Common Ground von DuchessOfBoredom ================================================================================ Kapitel 21: Are you watching? (Or just waiting?) ------------------------------------------------ Gut eine Dreiviertelstunde später kamen sie zum Stehen und nach und nach schälten sich alle Schüler wieder aus dem Bus. Kurz nach seinen Freunden trat auch Duke auf den noch nahezu ausgestorbenen Parkplatz. Ein herbstlich kühler Windstoß ließ Kälte durch alle Ritzen und durchlässigen Stellen seiner Kleidung kriechen und er beeilte sich, den Reißverschluss seines schwarzen Parkas zu schließen. Zusammen mit dem Rest der Klasse folgte er Frau Kobayashi, die sie geradewegs zur ersten Attraktion des Tages dirigierte. Im sanften Licht der Sonne stieg letzter Morgendunst aus einem breiten, wassergefüllten Graben auf und hüllte die herrschaftliche Anlage dahinter mit ihren dicken, leicht angeschrägten Steinmauern, den hölzernen Aufbauten und den sie überragenden, bunt gefärbten Bäumen in eine geheimnisvolle Aura vergangener Größe. Das musste die Burg sein, von der Frau Kobayashi gesprochen hatte. Oder zumindest das, was davon übrig war. Vor einer Brücke, die über den Graben hinweg in die Burg hineinführte, erwartete sie eine Frau, jünger als Frau Kobayashi, in Turnschuhen, einer praktischen Hose mit vielen Taschen, einer wetterfesten Jacke sowie einem Basecap auf dem Kopf, aus dem hinten ein kurzer Pferdeschwanz herausschaute. Ein Schildchen an ihrer Jacke wies sie als Gästeführerin für den Ort aus. Sichtlich verwundert registrierte sie Frau Kobayashis Sonnenbrille, schien dann aber zu beschließen, es zu ignorieren und verbeugte sich mit einem freundlichen Lächeln. Leise tauschten sich die zwei Frauen kurz aus, bevor Frau Kobayashi wie üblich in die Hände klatschte, um die Aufmerksamkeit ihrer Schüler zu bekommen. „Meine Damen und Herren, wie Sie sehen, werden wir uns als erstes die rekonstruierte Burg von Matsushiro ansehen. Sakamoto-san hier …“, sie wies auf die Führerin, „wird uns heute durch den gesamten Tag begleiten. Ich erwarte, dass Sie ihr Ihre volle Aufmerksamkeit schenken und interessiert zuhören. Hin und wieder werde ich sicherlich auch die eine oder andere Frage stellen, glauben Sie also nicht, ich würde mich hier zurücklehnen und alles Sakamoto-san überlassen, nur weil ...“ „... ich mich gestern Abend tierisch habe volllaufen lassen.“, beendete Joey ihren abgebrochenen Satz im Flüsterton, sodass nur Duke und die anderen es hören konnten. Tristan neben ihm hatte Mühe ein lautes Prusten zu unterdrücken und auch Duke musste sich auf die Lippen beißen. „Egal, genug der Vorrede!“, fuhr die Lehrerin schließlich geschäftsmäßig fort. „Damit übergebe ich das Wort an Sie, Sakamoto-san!“ Sie trat einen Schritt zurück und die Führerin übernahm. „Danke Kobayashi-san und herzlich willkommen! Ich freue mich wirklich sehr, dass Sie den langen Weg aus Domino in unsere schöne Region Nagano und natürlich besonders hierher nach Matsushiro gefunden haben! Wir starten heute, wie Sie schon hinter mir sehen können, mit der Burg, danach werden wir das Sanada Treasures Museum besuchen, um uns einige der Reichtümer der mächtigen Samurai-Familie anzusehen, die hier einst geherrscht hat. Für den Nachmittag stehen dann noch die Fürstenresidenz und der Chokoku-ji Tempel auf dem Plan. Alles wunderschöne Anlagen, die Sie zurück in die großen Tage der Samurai entführen werden. Zu Beginn aber vielleicht einige Worte dazu, wie es in Japan um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts aussah, damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, wie die Lage zur Bauzeit der Burg war. … “ Nachdem Frau Sakamoto ihre einführenden Bemerkungen beendet hatte, schritten sie über die ausgeblichenen Planken der Brücke erst durch ein etwas kleineres und gleich darauf ein wesentlich größeres Holztor, das zusätzlich über einen bedachten Aufbau verfügte. Abgesehen von vielen Bäumen und einigen Bänken war der Innenhof der Festung leer. Wie Frau Sakamoto berichtete, war die Burg bis auf die Mauern zerstört gewesen und man hatte sich erst in neuerer Zeit entschieden, zumindest einige Teile der Außenbebauung wieder zu rekonstruieren. Trotzdem konnte Duke, als er sich umsah, nicht bestreiten, dass es in der Tat etwas Magisches hatte: Die alten Mauern und Tore, die vielen Bäume, von denen manche noch in Rot und Orange leuchteten, andere schon fast nackte Zweige hatten, die mächtigen Berge rundherum, der strahlend blaue Himmel und die kristallklare Morgenluft, in der er seinen Atem sehen konnte … „Die hatten es schon ganz hübsch hier, findet ihr nicht?“, fasste Yugi seine Gedanken in Worte und Duke nickte nur versonnen. In der nächsten halben Stunde erklärte Frau Sakamoto Station für Station den (ehemaligen) Aufbau der Burg und kam durch die vielen Erweiterungen und Umbauten ganz automatisch darauf zu sprechen, wie der Sanada-Clan in der Region an die Macht gelangt war. Schließlich waren sie physisch wie thematisch bei den äußeren Verteidigungsanlagen angekommen und stiegen über eine Treppe nach oben auf einen Teil der hohen Steinmauer, wo sich einstmals ein Turm befunden hatte. Über ein Holzgeländer, vor dem sich die Führerin positionierte, konnte man weit über die äußeren Gräben und Erdwälle, den Ort und auf die dahinter liegenden Berge blicken. Duke lauschte Sakamoto-sans Erzählung von den diversen Zerstörungen der Burg nur noch mit einem halben Ohr; sein Interesse galt im Moment einer anderen Aussicht, die seinen Blick beinahe automatisch angezogen hatte: Kaiba stand genau auf der gegenüberliegenden Seite des Halbkreises, den sie um Sakamoto-san geschlossen hatten. Mit verschränkten Armen lehnte der Brünette an dem Stamm eines Baumes, der hier oben aus dem aufgefüllten Mauerwerk wuchs, und sah in die Ferne. Das Ganze hätte auch gut als Covermotiv der Herbstausgabe eines Katalogs für stilvolle Herrenmode getaugt: Der helle Schein der Sonne brachte das Blau seiner Augen noch mehr zum Strahlen, das leuchtende Gold der Blätter harmonierte perfekt mit dem Haselnussbraun seiner leicht vom Wind verwehten Haare und dem Beige seines eleganten, kurzen Mantels, den er offen trug. Dazu die graue Jeans, die hellbraunen Lederschuhe, passend zu seiner Tasche, und wieder einmal der dunkelblaue Kaschmir-Pullover über einem weißen Hemd. Duke schüttelte kaum merklich den Kopf. Und wenn man dann noch bedachte, dass es unter all der Kleidung kaum weniger … „Warum erzählen Sie uns das nicht, Mr. Kaiba?“ Unweigerlich horchte Duke bei Frau Kobayashis Aufforderung auf. Nicht so offenbar Kaiba, denn Frau Kobayashi wiederholte noch einmal ungeduldiger: „Mr. Kaiba?!“ Jetzt erst wandte sich der Brünette mit stechendem Blick der Lehrerin zu, die sich davon jedoch nicht beeindrucken ließ: „Schön, dass Sie nun auch anwesend sind!“ Die leichte Gereiztheit und Ironie in ihrer Stimme war nur schwer zu überhören. „Ich weiß, in Ihrem Kopf gehen bestimmt sehr viel wichtigere Dinge vor sich, aber ich wäre Ihnen jetzt trotzdem sehr dankbar, wenn Sie uns sagen würden, wann die Abschließung Japans endete und das Land sich damit auch architektonisch für die ersten westlichen Einflüsse öffnete?“ Duke konnte sehen, dass der Brünette nur knapp ein genervtes Augenrollen unterdrückte, bevor er grimmig antwortete: „1853.“ „Sehr richtig!“, übernahm Frau Sakamoto wieder fröhlich das Wort, um der leicht angespannten Stimmung etwas entgegen zu setzen. „Und das war auch genau das Jahr, in dem die Burg einmal mehr nach einem Feuer …“ Die Erklärungen der Führerin verkamen für Duke erneut zu einem bloßen Hintergrundrauschen und mechanisch folgte er ihr und den anderen, als sie weitergingen. