten sich auf das bevorstehende Weihnachtsfest. Aber in seinem Herzen breitete sich in Windeseile die Enttäuschung dieser Abfuhr aus und ließ sein Herz erfrieren. Auf einmal fühlte er sich furchtbar einsam und wünschte sich nichts mehr, als dass alle seinen Herzschmerz mit ihm teilten. Kapitel 14: Das letzte Weihnachtsfest ------------------------------------- Das letzte Weihnachtsfest by Natsuo Kurokawa Wenn ich an das Weihnachtsfest letztes Jahr denke, bekomme ich regelrecht Bauchschmerzen. Zu Hause bei meinen Eltern ist so ein Fest gar nicht vorgesehen, da sie Buddhisten sind. Schön und gut, aber mich an meine Freunde zu einer Weihnachtsparty abschieben war schon nicht nett. Vor allem, weil ich mal so ein Weihnachtsfest haben wollte, wie in diesen amerikanischen Filmen. Alles hübsch geschmückt, Weihnachtsbraten und nicht zu vergessen die wunderschön verpackten Geschenke mit schicken Schleifchen. Dazu Weihnachtsmusik, die durch das gesamte Haus dudelt und ein voll kitschiger Weihnachtspulli gehört auch dazu. Nicht zu vergessen: Kekse! Da bringt mir eine Weihnachtsparty mit alten Freunden aus der Schule nichts. Vor allem, da es dort keine Milch und Kekse gab, sondern nur Alk und Häppchen. Ist halt so, wenn man in einem Izakaya ‚feiert‘. Als Notnagel musste letztes Jahr mein Cousin Aki und sein Filmtrupp herhalten. Ich hatte die vier extra instruiert, wie ich alles gerne haben wollte. Wie schon erwähnt: Weihnachtsbraten, Geschenke, dudelnde Musik. Das kann man sich alles ja vorstellen – wenn man nicht Aki heißt! Von den anderen Witzfiguren will ich gar nicht erst anfangen. Ich musste an dem Tag noch im 100-Yen-Shop arbeiten, habe mich aber bereiterklärt einen Weihnachtskuchen mitzubringen. Ganz kitschig mit Sahne, Erdbeerdeko, hübsch in Weiß und Rot mit einem kleinen Weihnachtsmann aus Zuckerguss obendrauf. Also machte ich mich nach Feierabend auf den Weg zur Konditorei, um den Kuchen abzuholen und schlug mit bester Laune bei meinem Cousin auf. Eigentlich hatte ich große Hoffnung in den Abend gesetzt, da ich recht detailliert mit Aki über meine Vorstellungen geredet hatte. Als mir Reo dann die Tür öffnete, schlug mir bereits eine riesige Rauchwolke entgegen, die sich durch die gesamte Wohnung zog. Aki riss gerade alle Fenster auf und verkündete hysterisch, dass der Braten verkokelt war. Und zwar so richtig. Ich wusste ja, dass Aki mit Kochen nicht viel am Hut hatte, aber die ehemalige Gans ähnelte eher einem Stück Kohle als einem Braten. So ziemlich zeitgleich zu meiner Entdeckung hatte Shohei seinen Finger in das Kartoffelpüree gesteckt, um davon zu naschen. Die Feststellung, dass dieses total versalzen war, folgte ad hoc. Das Essen jedenfalls hatte sich erledigt und wir bestellten kurzerhand Pizza. Und da Pizza ohne Bier und alkoholische Cocktails aus der Dose nicht schmeckte, hatten sich Reo und Meto zum nächsten Konbini auf den Weg gemacht. Ich nutzte die Gelegenheit und erkundete die Wohnung auf der Suche nach der ‚hübschen Weihnachtsdekoration‘. Aber auch da gingen meine Vorstellungen mit denen von Aki sehr weit auseinander. Auf dem Tisch stand eine Schneekugel mit einem Häuschen. Wenn man sie schüttelte, fielen die Glitzerstückchen binnen von wenigen Sekunden wieder zu Boden. Rechts und links neben dem Fernseher hatte mein Cousin zwei kleine, weiße Bäumchen aufgestellt. Die wechselten synchron ihre Farbe von Rot zu Orange, dann Gelb, weiter zu Grün und Blau, um dann wieder bei Rot anzufangen. An der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift ‚Merry Christmas‘. Auch diesem Accessoire sah man an, dass es low budget war. Also generell schien Aki im 100-Yen-Shop das Sortiment einmal aufgekauft zu haben, um es dann lieblos in seiner Wohnung zu verteilen. Der Haufen mit den Weihnachtsmützen, der auf der Anrichte lag, ließ mich stutzen. Das würde nun auch nichts mehr retten. Schließlich hatte es nicht mal zu einer Krüppeltanne gereicht. Letztendlich packte ich meine fein säuberlich eingepackten Geschenke für die anderen auf den Tisch, auf dem bereits andere standen. Andere ‚Geschenke‘, die nicht einmal eingepackt waren, teilweise noch in der Plastiktüte des Billigladens verstaut. Nach Schleifchen konnte ich jedenfalls lange suchen, genau so nach besinnlichen Verpackungen. Ich ahnte schon Schlimmes. Und meine Vorahnung bestätigte sich, als wir alle mit der Pizza und reichlich Alk, Weihnachtsmannmützen auf den Kopf, vor dem TV saßen und uns einen Actionfilm reinzogen. Nackte Weiber, Mord, Verfolgungsjagden, wildes Geballere und schnelle Autos. Alles so gar nicht weihnachtlich. Trotzdem wollte ich mich nicht lächerlich machen und die harten Kerle zu einem kitschigen Weihnachtsfilm mit Rentieren überreden. Es ging also zwangsweise ans Auspacken der Gaben dieser vier Idioten, damit ich diesen Abend schnell beenden konnte. Dies war mir aber auch nicht vergönnt noch ohne ein paar weitere Peinlichkeiten. Wie hätte ich auch glauben können, dass die Geschenkauswahl nur annähernd vernünftig ausfallen würde, wenn die vier ihre Brötchen sowieso mit Perversitäten verdienten? Für die anderen sind solche Sachen vielleicht total natürlich, aber ich lief an wie eine Tomate, als ich explizites Sexspielzeug aus grün glitzerndem Geschenkpapier befreite. Erstens: Wozu brauche ich sowas? Zweitens: Wieso schenkt man so etwas zu Weihnachten? Und drittens: Warum ich? Der Abend war für mich gelaufen. Also beendete ich meine Teilnahme an der Saufparty und verpisste mich. Im Flur sah ich auch noch die Sahnetorte, die ich gekauft hatte und stellte fest, dass diese der Raumtemperatur zum Opfer gefallen war. Das war dann der Tiefpunkt des Abends und ich ging einfach nur nach Hause in mein Bett. Dieses Weihnachtsfest konnte man echt nicht mehr toppen. Definitiv mein Favorit der schrecklichsten Weihnachtsfeste ever. Ein Jahr später befinde ich mich an dem gleichen Ort. Allerdings ist heute einiges anders. Ich muss zum Beispiel heute nicht arbeiten. Vor mir steht ein Glas Milch und auf der Mitte des Tisches ist ein Teller mit selbstgebackenen Plätzchen drapiert. Sogar eine weihnachtliche Serviette liegt darunter. Ich nehme mir einen der Weihnachtsmänner und beiße ihm die Mütze mit dem roten und weißen Zuckerguss ab. Mein Blick wandert zu den Jungen im roten Wollpulli, der vor dem Ofen hockt und dem Braten beim Brutzeln beobachtet. Leise dudelt Weihnachtsmusik im Hintergrund. „Und?“, erkundige ich mich. „Sieht gut aus. Ich denke, dass der bald gut ist. Der Wecker hat ja auch noch nicht geklingelt.“ „Aki und die anderen kommen dann auch?“ „Ja, die hab ich weggeschickt, den Kuchen holen und noch ein paar Zutaten für den Punsch. Das Wohnzimmer haben wir heute Morgen auch schon hergerichtet. Ich hab außerdem schon gesehen, dass das größte Geschenk für mich ist!“ Ich kann ein Grinsen nicht unterdrücken, als sich mein Freund aufrichtet und sich geschmeidig am Tisch vorbeischiebt, um sich auf meinen Schoß zu setzen. „Was ist da denn drin?“, fragt er mich neugierig wie eh und je. „Eine Überraschung für dich, Daichi!“, erwidere ich und halte ihm den Keks hin. Sofort beißt er ein Stück ab, was aber sein Schmollen nicht komplett versiegen lässt. „Du bist so gemein, Kuru-chan!“, beschwert er sich, tupft mir im nächsten Moment aber einen Kuss auf die Lippen. Ja, dieses Jahr wird alles definitiv anders laufen! Kapitel 15: Schneeweiß und Rosenrot ----------------------------------- Schneeweiß und Rosenrot by Masato Watanabe „Ich bin in einer kleinen Hafenstadt geboren. In einer Nacht, als die Gischt den Sand weiß färbte und der Himmel blutrot erstrahlte – darum sind meine Haut weiß und meine Augen rot.“ So romantisch das klang, meine Realität sah schon immer anders aus. Es ist schwierig in einem Land klarzukommen, in dem alle gleich aussehen und eigentlich danach streben, sich von der Masse abzuheben. Aber gehörst du zu den Menschen, die von vornherein anders sind, hast du schon verloren, denn du wirst nie ein Teil der Gesellschaft sein. Wir sind weggezogen als ich noch klein war. Erst später erfuhr ich, dass ich der Grund für diesen Umzug in die Anonymität der Großstadt war. In der kleinen Stadt, in der ich geboren wurde, warfen sie mir immer Seitenblicke zu, tuschelten hinter vorgehaltener Hand und erfanden Geschichten über mich, die mein sonderbares Aussehen erklären sollten. Nicht selten hieß es, die Götter seien mir nicht wohl gesonnen oder auf mir laste ein Fluch. Und so langsam glaube ich das auch. Waren es damals nur die abwertenden Blicke der Bewohner und die zweifelnden Worte, die sich gegen mich richten, so sind es heute Faustschläge, die ich fast täglich in der Schule einstecken muss. Ich kann tun, was ich will, aber ich werde nicht akzeptiert. Erniedrigungen stehen an der Tagesordnung. Ich versuchte, meine Haare schwarz zu färben, trug dunkle Kontaktlinsen, aber das hatte nur zur Folge, dass sie mich auslachten. Der Freak will normal werden! So gab ich es sehr schnell auf, denn meine weißen Haare wuchsen nach und jeder durchschaute den Schwindel. Mit der Zeit schwand die Anonymität der Großstadt, meine Eltern stritten, trennten sich letztendlich. Auch nur meinetwegen und weil sich die Geschichte wiederholte. Menschen können so grausam sein. Wieder war ich der Freak, der Außenseiter, der Sonderling. Meine Mutter heiratete neu, bekam ein zweites Kind, ein Normales. Mein Vater arbeitet nur, schlief sogar in dem kleinen Ramen-Shop, den er betreibt. Ich bin mir unsicher, ob er das tut, weil er will, dass wir gut über die Runden kommen oder weil er mich nicht sehen will. Wobei ich es vorziehe, nicht gesehen zu werden. Irgendwie will ich das letzte Schuljahr möglichst unbeschadet hinter mich bringen. Es sind nur noch ein paar Monate und dann kann ich mich wieder für eine Weile in der Anonymität einer neuen Umgebung verstecken, bis sich das Schauspiel wiederholt. Nur heute meint es irgendwer ganz und gar nicht gut mit mir! Wieder lande ich bäuchlings in dem Papiermüll der Schule, nachdem mir mein selbsternannter Erzfeind mit der Faust ins Gesicht geschlagen hat. „Schade, er wehrt sich immer weniger! So langsam macht das keinen Spaß mehr!