Selbstwiderspruch von Komori-666 ================================================================================ Kapitel 2: Die Welt steht Kopf ------------------------------ Ein erschöpftes Seufzen glitt Onodera über die Lippen. Was für ein Ausflug! Er hatte doch tatsächlich noch die kleine Bahnstation erreicht und den einzigen Zug erwischt, der an diesem Tag noch zurück in die Stadt fuhr. Das war Glück im Unglück gewesen, immerhin war es keine Wohngegend und die Haltestelle befand sich mitten im Nirvana. Obwohl ‚zurück in die Stadt‘ auch sehr hochgegriffen war. Es war keine zentrale Linie, die so weit außerhalb des Wohngebietes fuhr und somit auch nicht die vielbefahrenen Strecken ansteuerte und nur in den Randgebieten hielt. Zu allem Übel musste er dann auch noch schwarzfahren! Er hatte weder Fahrkarte noch Kleingeld bei sich, so war ihm keine andere Wahl geblieben. Das war ihm jedoch erst aufgefallen, als der Zug direkt vor ihm zum Stehen gekommen war. Er fühlte sich wie ein Krimineller! Was für eine Art Erwachsener war da nur aus ihm geworden? Erst schlug seine Karriere unerwartete Bahnen ein, dann die Sache mit Takano und nun kamen noch Straftaten hinzu – denn rein theoretisch war Schwarzfahren nichts anderes. Auch, wenn es sich selbst für seine pflichtbewussten Ohren übertrieben anhörte... Zum Glück waren in den ländlichen Linien nur selten Kontrolleure an Bord. Er war also bis in die Außenbezirke der Stadt gekommen und entschied sich von dort aus zu laufen. Geld für ein Taxi sowie seine Dauerfahrkarte waren immerhin in seiner Tasche zurückgeblieben. Und sein Glück wollte er an diesem Tag kein zweites Mal herausfordern. Er hatte sich nach bestem Wissen an den Haltestellen entlang den Weg zurück ins Zentrum gebahnt, sein ungutes Bauchgefühl hatte ihn jedoch nicht verlassen. Nicht nur, weil er die meisten Stationen gar nicht gekannt hatte und daher raten musste, welche von ihnen ihn ins Zentrum führen würden, sondern auch, weil sich seine Gedanken immerzu um ein bestimmtes Thema drehten. Eher, um eine bestimmte Person. Takano. Er war zu keiner Lösung gekommen, hatte keine Idee, wie er seinem Partn-… wie er Takano, seinem Chef, gegenübertreten sollte. Wie er aus dieser verfahrenen Situation wieder rauskam. Es ging nicht nur um die Eskapade von heute, nein, sondern um diese ganze Sache, die da zwischen ihnen war. Der rosa Elefant, der im Raum stand und dem Takano zu gern Aufmerksamkeit schenkte. Er nicht. Sie waren keine Kinder mehr, die Schulzeit war vorbei. Man konnte sich nicht einfach verlieben, glücklich sein und dann… ja, dann was? Das Bilderbuch sah für gewöhnlich Heirat und eine glückliche Familie, sogar Kinder vor. Aber kein Bilderbuch hatte eine Storyline für zwei Männer gezeichnet. Doch dann erinnerte er sich zurück an das Gespräch mit seinem Vater. Die Worte, die er gewählt und die Entscheidung, die er getroffen hatte… Wie war das noch gleich? Die Aussage, man sei naiv, war eigentlich ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. Denn jemand, der sich und seine Handlungen als naiv bezeichnete, war es offensichtlich nicht – eine naive Person wäre sich ihrer Naivität nämlich gar nicht bewusst. Er hatte es damals in einem der Bücher gelesen, die Takano zu Schulzeiten ausgeliehen hatte. Nicht, dass sie es nicht im Unterricht behandelt hatten, doch dieser eine Satz, dieses Beispiel der Naivität war ihm hängen geblieben. Es hatte ihn die letzten zehn Jahre immer wieder heimgesucht, jedes Mal, wenn er wusste, dass er sich selbst etwas vormachte. Und gerade