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es weder traditionelle japanische Architektur, noch die Schönheit der Landschaft oder etwas Geschäftliches gewesen, das Kaibas Gedanken so in Anspruch genommen hatte. Sicher ließ ihn das, was gestern passiert war, ebenso wenig kalt wie ihn selbst. Wenn er so darüber nachdachte: Gar nichts von dem, was gestern Abend gesagt (und später getan) worden war, schien Kaiba kalt gelassen zu haben. Und das, wo er eine solche Einstellung doch normalerweise geradezu kultivierte – zu allem und allen (die nicht Mokuba hießen oder etwas mit seiner Arbeit zu tun hatten). Soweit Duke das beurteilen konnte, hatte Kaiba ihm jedoch gestern mit ernsthaftem Interesse zugehört, hatte ihm auf seine eigene, merkwürdige und sehr direkte Art Verständnis entgegengebracht, ihm sogar eine ganz neue Perspektive eröffnet und dann … Wie bei meinem kleinen Bruder – immer Haare im Gesicht! Eigentlich … ja, eigentlich war die Annäherung von Kaiba ausgegangen! Kaiba hatte ihm die Haare aus dem Gesicht gestrichen und er selbst danach im Grunde nur beherzt die Gelegenheit ergriffen. Und dann … dann hatte Kaiba seinen spontanen, ja beinahe instinktiven Kuss auch noch mit einer Leidenschaft erwidert, mit der Duke niemals zu rechnen gewagt hätte. Unwillkürlich stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. Kaiba hatte angefangen! Und es nicht nur nicht beendet, sondern aktiv mitgemacht. Das konnte doch eigentlich nur bedeuten, dass … Sein Lächeln wurde noch ein wenig breiter und ein warmes Kribbeln erfüllte seine Brust, bis ihn ein kurzer Schmerz in der Seite aus seinen Gedanken riss. Tristans Ellenbogen war schnell als Ursache ausgemacht und verwundert sah Duke zu seinem Kumpel. „Alter!“, flüsterte Tristan ihm mit zusammengebissenen Zähnen zu und nickte mit aufforderndem Blick in Richtung von Frau Kobayashi, die schon fragend ihre Sonnenbrille ein Stück von der Nase schob. Duke schüttelte kurz den Kopf und blinzelte, als würde er aus einer Trance erwachen. „Entschuldigung, könnten Sie die Frage nochmal wiederholen?“, bat er verlegen, wohlwissend, dass Frau Kobayashis Geduldsfaden heute wohl nicht der längste war und das letzte Mal, dass jemand – Kaiba! – ähnlich offensichtlich nicht zugehört hatte, noch keine zehn Minuten her war. Die Lehrerin seufzte und ihre Stimme troff nur so vor Sarkasmus: „Aber selbstverständlich, Mr. Devlin, wo doch anscheinend auch Ihre Gedanken von weit bedeutenderen Themen beansprucht werden! Wann begann die Meiji-Zeit, an deren Anfang diese Burg dann schlussendlich aufgegeben wurde?“ „Ähm …“ Nervös bewegte er seine Hände in den Jackentaschen und tippte mit dem Schuh auf den steinernen Grund unter sich. Großartig! Und das, wo doch Geschichte ohnehin nicht gerade seine Paradedisziplin war! Glücklicherweise hatte er Freunde, die ihn kannten und das wussten, und schnell wurde ihm von gleich zwei Seiten – von Yugi und Ryou – die richtige Antwort zugeflüstert. „1868.“, verkündete er im Brustton seiner vermeintlich eigenen Überzeugung. „Danke, Mr. Devlin!“ Augenblicklich entspannte Duke sich wieder etwas. „… sowie Mr. Muto und Mr. Bakura.“, schob die Lehrerin mit strengem Blick nach. Mist, sie hatte es also doch bemerkt! Yugi sah nur kurz zu ihm auf und zuckte mit einem entschuldigenden Lächeln die Schultern, Ryou klopfte ihm leicht auf den Rücken. Immerhin hatten sie es versucht. Nur wenige Minuten später hatte Frau Sakamoto ihre Führung rund um die Burg beendet und sie machten sich auf den Weg hinunter zur zweiten Station des Tages, dem Museum. Auf dem Weg dorthin entging ihnen nicht das geschäftige Treiben in der kleinen Stadt: Häuser wurden geschmückt, Banner aufgehängt, Stände aufgebaut. Noch bevor jemand die Frage stellen konnte, gab Frau Sakamoto bereits die Erklärung: „Ein Jammer, dass Sie das traditionelle Sanada-Fest so knapp verpassen! Es wird jedes Jahr Mitte Oktober gefeiert. Morgen geht es los und am Sonntag findet die große Parade statt, bei der der ‚Fürst’ noch einmal zeremoniell mit seinem Gefolge vom Schloss durch die Stadt reitet. Darum wird hier bereits alles vorbereitet und geschmückt.“ Frau Kobayashi nickte interessiert und unterhielt sich weiter angeregt mit ihr. Tristan wandte sich indes mit einem leicht besorgten Seitenblick an Duke: „Wo warst du denn vorhin schon wieder mit deinen Gedanken, Mann? Gestern warst du auch schon so komisch weggetreten!“ Dukes Herzschlag beschleunigte sich. Himmel, musste Tris denn schon wieder darauf rumreiten? „Ach, ich hab nur schlecht geschlafen.“ Und das war ja noch nicht mal gelogen. Auch Tea blickte ihn jetzt fragend von der Seite an. „Ist irgendwas mit eurem Zimmer nicht in Ordnung? Kaiba schien es ja ähnlich zu gehen.“ Scheiße! Duke wurde plötzlich sehr heiß und er schluckte. Was sollte er denn nun schon wieder dazu sagen? „Und da wären wir auch schon! Ich habe Ihnen ja gesagt, der Weg zum Museum ist wirklich nur ein Katzensprung!“, platzte Sakamoto-san energisch in das Gespräch, das sich für Duke just in diesem Moment eher zu einer Art Verhör gewandelt hatte. Sie waren vor einem äußerlich unscheinbaren weißen Gebäude neuerer Bauart zum Stehen gekommen, an dessen Eingang groß das Clansymbol der Sanada – sechs Münzen, aufgeteilt in zwei horizontale Dreierreihen – angebracht war. Erleichtert atmete Duke aus, während Sakamoto-san ohne Unterlass weitersprach und erklärte, wie die Sammlung und das Museum zustande gekommen waren. Selten war er für Langatmigkeit dankbarer gewesen als jetzt, wo sie ihn davor bewahrte, eine weitere hanebüchene Ausrede für sein – nein, diesmal sogar ihrer beider Verhalten – erfinden zu müssen. Sakamoto-san schien ihre Berufung definitiv gefunden zu haben: Die Frau konnte reden, reden, reden. Desinteressiert schlenderte Seto hinter ihr, seinen Mitschülern sowie Frau Kobayashi durch die Ausstellungsräume und sah sich nur beiläufig die Schwerter, Rüstungen, Figuren und Schriftrollen in den Vitrinen an. Wie von allein wanderte sein Blick immer wieder unauffällig zu Duke; das verhindern zu wollen, hatte er schon vor einer ganzen Weile aufgegeben. Was er (oder viel mehr sein Unterbewusstsein) allerdings in Mimik, Gestik und Verhalten des Schwarzhaarigen zu finden hoffte, konnte er nicht genau sagen. Die Bestätigung seiner Theorie vielleicht, irgendein Indiz dafür, dass Devlin wirklich in der gleichen … Lage war wie er selbst? Irgendein Zeichen, dass die letzte Nacht für ihn doch mehr gewesen war als nur ein dummer Fehler? Bislang waren solche Zeichen jedenfalls rar gesät gewesen. Eigentlich kein Wunder, schien Devlin ihm selbst doch in vielerlei Hinsicht ähnlich zu sein und das bedeutete, er würde nicht weniger Vorsicht walten lassen (auf eine etwas andere, extrovertiertere Weise) als er, wenn es darum ging seine wahren Gef- … Einstellungen zu zeigen. Der Tagtraum vorhin war sein einziger Ausrutscher gewesen, und auch wenn es sehr wahrscheinlich war, konnte Seto sich doch nicht sicher sein, ob es darin wirklich um die letzte Nacht gegangen war. Wenn dem allerdings so war, dann standen seine Karten wohl gar nicht so schlecht, denn Devlin hatte dem Anschein nach ziemlich zufrieden ausgesehen – als „dümmliches Grinsen“ hätte er diesen Gesichtsausdruck wohl bei Wheeler oder Taylor bezeichnet. Aus irgendwelchen Gründen schienen die beiden Letzteren eine ausgemachte Faszination für das Samurai-Thema zu haben, sodass der gesamte Kindergarten gezwungen war, weit vorne zu stehen; diese Menschen gab es ja im Grunde nicht allein, sondern nur im Gesamtpaket, und auch hier machten sie keine Ausnahme. Aber wenigstens musste sich Seto, der wie üblich ganz hinten blieb, auf diese Weise zumindest keine Gedanken darüber machen, dass Duke oder sonst irgendjemand seine gelegentlichen, manchmal durchaus etwas ausgedehnteren Blicke bemerken würde. Die Rückansicht des Schwarzhaarigen kannte er auf jeden Fall bereits wesentlich besser als die Samurai-Rüstung, bei der Sakamoto-san sie schon