“ Schwerfällig drehe ich mich zur Seite und wische mir mit dem Handrücken unter der Nase lang. Eine rote Spur zieht sich über meine weiße Haut. „Dann lasst es einfach sein!“, verteidige ich mich halbherzig. Denn irgendwie hat er recht. Je weniger ich mich wehre, desto kürzer ist mein Martyrium. Es machte nun einmal keinen Spaß, wenn sich das Opfer nicht wehrt und so verliert der Schlägertrupp meist das Interesse und belässt es bei ein paar Schlägen und Tritten. Die Schläge hätten wir für heute eigentlich abgehakt. Ich liege bereits am Boden, im Müll. Wobei es heute erträglich ist, da es sich nur um den Papiermüll der Schule handelt. Bioabfälle sind da viel ekliger! „Ach, halt dein Drecksmaul, Kazuki!“ „Genau! Halt die Schnauze! Sonst lernst du nie, wo Dreck wie du hingehört! Sei dankbar, dass wir es dir zeigen!“ Der Größte der Gruppe holt mit seinem Bein aus und ich sacke in mich zusammen, als er mich ungeschützt in die Seite tritt. Ich bleibe liegen, spanne meinen Körper an, denn aus Erfahrung weiß ich, dass es nicht bei einem Tritt bleibt. Doch wider Erwarten passiert nichts. Ich erwische mich, wie ich blinzele, weil es heute viel länger dauert, ehe sie sich wie ausgehungerte Raubtiere auf ihre Beute stürzen, aber plötzlich liegt der Kerl, der mich eben noch vermöbelt hat, neben mir im Papierhaufen. Instinktiv weiche ich zur Seite. Wir sind nicht mehr allein, aber auch die anderen beiden scheinen nicht zu wissen, wie sie die beiden Typen einordnen sollen, die wie aus dem Nichts erschienen sind. „Hiro-pon, musst du immer so übertreiben?“, fragt ein recht hübscher Mann mit hell gefärbten mittellangen Haaren. Er macht den Eindruck eines Angestellten in dem dunkelgrauen Anzug, den er trägt. Er wirkt kühl und beherrscht, was wohl an seinen hohen Wangenknochen liegt. Aber ich meine, etwas Liebes in seinen braunen Augen zu erkennen. Ganz anders steht es um den Kerl, der direkt vor mir steht. Leger in einen Jogginganzug gehüllt sieht der schon nach Ärger aus. Der schwarze Stoff vermag es kaum, seine riesigen Oberarme zu verhüllen. Untermalt wird der Eindruck durch die an den Seiten abrasierten Haare und die riesigen Tunnel in seinen Ohren. „Ich weiß nicht, was du meinst, Masa-chan! Ich halte doch nur die Stadt sauber und ich meine, dass dieses kleine Dreckstück auf den Müll gehört!“, hält sich der Schwarzhaarige neutral. Er versucht den Eindruck zu erwecken, als hätte er nichts getan, aber wohl alle Anwesenden wissen, dass dies nicht der Fall war. Und auch ich habe keine Ahnung, was ich tun soll, bleibe weiter an meinem Platz sitzen, bis sich derjenige mit dem Namen Masa zu mir nach unten beugt und mir ein Feuchttuch anbietet. Mit großen Augen starre ich ihn an, da ich solche Nettigkeit nicht gewöhnt bin. Zögerlich greife ich nach dem Tuch und wische mir grob das Blut aus dem Gesicht und entferne auch die Blutreste von meinem Handrücken. Derweil macht sich der Muskelprotz einen Spaß daraus, auch die anderen beiden Idioten zu verjagen. Als es ihm gelingt, erklingt ein schadenfrohes, dunkles Lachen, was mich komischerweise glücklich macht. „Geht es dir denn gut?“, fragt Masa nach, als ich einigermaßen bei mir bin und ich nicke. „Geht schon“, murmele ich leise. Aber das schien nicht als Entschuldigung zu ziehen. „Bin es gewohnt“, setze ich nach. Um zu zeigen, dass wirklich alles in Ordnung ist, stehe ich auf und klopfe mir den gröbsten Staub von der Schuluniform. „Masa-chan, der Kleine gefällt mir! Komm, wir gehen was essen! Ich hab Kohldampf!“, entscheidet der Typ mit den Muskeln über mein weiteres Schicksal, denn er legt bestimmend seinen Arm um meine Schulter und bringt mich dazu, einfach mitzugehen. „Hey, ich wollte gerade sagen, dass ich neu an der Schule bin!... Hiro! Nun warte doch! Ey! Ich… unterrichte Sozialpädagogik! Ich kann dir helfen!“, höre ich eine immer verzweifelter werdende Stimme hinter uns. Doch ich werde weitergeführt. „Wir gehen zum Bahnhof. Dort habe ich vorhin ein Schild gesehen. XXL-Menü mit extra Rindfleisch. Weihnachts-Special!“, redet mein Retter auf mich ein. Manchmal ist es vielleicht doch ganz gut gesehen zu werden. Kapitel 16: Nightmare after Christmas ------------------------------------- Nightmare after Christmas by Natsuo Kurokawa Yuuki verließ die Bahn, direkt, nachdem sich die Türen der Chuo-Line geöffnet hatten. Er zog seine Schultern hoch, damit der kühle Wind nicht an seinen Hals kam. Er hasste Winter und er hasste Kälte. Dabei lag nicht einmal Schnee, aber es regnete und das ließ ihn frösteln noch ehe er den Bahnhof verlassen hatte. Missmutig zerrte er seinen Koffer hinter sich über den Bahnsteig weiter zu den Rolltreppen. Dieser Koffer war unhandlich und wohl bemerkt sehr schwer. Und das mitten in der Nacht. Doch das war normal für ihn. An guten Tagen konnte er die letzte Bahn zu sich nach Hause nehmen, an weniger guten Tagen pennte er in einer Karaoke-Box am Bahnhof, bis der erste Zug fuhr. Das waren die Schattenseiten seines Jobs als Host in Kabuki-cho. Gerade war er sich auch unsicher, ob der Inhalt dieses Koffers, den er geräuschvoll über die Blindenstreifen zerrte, nicht auch zu den Schattenseiten gehörte. Nein, er war nicht verreist. Er kam wirklich von der Arbeit. Der Arbeit, zu der er normalerweise nur mit seinem Handy, Schlüssel und seiner Geldbörse ging. Aber es war Weihnachten und Weihnachten war alles anders. Besonders in seinem Job. Nicht nur, dass Ende November die Anzahl der verzweifelten und einsamen Frauen zunahm, nein, diese wurden aufdringlich, wollten ihn zu Weihnachten für sich und jeder meinte, dass er ihn beanspruchen konnte. Yuuki kannte seinen Marktwert und so weigerte er sich jedes Jahr auf ein Neues, ein Einzeldate anzunehmen. Lieber verbrachte er die Zeit bei Gesprächen im Club. Das wiederum führte aber unweigerlich zu diesen schweren Dingen in seinem Koffer: Geschenke. Er kam sich schon fast selbst vor wie Santa, als er das schwarze Ungetüm der Metalltreppe zu seinem Apartment nach oben hievte. Da war er fast schon froh, dass sein Apartment im ersten Stock war. Zwar eine beschissene Lage so nah am Bahnhof, sodass er immer mit Ohrstöpseln pennen musste, aber in seinem Alter durfte man nicht wählerisch sein. Da nahm man das, was man bezahlen konnte. Erleichtert schloss er die Tür hinter sich und schaltete das Licht an. Nach einem kurzen Flackern wurde seine Einzimmerwohnung von Licht durchflutet und er zog sich sein Beanie vom Kopf. Sofort wuschelte er sich durch die pink gefärbten Haare und schälte sich aus seiner Jacke. Geschickt schlüpfte er aus seinen Schuhen und schob sich an dem Koffer vorbei, zog sich sein weißes Shirt über den Kopf, welches er sofort in die Ecke warf, in der sich bereits andere dreckige Kleidungsstücke befanden. Sein sogenannter Wäschehaufen. Der Blick in den Kühlschrank fiel ernüchternd aus, aber er hatte auch keinen Bock sich wieder Ramen zu machen. Daher entschied er sich, dass eine Zigarette vor dem Schlafengehen genug für seinen Magen war. Trotzdem lockte ihn der Inhalt des Koffers wieder zu sich und daher kippte er ihn auf die Seite und versuchte den Reißverschluss zu öffnen, ohne die nasse Plastikhülle der Hartschale zu berühren. Anschließend klappte Yuuki den oberen Teil auf und schon fielen ein paar nett verpackte Dinge aus dem Koffer. Raschelnd. Der junge Host griff nach seiner Zigarette, die er sich zwischen die Lippen geklemmt hatte, und blies den Rauch wieder aus. Er setzte sich bequem im Schneidersitz auf das kühle Linoleum und streckte sich zur Seite, um sich seinen Aschenbecher zu angeln. Dort legte er seine Kippe ab. Gerade benötigte er wohl beide Hände, denn es galt, Geschenke zu öffnen. Recht schnell aber kehrte Ernüchterung bei ihm ein. Es war nicht so, dass er wählerisch war, wenn es um Geschenke ging. Yuuki war auch nur ein Mensch und er freute sich über Aufmerksamkeiten, egal von wem sie kamen. Allerdings waren diese Geschenke seiner Verehrerinnen echt schon hart zu verdauen. Neben massenweise Pralinen und anderer Schokolade, waren auch Sachen dabei von Menschen, die meinten, dass sie ihn ach so gut kannten. Einmal unbedacht geäußert, dass er einen Film mochte, schon bekam er die DVD. Von den üblichen Pflegeprodukten mal ganz zu schweigen. Die sammelten sich in Form von Cremes, Serum, Shampoo, Conditioner und dergleichen stapelweise an. In einem Gespräch mal nebenbei erwähnt, dass er Gucci gut fand, schon bekam er ein Parfüm. Oder auch mehrere. Der Host schnüffelte an dem Zerstäuber und verzog sein Gesicht. Das konnte mit auf den Haufen der Sachen, die er