jetzt fühlte er sich wie die Verkörperung eines Oxymorons. Eines aus Fleisch und Blut und live in freier Wildbahn zu beobachten. Erneut seufzte er erschöpft – denn das war er. Das letzte Mal hatte er sich so viel zu Schulzeiten bewegen müssen. Und auch das nicht freiwillig. Seit dem Berufseinstieg verbrachte er die meiste Zeit sitzend – im Büro, in der Bahn, in der Wohnung. Immerhin war er bald beim Verlag angekommen. Dieser lag nämlich von seiner jetzigen Position weitaus näher als seine Wohnung und zum Glück hatte er an seinem Schreibtisch ein bisschen Kleingeld für den Getränkeautomat parat. Das konnte er jetzt für ein Bahnticket nutzen. Und wenn er dann endlich zuhause angekommen wäre, würde er als erstes eine heiße Dusche nehmen und etwas essen – sein Magen hing ihm in den Kniekehlen. Kein Wunder, er hatte seit dem Morgen nichts mehr zwischen die Zähne bekommen und seine unüberlegte Flucht hatte mehrere Stunden in Anspruch genommen. An der letzten Bahnstation hatte er an der Uhrzeit sehen können, dass sich der Nachmittag bereits dem Ende neigte. Er sollte sich wirklich beeilen, wollte er noch vor Anbruch der Dunkelheit Zuhause sein. Als er vor dem hohen Verlagsgebäude stand und an den Stockwerken emporblickte überkam ihn ein Gefühl der Erleichterung. Es fühlte sich bereits so an, als wäre er fast zuhause angekommen, als wäre es nicht mehr weit. Vielleicht lag es auch daran, dass der Verlag sein zweites Zuhause geworden war – ein Gefühl, dass er in der alten Firma nicht gehabt hatte. Nie. Und das, obwohl er mit eben jener aufgewachsen war, obwohl sie seinen Namen trug. Oder er den Namen der Firma – wahrscheinlich war dies sogar treffender. Die kalte Wand und das grelle Licht des Aufzugs brachten ihn zurück in die Realität. Er war noch nicht zuhause und seine Erschöpfung und Müdigkeit waren präsenter als je zuvor. Er spürte seine Füße, die sich mit Kräften dagegen sträubten, ihn weiter zu tragen und seine Augen, die unter der Beleuchtung anfingen zu brennen. Die angenehme Dunkelheit, die sich Onodera beim Öffnen der Türen erhofft hatte, trat jedoch nicht ein. Ihr ganzes Büro war nicht nur hell erleuchtet, er konnte auch das rege Treiben bereits aus der Entfernung wahrnehmen. Sie hatten doch alles rechtzeitig zum Druck gebracht? Und für gewöhnlich dachte die ersten Tage danach keiner von ihnen an Überstunden…?! Neugierig bewegte er sich die letzten Schritte um die Ecke des Flurs, bis er freie Sicht auf ihren Arbeitsplatz hatte. Tatsächlich waren noch alle seine Kollegen an ihrem Schreibtisch. Doch irgendetwas war anders, irgendetwas stimmte nicht. Auch, wenn es ein gewohntes Bild war, so spürte er, dass etwas in diesem Bild nicht passte. Zum einen die unter Anbetracht der Abgabe späte Stunde, zum anderen wirkten sie auch gestresst oder gar gehetzt. Er konnte Minos besorgtes Gesicht erkennen, der - soweit Onodera die Bruchstücke verstand – mit seinem Sohn sprach und ihn vertröstete. Aber auch Kisa und Hatori hatten jeweils die Hörer in der Hand, einer wirkte angespannter als der andere. „Sagt mal, was ist denn los? Was macht ihr denn noch alle hier?“ Kaum hatte er das ausgesprochen merkte Onodera wie alle abrupt innehielten, ihn ansahen. Die Stille, die sich augenblicklich im Raum ausbreitete, behagte ihm nicht. Hatte er etwas Falsches gesagt? Ob er etwas vergessen hatte und sie jetzt wütend auf ihn waren? Doch er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was dies hätte sein können. Er hatte nicht das Gefühl, etwas vergessen zu haben. Das hätte Takano ihn als Allererster spüren lassen. „Ha- Hab ich ‘was Falsches gesagt?