seit knapp fünfzehn Minuten festhielt, um gefühlt jeden einzelnen Hammerschlag des Schmiedes bis ins letzte Detail zu beschreiben. Zum wiederholten Male wanderten Setos Augen von Dukes langen, jetzt wieder zum Zopf gebundenen Haaren nach unten, über seinen Hals und Nacken, dann von der Kapuze seines schwarzen, eng geschnittenen Hoodies weiter hinab zu Dukes Hüften und der ebenso schwarzen Jeans, in deren hinteren Hosentaschen er die Hände vergraben hatte, als wollte er Setos Aufmerksamkeit extra auf diese Stelle lenken. (Wenn so etwas bei jemandem grundsätzlich vorstellbar war, dann wohl bei Devlin!) Jedes einzelne Mal hatte Seto ein neues Detail bemerkt und genauer studiert: die zu kurzen, hauchdünnen schwarzen Strähnen, die nicht von dem Haargummi erfasst worden waren, oder wie der lange Würfelohrring bei fast jeder Bewegung seines Kopfes leicht Dukes Hals streifte. (Nervte das nicht?) Jetzt blieb sein Blick an Dukes Handgelenken hängen, die zu sehen waren, seit er die Ärmel seines Pullis vor ein paar Minuten etwas hochgeschoben hatte. Schlank, und irgendwie … schön waren sie, das linke noch betont von einem dünnen, enganliegenden Armband (oder war es ein zusätzliches Haargummi?), das er darum trug. Für Setos Geschmack etwas zu plötzlich kam Bewegung in die Gruppe; offenbar hatte Sakamoto-san endlich ihren Vortrag über die Rüstung beendet. Gerade noch rechtzeitig bemerkte er, wie Duke den Kopf im Gehen beiläufig in seine Richtung wandte. Setos Herz begann zu rasen und er beeilte sich, sich sehr für den Inhalt der gegenüberliegenden Vitrinen zu interessieren. Langsam kam sein Herzschlag wieder zur Ruhe und er atmete leise aus. Das war knapp gewesen! Um nichts in der Welt sollte Devlin wissen, wie tief der Eindruck wirklich war, den er und alles, was gestern passiert war, bei ihm hinterlassen hatten. Noch mehr Wasser auf die Mühlen seines ohnehin nicht gerade kleinen Selbstbewusstseins brauchte Devlin nun wirklich nicht, außerdem war Seto keineswegs bereit, sich widerstandslos in die Aufzählung von Devlins Eroberungen einzureihen. Umso mehr wuchs in der nächsten Stunde seine Wut auf sich selbst, musste er doch noch ganze drei Mal Dukes potentiell entlarvendem Blick entgehen. Beim ersten Mal war es eine merkwürdige Porzellanfigur, die er eingehend studierte, beim zweiten Mal griff er sich schnell einen ausnehmend scheußlich gestalteten Flyer, der auf einer der Vitrinen auslag, und beim dritten Mal musste er, in Ermangelung irgendwelcher anderer Alternativen, sogar auf sein Handy zurückgreifen, obwohl Devlin doch sehr genau wusste, dass sich die Zahl spannender Neuigkeiten darauf in Grenzen halten dürfte. So stand Seto nach dem Ende der Führung mit der Tasche zwischen seinen Füßen im Foyer des Museums und zog sich seinen Mantel mit besonders dynamischen Bewegungen über, die seinem Frust immerhin nonverbal Ausdruck verliehen. Am Ende war es ein simples Spiel um Macht und er war gerade dabei, es zu verlieren. Und dabei war es eigentlich so leicht: Er musste doch nur Devlins Blick ganz selbstverständlich, bewusst und nüchtern-gefühllos erwidern! Normalerweise war sein Geist doch auch problemlos in der Lage seinen Körper zu beherrschen, warum nicht auch diesmal? Dieses ganze Ausweichen und Verstecken war doch eines Kaiba vollkommen unwürdig! Verdammt, er war doch nun wirklich kein schwaches, scheu-verträumtes Schulmädchen! Geschweige denn eines von Devlins Fangirls, die schon halb in Ohnmacht fielen, wenn der sie nur einmal schief ansah! Wieder kam er nicht umhin sich zu wünschen, die letzte Nacht wäre anders verlaufen. Denn selbst, wenn es Devlin ging wie ihm, was ihr Spiel wenigstens zu einem ausgeglichenen machen würde und was sein abwesendes Lächeln vorhin in der Burg immerhin vermuten ließ, gab es da ja immer noch … „Geil, Leute, seht mal, ich bin ein mächtiger Samurai!“ Joey stand hinter einem Fotoaufsteller mit Samurai-Rüstung und hielt mit einem breiten Grinsen sein Gesicht in die passend gesetzte Aussparung, sodass es aussah, als stecke er in der Rüstung. „Nice, Mann, ich auch!“ Tristan füllte mit seinem Kopf sogleich die zweite Aussparung und sowohl Tea als auch Duke beeilten sich, ihre Smartphones zu zücken und Fotos zu machen. „Super, und jetzt ihr!“ Joey und Tristan traten wieder hinter der Wand hervor und tauschten ihre Plätze mit den anderen beiden. Auch Yugi und Ryou schlossen sich begeistert an und für Seto war vollkommen klar, dass nun vermutlich so lange hin- und hergewechselt würde, bis jeder einmal mit jedem hinter dieser billigen Fotowand gestanden hatte. Gelöst und mit einem warmen Leuchten in seinen grünen Augen grinste Duke aus der rechten der beiden Samurai-Rüstungen in Tristans Handykamera und Seto versuchte das kurze Stechen in seiner Brust so gut er konnte zu ignorieren. Schnell wandte er sich ab, verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. ‚Unüberbrückbare Differenzen’ würden sie so etwas in der Politik wohl nennen. Für die Mittagspause hatte Frau Kobayashi anderthalb Stunden angesetzt. Nachdem Duke und die anderen in jeder möglichen Konstellation einmal hinter der Fotowand gestanden hatten, verließen sie das Museum und Ryou googelte für sie, was es in der Umgebung an Essensmöglichkeiten gab. Die gemeinschaftliche Entscheidung fiel schließlich auf eine Ramen-Bar nicht weit entfernt. Einige Meter vor ihnen erspähte Duke noch Kaiba, der sich an der nächsten Kreuzung nach rechts wandte. An derselben Kreuzung mussten sie jedoch Ryous Handy zufolge geradeaus weiter, sodass Duke nur noch sehen konnte, wie am Ende der Seitenstraße der beige Mantel und die elegante Ledertasche um die nächste Ecke verschwanden. Wie er Kaiba einschätzte, war der wohl am ehesten auf der Suche nach einem Café, für eine weitere Ration Koffein und ein ruhiges Plätzchen zum Arbeiten. Wieder einmal schwankten Dukes Empfindungen irgendwo zwischen Enttäuschung und Erleichterung, aber vermutlich taten ihnen beiden ein paar Minuten, in denen sie sich nicht sehen mussten, auch ganz gut. Im Museum hatte Duke immer wieder das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden, aber jedes Mal, wenn er zu Kaiba gesehen hatte, um seinen Eindruck zu überprüfen, war dessen Aufmerksamkeit anderswo – jedenfalls nicht bei ihm – gewesen. Das konnte aber natürlich alles und nichts bedeuten, hatte er selbst doch ebenfalls sowohl in der Burg als auch im Museum das eine oder andere Mal zu Kaiba geschaut und sich schnell wieder abgewandt, wenn es auch nur im Entferntesten ausgesehen hatte, als könnte der Brünette seinen Blick bemerken. Nachdem sie in der Ramen-Bar einen Platz gefunden und sich jeder seine Suppe bestellt hatte (Joey natürlich mit einer doppelten Portion Nudeln), herrschte ein sekundenlanges Schweigen bis sich Teas Blick aufhellte. „Achso, wir waren ja vorhin gar nicht mehr dazu gekommen: Was stimmt denn jetzt mit eurem Zimmer nicht, Duke?“ Gerade noch gelang es dem Angesprochenen nicht zusammenzuzucken, hatte er sich in dieser Angelegenheit doch schon längst vom Haken geglaubt. Tea schien einen sechsten Sinn oder so etwas zu haben, so zielsicher, wie es ihr immer wieder gelang mit nur einem Stups sein kleines Schweige- und Halbwahrheitsgebäude ins Wanken zu bringen. „Naja, also das – die! – Betten sind …“ Noch bevor er sich mit rasendem Herzen und schwitzigen Händen vor seinen aufmerksam lauschenden Freunden weiter um Kopf und Kragen reden konnte, plärrte ein Handy in voller Lautstärke los. Tea verdrehte nur die Augen und stöhnte: „Echt, Joey! Ich hab dir schon tausendmal gesagt: Stell gefälligst den Klingelton leiser! Das ist ja peinlich! “ „Sorry!“, erwiderte der so Gescholtene ebenfalls mit einem Augenrollen, aber seine genervte Miene wich sofort, als er auf das Display sah. Ein flaues Gefühl breitete sich in Dukes Magengegend aus. „Es ist Serenity! Ich hab ihr vorhin ein paar von unseren Samurai-Bildern geschickt!