nicht haben wollte. War er undankbar, wenn er die Sachen in Kategorien sortierte? So etwas wie ‚essbar‘, ‚kann ich nicht leiden‘, ‚guck ich mir noch genauer an‘ oder ‚wird gewinnbringend verkauft‘? Yuuki zog nochmals an seiner Zigarette und drückte sie anschließend aus. Er fühlte sich gerade wirklich schlecht. Zwar waren all diese Geschenke extra für ihn gekauft worden, aber sie waren für eine Kunstfigur bestimmt. Eine Kunstfigur, die er selbst erfunden hatte und in deren Haut er schlüpfte, wann immer er seinen Arbeitsplatz betrat. Gespräche, die ein Host führte, über Themen, die ihn eigentlich nicht interessieren. Informationen, die er lieblos weitergab, Interesse, welches er nur heuchelte, weil es sein Job war, den er anscheinend perfekt beherrschte. Kein Geschenk war wirklich für ihn, stillte wirklich SEINE Wünsche. Keines erfüllte seine Ansprüche oder zeigte, dass man ihn wirklich kannte, mochte, liebte. Diese Gewissheit trübte seinen Gemütszustand ungemein. Ob es Karma mit seinem Geschenk genau so erging? Yuuki legte seinen Kopf in den Nacken und starrte seine Zimmerdecke an. Sein Bauch jedoch kribbelte. Sie waren doch nur Arbeitskollegen und er kannte nicht einmal seinen richtigen Namen, nur dieses Pseudonym! Trotzdem hatte er ihm einen Bildband von einem Künstler gekauft, von dem er wusste, dass Karma ihn mochte. Allerdings hatte er es nicht über sich gebracht ihm das Geschenk direkt zu geben. Stattdessen hatte er es einfach unter Karmas Geschenke geschmuggelt in der Hoffnung, dass es so seinen Zweck schon erfüllen würde. Trotzdem machte sich bei ihm nun Ernüchterung breit, wo er sah, was man in seinen Besitz übergeben hatte und wie unsensibel seine Gedanken dazu waren. Gerade fühlte er sich einfach nur ungeliebt und einsam, nicht in der Lage auszudrücken, was seine Sehnsüchte waren. Kapitel 17: Frozen legend ------------------------- Frozen legend by Masato Watanabe Meine Oma kommt aus Sapporo. Ich besuchte sie als Kind immer, wenn es auf Weihnachten zuging. Es waren Ferien und meine Eltern mussten arbeiten. Ich war zu klein, um allein zu Hause zu bleiben, daher ging ich zu ihr, auch wenn ich eigentlich lieber mit meinen Freunden in der Großstadt Zeit verbracht hätte. Trotzdem mochte ich es, die Ferien fernab von dem Weihnachtsstress zu verbringen. Die Welt in Sapporo schien stillzustehen. Das fiel mir immer auf, wenn ich ankam. An zwei Dinge erinnere ich mich aber besonders deutlich: den endlos weißen Schnee und an die Geschichten meiner Oma, die sie mir erzählte, während ich in eine warme Decke gewickelt meinen heißen Kakao schlürfte. Meine Lieblingsgeschichte und wohl auch die einzige, an die ich mich deutlich erinnern kann, ist die von dem Mann aus dem Schnee. Ich weiß nicht, ob sie wirklich so heißt, aber es gibt die Legende, dass ein Mann existiert, der verirrte Wanderer beschützt. Sollte man sich verlaufen haben und in Not geraten, so taucht ein Mann auf, der einen zu einem sicheren Ort bringt. Bis heute weiß ich nicht, ob diese Geschichte auf einer wahren Begebenheit beruht oder einfach nur eine Legende ist. Ich war bestimmt schon seit 5 Jahren nicht mehr in Sapporo. Irgendwann war ich einfach alt genug, um allein zu Hause zu bleiben. Doch gerade jetzt sehne ich mich nach der Ruhe dieses Ortes. Endloses Weiß und alles fernab der hektischen Großstadt, die es zurzeit nicht gut mit mir meint. Mein IT-Studium läuft nicht sonderlich gut, was ich wohl meiner eigenen Faulheit zu verdanken habe. Noch dazu kann ich keine Liebespärchen mehr sehen, die ihre Liebe zu Weihnachten zelebrieren. Ich bin seit über 2 Jahren Single und total neidisch auf all die Menschen, die jemanden haben, der sie in der dunklen Jahreszeit in den Arm nimmt. Offen zugeben würde ich das natürlich nicht. Und als wäre das alles nicht schon ärgerlich genug, hat es mein bester Freund nun auch geschafft, eine Familie zu gründen. Er plant die Hochzeit für das nächste Jahr. Es ist nicht so, dass ich neidisch auf ihn wäre, aber mir kommt es so vor, als entwickeln sich alle Menschen um mich herum weiter, haben laufende Beziehungen, Erfolg im Job oder gründen eine Familie. Nur ich hänge immer noch an der Uni, wohne bei meinen Eltern, eine Beziehung ist nicht in Sicht und ich habe auch absolut keinen Schimmer, wie sich meine Zukunft gestaltet. Manchmal wünschte ich mir, wieder in meine Kindheit flüchten zu können. Damals war die Welt noch in Ordnung. Ich war froh, dass ich Semesterferien hatte und so hielt mich dieses Jahr nichts in der Großstadt. Für mich ging es auf in den Norden – auf zu Oma, den heißen Kakao und den fabelhaften Geschichten. Und noch dazu hatte ich mir vorgenommen, Snowboardfahren zu lernen. Nur leider Gottes hatte ich mir das viel einfacher vorgestellt, als es letztendlich war. Zwar befand ich mich in der Nähe der Stadt, aber heute war kaum eine Menschenseele unterwegs. So viel zu meinem Plan, dass ich einfach jemanden fragen könnte, der es mir zeigte. Nach vielen weniger erfolgreichen Versuchen, bei denen ich meist im Schnee landete, ging die Sonne so langsam unter und ich entschied mich dazu, mich langsam auf den Heimweg zu machen. Doch augenscheinlich hatte jemand einen anderen Plan für mich. Wie auch immer ich es schaffte, bei meinem geplant letzten Versuch fuhr ich wirklich ein paar Meter mit dem Snowboard, aber dann verlor ich erneut mein Gleichgewicht und überschlug mich wie eine Mücke. Schmerz zog sich durch meine Schulter und ich merkte noch, dass ich mich mehrfach drehte, sich die Halterung des Snowboards löste und dann schlug ich hart gegen etwas. Die Welt hatte wieder aufgehört sich zu drehen, als ich im Schnee liegen blieb. Ich öffnete meine Augen, sah den Himmel und die aufziehende Dunkelheit und dann verlor ich anscheinend mein Bewusstsein. Es war so furchtbar kalt und ich wusste gar nicht, wo ich denn war, wie spät es mittlerweile war. Mein Kopf tat weh und mittlerweile war die Nacht hereingebrochen. Mein Körper fühlte sich steif an. Ich fühlte mich nicht in der Lage, mich aufzurichten. Irgendwo kündigten irgendwelche Vögel die Nacht an, zumindest deren Laute konnte ich vernehmen und dann hörte ich Schritte im Schnee. Das Knarzen von Schuhen. Kraftlos öffnete ich meine Augen, drehte meinen Kopf zur Seite und erblickte schemenhaft eine Gestalt. Ein Mann. Er sah aus wie ein Bär. Groß, stark und dann beugte er sich zu mir nach unten. „Der Mann… aus dem Schnee…“, murmelte ich, als ich auf den Arm genommen wurde. Mein Körper fühlte sich unwirklich an, als ich wie eine Feder aufgehoben wurde. Mein Kopf kippte unmittelbar gegen die Brust des Mannes und ich schmiegte meine Wange an den Mantel aus weichem Fell, den er trug. Er war so stark und so viel Wärme ging von ihm aus. Wenn ich mich nicht irrte, roch er nach Sandelholz. Augenblicklich fühlte ich mich sicher. Ich merkte noch, wie wir uns in Bewegung setzten, aber dann übermannte mich die Erschöpfung. Die Kälte hatte sich bereits in meinen Körper gefressen und war mir an die Substanz gegangen. Ich wollte nur noch schlafen. „Oh, du bist ja endlich wieder wach! Wie fühlst du dich, Na-chan?“ Ich blinzelte und sah in das besorgte Gesicht meiner Oma, die sich über mich beugte. Ihre Hand tätschelte meine Wange. Zwar wusste ich nicht, was passiert war, aber an etwas erinnerte ich mich: „Er hat mir geholfen! Ich war in Not und dann kam der Mann aus dem Schnee und hat mich hochgehoben und in Sicherheit gebracht!“, erklärte ich ihr ruhig. In meiner Brust breitete sich eine Wärme aus, die ich vorher noch nie in meinem Leben gespürt hatte. Fast so, als war ein Wunder geschehen und ich war Zeuge davon geworden. Meine Oma aber lächelte mich an. „Aber Natsu, das war doch kein Mann aus dem Schnee. Das war Hiro-kun aus dem Dorf. Ich habe ihn gebeten nach dir zu sehen, als du zum Abendessen nicht da warst. Was machst du auch für Sachen?“ Kapitel 18: Callous ------------------- Callous by Masato Watanabe Als ich das rote Blut an meinen Händen sah, habe ich geweint. Damals war ich vielleicht fünf Jahre alt und schlimm mit meinem Fahrrad gestürzt. Die Verletzungen sind mittlerweile geheilt und zurückblieb nur eine blasse Narbe, die sich über mein Knie zieht. Weiß man nicht, dass sie da ist, so sieht man sie auch gar nicht. Viele Erinnerungen habe ich nicht an meine Kindheit, aber ich kann mich noch an jenen Tag entsinnen, als ich den Jungen, mit dem ich zusammen die Vorschule besuchte, ein letztes Mal sah. Das war sogar außerhalb der Schule, ein zufälliges Treffen unserer Eltern auf der Straße. Sie unterhielten sich und ich weiß nur noch, dass sie über ‚wegziehen‘ redeten. So verlor ich meinen besten Freund. Ich glaube, ich habe geweint. Aber ich weiß es nicht mehr. Trotzdem bin ich der Meinung, dass ich traurig war. Mit zehn verlor ich meinen Hamster Willi. Er war immer da und hörte mir zu, wenn ich die Nachmittage alleine zu Hause verbrachte und die Gepflogenheiten der Erwachsenen auswendig lernte, Verhaltensweisen adaptierte. Und dann kam der Tag, an dem er leblos in seinem Käfig lag, auf der Seite im Sand. Und dann war er weg. Ich weinte, da ich wieder jemanden verloren hatte, der mir nahestand. Meine Mutter schimpfte mit mir, denn Jungen weinen nicht. Ich weinte nicht, als sich meine Eltern stritten. Es ging mal wieder um Geld. Ich weinte auch nicht, als mein Vater meine Mutter schlug und sie mit