“ er lachte nervös, die Stille wurde ihm langsam unheimlich. Warum starrten sie ihn denn so an? Es war fast, als hätten sie einen Geist gesehen. Wahrscheinlich hatten sie nicht mit ihm gerechnet, immerhin sollte er in diesem Moment auch nicht im Büro sein… aber ob das alles war? Die Atmosphäre war irgendwie… komisch. Verzweifelt wanderte sein Blick von Mino zu Hatori, in der Hoffnung, etwas in deren Gesichtern erkennen zu können. Doch beide waren so undurchschaubar wie sonst auch, Onodera konnte mit Nichten erraten, was in deren Köpfen vorging. „Rit-chan!!“ Und noch bevor er reagieren konnte, spürte er bereits Kisas Arme um seinen Körper und den starken Aufprall, als sein Kollege sich ihm um den Hals warf. „Du lebst!!“ Überrascht und völlig aus dem Gleichgewicht gebracht, stolperte er mit seinem Kollegen nach hinten, bis sie von der Wand aufgefangen wurden. „Rit-chan, ich bin so froh!!“, Onodera spürte nicht nur, wie sein Kollege sich noch fester an ihn klammerte, sondern bemerkte auch wie erstickt sich dessen Stimme anhörte. So, als ob… als ob… weinte Kisa etwa? „Kisa-san! Wa-was ist denn los?“ „Geht es dir gut?“ Er spürte Kisas Hände, die erst seinen Rücken, dann seine Seiten abtasteten und letztendlich in seinem Gesicht endeten. „Oder bist du ein Geist?“ Onodera konnte die verwischten Tränen in Kisas Augenwinkeln sehen. „I-Ich verstehe nicht –“ „Du siehst so blass und völlig fertig aus, sag, geht es dir gut?“ „J-ja…“ „Bist du dir sicher? Sollen wir einen Arzt rufen? Wie bist du überhaupt hierhergekommen?“ „Mo-Moment mal! Was ist denn passiert?”, bestimmt nahm er die fremden Hände aus seinem Gesicht und drückte seinen älteren Kollegen ein Stück von sich. Sein Kollege wirkte so aufgebracht in seinen Händen noch zierlicher als sonst, irgendwie zerbrechlich. In dessen eichbraunen Augen hatten sich erneut Tränen gesammelt, auch die Rötung und tiefen Augenringe entgingen Onodera nicht. Er musste geweint haben, eindeutig. Was zum… ? „Und was macht ihr alle noch hier?“ er blickte sich noch verwirrter als vorher im Raum um, beobachtete, wie sich auch Mino erleichtert eine Träne aus dem Augenwinkel wischte und Hatori sich kraftlos in die Stuhllehne sinken ließ, was so gar nicht zu seiner sonst so strengen und aufrechten Haltung passen wollte. Seine braunen Haare standen wild ab und auch seine Krawatte saß nicht mehr an ihrem gewohnten Platz. So sah Onodera ihn für gewöhnlich nur, wenn einer seiner Autoren ihn an den Rand der Verzweiflung trieb. „Wir haben uns Sorgen gemacht.“ „Mino, das trifft es ja wohl nicht annähernd!“, tadelte ihn Kisa aufgebracht, hatte dieser noch immer damit zu kämpfen seine Emotionen unter Kontrolle zu bringen. „Bist du dir sicher, dass wir keinen Arzt rufen sollen?“ „Wieso sollte ich einen Arzt brauchen?“ „Du warst doch mit Takano unterwegs, oder nicht?“ Die Hellhörigkeit als auch die Skepsis in Hatoris tiefen und sonst ruhigen Stimme ließen ihn aufhorchen. Takano? „Ja, war ich. Allerdings…“, wie sollte er das seinen Kollegen erklären? Dass er hier war, weil er und Takano sich gestritten hatten. Weil sie eine gemeinsame Vergangenheit hatten. Weil es gar nicht um die Arbeit ging. Weil ihm Takanos Nähe zu viel wurde, „… ist Takano-san alleine weitergefahren.“ Und wieder. Wieder war es im Raum totenstill und wieder starrten ihn alle an. Wieder hatte er das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. „Dann bin ich zurückgefahren. Und weil ich etwas im Büro vergessen hatte, wollte ich noch kurz…“ Onodera verstummte. Seine Kollegen schwiegen noch immer. Starrten ihn an. Ihre stoischen Mienen waren gezeichnet von Unverständnis, Bedauern, Sorge und Schock. Beklemmung. Und nichts davon behagte ihm. „Ach so. Dann weißt du es also gar nicht.