“, informierte Joey sie, bevor er mit einem Wisch nach rechts und einem breiten Grinsen den Anruf annahm. Genau wie Duke vermutet hatte. „Hallo, Schwesterchen! Moment, warte kurz …“ Der Blonde nahm das Telefon weg vom Ohr, fingerte auf dem Display herum und hielt es dann in die Runde. Offenbar hatte er auf einen Video-Call umgeschalten. Der schwere Stein, den Duke irgendwo zwischen seinem Magen und seiner Brust fühlen konnte, wurde noch etwas größer. „So, sag Hallo zu allen!“ „Hallo zu allen!“, tönte Serenitys sanfte Stimme kichernd aus dem Lautsprecher, alle lachten und auch Duke verzog leicht gequält das Gesicht zu einem Grinsen. „Schön euch alle zu sehen! Moment, dann mach’ ich meine Kamera auch an …“ Nun erschien auch ihr Gesicht auf dem Display: strahlend, mit so viel Wärme und entwaffnender Fröhlichkeit im Ausdruck wie immer. „Freut mich, dass ihr so eine gute Zeit habt!“ „Naja, …“, schränkte Joey prompt ein, „Manche Aktionen und Ausflüge sind natürlich jetzt nicht so der Bringer. Am Mittwoch zum Beispiel sind wir gewandert, kannst du dir das vorstellen? Ich und Wandern! Aber weil ich ja in ausgezeichneter Gesellschaft bin, hab ich sogar das überlebt!“ Joey grinste in das Rund seiner Freunde und Duke war erleichtert, dass Joey ihren Streit schon wieder vergessen zu haben schien oder zumindest nicht erwähnte. Serenity stimmte lächelnd zu: „Oh ja, das bist du! Darum rufe ich eigentlich auch an. Ich dachte, wenn ihr ohnehin alle zusammen seid, muss ich nicht mit jedem einzeln sprechen. Ich wollte ja nächste Woche gerne ins Kino gehen und als du mir die Bilder geschickt hast, ist mir wieder eingefallen, dass Tristan und Duke letztens beide so nett waren, mir anzubieten mit ihnen hinzugehen.“ Als sein Name fiel, winkte Tristan leicht errötend in die Kamera, Duke hingegen lächelte einmal mehr gezwungen. Stimmt, das hatte er ja vollkommen vergessen! „Ich wollte euch beiden nur sagen, dass ich gerne am Dienstag gehen wollen würde, also gebt mir einfach nochmal kurz Bescheid, wer von euch nun mitkommt. Dann würde ich schon mal die Karten kaufen.“ „Klaro, machen wir!“, bestätigte Tristan mit nach oben gerecktem Daumen. „Wunderbar! Dann euch noch viel Spaß, Leute, ich bin gespannt, was ihr nächste Woche noch so alles zu erzählen habt! Tschüss!“ Sie winkte noch ein letztes Mal in die Kamera, alle am Tisch erwiderten den Abschiedsgruß und winkten zurück. Kaum hatte Serenity aufgelegt, plusterte sich Tristan regelrecht auf und wandte sich Duke zu, der neben ihm saß. „Ich gehe mit ihr hin, damit das klar ist!“ „Okay.“ „Also, es ist doch wohl völlig klar, dass ich das mit ihr mache, ich hab sie zuerst gefragt!“ Tristan schien ihn gar nicht gehört zu haben und sich bereits gewohnheitsmäßig in Rage zu reden. „Ja, geh du ruhig mit ihr hin, alles cool!“ „Mit mir will sie ja auch viel lieber … Moment, was hast du gesagt?“ Ein verwirrter Blick legte sich auf Tristans Gesicht. Duke schüttelte nur lächelnd den Kopf und wiederholte es noch einmal klar und deutlich: „Ja, Tris, du kannst gerne mit ihr in den Film gehen.“ „Kann ich?! Einfach so?“ „Mhm.“ Noch einmal nickte Duke. Tristan musterte ihn skeptisch und zeigte mit dem Finger auf ihn. „Wer sind Sie und was haben Sie mit Duke Devlin gemacht?!“ Duke lachte kurz auf. „Nichts! Ich weiß nur jetzt schon, dass ziemlich viel Arbeit auf mich warten wird, wenn wir wieder da sind. Ich werd’ keine Zeit haben, der Film läuft aber nur noch nächste Woche und Serenity möchte ihn doch so gerne im Kino sehen.“ Jetzt nickte auch Tristan vorsichtig zufrieden, auch wenn er dem Frieden noch nicht ganz zu trauen schien. „Okay. Danke.“ Da wurde auch schon das Essen gebracht und nur langsam begann sich der Knoten in Dukes Magengegend wieder aufzulösen, sodass er etwas hinunter bekam. Bisher hatte er Serenity noch nie wegen der Arbeit abgesagt, hatte immer versucht (und es auch stets geschafft) sich die Zeit für sie freizuschaufeln. Doch irgendwann war immer das erste Mal und angesichts dessen, was nächste Woche tatsächlich auf ihn warten würde – die Industrial Illusions-Vorstandssitzung, die er offenbar zwischenzeitlich mit einigem Erfolg verdrängt hatte –, wäre es wohl spätestens jetzt ohnehin so weit gewesen, Kaiba hin oder her. Seinem gestrigen Vorsatz folgend würde das wohl in nächster Zeit noch häufiger vorkommen. Und wenn er Serenity dann das nächste Mal sah, würde er sich mehr zurückhalten und versuchen ihr zu vermitteln, dass er lediglich freundschaftliches Interesse an ihr hatte. Sicherlich würde sie enttäuscht sein, aber hoffentlich nicht allzu sehr. Und selbst wenn, würde Tristan das wohl nur zu gerne und ausgezeichnet abfedern. Kurz vor Ende der Mittagspause trat Seto durch das kleine, offene Seitentor in den Vorhof der Sanada-Residenz. Vor dem Eingang ins Haus standen bereits einige seiner Mitschüler, die ebenfalls auf das Eintreffen der anderen sowie Frau Kobayashis und Frau Sakamotos warteten. Kurz nach ihm kamen die beiden Frauen dann tatsächlich gemeinsam durch das Tor geschlendert; augenscheinlich verstanden sie sich prächtig und hatten gemeinsam zu Mittag gegessen. Auch schien es Frau Kobayashi mittlerweile wieder etwas besser zu gehen, hatte sie doch die Sonnenbrille nun endgültig gegen ihre normale Brille getauscht. Er selbst hatte die Mittagspause in einem Café mit einer großen Tasse seines favorisierten Heißgetränks (Stark, schwarz, viel!) verbracht, hatte endlich einmal wieder konzentriert arbeiten können (der Nicht-Anwesenheit gewisser Personen geschuldet) und große Fortschritte bei den technischen Details für die DDM-Duel Disk gemacht. Wenn er weiter so vorankäme, wäre der Entwurf bei ihrer Rückkehr am Sonntag fast schon produktionsfertig. Natürlich mussten seine Leute in der Entwicklungsabteilung trotzdem noch einen Blick darauf werfen, um die Herstellung spezieller Komponenten zu planen, aber ansonsten war das wohl eine neue Rekordzeit in der Produktentwicklung – ganz anders als bei der ‚richtigen‘ Duel Disk, bei der sich die Konzeptionsphase über knapp zwei Jahre hingezogen hatte, bis er damit halbwegs zufrieden gewesen war. Auch wenn er nach wie vor nur äußerst ungern auf seinen Laptop und sein Telefon verzichten musste, aber seine Konzentration profitierte ungemein von den fehlenden Anrufen, Meetings und E-Mails. Weitere fünf Minuten später sah die Lehrerin schon mit leichter Verärgerung auf die Uhr. Eigentlich sollte es genau jetzt weitergehen, aber bestimmte Personen fehlten noch immer. Seto war schon fast überrascht, dass nahezu im selben Moment, und damit gerade eben noch pünktlich, Muto und der Rest seiner Vorschul-Patrouille herbeigehetzt kamen, wobei zwischen Taylor und Wheeler offenbar eine gewisse Uneinigkeit darüber bestand, wessen Schuld ihre Beinahe-Verspätung war. „Wenn du nicht noch unbedingt einen Nachtisch hättest haben wollen, dann …“ „Ach Quatsch! Wer kannte denn den Rückweg so super genau und hat uns dann um fünf falsche Ecken dirigiert?!