verheulten Augen vor mir saß, versuchte, ihre blauen Flecken vor mir zu verstecken. Doch die Wunden waren für mich nicht zu übersehen. Trotzdem hatte man mir beigebracht, meine Emotionen zu verstecken, zu unterdrücken, sie niemanden zu zeigen. Ich lachte kaum noch, denn ich hatte nichts zu lachen und weinen durfte ich nicht, selbst wenn ich traurig war, denn das gehörte sich nicht. Klar verspürte ich dieses bedrückende Gefühl in meiner Brust über die Gewissheit, dass ich nun keine funktionierende Familie mehr hatte. Ich empfand Trauer, aber keine Träne floss. Sie ließen sich scheiden, ich blieb bei meiner Mutter. Die Tage verflogen, die Jahre zogen ins Land. Meine Mutter kümmerte sich immer weniger um mich, während ich mich nur noch um meine Freunde kümmerte, die Tage mit sinnlosen Tätigkeiten füllte, die nur dazu dienten, die triste Langeweile zu verbannen. Mein Lachen war künstlich, nie echt. Es machte mir nichts aus, wenn Freunde kamen und Freunde gingen. Ich pflegte ausschließlich oberflächliche Beziehungen, zeigte niemanden das, was sich hinter meiner Maske verbarg. Ich verstand mich mit jedem, mit keinem. So war der Lauf der Zeit. Personen verschwanden, als wären sie nie in meinem Leben gewesen und doch ging es irgendwie weiter. Ein Mädchen trat in mein Leben. Sie war nett anzusehen, aber eigentlich Durchschnitt. Sie war der Meinung, mich zu lieben. Ich wies sie nicht ab, auch wenn ich nicht sagen konnte, dass ich sie liebte. Ich versuchte halt mal diese Sache, die Erwachsene ‚Beziehung‘ nannten. Daraus lernte ich allerdings nur, dass Beziehungen Zeit kosteten und man ständig verfügbar sein musste. Es nervte mich und augenscheinlich fand das Mädchen nicht das, was sie suchte. Wir trennten uns und ich nahm es so hin. Dann war es eben so. Dieses Spielchen wiederholte ich noch mehrfach bis zum Ende der Oberschule. Niemand vermochte, mich zu berühren. Ich ging an die Uni und beobachtete, wie sich Beziehungen entwickelten. Nicht, dass ich in einer steckte, aber die Jungs, mit denen ich abhing, pflegten welche aufzubauen, zu genießen und letztendlich zu zerstören. Es war unterhaltsam mit anzusehen, wie zwei Menschen zusammenkamen, dann aber doch scheiterten. Sei es, weil die Liebe nicht groß genug war, oder die Triebe verrückt spielten und eine dritte Person involviert war. Es gab viele verschiedene Geflechte, die ich in meiner Umgebung ausmachte, wie ein Außenstehender beobachtete. Besser als Filme! Ich selbst fühlte nichts, fühlte mit der Zeit immer weniger. Manchmal kam ich mir vor wie ein Roboter. Nicht einmal zu Mitleid war ich imstande. Einen Fehler konnte ich aber nicht finden. Wie hieß das so schön? Ich war jung und brauchte das Geld? Ja, ich war jung und brauchte definitiv Geld! Mein Vorteil war, dass ich von der Statur sehr nach meinem Vater kam. Ich bin groß und meine Gliedmaßen sind durchtrainiert ohne, dass ich viel dafür tun muss. Meine Sehnsüchte waren ausschließlich materieller Natur, daher fiel es mir nicht schwer, emotionale Aspekte auszublenden. Ich lernte Aki kennen im letzten Jahr auf der Uni. Ein kleiner Typ mit großen Visionen und vielen Ideen. Irgendwie mochte ich ihn. Er vermarktete mich und meinen Körper auf eine Art, die meine Triebe befriedigte, aber meine Gefühle unberührt ließ. Es war ideal für mich, meinen Körper zu verkaufen, arrangierte mich damit, andere für einen Moment zu besitzen und sie dann wieder gehen zu lassen. Ohne, dass sie verletzt werden oder ohne, dass ich verletzt werde. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich gar nicht mehr in der Lage bin, zu fühlen. Alles scheint auf der Strecke geblieben zu sein. Während andere sich streiten, wieder vertragen, sich versöhnen, Beziehungen eingehen, heiraten, Kinder kriegen oder sonst was, bin ich der einsame Wolf, der weiter durch ein Eislabyrinth irrt. Ich bin mir unsicher, ob es einen Ausgang gibt, ob ich diesen überhaupt finden will oder was mit mir seit meiner Geburt her falsch gelaufen ist. Ich weiß, dass ich einmal in der Lage gewesen war, zu fühlen, das auch zu zeigen, doch auf den Weg hierher scheine ich diese Fähigkeit verloren zu haben. Und so beginne ich jeden neuen Tag in einer eisigen Welt, in der vielleicht jemand auftaucht, der es vermag, ein Feuer zu entfachen. Kapitel 19: Neujahrsplanungen ----------------------------- Neujahrsplanungen by Masato Watanabe Mit einem leisen Platschen fiel noch ein Stück Rindfleisch in den Topf mit kochender Brühe, der auf dem kleinen Tisch in der Mitte des Zimmers stand. Dabei schwappte sogar die Flüssigkeit leicht über. „Ups!“, kommentierte Aryu, lachte aber sofort wieder und griff nach einem Tuch, um das kleine Malheur zu beseitigen. „Da hat jemand wohl zu viel getrunken?“, fragte der schwarzhaarige Junge ihm gegenüber mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. „Nur ein bisschen viel Punsch!“, antwortete Aryu freudig und besah sich die Stückchen Gemüse und Fleisch, die an der Oberfläche schwammen. Augenscheinlich brauchten die noch etwas. „Ich finde es super, dass wir das Zimmer umgeräumt haben! Nun haben wir ganz viel Platz!“, sagte der blonde Schüler begeistert. Mit seiner Hand tätschelte er den neuen Tatamiboden, den sie auf einer Hälfte des Zimmers ausgelegt hatten. Demonstrativ ließ er sich zurückfallen und streckte seine Arme aus, um noch einmal zu demonstrieren, wie viel Platz sie doch nun in ihrem Internatszimmer hatten. Kazuya lachte auf. „Du bist so ein Kasper!“, meinte er und griff nach seinem Bier. Natürlich hatte er dem anderen nicht abschlagen können, ihr Zimmer umzugestalten. Und das noch vor Ende des Jahres. Dennoch blickte er zu der Seite des Zimmers, an dem ihre zwei Betten nebeneinander eine große Fläche bedeckten. Damit konnte er arbeiten. „Gar nicht! Du hast gesagt, wir sollten Silvester ordentlich feiern! Mit Alk und Essen und dieser Musiksendung!“ Aryu kicherte. Er rollte sich auf den Bauch und krabbelte ein Stück über den Boden weiter in Richtung der kleinen Küchenzeile. Dort hielten sie den Punsch weiterhin heiß und er brauchte definitiv Nachschlag. „Du auch noch?“, erkundigte sich der Jüngere und zog sich an der Arbeitsfläche nach oben. Dabei machte er einen erbärmlichen Eindruck, aber vor Kazuya musste er sich nicht verstecken. „Hab‘ noch Bier! Schieß‘ dich ja nicht ab! Ich hab‘ noch Pläne mit dir!“, ermahnte Kazuya seinen besten Freund. Er beobachtete ihn weiter, strich nebenbei mit seinem Zeigefinger den Rand seiner Bierdose nach. „Nein, nein! Mach‘ ich nich! Aber das Zeug ist echt gut!“ Etwas unbeholfen füllte Aryu sein Glas nach und stellte es auf dem kleinen Tisch ab, schob dabei eine der Platten mit dem dünn geschnittenen Fleisch zur Seite. Dann ging er um den Tisch herum und kniete sich hinter Kazuya. An dessen Rücken schmiegte er sich an, indem er den Schwarzhaarigen von hinten umarmte. „War doch keine schlechte Idee sich mit den Leuten aus der Oberstufe gut zu stellen. So kommen wir immer kostengünstig an das beste Zeug ran!“ Von den älteren Schülern konnte man eben doch lernen, vor allem aus Aryus Sicht, der keine Schandtat ausließ. „Wie gut, dass dir niemand widerstehen kann! Das macht einiges sehr viel einfacher!“, kommentiere Kazuya und lehnte sich in die Umarmung. Es kam oft vor, dass sich der andere auf diese Art an ihn schmiegte. „Hm, is schon nützlich, wenn einen alle aus der Hand fressen! Aber nächstes Jahr feiern wir in Miami! Oder in der Karibik! Auf ‘nem Hausboot oder sowas!“, schmiedete Aryu wieder einen seiner fantastischen Pläne. Dabei schmiegte er seine Wange an den Rücken des anderen, der dies nur mit einem Grinsen kommentierte. Mit Aryu wurde es eben nie langweilig, daher verwunderte es ihn nicht, dass der Blonde seine Hand in seinen Schritt schob, um ein wenig zu fummeln. „Kein Skiurlaub?“ „Nein! Da isses kalt!“, widersprach der Blonde sofort. „Verstehe. Aber dabei bist du gerade doch ziemlich heiß! Sicher, dass du keine Pause machen solltest?“, fragte Kazuya besorgt. Als Quittung biss ihn Aryu in den Nacken, um ihn zu zeigen, dass er ihn nicht weiter bevormunden sollte. „Ich bin immer heiß!“, kam nun auch noch der zu erwartende Widerspruch und schon krabbelte Aryu recht ungelenk neben ihn und schnappte sich seine Stäbchen. Mit denen angelte er etwas Fleisch aus dem Topf und patschte dieses in die Schale mit der Sesamsoße. „Natürlich bist du das!“, erwiderte Kazuya in einem verführerischen Ton. Aryu konnte ihm nur selten böse sein. Immerhin kannten sie sich nun schon gefühlt ein Leben lang. Er witterte seine Chance und beugte sich zu seinem Freund und öffnete seinen Mund. Der folgte der Aufforderung und steckte ihm das Stückchen Fleisch in den Mund. Genüsslich kaute er, während Aryu sich selbst ein weiteres Stück Fleisch aus dem Topf angelte. „Definitiv Ausland! Also für die Ferien. Und dann müssen wir auch mal gucken, an welche Uni es uns verschlägt. Strand wäre geil! Surfen und Baden und Sonnen!“, schwärmte er und griff nach seinem Punsch, von dem er vorsichtig nippte. Immerhin war der heiß. „Och, mir ist das eigentlich egal, wohin wir gehen, solange wir zusammen bleiben!“, sagte Kazuya ernst. Aryu aber lachte nur wieder und strahlte ihn an. „Das war ja auch der Plan! Aber über ein Haus am Strand sollten wir schon mal nachdenken!“, warf Aryu einen erneuten Gedanken ein. „Aber nicht mehr dieses Jahr!