“ Die Worte waren nicht mehr als ein gedämpftes Murmeln. „Oh…“ „Onodera…“ „Weiß ich was nicht? Würde mir vielleicht endlich jemand erklären, was hier überhaupt los ist?!“ Es war Kisa, der als erstes den Mund öffnete, um zu einer Antwort anzusetzen. Doch anstelle einer solchen wurden dessen Augen erneut glasig, seine Lippen zitterten, bevor er sie wieder schloss und hart schluckte. Als er erneut ansetzte, war seine Stimme nicht mehr als ein Wispern, sie bebte regelrecht. „Takano hatte einen Unfall.“ Kisa. „Wir dachten, du wärst bei Takano.“ Mino. „Ich gebe Kirishima Bescheid…“ Hatori. Plötzlich war in seinem Kopf alles wie leergefegt. Was hatte Kisa gerade gesagt? Hatte er das wirklich gesagt? Was… ? Mit einem Schlag fehlte ihm die Luft zu atmen. Er spürte, wie sich seine Lungen zuschnürten und es in seiner Brust immer enger wurde. Die Welt hatte für einen Moment aufgehört, sich zu drehen und die Zeit stand still. Er hörte sie alle, ihre Stimmen, wie sie sprachen und auf ihn einredeten. Und dennoch, es war alles leer. Kalt und leer. In seinem Kopf war nichts mehr, er spürte, wie die Kälte langsam sein Rückgrat entlang kroch. Es wirkte alles so surreal. Takano sollte…? Was… ? … ein Unfall? Takano war… „W-was?“. Er konnte sich nicht bewegen, fühlte sich gelähmt. Sein Körper gehorchte ihm nicht, seine Kehle war wie zugeschnürt, seine Eingeweide verkrampften sich, als hätte man ihm heftig in die Magengrube geschlagen. Was war das gerade eben? Was hatten sie gesagt? Takano… einen Unfall? Er konnte nicht atmen. Er hatte Takano doch vorhin noch gesehen. Es ging ihm gut. Er war wohlauf, er hatte mit ihm gesprochen. Er hatte ihn behandelt wie sonst auch, so, wie Takano ihn eben behandelte. Er war doch heute Morgen noch bei ihm gewesen, neben ihm gesessen, hatte ihn angesehen, heimlich aus den Augenwinkeln dessen lange Wimpern hinter den Brillengläsern bewundert und über sie beide nachgedacht. Wie er mit Takano reden, ins Gespräch kommen konnte. Wie er mit ihm umgehen sollte. Dann hatten sie sich gestritten. Aber es war ihm doch gut gegangen, Takano war wohlauf gewesen. Und jetzt sollte es das gewesen sein? War Takano…? Nein, das durfte nicht sein! Das konnte nicht das letzte Mal sein, dass sie sich gesehen, miteinander gesprochen hatten. Nicht im Streit… „Hey, Rit-chan? Ist alles in… in… hm”, Kisa traute sich nicht die Frage zu beenden, natürlich war er nicht in Ordnung, keiner von ihnen war es. Sie alle schätzten Takano. Außerdem hatte Takano, soweit er es mitbekommen hatte, Onodera sehr bei der Einarbeitung unterstützt. Er hatte alle von ihnen unterstützt. „I-ist Takano… ich meine, ist er… g-geht es ihm gut?“, Onoderas Stimme, nein, Onodera selbst bebte. Kisa konnte sehen, wie alles an ihm zitterte, um Fassung kämpfte und wie schwer es seinem Kollegen fiel, seine Frage zu formulieren. Wenn er ihm doch nur irgendwie helfen könnte! Doch selbst diese eine Frage konnte er ihm nicht beantworten. „Das wissen wir nicht.“ Setzte Kisa behutsam an und konnte sich vorstellen, wie hart diese Worte für Onodera sein mussten. Auch, wenn er nicht genau wusste, wie er und Takano zueinanderstanden, so hatten sie alle mitbekommen, dass sie sich wohl noch von früher kannten und die Kollegen der Nachbarabteilung hatten sie des Öfteren gemeinsam pendeln sehen. Wenn er sich seinen Kollegen jetzt ansah, konnte er ihn kaum wiedererkennen „Vielleicht weiß Kirishima-san mittlerweile mehr. Hast du ihn erreicht, Hatori?