“ Mit einer strengen Geste und einem dazu passenden Blick brachte Tea die beiden schließlich zum Schweigen. Devlin hatte seine Jacke geöffnet, den Kopf ein wenig gesenkt, die Hände in die Hüften gestemmt und versuchte, wie die anderen auch, wieder zu Atem zu kommen. Wahrscheinlich waren sie ein Stück gerannt, um nicht zu spät zu kommen. Beinahe fuhr Seto zusammen, als der Schwarzhaarige ganz plötzlich den Kopf hob und sich zum ersten Mal seit heute Morgen ihre Blicke kreuzten. Augenblicklich durchzuckte ihn eine Spannung, ein elektrisches Kitzeln bis in seine Fingerspitzen, das ihn – neben seinem Stolz – davon abhielt, den Blick wieder zu lösen. Devlin schien das ebenso kalt erwischt zu haben, doch auch er konnte (oder wollte?) nicht wegsehen. Noch einmal unternahm Setos Unterbewusstsein den Versuch aus dem Gesichtsausdruck des Schwarzhaarigen etwas herauszulesen, doch keine Regung in Dukes Zügen verriet ihm irgendetwas hilfreiches. Nur die Spannung, die war eine Tatsache und Devlin fühlte sie auch. Gedanken lesen konnte er zwar nicht, aber in diesem Punkt war er sich zu einhundert Prozent sicher. Unnatürlich laut und störend drängte sich Frau Sakamotos kräftige Stimme in sein Bewusstsein und setzte dem kurzen Moment ein jähes Ende. Hastig richteten sich die grünen Augen auf die Führerin und auch Seto tauchte wieder auf und zwang sich mit aller Macht zur Aufmerksamkeit. „Herzlich willkommen zurück, ich hoffe, Sie haben eine entspannte Mittagspause gehabt und konnten noch ein wenig die Schönheit unserer historischen Stadt genießen! Die Sanada-Residenz, die wir uns jetzt ansehen werden, wurde im Jahre 1864 im Namen von Sanada Yukinori, dem neunten Lord der Matsushiro-Domäne erbaut. …“ Wie immer mit angemessenem Abstand zu seinen Mitschülern folgte Seto ihnen und der Führerin kurz darauf durch die komplexe Struktur des riesigen, traditionell japanischen Herrenhauses. Es besaß zwei Etagen und von den zentralen Gängen der beiden Flügel gingen jeweils links und rechts Räume ab, die sich durch verschiebbare Shoji-Wände mit beinahe unendlichen Möglichkeiten in Anzahl und Größe verändern ließen. Seto kam nicht umhin, die Durchdachtheit der auf das absolut Wesentliche reduzierten Architektur anzuerkennen, aber auch die Kunstfertigkeit, mit der die Wände und Einbauten an vielen Stellen bemalt und dekoriert worden waren, ohne den Eindruck der edlen Schlichtheit zu stören. Der offizielle Teil der Führung im Haus war schon nach etwa einer Stunde beendet, nachdem sie sich gewissermaßen zur abschließenden Zusammenfassung den kurzen Film angesehen hatten, der in einem der Räume auf einem Fernseher gezeigt wurde und eigentlich zur Einführung für die Besucher gedacht war. Während noch der Abspann durchlief, baute sich Frau Kobayashi vor ihnen auf und verkündete das weitere Vorgehen: „Meine Damen und Herren, wir haben noch ein wenig Zeit bis wir weiter müssen, das heißt, ich würde sagen, wir treffen uns in …“, sie schob ihre Brille ein Stück von ihrer Nase herunter und konsultierte ihre Armbanduhr, „… einer guten halben Stunde, also um Punkt 15 Uhr wieder draußen vor dem Eingang. Sehen Sie sich gerne noch ein bisschen um oder genießen Sie bei diesem schönen Wetter den Garten!“ Einige der Schüler, der Kindergarten eingeschlossen, diskutierten kurz in ihren Grüppchen, dann strömten die meisten zügig aus dem Raum. Sofort wich die anstrengende Wuseligkeit einer angenehmen Stille. Seto saß noch immer auf einem der kleinen Hocker und überlegte schon, ob er gleich jetzt und hier den Block herausholen sollte, doch Frau Kobayashis fragender Blick in seine Richtung, zusammen mit einem neuerlichen Beginn des in Schleife laufenden Films sowie dem Eintreffen weiterer schwatzender Besucher ließen ihn sich dann doch schnell erheben und ebenfalls das Weite suchen. Ziellos streifte Seto noch einmal ein paar Minuten durch die stillen Gänge und Räume, bis er sich wieder auf sein eigentliches Vorhaben besann und erkannte, dass er hier drinnen vermutlich keinen guten Platz zum Arbeiten finden würde. Durch eine der geöffneten papiernen Außenwände zog es ihn nach draußen auf den Engawa, den überdachten, schmalen, um das Haus herumlaufenden Außengang. Richtige Sitzgelegenheiten gab es hier natürlich ebenfalls nicht, sodass Seto sich schließlich kurzerhand direkt an der Kante des Engawa auf dem Holzboden niederließ. Er ließ die Tasche von seiner Schulter gleiten, stellte sie neben sich ab und zog zum zweiten Mal an diesem Tag den Dino-Block daraus hervor. Wie üblich schlug er das Cover komplett um, blätterte diesmal aber eine neue Seite auf, da er einige der Komponenten noch etwas detaillierter ausarbeiten musste. Bevor er den Stift ansetzte und sich damit geistig wieder aus der ‚echten‘ Welt um sich herum verabschiedete, ließ er doch noch einmal kurz den Blick schweifen. Ganz unrecht hatte Sakamoto-san ja nicht gehabt, als sie hervorgehoben hatte, wie prächtig der Garten war und wie gut er sich in die umliegende Natur einfügte. Eine ausgedehnte Rasenfläche reichte an einen langgestreckten, natürlich gestalteten Teich heran, der von in Form geschnittenen Buchsbaum-Sträuchern und Kiefern, roten Ahorn-Bäumen und anderen Gewächsen umrahmt wurde, während im Hintergrund majestätisch die Berge aufragten und alles zu einem stimmungsvollen Gesamtbild vereinten. Doch, eine gewisse landschaftliche Ästhetik konnte man dem Ganzen nicht absprechen. Die Sonne schien warm in Setos Gesicht und während im Haus aufgrund der geöffneten, ohnehin dünnen Wände noch herbstliche Kühle geherrscht hatte, war er jetzt beinahe geneigt den Mantel auszuziehen. Vogelgezwitscher, das sanfte Rauschen von Blättern im Wind und das Gemurmel anderer Besucher im Haus hinter ihm drangen leise an seine Ohren. Mit einem letzten Durchatmen beendete er seinen kurzen Moment der Kontemplation, blendete alle potentiellen Ablenkungen aus und widmete sich endlich wieder der leeren Seite in dem Block auf seinen Oberschenkeln. Auch wenn er in den vergangenen Jahren kaum je auf echtem Papier gezeichnet hatte, war der unsägliche Dino-Bleistift mittlerweile eine fast ebenso effektive Verlängerung seines Arms und damit seines Geistes nach außen, wie es sonst seine digitalen Werkzeuge waren. Routiniert skizzierte Seto die Umrisse des angepassten Würfelmechanismus, als er ein paar Minuten später auffällige Bewegungen in seiner Peripherie wahrnahm. Ein Schülergrüppchen – Muto und Anhang, wie er leicht entnervt beim genaueren Hinsehen erkannte – kam auf einem schmalen Pfad aus der Baumgruppe links des Teiches hervorspaziert und ließ sich nach kurzer Beratschlagung auf der Wiese genau in Setos Blickfeld nieder. Mit einem leisen Seufzen schüttelte er den Kopf und versuchte sich von Neuem auf seine eigentliche Aufgabe zu konzentrieren. Es wollte ihm jedoch nicht recht gelingen, denn jede Bewegung im Hintergrund, vor allem jene einer gewissen, ganz in schwarz gekleideten Person, ließ ihn von dem Papier aufsehen. Entspannt und locker saß Devlin im Gras, mit aufgestellten Beinen, die Arme auf den Knien abgelegt, die Hände ineinander gefaltet, und unterhielt sich angeregt mit seinen Freunden. Irgendjemand machte einen (vermutlich schlechten) Witz oder erzählte etwas (vermeintlich) lustiges. Was auch immer es war, Devlin lachte darüber und warf dabei seinen Kopf in den Nacken, sodass sein Zopf halb in der Kapuze seiner Jacke verschwand und der Würfelohrring bei jeder Bewegung mitschwang. Schon heute Morgen war Seto aufgefallen, dass auch der Kajalstrich unter dem linken Auge noch immer da war. Unwillkürlich trat ein schmales, kaum sichtbares Lächeln auf sein Gesicht. Er allein wusste, was es damit auf sich hatte und wie Devlin ohne das alles aussah. Seine Freunde hingegen, die ständig an ihm klebten und sicherlich behauptet hätten, ihn besser zu kennen, hatten davon keine Ahnung. Wärme erfüllte sein Inneres, so als wäre es einem verirrten Sonnenstrahl irgendwie gelungen, in seine Brust einzudringen. Plötzlich raschelte das Papier des Blocks im auffrischenden Wind und geistesabwesend hielt Seto die Seite mit dem Handballen fest. Seine Augen waren noch immer fest auf Devlin geheftet, dem die kräftige Böe einige Haarsträhnen ins Gesicht geweht hatte, die er mit einer Art beiläufiger Eleganz wieder beiseite strich. Wie von selbst setzte sich Setos Hand in Bewegung und begann mit dem Stift neue Striche aufs Papier zu bringen, seinen ganz und gar nicht mehr bewussten Gedanken folgend, die sich schon längst von der DDM-Duel Disk verabschiedet hatten. Erst ein Knarzen der Holzbohlen hinter sich ließ Seto für eine Sekunde aus seinem Tunnel auftauchen. Jemand hatte den Außengang betreten. Wahrscheinlich nur irgendein anderer Besucher. Ohne es weiter zu beachten, fuhr Seto fort, die Stelle zu schattieren, mit der er gerade beschäftigt war. Die Schritte kamen näher. Noch näher. Wollte da ernsthaft jemand zu ihm? Jetzt erst hielt Seto inne und drehte sich um, um zu sehen, wer so wenig an seinem Leben hing. Verdammt, ausgerechnet … ! Schnell klappte er den Block zu und sah mit kalter Verachtung zu seinem unerwarteten Besucher auf. „Was willst du, Wheeler?!