“, scherzte Kazuya, da er diese Pläne und sprunghaften Gedanken von seinem Freund nur zu gut kannte. Nicht einfach so war er in der Schulband gelandet und Aryu hatte auf einmal eine Anmeldung in der Koch-AG abgegeben. Abzusehen war das nicht. „Aber nächstes! Oder übernächstes!“, sinnierte der Blonde. „Morgen gehen wir aber erstmal zum Schrein! Gleich kurz nach 0 Uhr! Segen abholen! Ich habe sehr viele negative Energien zu kompensieren!“, kicherte der Jüngere, da sich im vergangenen Jahr seine Schandtaten gehäuft hatten. Etwas göttlicher Beistand schadete da sicherlich nicht. „Also Aryu, ich muss da noch ganz viele andere Sachen kompensieren! Der Schreinbesuch muss warten!“, gab Kazuya mit einem süffisanten Grinsen zurück. Verführerisch beugte er sich zu seinem Nebenmann und verschloss dessen Lippen mit seinen eigenen. Kazuya hatte eben auch seine ganz eigenen Gedanken und Pläne. Es war nicht schwer zu erraten, dass Aryu darin eine wichtige Rolle spielte. Kapitel 20: Frozen in time -------------------------- Frozen in time by Natsuo Kurokawa „Takashima-sensei, es ist angekommen!“, sagte der Mann in weißen Kittel, als er das private Büro seines Vorgesetzten betrat. Der Angesprochene sah hinter seinem Computer auf und zog sich die Brille von der Nase. Die steckte er sich in die Fronttasche seines Kittels und stand auf. „Ist alles vorbereitet? Diesmal darf nichts schiefgehen!“, äußerte sich der Wissenschaftler kritisch, während er zur Tür ging. „Die Vorbereitungen sind abgeschlossen. Sobald der Proband angeschlossen ist, können wir den Aufwachprozess einleiten!“, bekam Kouyou Takashima einen weiteren Bericht. Er nickte und ging zusammen mit dem anderen den langen Korridor entlang, ehe er das sterile Labor betrat. Die hohe Halle war bis unter die Decke vollgestopft mit verschiedenen Gerätschaften. Hier und da leuchteten Lämpchen. Takashima jedoch ging zielstrebig auf einen seiner Mitarbeiter zu, während das Echo seines Schrittes durch den Raum hallte. Kommentarlos wurde ihm ein Tablet überreicht. Der Wissenschaftler setzte sich seine Brille wieder auf, überflog die Informationen, die für ihn dort aufbereitet worden waren. „Hara Toshimasa. Männlich. 28 Jahre alt am Tag x.“ „Verstehe“, murmelte der großgewachsene Mann und strich sich seine langen Ponyfransen aus dem Gesicht. „Eingefroren vor 97 Jahren. Kühlung konnte durchgehend gewährleistet werden. Äußerlich keine Beschädigungen. Keine Vorfälle während des Transportes bekannt. Zuletzt war er eingelagert in Halle B2 – Arktis“, erklärte einer der Mitarbeiter. Takashima aber reichte nur das Tablet zurück und trat an die Kapsel, die mittig im Raum aufgestellt worden war. Mit seiner Handfläche wischte er über das Sichtfenster und beseitigte so das Kondenswasser, welches sich gesammelt hatte. Schließlich warf er einen Blick auf den Mann, der wirkte, als würde er friedlich schlafen. „Auch einer, dieser neureichen Schnösel, die sich einen Trip in die Zukunft erkauft haben?“ „Zu den Umständen seiner Teilnahme sind keine Daten vermerkt. Seine Herkunft ist gänzlich unbekannt. Keine persönlichen Notizen vorhanden!“, zitierte einer der Mitarbeiter die ihm vorliegende Akte. „Blutgruppe?“, erkundigte sich Takashima. „B. Genug Blutreserven sind vorrätig.“ „Perfekt. Dann schließen wir ihn an. Auftauprozess einleiten! Hautprobe entnehmen, um den Alterungsprozess zu simulieren. Blutprobe anweisen. Hirnströme stetig messen, sobald wir sie haben. Vorab elektrische Impulse auf 10 %“, gab der Wissenschaftler seinem Team weitere Befehle. „Nährsalzlösung mit erhöhter Sättigung!“ Ein verheißungsvolles Lächeln legte sich auf die Lippen des Mannes. „Diesmal muss es klappen!“, wisperte er ehrgeizig und besah sich noch einmal die feinen Züge des Mannes in der Kapsel. Er war besonders hübsch. Gleich begann sein Magen zu kribbeln. Nach all den Rückschlägen der letzten Wochen musste er diesen Jungen wieder zum Leben erwecken! Es war seine Berufung, Gott zu spielen und dieses Projekt lag ihm sehr am Herzen. Es fehlte nur noch ein kleines Stück! Da war er sich sicher. Mit jedem neuen Versuch kam er der Erfüllung seines Traumes näher. Und bei diesem Exemplar hatte er ein gutes Gefühl. Jetzt musste er nur noch geduldig sein. Aber gerade das fiel dem jungen Wissenschaftler schwer. Die Stunden zogen sich hin und wurden zu Tagen. Er nächtigte in seinem Büro, da er kein Stadium des Auftauprozesses verpassen wollte. Auch seine Angestellten waren rund um die Uhr bei dem neuen Probanden. Wie ein Tiger lief Takashima vor der Kapsel auf und ab, überprüfte die Daten, die ihm immer wieder vorgezeigt wurden. Alles lief wie immer. Wie schon bei den anderen seiner Versuche, die dann aber wegen irgendeiner Ungereimtheit scheiterten. Entweder wachten die Probanden gar nicht auf oder es kam zu Organversagen. Doch mit jedem gescheiterten Versuch erlangte er neue, interessante Informationen, die er benutzen konnte, um den Fehlerquotienten weiter zu senken. Die Maschine vor ihm gab einen Signalton von sich und sofort sah er auf. „Takashima-sensei, wir haben einen Pulsschlag! Sehr schwach, aber er ist da“, kam die Info von seinem Mitarbeiter. „Sofort die Temperatur im Inneren erhöhen! Wir müssen sichergehen, dass die Organe nicht nur teilweise auftauen. Umgehend eine Injektion vorbereiten!“, sagte der Wissenschaftler und bekam eine Spritze ausgehändigt. Die setzte er an und spritzte die Lösung in das Innere der Kapsel. Er konnte beobachten, wie die rote Flüssigkeit durch jede Pore von dem menschlichen Körper aufgesaugt wurde. Fast wie ein ausgetrockneter Schwamm, der Wasser zog. „15 Minuten. Aufzeichnungen fortführen, haltet mich auf dem Laufenden, sollte es zu Veränderungen kommen. Propofol vorbereiten und die Narkose einleiten!“, gab er weitere Anweisungen und begab sich zu dem Mitarbeiter, der die Vitalfunktionen überwachte. Dazu stieg er einer metallenen Treppe nach oben und heftete seinen Blick auf den Monitor. „Okay, verstehe. Sauerstoffsättigung erhöhen. Stufenweise je um 1 % pro Minute. Vorerst für 10 Minuten. Tauwasser weiterhin zu 90 % herausfiltern.“ Takashimas Geist war komplett auf die Zahlen auf den Monitor fokussiert, während er das ruhelose Klopfen seines Herzens versuchte zu ignorieren. Aber seine Aufregung stieg unaufhörlich. Wieder trat er zurück an das Geländer und sah von oben herab auf die Kapsel inmitten des Raumes. Ob sich die Menschen damals das so vorgestellt hatten? Sicherlich dachten sie, dass die Leute einfach so auftauten und damit hatte es sich. Wie vermessen. „Takashima-sensei, Code Red!“, schrie auf einmal einer der Weißkittel. Takashima wirbelte herum, da auch die Maschinen verrückt spielten und die Warnsignale sich überschlugen. „Die Blutsättigung ist nicht mehr gegeben. Anscheinend eine Verletzung, durch die Blut austritt! Kritisch, da der Blutkreislauf noch nicht 100 % wieder gewährleistet ist!“, kam die Erklärung. Sofort stürmte Takashima der Metalltreppe wieder nach unten. „Blutreserven bereitstellen!“, schrie er durch die Halle und erreichte die Kapsel. Sofort löste er den Verschluss dieser und zerrte an der Tür. „Was tun sie da? Es ist zu früh, die Kapsel zu öffnen?“, widersprach einer der Mitarbeiter, doch der Wissenschaftler reagierte nicht. Er zerrte mit voller Kraft an der angerosteten Tür und bereits jetzt lief die Nährsalzlösung aus dem Inneren der Kapsel aus. Mit einem weiteren Ruck öffnete sich die Tür und ein ganzer Schwall kam ihm entgegen. Aber er störte sich nicht weiter daran. „Wir müssen sofort handeln, sonst verlieren wir ihn!“, wurde Takashima panisch. Er sah an dem jungen Mann auf und ab, erkannte aber, dass Blut an seinem Bein nach unten rann. „Verdammt! Wir haben eine Schusswunde! Sofort den Fremdkörper entfernen! Ich brauch das Besteck! Klemmt die Blutkonserven an!“, brüllte Takashima weitere Anweisungen an sein Personal, dass wie Arbeiterbienen ausschwärmte. Derweil hockte er sich vor den Proband und schob die durchnässte Hose des anderen nach oben. Schubweise quoll weiteres Blut aus der Wunde. Klirrend wurden ihm die notwendigen Utensilien auf einem Metalltablett gereicht, während ein anderer Mann provisorisch die Blutzufuhr am Oberschenkel abband. Takashima hingegen nutzte ein Spray, welches er auf die Wunde auftrug, dann ging es schnell und er entfernte den Fremdkörper und schmiss ihn auf das Tablett. Er säuberte die Wunde mit Hilfe der bereitgelegten Utensilien, während zwei andere Mitarbeiter sich an den Armen des leblosen Körpers zu schaffen machten und Zugänge legten. „Keine Datenübermittlung möglich. Wir müssen zu kompletter manueller Versorgung übergehen!“, kam die Information von einem der Mitarbeiter vor den Monitoren. „Verstanden. Bringt die Geräte her!