“ „Er ist schon auf dem Weg. Er musste noch privat ein paar Anrufe erledigen.“ „Heißt das…?“, Kisa wandte sich fragend an seinen Kollegen. „Ja, er fährt hin.“ Hatori richtete seinen Blick auf Onodera. Ihm war sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. „Bestimmt kannst du mit ihm mitfahren, er fährt direkt zum Krankenhaus, in das Takano gebracht wurde.“ „Kirishima…?“ Onodera kam der Name bekannt vor und er konnte ihm auch ein Gesicht zuordnen, doch wie standen er und Takano in Verbindung? Was hatte Kirishima damit zu tun? Sein fragender Blick blieb nicht unbeantwortet und Hatori setzte seine Erklärung fort. Und auch, wenn man ihm seine Erschöpfung ansah, schien Hatori von allen am ruhigsten, bewahrte stoisch wie sonst auch seine Fassung. „Yokozawa hat Kirishima angerufen und ihn ins Bild gesetzt. Auch darüber, dass von dir jede Spur fehlte und du nicht erreichbar warst. Da wir noch im Büro waren, hatte Kirishima uns gebeten, zu versuchen dich auf dem Handy zu erreichen, weil man bereits die Gegend der Unfallstelle nach dir absuchte. Die Polizei dachte, du wärst in den Unfall verwickelt gewesen.“ In Onoderas Kopf fügten sich mit Schrecken die Puzzleteile zusammen. Stimmt, sein Handy hatte keinen Akku mehr, seitdem er an der Bahnstation angekommen war. Und dann waren noch seine Sachen in Takanos Wagen, er hatte sie dort einfach liegen lassen. Und mit diesen auch all seine Unterlagen, die ihn als Ritsu Onodera auswiesen. Takano… es musste ihm gut gehen. Onodera hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt, nie hätte er aussteigen sollen. Er hätte ehrlich zu Takano sein sollen. Er hätte ihm alles erklären sollen. Er hätte bei ihm bleiben sollen. Er hätte, hätte, hätte – aber er hatte nicht. Das durfte alles einfach nicht wahr sein. Es konnte nur ein schlechter Traum sein und er müsste nur noch aufwachen. ~~~ Nur kurze Zeit später saß er mit Kirishima im Auto. Ein Mann, den er nur flüchtig vom Sehen kannte, ein paar Mal hatte er ihn im Gang und auf größeren Veranstaltungen des Verlags wahrgenommen. Auf einer der solchen war er ihm zum ersten Mal aufgefallen, da er die Aufmerksamkeit und Gunst der Damenwelt auf sich gezogen hatte. Genau wie Takano. Damals hatte Onodera nicht fassen können, wie Frauen sich so sehr von seinen Kollegen blenden lassen konnten, immerhin wusste er, wie sie tagtäglich den Alltag bestritten. Anfangs war es ihm unbegreiflich gewesen, doch mit der Zeit hatte er ehrlich mit sich sein müssen – letzten Endes war auch er Takano verfallen. Damals, so wie heute. Und jetzt saß er neben Kirishima, der auf dem Weg ins Krankenhaus seinen Wagen am Limit der Geschwindigkeitsbegrenzung geschickt durch den Verkehr manövrierte. Onodera konnte sich nicht daran erinnern, wie er in den Wagen gekommen war. Er versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, was passiert war, nachdem er von Takanos Unfall erfuhr, doch es klappte nicht. Seine Konzentration ließ ihn im Stich. Seine Gedanken, seine Gefühle, sein ganzes Inneres drehte sich nur um Takano. Noch immer wussten sie nichts. Obwohl… stimmte das? Oder wusste Kirishima mehr als er bislang gesagt hatte? „… ein gutes Zeichen, … oder?“ „Hm? Hast du was gesagt?