“ Aus dem Augenwinkel warf Seto noch einmal einen kurzen Blick zu der Gruppe auf der Wiese. Ihm war überhaupt nicht aufgefallen, dass der Köter gefehlt hatte. Jetzt stand der Blonde halb hinter ihm und inspizierte von oben herab skeptisch den Block in Setos Hand. „Oh, ich war nur neugierig und wollte mal sehen, was du so mit deinem Dino-Bleistift in deinem schicken Dino-Block anstellst, wo du doch Dinos so sehr magst!“ Ah, das war es also gewesen, auf das Wheeler mit seiner Frage gestern beim Orientierungslauf abgezielt hatte! Und offensichtlich schien es noch einige Dinge mehr zu geben, die Devlins Freunde nicht wussten. So sehr es Seto wunderte, dass Devlin sie anscheinend nicht in ihre Zusammenarbeit eingeweiht hatte, es war ganz bestimmt nicht seine Aufgabe, das zu ändern. „Das habe ich dir doch schon mal erklärt, Wheeler! Ich arbeite. Nicht, dass du davon etwas verstehen würdest.“ „Hey, ich arbeite auch!“, protestierte der Blonde und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. Seto entfuhr ein belustigtes Schnauben. „Du willst doch nicht ernsthaft Zeitungen austragen mit dem vergleichen, was ich tue? Ich rede von ernsthafter Arbeit!“ In Joeys Augen trat sofort ein ärgerliches Funkeln. „Was ich mache, ist genauso ernsthafte Arbeit, eingebildeter Fatzke! Ich verdiene vielleicht nicht so viel Geld, dass ich damit eine Turnhalle für die Schule finanzieren könnte, was ich dann nach Belieben in die eine oder andere Richtung als Druckmittel einsetzen kann, um dafür zu sorgen, dass alles nach meiner Pfeife tanzt, aber wenigstens ist es ein ehrlicher Job! Du glaubst nicht, wie viele Leute morgens schon auf ihre Zeitung warten und sich dann wirklich freuen, wenn sie mich kommen sehen! Außerdem erfordert es um einiges mehr körperlichen Einsatz als ab und an im Bürostuhl von links nach rechts zu rollen oder sich in einer Limousine von A nach B kutschieren zu lassen!“ „In einem Punkt gebe ich dir sogar recht: Ich glaube in der Tat nicht, dass jemand, der nicht Teil deiner kleinen Bienchengruppe da drüben ist, sich ernsthaft darüber freut, dich zu sehen.“, antwortete Seto leicht belustigt und mit einer abweisenden Geste seiner rechten Hand, die noch immer den Dino-Bleistift locker zwischen den Fingern hielt. „Aber, wenn du meinst.“ „Ach, du bist doch nur neidisch! Genau das ist nämlich noch so ein Punkt, der meine Arbeit so viel besser macht: Ich hab wenigstens ein Leben und Freunde! Lass mich dir das kurz erklären, du kannst ja nicht wissen, was das ist.“ Joeys Stimme wandelte sich zu einer Art langsamen Sing-Sang, als hätte er es mit einem Vierjährigen zu tun. „Das erste ist das, was man macht, wenn man nicht arbeitet – ich weiß, es muss schwer für dich sein, dir das vorzustellen! – und das zweite sind Menschen, mit denen man Spaß hat, die sich ernsthaft dafür interessieren, wie es einem geht und mit denen man einfach gerne zusammen ist.“ Aus dem Augenwinkel registrierte Seto, wie Devlin zu ihnen herüber sah. Wieder dieses Stechen. Schlagartig schwand Setos Amüsement und seine Stimme senkte sich zu einem eiskalten Zischen: „Dann tu mir doch endlich den Gefallen und geh wieder zu deinen kleinen Freunden, Köter! Sie sehen schon aus, als würden sie jeden Moment anfangen, Flugblätter mit deinem Gesicht und der Überschrift ‚Hund entlaufen!‘ zu verteilen.“ Auch Joey sah nun die besorgten Mienen seiner Freunde, schleuderte ihm noch ein kurzes „Mit Freuden!“ entgegen, wandte sich ab und stieg über den großen Stein vor dem Engawa zurück nach unten in den Garten. Leise atmete Seto aus. Da drehte Joey sich noch einmal um und rief ihm von Weitem zu: „Und ich habs dir ja letztens schon mal gesagt: Der Hundevergleich nutzt sich auch langsam ab!“ Zurück bei den anderen wurde Joey von Tea und Yugi mit einem vorwurfsvollen Kopfschütteln begrüßt. Seto entging keineswegs, dass Devlins grüne Augen noch für ein paar Sekunden auf ihn geheftet blieben, bevor er sich wieder seinen Freunden zuwandte. Sein Kopf war vollkommen leergefegt, als er das mit leuchtend orangenen Triceratops bedeckte Ringbuch erneut aufschlug, zu seiner letzten Seite blätterte und sein Werk der vergangenen Minuten betrachtete. Beinahe kam es ihm vor, als hätte er unter Hypnose gestanden, so wenig hatte sein Bewusstsein gesteuert, was da auf dem dezent karierten Papier gelandet war. Mit einem tiefen Seufzer riss er das Blatt Loch um Loch aus der Ringbindung. Schon war er drauf und dran, es zu zerknüllen, zögerte aber im letzten Moment und überlegte es sich anders. Hastig faltete er das Papier – ein Mal, zwei Mal – und schob es zwischen das letzte Blatt und den hinteren Einband des Ringbuchs. Nach einem kurzen Blick auf seine Armbanduhr schloss er den Block wieder, ohne sein eigentliches Vorhaben weiter vorangebracht zu haben. Die zehn Minuten, die ihm theoretisch noch blieben, würden ihm jetzt auch nicht mehr viel nützen. Genervt über diese sinnlose Vergeudung einer wertvollen halben Stunde packte er den Block wieder in die Tasche, erhob sich und zog sich noch einmal in die Ruhe des Hauses zurück, wo er zumindest für den Moment kein Mitglied des Kindergartens sehen oder hören musste. Schon als Tea aus der Ferne gesehen hatte, dass Joey bei Kaiba stand und mit ihm zu diskutieren schien, hatte sich abgezeichnet, dass der Blonde sich einmal mehr etwas von ihr anhören durfte, sobald er zurück war. „Musste das denn wirklich schon wieder sein, Joey?! Sag mir bitte, dass du wenigstens was zu deinem ach-so-mysteriösen Dino-Fall herausgefunden hast, damit die Aktion für irgendwas gut war!“ Der Angesprochene verschränkte die Arme vor der Brust und sah demonstrativ zur anderen Seite. „Nein, hab ich nicht! Bist du jetzt zufrieden?!“ Tea antwortete nichts, ihr Blick sprach jedoch Bände. Schnell fügte Joey daher noch hinzu: „Außerdem musste ich wirklich nur aufs Klo! Ich bin nur durch Zufall auf dem Rückweg dort vorbeigekommen!“ Diese Aussage zog Duke doch stark in Zweifel, aber er hütete sich davor, sich in das Gespräch einzumischen. Tea nickte nur. Für sie wäre das Thema damit wohl eigentlich bereits abgeschlossen gewesen, für Joey war es das aber offenbar noch nicht. „Außerdem müsst ihr doch auch gemerkt haben, wie der immer zu uns rübergeguckt hat! Als wären wir es nicht wert auf der gleichen Erde zu wandeln wie der feine Herr Ich-hab-eine-große-Firma-und-kann-mit-Geld-alles-und-jeden-kaufen!