“, willigte Takashima ein und erhob sich wieder. Besorgt sah er den jungen Mann an und hoffte inständig, dass er vielleicht schon in ein paar Stunden in der Lage dazu war, ihm seine Geschichte zu erzählen. Kapitel 21: Wenn der Schnee sich verfärbt ----------------------------------------- Wenn der Schnee sich verfärbt by Natsuo Kurokawa Natürlich. Dezember. Und mal wieder eines dieser Jahre, in denen Schnee in Tokio fällt. Schnee ist hier generell selten. Wahrscheinlich weil der Smog dick in den Straßen der Stadt hängt, sodass Eiskristalle nicht den Weg bis nach unten finden. Eigentlich mochte ich Schnee immer. Schnee ist Wasser, nur gefroren. Und ich trage nicht umsonst den Spitznamen ‚Sui‘. Unruhig rutsche ich auf der glatten Sitzfläche meines Hockers in dem kleinen Café in Shibuya hin und her, während ich den fallenden Schnee durch die Fensterfront beobachte. Der angenehme Geruch meines heißen Milchkaffees steigt mir in die Nase. Eine Frau betritt mein Sichtfeld. Sie bleibt stehen, da sich die Leine zu ihrem Liebling gespannt hatte. Nun wandern auch meine Augen zu ihrem Hund. Doch der markiert lediglich das Straßenschild als sein eigen und tippelt mit seinen kurzen Beinchen weiter den hochhackigen Schuhen seines Frauchens hinterher. Mein Blick allerdings wandert zurück zu der Stelle, an der klein Pfiffi eben Halt gemacht hatte. Unaufhaltsam breitet sich dieses Gefühl der Melancholie in meiner Magengegend aus, krabbelt weiter nach oben und schon finde ich mich gedanklich in jenem Ambiente vor 4 Jahren wieder. Der Bass hämmerte, so sehr, dass ich ihn in meinem gesamten Körper spüren konnte, auch wenn sich die Wellen wohl nur auf mein Zwerchfell auswirkten. Der Alkohol hingegen, der an diesem Abend geflossen war, wirkte sich vorwiegend auf meinen Gemütszustand aus. Ich war ausgelassen, und das, obwohl diese Studentenpartys noch nie mein Fall waren. Aber an jenem Abend hatte ich mich dazu überreden lassen mitzukommen. Wir waren in einem Gasthaus, in denen die Austauschstudenten untergebracht waren. Sie interessierten mich nicht, da ich nur deinetwegen dort war. Du. Ryo-chan. So, wie ich dich liebevoll nannte, denn wir verstanden uns seit dem ersten Tag an der Uni ziemlich gut. Zumindest dachte ich das. Oder hoffte ich. Also, viel mehr wünschte ich mir, dass du genau das sahst, was ich meinte, in dir zu sehen, denn ich weiß, dass ich mehr wollte, je länger wir uns kannten. Da sah ich auch über deine merkwürdig geformte Nase hinweg. Oder deine Eckzähne, die aussahen wie Fangzähne eines Vampirs. Auch deine unangebrachten und oft perversen Witze überging ich galant, denn ich meinte, dass irgendwo hinter dieser chaotischen Fassade ein weicher Kern stecken musste. Selbstverständlich war ich der Meinung, dass ich der Auserwählte war, dem der Zugang zu diesem gewährt werden würde. An diesem Abend, in dieser Nacht, kam alles zusammen. Das Haus brannte vor feierwütigen Teenagern, der Alkohol floss, es wurde ausgelassen getanzt und wer eine Abkühlung von der aufgeheizten Stimmung nötig hatte, ging raus in den kleinen Vorgarten oder stellte sich zum Rauchen auf die unbefahrene Straße vor dem Gebäude. So auch wir. Es hatte geschneit, unaufhörlich seit dem Nachmittag, sodass eine dünne Schneedecke auf der Straße und auf den Kiefern lag. Hier und da zogen sich dünne Spuren von Fahrradreifen durch den frisch gefallenen Schnee. Der Boden glitzerte von den Reflexionen der Straßenlaternen. Mir war so unglaublich warm und meine Bewegungen waren unkoordiniert. Wie ich zu der Kippe gekommen bin, ich die geraucht hatte, wusste ich selbst nicht mehr. So einiges was in den Stunden davor passiert war, war an mir vorbeigegangen. Mein Zeitgefühl hatte ich total verloren. Aber dann lehnte ich mich an deinen Oberarm und es war, als erwachte mein Gehirn aus seinem Dornröschenschlaf. „Du, Ryo-chan, ich glaube, ich mag dich mehr! Nein! Ich weiß, dass ich dich mehr mag!“ Ja, genau so gestand man dem Objekt seiner Begierde seine Gefühle nicht. Und noch weniger schmiss man seine Kippe auf den Boden, um seinem potenziellen Freund einen Kuss auf die Lippen zu geben. Und gleich noch einen. Aber komischerweise war es genau dieses Szenario, in dem man einen Kuss zurückbekam. „Ich… dich dann wohl auch!“ Das waren die unsicheren Worte, die an mein benebeltes Hirn weitergeleitet worden waren. Klar merkte ich auch im Rausch die Unsicherheit dahinter, machte mir aber keine weiteren Gedanken darüber, denn viel zu verführerisch war es, diesen sündigen Lippen noch einen Kuss zu stehlen. Bedingt durch den erhöhten Alkoholkonsum und durch dieses Geständnis sprudelten meine Glücksgefühle nur so über. Ich lachte mit dir, genoss die unbeschwerte Zeit, wich nicht mehr von deiner Seite und meinte, mein Ziel erreicht zu haben, als du meinen Namen in den Schnee gepinkelt hast. Der Schnee verfärbte sich gelb, darunter kam Sekunden später der dunkle Asphalt wieder zum Vorschein. Und dann kam der Morgen danach. Von der Euphorie der Nacht war nicht mehr viel übrig geblieben. Mies gelaunte Alkoholleichen überall. Stechende Kopfschmerzen. Ein Hamster auf der Zunge. Überall lagen leere Dosen oder Flaschen. Von genießbaren Essen keine Spur, wobei das flaue Gefühl in meinem Magen davon eh nichts gehalten hätte. Von der Magie der Nacht war nicht viel übrig geblieben und auch der Schnee vom Vortag war geschmolzen. Mein Name ebenso verschwunden. „So etwas habe ich nie gesagt!“ Mit diesen Worten war zwischen Ryoga und mir auch alles gesagt. Selbst heute breitete sich der bittere Beigeschmack der Enttäuschung in meinem Mund aus, wenn ich daran zurückdenke. Schnell versuche ich diesen und die Erinnerung an eine unerwiderte Liebe mit einem großen Schluck von meinem Milchkaffee wegzuspülen. Und trotzdem sucht mich diese Erinnerung immer wieder heim, sobald ich gelben Schnee am Straßenrand sehe… Kapitel 22: Der Mäusekönig -------------------------- Der Mäusekönig by Natsuo Kurokawa Das bin ich: Musiker in einer aufstrebenden Band mitten in Tokio. Nicht, dass es schon immer mein Traum gewesen wäre, Musiker zu werden, aber ich beschwere mich sicherlich nicht. Ich habe keine festen Arbeitszeiten aber dafür ‘ne Menge Spaß bei den Auftritten und die anderen Bandmember sind auch gar nicht mal so übel, wenn man ihre Macken einfach ausblenden kann. Es macht mir Spaß, ein Idol zu sein. Der coole Typ auf der Bühne, den jeder zum Freund haben will. Noch dazu kann ich übel coole Klamotten anziehen und mich hübsch machen lassen für die Auftritte, Videodrehs oder Fotoshootings. Alles in allem: Es ist klasse in die Rolle des coolen Bassisten zu schlüpfen und eine unbeschwerte Zeit zu haben. Das Geld stimmt natürlich auch! Und das da bin auch ich! Der Typ mit dem verwuschelten Haaren und den dunklen Augenringen, der gerade seinen heißen Kakao geleert hat und jetzt nochmal sein Kopfkissen aufschüttelt, um endlich den Schlaf der Gerechten schlafen zu dürfen. Der Tag war anstrengend und ich bin ziemlich geschafft. Nur irgendwie bin ich skeptisch, ob meine Nacht so erholsam wird. Seit der Winter Einbruch gehalten hat, träume ich jede Nacht von sehr merkwürdigen Dingen. Zum Beispiel spielte ich in einem Traum auf einmal in einer Serie mit, die ich mir Tage zuvor angesehen hatte. Entsprechend war ich in irgendwelche Intrigen involviert und am Morgen nach dem Aufwachen total gerädert. Fraglich, in was für einer Traumwelt ich mich in ein paar Minuten wiederfinden werde und wie merkwürdig es diese Nacht wird. Nur eins weiß ich: Es ist sehr anstrengend nicht zu wissen, was Traum und Realität ist. Da sind wir auch schon. Ich sitze zusammen mit meinen Bandkollegen an einem großen Tisch in einem weißen Raum. Zwischen uns auf dem Tisch liegt ein Stapel Karten und ich bemerke, dass ich einen Fächer mit 10 Karten in der Hand habe. Oh, anscheinend spielen wir heute zusammen analoge Spiele! Ich werde angesehen und entscheide mich dafür, erstmal eine Karte zu ziehen. Mich lacht ein Joker an und auch, wenn ich die Darstellung auf der Karte gruselig finde, behalte ich die Karte und entscheide mich dafür, die Herzdame wegzuwerfen. Es folgt Gelächter. „iZA hat verloren!“, ärgert mich Ryoga und ich starre auf die weißen Karten in meiner Hand. Vehement versuche ich mich daran zu erinnern, wie das Spiel geht, welches wir hier spielen. Aber das scheint vergeudete Liebesmüh zu sein, denn vor mir ist ein neues Spiel regelrecht aus dem Tisch gewachsen: ein Turm aus Holzklötzen. Oh! Ich weiß, wie dieses Spiel funktioniert! Nur nicht den Turm umwerfen! Das bringt Unglück! Die Karten sind schnell vergessen, als ich das erste Sushi aus dem Turm ziehe und wieder oben auflege. Das gehört so, da bin ich mir ganz sicher! Nein, es ist nicht merkwürdig, dass sich die berührten Holzklötze in Essen verwandeln. So gesellen sich neben mein Lachssushi ein Schokoriegel und daneben ein Keks. Der Turm steht. So geht es ein paar Runden weiter und dann bin wieder ich dran. Doch kaum angefasst, fällt der Turm in sich zusammen und ich breche auf dem Tisch zusammen. Schmollend sehe ich auf die überall verteilten Steine und spüre schließlich eine Hand auf meinem Rücken. Als ich aufblicke, sehe ich, dass es Kouryu ist, der mich trösten will, aber ich verstehe nicht, warum er ein Mäusekostüm trägt. Sein Gesicht ist von grauem Stoff eingerahmt und er hat zwei runde Ohren. Auch Schnurrhaare sind mit schwarzen Strichen auf seinen Wangen angedeutet. Als ich etwas dazu sagen will, grinst er mich an und steckt mir ein Stückchen Käse in den Mund. Willig nehme ich es entgegen und kaue genüsslich. Vielleicht war das nur eine Nettigkeit, um mich von meinem Versagen abzulenken, aber kurz darauf schwirrt mein Kopf. Mein Mund ist trocken und ich stehe auf, um Wasser zu holen. Jedoch stolpere ich zur Seite und stütze mich am Tisch ab, sehe wieder Kouryu vor mir. Er trägt einen roten Umhang mit hohem Kragen und weißen Fellbesatz. Zwischen seinen Ohren sitzt eine aufwändig verzierte Krone. Mit einem Zepter deutet er auf mich und dann werde ich gepackt. Sie heben mich unter den Armen hoch und tragen mich weg. Raus aus der Tür. Ich verliere jegliches Zeitgefühl und finde mich in einem heruntergekommenen Kerker wider, in den sie mich schubsen. Hinter mir schließen sich quietschend die Gitterstäbe. Als ich an mir nach unten sehe, bemerke ich, dass ich wie ein Bettler gekleidet bin. Ein cremefarbenes Gewand, durchzogen von Dreck. Und auch meine Schuhe strotzen nur so vor Löchern. „Na, hat dich der Mäusekönig auch gefangen genommen?