“ „D-dass wir ins Krankenhaus fahren, ist doch ein gutes Zeichen, nicht wahr? D-dass Takano lebt…“ Kirishima schwieg und richtete seinen Blick starr auf den Verkehr. Onodera konnte sehen, wie die Miene des Fahrers sich mehr und mehr verhärtete und ihm seine Gedanken, seine Antwort nicht über die Lippen kommen wollten. Der junge Redakteur spürte, wie sich der Knoten in seiner Brust immer fester zusammenzog, ihm die Kehle und das Herz abschnürte. Kirishima wusste mehr und er sagte es ihm nicht. Das konnte nur bedeuten, dass… dass… Das durfte nicht wahr sein. Völlig unmöglich, nein, das konnte einfach nicht wahr sein! „Ich weiß es nicht.“ „Lügen Sie mich nicht an!“, entfuhr es Onodera harsch. Seine Nerven waren bis zum Anschlag gespannt, er wollte Antworten und keine Lügen. Keine Verharmlosungen. Was zur Hölle war hier los? Takano hatte einen Unfall und keiner sollte ihm sagen können, wie es ihm ging?! „Sagen Sie mir die Wahrheit! Sie wissen etwas, richtig?!“ „Nein.“ Der Fahrer atmete erschöpft aus, hielt inne. Auf seine harte Miene schlich sich eine unheimliche Sorge und Onodera erschrak über die Menschlichkeit, die er an seinem Gegenüber sehen konnte. Die ganze Zeit hatte er keine Miene verzogen, kühl und sachlich gewirkt. Etwas gestresst. Doch die Sorge und das Bedauern, dass er jetzt zeigte und der Schmerz, den seine braunen Augen zu Tage förderten, ließen auch Onodera verstummen. Er hätte ihn nicht so anfahren sollen. Doch gleichzeitig konnte er Kirishima nicht verzeihen, dass er ihm Informationen vorenthielt. „Wie es Takano geht… weiß auch Yokozawa nicht. Es ist das Einzige, was wir nicht wissen.“ „Das glaube ich nicht! Ich habe Ihre Reaktion doch gesehen! Irgendetwas enthalten Sie mir vor!“ Und wieder Schweigen. Onodera sah, wie der Dienstältere überlegte, ob und was er ihm erzählen sollte und auch wollte. Dessen Zögern verunsicherte ihn, er spürte wie seine Fassade weiter ins Bröckeln geriet, seine Fassung verloren ging. „Bitte… sagen Sie es mir.“ Onoderas Stimme wurde erneut brüchig, zitterte. „I-ich muss es wissen, weil ich ... weil…“, er verstummte. Wie sollte er ihm das erklären? Nein, eigentlich gab es keine Erklärung. Er konnte das einem Kollegen, der allein aufgrund seines Ranges ein indirekter Vorgesetzter war, nicht sagen. Er würde nicht nur sich, sondern vor allem Takano in Schwierigkeiten bringen. „Schon gut, ich weiß, wie du zu Takano stehst. Deswegen habe ich dich mitgenommen.“, Kirishima blickte kurz zur Seite, direkt in Onoderas überraschtes Gesicht. Abgesehen von dessen Verwunderung, sah er auch dessen Blässe, die dunklen Augenringe und die leichte Rötung unter dessen Lidern. Müdigkeit und zurückgehaltene Tränen, er kannte diesen Blick von sich selbst, von seinem Partner und leider Gottes auch von seiner Tochter. Verzweiflung und Trauer zehrten schrecklich an den Kräften der Menschen. Onodera hatte recht, es war nicht fair, ihm Informationen vorzuenthalten, weder konnte er Onodera vor der Realität schützen, noch war es seine Aufgabe. Zu wissen, dass es einem geliebten Menschen schlecht ging, dass man um dessen Wohlergehen bangen musste und nicht wusste, ob man sich auf einen Abschied vorbereiten sollte… er konnte es selbst viel zu gut nachvollziehen, er war diesen Weg bereits gegangen. „Ich weiß es von Takafumi.