“ Dukes Miene hellte sich kaum merklich auf und das leichte Kribbeln in seiner Magengegend kehrte zurück. Aha, also hatte Kaiba sie – ihn? – tatsächlich beobachtet! Er selbst hatte ihn nur ganz kurz in der Entfernung mit dem Block in Händen auf dem Engawa sitzen sehen, aber er hätte sich zu auffällig drehen müssen, um mehr zu erkennen. Diese Information von Joey warf allerdings ganz neue Fragen auf. Allen voran: Hatte Kaiba wirklich zu ihm gesehen? Und warum? Weil es ihm tatsächlich ähnlich ging? Oder wartete er nur darauf, dem Ganzen endlich ein Ende setzen zu können? Der Gedanke schnürte Duke die Kehle zu und es gelang ihm erst die Enge in seiner Brust wieder etwas zurückzudrängen, als sie sich erhoben, um zur letzten Station des Tages aufzubrechen. Das Hauptgebäude des Chokoku-ji-Tempels folgte wie zuvor die Residenz der klassischen Architektur der Edo-Zeit mit einem Holzgerüst und leichten, mit dünnen Holzstreben verstärkten, papiernen Wänden; sein Dachfirst, den ebenfalls das Wappen der Sanada zierte, wurde zusätzlich ganz oben von zwei Fischen geschmückt. Nach und nach traten die Schüler, Frau Sakamoto und Frau Kobayashi folgend, mit einer kurzen Verbeugung durch das Tempeltor. Das Sanada-Fest schien zwar einige Besucher in die Stadt gelockt zu haben, trotzdem war der Tempel eine gute Dreiviertelstunde vor der Schließzeit ein stiller Ort. Mit leiser Stimme erklärte Sakamoto-san vor dem Hauptgebäude dessen Aufbau und die Wurzeln der japanischen Soto-Tradition des Zen-Buddhismus, in der auch dieser Tempel stand. Danach umrundeten sie auch die kleineren Nebengebäude und kamen zum Bereich hinter dem eigentlichen Tempel, wo zwei größere, aufwändig mit vergoldeten Schnitzereien dekorierte Gebäude aus dunklem Holz – Mausoleen der alten Sanada-Fürsten, wie Sakamoto-san erklärte – den Beginn des fürstlichen Friedhofs markierten. „Schnarch! Kann diese Nummer nicht endlich vorbei sein?!“, fragte Joey flüsternd (nach einem prüfenden Blick zu Tea) in Richtung Tristan und Duke. Beide nickten nur stumm, sagten aber nichts, wenngleich Duke zumindest dem zweiten Teil nur zustimmen konnte. Mit verschränkten Armen stand er zwischen seinen Freunden und zwang sich irgendwie aufmerksam zu bleiben. Trotz seiner Haltung gelang es ihm nicht seine Hände stillzuhalten; unaufhörlich spielten seine Finger mit den Schnallen zur Höhenverstellung seines Rucksacks. Für einen Moment löste er die Arme und sah möglichst unauffällig auf sein Telefon.15:28 Uhr. Nachdem die Mausoleen abgehandelt worden waren, traten sie durch eine Art Gartentor in den umzäunten Bereich dahinter, den eigentlichen Friedhof. Die Herbstsonne stand bereits tief am Horizont und sachte segelten Blätter im leichten Wind von den Bäumen wie bunter und viel zu früher Schnee. Knisternd sammelte sich das herabgefallene Laub rund um die Füße der alten, schmalen, pagodenartigen Grabsteine. Während seine Klassenkameraden die Steine mit teils spiritueller, teils morbider Faszination betrachteten, warf Duke allenfalls beiläufige Blicke darauf. Mit klammen Fingern zog er erneut sein Telefon halb aus der Jackentasche und aktivierte das Display. 15:33 Uhr. Mein Gott, wie lange konnte sich das denn noch hinziehen? Ja, das alles hier war nett anzuschauen, er hatte schon hässlichere Friedhöfe gesehen, aber … erstens mochte er sie nun einmal nicht und zweitens wollte er das alles endlich hinter sich haben. Zu seinem Glück war dieser Teil des Friedhofs nicht groß und Frau Sakamoto hatte offenbar nicht den Anspruch jeden einzelnen Grabstein und das komplette Leben der Person darunter zu erklären, sodass dieser Teil der Führung in der Tat nur wenig später vorbei war. „Wenn Sie einmal hier in der Gegend sind und sich dafür interessieren, sollten Sie sich noch einmal die große Grabhügelanlage der Omuro-Kufon ansehen!“, empfahl Sakamoto-san, während sie das Tor der Umzäunung aufhielt und die Schüler nach und nach wieder nach draußen traten. „Wie es der Zufall will, steht genau das für morgen auf dem Programm!“, gab Frau Kobayashi neben ihr mit einem selbstzufriedenen Lächeln zurück, als habe sie gerade einfach so aus dem Stand 100 Punkte in einem Test erreicht. Duke sah zur Seite und zog die Augenbrauen hoch. Oh klasse, noch mehr Gräber! Wenn das kein Grund war, sich auf morgen zu freuen! Jetzt war der Ausflug aber doch sicher zu Ende? Immerhin mussten sie noch zurückfahren, Abendessen, dann musste er noch irgendwie zwei Stunden mit seinen Freunden herumbringen, bis es endlich zu dem dringend notwendigen Gespräch mit Kaiba kommen konnte, das schon den ganzen Tag wie ein Damoklesschwert über ihm hing. Und warum zur Hölle war er eigentlich so nervös? Er hatte schon unzählige solcher Es-tut-mir-leid-aber-das-war-nur-eine-einmalige-Sache-es-liegt-an-mir-nicht-an-dir-Gespräche geführt und war dabei immer die Ruhe in Person gewesen. Was war das schlimmste, was passieren konnte? Es gab genau zwei Möglichkeiten: Weitermachen oder Beenden, und er würde mit beiden leben können … müssen. Allerdings … bisher war noch nie er derjenige gewesen, der abserviert worden war – und das würde er, denn realistisch betrachtet stand Kaiba wohl eher auf der „Beenden“-Seite. Aber was war mit ihm? Stand er denn wirklich auf der anderen? Und sollte er das nicht langsam aber sicher wirklich mal wissen? Den ganzen Tag über hatte er immer nur nach irgendwelchen Zeichen bei Kaiba gesucht und sie sich, genau wie dessen Verhalten gestern Abend, irgendwie zurecht verargumentiert, aber ein wirkliches Bild hatte er doch nicht daraus gewonnen. Hauptsache, er hatte sich erfolgreich davor gedrückt, sich über seine eigene Einstellung klar zu werden! Verdammt, das alles war so anders als sonst! Schulterzucken und Weitermachen würde diesmal nicht so einfach funktionieren, das war Duke instinktiv klar. „Wer möchte kann gerne noch einen kurzen Moment verweilen, dem Buddha spenden und sich etwas wünschen“, hörte er Sakamoto-sans Stimme von irgendwo sehr weit weg an sein Ohr dringen. Einige Mädchen waren sofort begeistert, suchten Münzen aus ihrem Portemonnaie und traten an die Holzstufen vor der Glasscheibe, durch die man den Buddha sehen konnte. Sie wurden still, verbeugten sich, warfen die Münzen in die Kiste, schlossen ihre Augen und legten die Hände aneinander. Noch einmal verbeugten sie sich, dann kehrten sie zur Klasse zurück. „Wollen wir auch?“, fragte Yugi hoffnungsvoll lächelnd in die Gruppe. Ryou und Tea waren sofort bereit, sodass sich letztendlich auch die anderen Jungs überzeugen ließen. Abwesend fischte Duke seine Brieftasche aus dem Rucksack, suchte eine Münze heraus und trat mit den anderen vor den Buddha. Nach einer kurzen Verbeugung landete auch seine Münze wie die der anderen mit einem dumpfen, metallischen Geräusch in der großen Holzbox vor der Treppe. Er legte die Hände aneinander, schloss die Augen und dachte darüber nach, was er sich wünschen, für was er (als nicht eben religiöser Mensch) beten konnte. Klarheit, schoss es wie von selbst in seinen Kopf. Wenn er gerade eines brauchen konnte, dann das. Wahrscheinlich lag er damit nach Sakamoto-sans Erläuterungen sogar ganz auf der Glaubenslinie. Mit einer letzten Verbeugung dankte er dem Buddha, sah, als er sich aufrichtete, dass auch seine Freunde offensichtlich fertig waren und gemeinsam kehrten sie wieder zum Rest der Klasse zurück. Fast schon feierlich kam Frau Sakamoto nach einigen abschließenden Worten zur Geschichte der Sanada und der Stadt zum Ende ihrer Führung. Es gab einen kurzen Applaus, sie bedankte sich herzlich für die Aufmerksamkeit und Frau Kobayashi verbeugte sich ebenfalls noch einmal mit ausschweifendem Dank vor ihr. Kaum hatte sie sich wieder aufgerichtet, schnippte die Lehrerin mit dem Finger, als sei ihr gerade etwas elementar Wichtiges eingefallen. Aufgeregt sah sie in das Rund ihrer Schüler. „Wissen Sie, was ich denke?“ Vereinzeltes Kopfschütteln, keiner wusste es. „Das hier wäre doch der ideale Platz für ein Klassenfoto!“ Noch bevor irgendjemand protestieren konnte (es wäre wohl auch zwecklos gewesen), drückte sie ihr Handy auch schon Frau Sakamoto in die Hand, die sich ganz selbstverständlich dazu bereit erklärte, das Foto zu machen. Duke konnte sich ein Seufzen nur knapp verkneifen. Naja, es war nur ein Foto und würde wohl nicht allzu lange dauern. „Am besten stellen Sie sich alle mal da vorne auf den Steinstufen auf dem Weg zum Tempel auf!