“, werde ich angesprochen und blicke zur Seite. Dort sitzt Tsurugi auf einem Strohballen, eine Akustikgitarre auf dem Schoß und stimmt ein trauriges Lied an. „Gefangen“, beginnt er zu singen und wippt im Takt mit seinem Kopf. „Ohne Ausweg!“ Begleitet werden seine Worte von ein paar langsamen Gitarrenklängen, die die bedrückende Stimmung im Kerker nur noch mehr untermalen. Ich kann nichts anderes tun, als hier stehenzubleiben und seiner Darbietung zu lauschen. „Sei auf der Hut, es dürstet ihm nicht nur nach deinem Blut!“ Tsurugi beginnt schneller in die Saiten zu hauen und die Melodie schwindet fast komplett, verleiht seiner Geschichte mehr Dramatik. „Er wird nach dir Haschen, um dich mit Haut und Haar zu vernaschen!“ Ich öffne meine Augen und muss verwundert feststellen, dass ich in meinem Bett liege. Grelles Licht sucht sich seinen Weg in mein Schlafzimmer und erst jetzt bemerke ich, was mich aus meinem Schlaf gerissen hat. Mein Smartphone vibriert wie wild auf der Matratze neben mir. Noch schlaftrunken nehme ich den Anruf entgegen. „Guten Morgen! Das Instore heute wird total cool! Kouryu-kun hat eine Überraschung für uns!“, schlägt mir Ryogas tiefe Stimme entgegen. „Viel kann ich nicht sagen, aber er meint, es wird animalisch!“ Von einem Augenblick auf den anderen war iZA hellwach. Kapitel 23: The deep sadness in the midst of the hot springs ------------------------------------------------------------ The deep sadness in the midst of the hot springs by Masato Watanabe Ein tiefes Seufzen kam über iZAs Lippen. Er hatte das Gefühl, dass er das Echo seines Seufzers hören konnte, so einsam war es hier in den Bergen in der heißen Quelle. Zwar war es hier idyllisch mit den weißen Hügeln und dem dampfenden Wasser, aber irgendwie war es auch nicht das Gleiche wie letztes Jahr! Gut, bei dem Klassenausflug waren auch noch sein Cousin und noch ein weiterer Freund dabei gewesen, aber dieses Jahr hatte er diesen Ausflug eigentlich als romantischen Trip geplant. Nur Tsu und er, sonst keiner. Die Einsamkeit der Berge und die heißen Quellen, dazu leckeres Essen in ihrem Hotel. Eigentlich klang das in seinen Ohren super. Der einzige Haken war, dass es nun kein ‚Tsurugi und er‘ mehr gab. Viel war vergangenes Jahr geschehen. Eigentlich zu viel für seinen Geschmack. Tsurugi und er waren am Neujahrstag zusammen gekommen. Frisch verliebt bestritten sie den Januar. Da waren auch die Aufnahmeprüfungen für die Universität nicht schlimm. Zwar hatte iZA keine große Lust gehabt, überhaupt an eine Uni zu gehen, aber Tsurugis Optimismus hatte ihn angestachelt und so hatten sie zusammen ernsthaft gelernt. Und das mit dem Ergebnis, dass Tsu an seiner Wunsch-Uni in Tokio angenommen wurde. Bei ihm hatte es leider nicht gereicht. Zumindest nicht für Kantou. Dank guten Zureden seines Freundes hatte er sich aber entschieden, dann eben vorerst das Studium in Osaka anzufangen. Februar war wie die Ruhe vor dem Sturm. Tsu und er hatten viel Zeit miteinander verbracht, genossen ihre Liebe zueinander und die häufigen Treffen ihrer kleinen Clique. März war schon nicht mehr so chillig. Tsurugi bereitete alles für seinen Umzug nach Tokio vor. Auch dabei half iZA seinem Freund und dann kam der April, schneller als es ihm lieb war und es hieß vorerst Abschied nehmen. Es war total ungewohnt in der vertrauten Umgebung zu bleiben, wenn der Geliebte hunderte von Kilometern weit entfernt war. Sie telefonierten, schrieben Nachrichten, chatteten und gelegentlich schafften sie es auch, Videocalls zu haben. Trotzdem war das alles nicht das Gleiche. iZA schaffte es nicht, sich an seiner Uni einzugewöhnen. Er war dort allein und eigentlich wollte er keine Kraft in oberflächliche neue Freundschaften stecken, da er ganz andere Pläne hatte. Er setzte alles daran, im nächsten Semester an eine Uni in Tokio zu wechseln. Glücklicherweise gelang ihm das sogar. Zwar war es nicht die Uni, an der Tsurugi ging, aber es war eine Uni zumindest in der gleichen Präfektur. Als er auch die Zusage für ein Zimmer im Wohnheim bekam, waren die trübsinnigen Gedanken des Sommers wie weggeblasen. Seine sieben Sachen waren schnell gepackt und so brach er alle Brücken ab und verschwand bereits im September in die große Stadt. Wenigstens den Rest der Semesterferien wollte er noch mit Tsurugi genießen. Fernbeziehungen waren einfach nichts für ihn! Und aus iZAs Sicht galt es, einiges nachzuholen. Allerdings merkte er recht schnell, dass Tsurugi das wohl anders sah. Denn als er ankam, nahm sich Tsurugi zwar Zeit für ihn und zeigte ihn tagelang hübsche Plätze, angesagte Bars, billige Restaurants und gab ihm hilfreiche Tipps zum Leben in Tokio mit an die Hand, aber irgendwas war anders zwischen ihnen. Es kostete iZA weitere vier Wochen, um herauszufinden, was anders zwischen ihnen war. Tsurugi liebte ihn nicht mehr, schenkte anderen mehr Aufmerksamkeit und zeigte ihm immer mehr, wie lästig er ihm war. Er hatte sein neues Leben hier begonnen und gleich Anschluss gefunden. Dabei war er auf der Strecke geblieben. An einem trüben Novembermorgen hatten sie Schluss gemacht. Einvernehmlich. Mehr oder weniger. iZA hatte zugestimmt, hatte er eh keine anderen Argumente mehr gehabt Tsurugi an sich zu binden. Außerdem wollte er nicht, dass er sich dazu gezwungen fühlte. Das war dann der Punkt, an dem er das gesamte letzte Jahr hinterfragte. Was war schon eine Beziehung wert, die nicht mal ein Jahr hielt? Gleichzeitig fühlte er sich total erbärmlich, dass er für einen anderen Mensch sein geordnetes Leben aufgegeben hatte und nun in einer Stadt festsaß, die für junge Leute zwar das Spielparadies schlechthin war, aber in der er noch niemanden bis auf eine handvoll Kommilitonen kannte. In solchen Momenten vermisste er sogar seinen missmutigen Cousin, der absolut nichts auf die Reihe bekam. Aber der gab ihm wenigstens Rückhalt und hatte auch angeboten, Tsurugi zu kastrieren. Wenn es drauf ankam, konnte man sich eben doch auf Ryo-chan verlassen. Das Angebot hatte er selbstverständlich abgelehnt. Immerhin hatte er selbst genau so viel Feingefühl bewiesen und selbst bemerkt, dass es bei ihnen nicht mehr lief. Auseinandergelebt oder sowas. Und nun war er allein im Liebesurlaub bei Cocktails und leckeren Häppchen. Eigentlich nicht schlecht, würde die Enttäuschung über seinen Verflossenen nicht so tief sitzen. Ihm fehlte auch der Elan, sich nach etwas Neuem umzusehen. Zwar redete er viel, aber wenn er sich einmal festgelegt hatte, dann fiel es ihm schwer, diese eine Person aus seinem Kopf zu bekommen. Und hier gab es eh nur Urlauber, die die heißen Quellen genossen so kurz vor Weihnachten. Den Altersdurchschnitt drückte er bei weitem nach unten und einen alten Knacker wollte er auch nicht. Genauso wenig eine reife Dame. Eigentlich war es total dumm gewesen, doch noch zu fahren. Andererseits konnte er die Reise auch nicht verfallen lassen. Die hatte er zu einem Discount-Angebot ohne Stornierungsmöglichkeit noch Anfang November erstanden. Es hatte ja keiner ahnen können, dass ihr Ende so nahe war. Das Geld war also so oder so weg, genau wie sein Freund. Er fragte sich wirklich, wie es jetzt mit ihm weitergehen sollte! Kapitel 24: Virtuelles Schneegestöber - behind the scenes --------------------------------------------------------- Virtuelles Schneegestöber – behind the scenes by Natsuo Kurokawa Mit einem zufriedenen Lächeln sah Ryoga auf die Lichter der Stadt. Diesen Anblick aus einem der Hochhäuser im Bezirk Chiyoda hatte er schon immer gemocht. Auch, wenn das hier nicht seine Bude war. Doch heute waren die Lichter besonders hell. Selbst die Nacht vermochte nicht die Metropole in Dunkelheit zu hüllen. Gerade, wenn es auf Weihnachten zuging, dann erstrahlte Tokio noch mehr als sonst. Sein Blick wanderte zu der Spiegelung des Computers in der Fensterscheibe. Dort konnte er seinen Freund ausmachen, der konzentriert arbeitete. Dies verdeutlichte auch das energische Tippen auf der LED-beleuchteten Tastatur. „Liegen wir gut im Zeitplan?“, wollte er von dem deutlich an Armen und Hals tätowierten Mann wissen. Dieser sah kurz zu ihm auf und drehte sich auf seinem Gaming-Stuhl zu dem anderen, unterbrach damit sein Tun. „Nun“, begann er und schob seine runde Brille mit dem schwarzen Rahmen mit seinem Mittelfinger auf seiner Nase wieder nach oben, „die Testergebnisse sind vielversprechend. Die Performance überzeugt. Die App belegt relativ wenig Speicherplatz. Die Fehlermeldungen halten sich in Grenzen und wir haben uns bei den Profildaten auf die nötigsten Informationen beschränkt. Im Hintergrund laufen natürlich andere Prozesse, die aber auf externe Server ausgelagert sind.“ Bei dieser Einschätzung wurde das zufriedene Lächeln auf Ryogas Lippen nur noch breiter. Selbstzufrieden hob er seine Bierdose an seine Lippen, um einen großen Schluck der gekühlten Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Dann tippelte er geräuschvoll mit seinen Fingern auf der Blechdose herum. „Die Bezahlung?