“ Takafumi. Ta – ka – fu – mi. Onodera stockte. Kirishima hatte es von Takafumi erfahren… von…von Yokozawa! Er brauchte einen Moment, bis er das, was er gerade gehört hatte, verarbeitet hatte. Bis die Information, die zwischen den Zeilen eingebunden war, und die dazugehörige Erkenntnis zu ihm durchgesickert waren. Deswegen hatte Yokozawa Kirishima angerufen. War es wegen Yokozawa, weshalb Kirishima sich bereiterklärt hatte, ins Krankenhaus zu fahren? Ob Yokozawa ihn angehalten hatte, nichts zu erzählen? Würde das Sinn ergeben? Würde Yokozawa Takano immer noch für sich beanspruchen? Nein, das konnte Onodera sich nicht vorstellen. Nicht, wenn er jetzt einen Partner hatte. Dennoch, auch wenn er ihn nicht als Partner beanspruchte, so würde Yokozawa alles tun, um Takano zu schützen. Um ihn vor ihm zu schützen. Und Onodera verstand es, er hatte Takano mehr als einmal hängen gelassen. Kirishima war sich sicher, dass Onodera verstanden hatte, was er ihm sagen wollte. Er konnte sehen, wie es bei seinem Beifahrer einen Schalter umgelegt hatte. Das war gut so, er konnte es ruhig wissen. Er sollte wissen, dass das hier keine Formsache unter Kollegen, sondern für sie beide eine private Angelegenheit war. Eine Sache, die privater nicht sein konnte und bei der die Arbeit nichts verloren hatte. Nicht, wenn man um diejenigen Angst hatte, die man liebte. Kirishima hatte mit sich gehadert, ob und was er Onodera sagen sollte. Die Details zu wissen, würde ihn nur noch mehr verängstigen und wie es Takano ging, wusste tatsächlich noch niemand von ihnen. Er hatte gehört und gespürt, wie sehr all die Informationen Yokozawa mitgenommen hatten, wie fertig er war. Seine Stimme hatte gebebt, er war nicht wiederzuerkennen gewesen. Unter keinen Umständen würde er seinen Partner in diesem Zustand sich selbst überlassen. Deshalb hatte er sich sofort auf den Weg gemacht. Dass der vermisste Onodera im Büro aufgetaucht war, kam gelegen, aber er wäre auch allein gefahren. Kirishima wusste, dass seine Begleitung all die Einzelheiten des Unfalls genauso schlecht verkraften würde wie Yokozawa. Resigniert schnaufte er, grummelte ein ‚Na schön‘. Kirishima erinnerte sich, dass auch er damals alles darüber wissen wollte, wie es seiner Frau ging. Was Sache war. Die Unsicherheit hatte ihn vor allem in den ersten Momenten fast erstickt. Außerdem hatte er kein Recht, Onodera etwas vorzuenthalten, das war nicht seine Entscheidung. „Wie es Takano geht, wissen weder ich noch Tak-… Yokozawa. Die Person, mit der Yokozawa gesprochen hat, war vom Einsatzteam der Unfallstelle und hat ihm alles erzählt. Wie es dazu gekommen sein musste, was passiert und wie die Lage war. Takano war zu diesem Zeitpunkt bereits ins Krankenhaus gebracht worden und Yokozawa hat sich direkt dorthin auf den Weg gemacht. Das ist der letzte Stand.“ „… Was ist passiert?“ Innerlich seufzte Kirishima, natürlich hatte Onodera sich mit seiner groben Zusammenfassung nicht zufrieden gegeben. „Takanos Wagen ist mit einem Transporter kollidiert.“ Es hörte sich an, als ob beide ineinander gefahren wären. Kirishima überlegte, er war nicht glücklich mit dieser Formulierung. Das war es, was man Yokozawa zuerst gesagt hatte. Im selben Wortlaut hatte er es an ihn weitergegeben. Aber in Anbetracht der darauffolgenden Aussagen stimmte das so nicht. „Nun, vielmehr ist der Transporter in Takanos Wagen gerauscht und hat ihn so von der Kreuzung in den Wald geschleudert.“ Onoderas Herz setzte für einen Moment aus, als er Kirishimas Worte hörte. Er spürte, wie ihm das Herz bis in den Schoß sank und es ihm kalt den Rücken runterlief, bevor sein Herz stärker und schmerzhafter als je zuvor gegen seinen Brustkorb schlug. Was…? Takanos Wagen sollte mit einem Transporter zusammengestoßen sein? Aber dessen Wagen war doch nur ein Zweisitzer. Klein. Ohne Schutz. Es gab doch keinen Platz für einen Puffer, unmöglich hätte dieser kleine Wagen ausreichend Widerstand bieten können. Schon gar nicht gegen einen Transporter. Nein, das durfte nicht wahr sein! Das konnte nicht sein, es durfte einfach nicht … ! „In den Wald… ?