“ Mit leichtem Murren hier und da taten die Schüler wie ihnen geheißen, während die beiden Erwachsenen noch ein ganzes Stück weiter vor gingen, um sowohl den Tempel im Hintergrund als auch die Klasse optimal einzufangen. Duke und seine Freunde gruppierten sich eher auf der linken Seite. Yugi und Ryou stellten sich nach ganz unten vor die Stufen, Tea, Joey, Tristan und Duke in die zweite Reihe. Nach ein wenig hin und her mit einigen anderen Schülern um sie herum schien eine Aufstellung gefunden und Duke hatte ganz links außen neben Tristan seine finale Position bezogen. Frau Kobayashi überwachte den gesamten Aufstellungsprozess von vorne und sah immer wieder prüfend über Sakamoto-sans Schulter auf das Display ihres Telefons. Mit der rechten Hand gestikulierte sie wild in der Luft und wies noch ein paar Schülern die in ihren Augen richtigen Plätze zu. „Mr. Kaiba, rücken Sie doch bitte noch ein wenig mehr nach links – also für Sie rechts – ach, einfach etwas näher an den Rest heran!“ Duke fror auf der Stelle ein. In dem Gewusel hatte er überhaupt nicht darauf geachtet, wo Kaiba war, doch er musste irgendwo hinter ihm stehen, denn vor oder irgendwo neben sich konnte er den Brünetten nicht entdecken. Er wagte es nicht den Kopf zu drehen, um seine Vermutung zu überprüfen. Stattdessen lauschte er mit plötzlich geschärftem Gehörsinn auf jedes einzelne Geräusch in seinem Rücken. Die kleinen Steine auf den Stufen knirschten unter Kaibas Schuhen. Ganz nahe, direkt hinter ihm. Dann kein Knirschen mehr, stattdessen der winzige Luftzug der Bewegung, der Duke einen allzu bekannten Duft in die Nase wehte. Herber als noch heute Morgen im Bad, die fruchtigen Noten mussten sich über den Tag verflüchtigt haben. Duke schluckte. „Und jetzt bitte noch etwas weiter vor, Mr. Devlin und Mr. Taylor beißen nicht!“, flötete die Lehrerin in ihrer anstrengenden, resoluten Fröhlichkeit. Duke schloss für eine Sekunde die Augen. Sein Kiefer, seine Schultern, seine Muskeln, alles in ihm war angespannt, seine Eingeweide erneut ein einziger Knoten. Wieder leises Knirschen, noch eine Bewegung hinter ihm, etwas streifte ganz kurz die Rückseite seiner Oberschenkel – vermutlich der Stoff von Kaibas geöffnetem Mantel. Ein leichter, kaum spürbarer Lufthauch zog in regelmäßigem Takt in seinen Nacken. Kaibas Atem? Oder nur eine Einbildung? Sein Herz schien völlig aus dem Rhythmus und sich in seinem Brustkorb in wilder Raserei zu überschlagen, während er nur stocksteif dastehen konnte. Es wäre Duke schwer gefallen, zu entscheiden, wohin er im Augenblick lieber wollte: Ganz weit weg oder viel näher heran. Beides war gleichermaßen schwer zu realisieren und er gezwungenermaßen an seinem Platz festgenagelt. Hoffentlich war Kobayashi-sensei langsam zufrieden und ließ Sakamoto-san endlich den verfluchten Auslöser drücken! Doch, es musste Kaibas Atem sein. Er war Duke tatsächlich so nah. Zum ersten Mal seit … „Also dann, sagen Sie ‚Cheese’!“ Bevor er sich noch weiter in seinen Gedanken verlieren konnte, eilte Frau Kobayashi neben die Schüler auf die rechte Seite und grinste in die Handykamera, die Sakamoto-san auf sie gerichtet hielt. Zum wiederholten Male an diesem Tag zwang sich Duke zu einem verhaltenen Lächeln; sein gewohntes Posterboy-Grinsen wollte ihm diesmal einfach nicht gelingen. Nachdem sie mehrmals geknipst hatte, ließ Frau Sakamoto das Telefon sinken, und nickte zur stummen Bestätigung, dass die Fotos ihrer Meinung nach gelungen waren. Sofort hastete Frau Kobayashi wieder zu ihr, um sich ebenfalls von der Qualität der Bilder zu überzeugen. Wieder spürte Duke einen Luftzug hinter sich, der ihm verriet, dass sich Kaiba sofort wieder entfernt hatte, und er entließ den Atem, den er offenbar fast die ganze Zeit unbewusst an- oder wenigstens flach gehalten hatte. Auch die restlichen Schüler strömten sofort wieder auseinander, wie eine Soldatenkompanie, die erst stillgestanden und nun das Kommando bekommen hatte, sich rühren zu dürfen. Niemand wollte ernsthaft auf ein Zeichen warten, ob die Lehrerin wirklich zufrieden war. Das glückliche Lächeln, mit dem Frau Kobayashi ihr Telefon wieder an sich nahm, ließ das jedoch zum Glück vermuten. Der Fußmarsch zurück zum Parkplatz vor der Burg ging weitestgehend schweigend vonstatten. Erschöpfung hatte sich breit gemacht, die Schüler hatten über den Tag viel gesehen, neue Eindrücke gewonnen, Interessantes erfahren, sich gelangweilt. Und manch einer hatte zusätzlich noch eine emotionale Achterbahnfahrt hinter sich. Duke lief mit seinen Freunden relativ weit vorne, Kaiba musste wie üblich irgendwo am Ende der Kolonne sein, jedenfalls konnte er ihn nicht sehen und war auch nicht undankbar dafür. Nachdem sie sich alle im Bus einsortiert hatten, jeder wieder auf dem gleichen Platz wie heute morgen, fuhr das Fahrzeug an und rollte langsam vom Parkplatz. Fast gleichzeitig zückten in dieser Sekunde fast alle Schüler ihre Telefone und auch Dukes Handy vibrierte in seiner Tasche. Tristan hatte sein Smartphone als erster zur Hand. „Ah, seht mal, Ginta hat das Klassenfoto in den Gruppenchat gepostet!“ Tea sah sich das Foto ebenfalls an und schüttelte peinlich berührt den Kopf. „Oh mein Gott, wie sehe ich denn wieder aus?!“ „Toll natürlich, wie immer!“, beruhigte Yugi sie leicht errötend und auch auf Teas Wangen trat ein sanftes Rosa. Neugierig und mit pochendem Herzen fischte Duke ebenfalls nach seinem Telefon, öffnete das Foto und zoomte hinein. Kaiba hatte in der Tat ganz nahe hinter ihm gestanden und sah mit ernstem Blick geradewegs in die Kamera. Abgesehen von seinen leicht verwehten Haaren und der etwas alltäglicheren Kleidung sah er genauso aus, wie auf gefühlt jedem seiner Pressefotos der letzten Jahre. Fast war Duke ein wenig enttäuscht, auch wenn er sich fragte, warum eigentlich. Hatte er ernsthaft erwartet, dass Kaiba sich ausgerechnet auf einem Foto irgendwie verraten würde? Und was war mit ihm? Trotz seiner inneren Unruhe und Anspannung sah auch er selbst aus wie immer, nur sein Lächeln etwas schmaler und unscheinbarer, als es vielleicht sonst gewesen wäre. Hm. Aber eigentlich … Er vergrößerte den Ausschnitt noch etwas mehr, sodass nur noch Kaiba und er zu sehen waren. Eigentlich sahen sie gar nicht so schlecht aus zusammen. Duke konnte fühlen, wie die Enge in seinem Brustkorb langsam nachließ und sich seine Mundwinkel kaum merklich hoben. Die Antworten auf die Fragen, die er letzte Nacht in seiner ganzen Überforderung noch nicht hatte geben können, lagen mit einem Mal vollkommen klar vor ihm: Wollte er, dass es weiterging? Ja. Am Ende wäre es doch mehr als schade, wenn diese für ihn in jeder Hinsicht einmalige Erfahrung genau das bliebe: eine einmalige Erfahrung. Würde es überhaupt weitergehen? Nun, das hing nicht zuletzt von Kaiba ab. Vielleicht würde er es beenden, noch bevor es überhaupt richtig angefangen hatte. Vielleicht aber auch nicht. Verstohlene Blicke allein würden jedenfalls nicht ausreichen, um das zu beantworten. Wie sollte es weitergehen? Gesetzt den Fall, Kaiba würde es tatsächlich nicht beenden wollen, war das nun wirklich ein nachrangiges Problem. Sie würden schon einen Weg finden. Kaiba und er hatten zusammen weiß Gott genügend Einfallsreichtum und wenn er es bei Serenity geschafft hatte, alles möglich zu machen, dann würde er das jetzt erst recht versuchen. Seine nervöse Aufregung war noch immer da, als er das Display wieder ausschaltete und sein Telefon verstaute. Jetzt jedoch, da Duke zum ersten Mal eine Idee hatte, wo er in alldem stand, hatte sich die Beklemmung von vorhin in eine Art prickelnde Vorfreude verwandelt: fast wie damals, als er nach Japan gekommen war und einfach alles möglich schien, oder noch früher, wenn er als Kind am Morgen des 25. Dezember aufgewacht war und wusste, dass im Wohnzimmer unter dem Weihnachtsbaum Geschenke auf ihn warteten. Natürlich war der Ausgang diesmal um einiges ungewisser: Er hatte keine Ahnung, ob sich seine Wünsche wirklich erfüllen würden und auch nur sehr begrenzt Einfluss darauf, aber hey … nicht mehr lange und er würde es herausfinden. Also was sollte es? Lebte man nicht genau für solche Momente?! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)