“, fragte er weiter und das Kribbeln in seinem Magen breitete sich weiter in seinem ganzen Körper aus. Die Aufregung stieg. Ihr kleines Projekt befand sich auf der Zielgeraden. „Verfügbar in allen gängigen Stores. Installation kostenfrei, Nutzung nur mit Eingabe von privaten Daten. Spezielle Funktionen per Zahlung freischaltbar.“ Ryoga lachte auf. „Das ist so genial. Diese liebeskranken Idioten.“ Das amüsierte Grinsen wollte gar nicht mehr aus seinem Gesicht weichen. „Die installieren unsere App in der Hoffnung ein ‚perfect match‘ zu finden. Wir füttern sie an und dann zahlen sie, um die Kontaktdaten ihres Liebsten zu bekommen! Hach ja, und in der Zwischenzeit haben wir ihre Daten schon längst gewinnbringend ins Ausland verkauft. Ganz zu schweigen von den Zahlungen, die sie direkt tätigen. Ich liebe Menschen, sie sind so schön dumm! Und wir beide werden bald richtig reich sein!“, sagte Ryoga. Seine Stimme war durchtränkt von der Vorfreude, die er empfand, wenn er nur an ihren Masterplan dachte. Arschwackelnd ging er auf Kouryu zu und warf sich auf seinen Schoß, verschränkte seine Beine miteinander. „Fraglich, ob sie so überhaupt jemanden finden. Gegensätze ziehen sich an. Gleich und Gleich gesellt sich gern. Wo soll man da denn bitte ansetzen?“ Ryoga schüttelte seinen Kopf, zog einen Schmollmund, während er einen Kuss andeutete. Natürlich galt dieser seinem ‚partner in crime‘. „Das muss uns nicht interessieren. Sie stellen uns ihre Daten zur Verfügung. Tausende kleine Schneeflocken gefüllt mit wertvollen Informationen. In der Hoffnung einen Partner fürs Leben zu finden. Oder vielleicht nur ein Date für Weihnachten.“ Auch diese Worte waren gespickt mit Boshaftigkeit. „Das haben wir wirklich perfekt hinbekommen. Mein Gespür für geniale Ideen und deine Affinität für Technik. Ich wusste, dass wir beide perfekt zusammenpassen! Wo willst du zuerst hin? Baden am Strand von Hawaii? Oder lieber romantisch den Eiffelturm in Paris besuchen? Nein, ich weiß, wir cruisen mit einem Impala durch die USA. Route 66 und dann essen wir Burger. Oder machen einen auf Cowboy im wilden Westen! Howdy, Partner!“, spann Ryoga seine wilden Fantasien zurecht. Geräuschvoll stellte er seine Bierdose auf dem Schreibtisch ab, nachdem er sie mit einem kräftigen Zug geleert hatte. „Alles, Ryo! Nicht zu vergessen Cocktail schlürfen in Thailand!“, fügte Kouryu seinen ganz persönlichen Wunsch zu der Liste des anderen hinzu, während er seine Arme um den schmalen Torso des Kleineren schlang, um zu verhindern, dass er durch seine unruhigen Bewegungen von seinem Schoß rutschte. „Au ja! Hauptsache die laden alle unsere App runter! Aber gerade jetzt zur Weihnachtszeit sind ja alle auf der Suche nach ein bisschen Liebe! Och, wie bemitleidenswert!“, sprach Ryoga voller Argwohn und schlang seine Arme um den Nacken des blonden Mannes. „Was krieg ich eigentlich zu Weihnachten, Schatz?“ „Eine funktionierende App!“, kam die amüsierte Antwort über die Lippen des tätowierten Mannes. „Genehm!“ Ryoga grinste freudig vor sich hin und überbrückte die eh schon kurze Distanz zu seinem Freund. Kurz vor seinen Lippen aber hielt er inne. „Auf die ‚chinese mafia‘ ist eben immer Verlass!“ Zufrieden gestellt dadurch, dass sein Plan bald in die Realität umgesetzt wurde, drückte Ryoga sehnsüchtig seine Lippen auf die des anderen, um die Umsetzung ihres Planes gebührend zu feiern. Immer hungriger wurden seine Bewegungen, während er in Gedanken bereits seinen ganz persönlichen Triumph feierte. Epilog: Nachwort Watanabe Masato -------------------------------- Hey, Leute! Ich bin so aufgeregt! Oh, mein Gott! Oh, mein Gott! Oh, mein Gott!!! Ernsthaft, mein Bauch kribbelt total. Ich bin so ein schlechter Schriftsteller und trotzdem durfte ich meine Geschichten zu einem so großen Projekt beisteuern. Und wem habe ich das zu verdanken? Nur euch!!! Ich weiß gar nicht, wo ich denn anfangen soll! Danke, dass ihr mich immer unterstützt!!! Ich bin so dankbar, dass es wirklich Menschen gibt, die meine Geschichten lesen, mit meinen Figuren leiden und mitfiebern! Aber erstmal zurück zum Anfang. Ihr wisst ja, dass ich noch recht neu bin und es fällt mir schwer zu glauben, dass wirklich so viele meine Arbeit unterstützen. Eigentlich denke ich, dass ich ein schlechter Autor bin. Ich bin ein Anfänger, mache viele Fehler, habe Zweifel und mit Deadlines tue ich mich schwer, sodass mich mein Manager regelmäßig schimpft. ‚Masa, schreib‘! Hör auf zu recherchieren! Diese Details sind total unnütz und unwichtig für deine Arbeit!‘ Sowas bekomme ich oftmals zu hören. Leider hat er recht, aber manchmal verliere ich mich doch in Tagträumen oder häufe Aspekte an, die ich gerne in meine Erzählungen einbauen würde. Es deprimiert mich, wenn ich es dann doch nicht kann. Was kann ich zu diesem Werk sagen? Ich habe es geschafft und die zwölf Geschichten beendet. Und ja, auch diesmal stand mein Manager zum Ende hinter mir, bereit mich zu schelten, wenn ich nicht schnell genug gearbeitet habe. Der Zeitplan war sehr eng gehalten, aber es war nicht unmöglich, das Pensum zu schaffen. Als ich angefragt wurde, sagte ich selbstverständlich zu, denn ich habe mich noch nie an Kurzgeschichten versucht. Eher verliere ich mich in langen Erzählungen. Daher sollte dieses Projekt vorwiegend dazu dienen, meine Erfahrungen auszubauen. Doch dann erfuhr ich, mit wem ich zusammenarbeiten darf und mein Herz setzte für einen Moment aus. Kurokawa-sama ist mein Sempai und ich bewundere seine Art zu schreiben. Gewisser Weise ist er sogar ein Vorbild für mich. Ich weiß, dass wir oft verglichen werden, aber unsere Art sich auszudrücken ist unterschiedlich. Es wird immer behauptet, dass ich sehr weich und romantisch schreibe, während Kurokawa-sama eine sehr harte, derbe Ausdrucksweise hat. Er redet nicht viel um den heißen Brei herum. Das hat er mir voraus und ich wünschte, ich könnte ein bisschen mehr so sein wie er. Ja, und dann begann unsere Zusammenarbeit. Eigentlich hatte ich ihn mir anders vorgestellt, doch ich war positiv überrascht und wir kamen nicht nur schnell voran, sondern einigten uns auch darauf, dass wir unseren Geschichten noch einen Twist verpassen sollten. Sicherlich habt ihr es bemerkt. Die Basis für die Winter-Collection bildeten dieses Jahr zwölf Themen, die uns vorgegeben wurden. Auf kindische Art (Schere-Stein-Papier!) verteilten wir einen positiven oder einen negativen Ablauf für unsere Geschichten. Das heißt, dass jedes Thema ‚gut‘ bzw. ‚schlecht‘ dargestellt wird. Natürlich ist dem Leser überlassen, wie er die Situation letztendlich interpretiert. Mich stachelte diese Übereinkunft noch zusätzlich an. Aus unserem Brainstormingprozess gingen einige interessante Gedanken heraus und auf die ersten Geschichten stürzte ich mich voller Elan. Doch dann kamen wieder die Zweifel. Ich tat mich schwer, viele unterschiedliche Charaktere zu liefern. Das war neu für mich! Ich möchte keine flachen Charaktere beschreiben, so besorgte ich mir eine Musikzeitschrift und holte mir dort Inspiration. Auch der Rat meines Managers half, der meinte: „Wenn du nicht weißt, wie du jemanden nennen sollst, dann nenne ihn halt ‚Masa‘!“ Das wird so langsam zum ‚Running Gag‘ zwischen uns! (Leser von ‚Lunatic Wonderland‘ wissen sicherlich von was ich rede!) Also, falls ihr euch fragt, warum so viele Personen auftauchen, die Masa heißen – das geht auf meinen Manager zurück! Die Zeit drängte und es galt immer noch einige Geschichten zu beenden. Da besuchte mich mein Manager wieder, um mir auf die Füße zu treten und die fertigen Geschichten von Kurokawa-san zu zeigen. Das war wie ein Schlag ins Gesicht für mich als Anfänger. Gerade hatte ich ein Sequel zu der Winter-Collection vom vergangenen Jahr geschrieben, weil ich das als eine gute Idee ansah. Und eigentlich wollte ich mir Kurokawa-samas Beiträge nicht ansehen, tat es dann doch aus reiner Neugier und ich muss das jetzt hier erwähnen! Er hat wirklich eine Geschichte über eine meiner Figuren geschrieben!! Im ersten Moment war ich total baff und dann einfach nur gerührt von dem Respekt, den er mir durch diese Geschichte entgegengebracht hat. Mit so einer Geste hatte ich nicht gerechnet und es war an mir, diese an Kurokawa-sama zurückzugeben. Vor allem, da ich all seine Werke selbst verschlungen habe und es noch einmal symbolisiert, dass die Winter-Collection dieses Jahr eine Zusammenarbeit von uns beiden darstellt. Sicherlich ist es euch nicht schwergefallen zu erraten, dass ich mir Takashi und Shohei kurz ausgeliehen habe! Ebenso versuchte ich mich an einer derberen Ausdrucksweise! Habt ihr es bemerkt? Natürlich hoffe ich, dass ihr die 24 Geschichten mit Freude verfolgt habt und für jeden Geschmack etwas dabei war. Mir persönlich gefallen die Geschichten sehr, die einen romantischen Touch beinhalten. Wie ist es bei euch so? Viel bleibt nicht mehr zu sagen! Noch einmal Danke, dass ihr durchgehalten habt und Kurokawa-sama und mich unterstützt. Ich hoffe, wir lesen uns bald wieder. In dem Sinne wünsche ich allen ein tolles Weihnachtsfest und einen guten Start ins neue Jahr. Wir sehen uns wieder, auf die eine oder andere Art! Bis bald! Watanabe Masato Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)