“ „Ja, soweit ich weiß muss es eine sehr kurvige Strecke sein. Serpentinen, die durch den Wald direkt in die Berge hinaufführen.“ Das wusste Onodera. Er kannte die Serpentinen. Er kannte den Wald. Die Strecke kannte er. Hieß das etwa, dass er noch ganz in der Nähe gewesen war, als es passierte? Dass Takano noch auf dieser Straße war würde bedeuten, dass der Unfall unmittelbar nach ihrer Trennung geschehen sein musste… War das ganze etwa seine Schuld?! Hatte er Takano in sein Unglück fahren lassen? Hätte er sich ruhig verhalten, hätten sie nicht gestritten, wären sie nicht stehen geblieben, sondern einfach weitergefahren, dann wäre der Unfall nicht… „Der andere Fahrer soll zugegeben haben, dass er kurz eingeschlafen sei und daher die Kontrolle über den Wagen für einen Augenblick verloren hatte. Er beteuerte wohl aber auch, dass Takanos Wagen viel zu sehr seine Spur einschnitt, als dass er noch hätte ausweichen können. Er hat die Front des Wagens ergriffen, ihn gegen die Leitplanke geschmettert, welche nachgab und das Auto letztendlich in den Wald geschleudert wurde. Der Wagen muss dabei völlig zerstört worden sein.“ Kirishima wollte so sachlich wie möglich bleiben, obwohl ihm bei der Beschreibung des Unfallhergangs ebenso ein ungutes Gefühl überkam. Manchmal war es besser, weniger zu wissen. Yokozawa musste einen Anfänger am Apparat gehabt haben, der all die Einzelheiten ausgeplaudert hatte. Einen, den Yokozawa mit seinem dominanten und forschen Auftreten selbst durch das Telefon zur Genüge eingeschüchtert hatte und dann wahrscheinlich mehr gesagt hatte, als ihm zustand. Kirishima kannte seinen Partner. Yokozawa wusste nicht, was gut für ihn war und es bestand kein Zweifel, dass er seine Panik und Angst mit einem gewissen Maß an Aggressivität und Einschüchterung überdecken wollte. Und natürlich hatte er weiter nachgefragt… dieser Idiot. „Als Takano geborgen war, die Unfallstelle geklärt wurde und sich die erste Aufregung gelegt hatte, hatte einer der Rettungshelfer das Klingeln von Takanos Telefon bemerkt und Yokozawas Anruf entgegengenommen. So erfuhr er von dem Unfall. Da er davon ausging, dass Takano mit dir kommen würde, hatte er auch nach dir gefragt. Keiner hatte eine zweite Person gesehen, doch da unter anderem die Windschutzscheibe völlig zerschmettert wurde und etwas tiefer im Wald dein Portemonnaie gefunden wurde, schloss man nicht aus, dass du vielleicht aus dem Auto geschleudert wurdest.“ Onodera schluckte hart, seine Kehle war trocken. Ihm wurde schwindlig bei Kirishimas Schilderungen. War das alles wirklich passiert oder würde er gleich aufwachen? Das konnte nicht sein. Das durfte einfach nicht sein. Es musste sich um eine Verwechslung handeln, es musste so sein. Es durfte nicht Takano sein, der den Unfall hatte. Aber er hatte seine Sachen bei Takano im Auto gelassen. Es war Yokozawa am Telefon. Und er saß hier bei Kirishima im Auto. Je tiefer die Erkenntnis in seine Glieder sickerte und qualvoll seine Knochen erreichte, desto mehr hatte er das Gefühl, dem Druck auf seiner Brust nicht standhalten, den Kloß in seinem Hals nicht herunterschlucken und das Stechen in seinem Herzen nicht ertragen zu können. Er brauchte die Gewissheit, dass es Takano gut ging. Er brauchte Takano. Er durfte Takano nicht verlieren! „Ich habe Yokozawa und der Polizei Bescheid gegeben, dass es dir gut geht und wir auf dem Weg sind.“ ~~~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)