Skater Love von yamimaru ================================================================================ Kapitel 1: Unerwarteter Besuch ------------------------------ Unbewusst trommelten meine Finger auf dem Fensterbrett herum, während ich den Blick nach draußen schweifen ließ. Viel war nicht zu sehen, die Stadt versank in winterlichem Grau, und dennoch konnte ich mich nicht von ihrem Anblick losreißen. Einerseits hatte es beinahe etwas Meditatives, dem Schneeregen beim Fallen zuzusehen, andererseits hätte ich am liebsten geschrien und mir die Haare gerauft, so viel nervöse Energie steckte mir in den Knochen. Der frisch gebrühte Tee, der dampfend auf dem kleinen Wohnzimmertisch stand, roch auf wohlige Weise nach Zimt und roten Früchten; der perfekte Begleiter zu dem Duft der frischen Tannenzweige, die in einer großen Vase auf dem Boden neben mir standen. Um die Zweige hatte ich eine dezente Lichterkette gelegt, deren Schein mich nun auf fast hypnotische Weise zu beruhigen versuchte. Zwecklos, wie ich zu meinem persönlichen Verdruss anmerken musste. Ein leises Seufzen kam mir über die Lippen und langsam bildete sich in meinem Magen ein unlösbarer Knoten aus Unsicherheit und Unwillen, mich noch länger von meinen verworrenen Emotionen beeinflussen zu lassen. Schlimm genug, dass ich die letzte Nacht kein Auge zugemacht hatte. Was war denn nur los mit mir? So lebensverändernd war dieses Treffen nun auch nicht gewesen, obwohl ich zugeben musste, dass ich es mehr genossen hatte, als ich für möglich gehalten hatte. Verdammt, ich kannte diesen Wesenszug an mir, nur hatte ich gehofft, ihn mit dem Alter hinter mir gelassen zu haben. Offensichtlich jedoch nicht. Ich stand kurz davor, jede Kleinigkeit des gestrigen Tages gedanklich in ihre Einzelteile zu zerlegen, und das hatte mir noch nie gutgetan. Wer hatte auch damit rechnen können, dass es mich derart aus dem Konzept bringen würde, wenn ich mich mit einem Freund verabredete, um den Nachmittag gemeinsam auf der hiesigen Eisbahn zu verbringen? Ich sicherlich nicht.   Gerade, als ich mich von der winterlichen Tristesse losreißen konnte und mich aufs Sofa setzen wollte, um mir den Tee schmecken zu lassen, klingelte es an der Wohnungstür. Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, die Störung zu ignorieren, aber meine angeborene Neugierde ließ das nicht zu. So ging ich um das Sofa herum, statt mich zu setzen, und hatte gerade den Finger auf den Knopf der Gegensprechanlage im Flur gelegt, als jemand zaghaft gegen das Türblatt klopfte.   „Zero? Bist du zu Hause?“   War das etwa Karyu? Ich runzelte die Stirn, weil ich die Stimme nicht genau erkannt hatte, und sah durch den Spion. Tatsache. Da stand der hochgewachsene Gitarrist vor meiner Wohnung. Was machte der denn hier? Die nervöse Energie in meinem Inneren erreichte neue Höhen, aber endlich schaffte ich es, ihr rigoros den Riegel vorzuschieben. Wäre ja noch schöner.   „Ja, bin da, warte kurz“, antwortete ich, bevor ich mir noch weitere Fragen stellen würde, die ohnehin nur der andere beantworten konnte. So schob ich die Sicherheitskette zurück und öffnete meinem unerwarteten Besucher. „Hey … was hat dich denn hierher verschlagen? Und wie siehst du überhaupt aus?“ Stirnrunzelnd musterte ich mein Gegenüber. Karyus Gesicht war zwischen der Wollmütze, dem Mundschutz und dem dicken Schal, den er um den Hals geschlungen hatte, kaum zu erkennen, aber das, was ich sah, machte keinen gesunden Eindruck. Seine Augen glänzten fiebrig und sein Teint wirkte fahl. Trotz der warmen Winterkleidung, in der er steckte, jagte in regelmäßigem Abstand ein Zittern durch seinen Körper und ließ ihn auf eigenartige Weise wie eine dürre Weide im Wind aussehen. „Komm erst einmal rein, du lässt die ganze Kälte in die Wohnung“, verlangte ich, nachdem er auf keine meiner Fragen reagiert hatte, umfasste seinen Unterarm und zog ihn ins Innere.   „Danke“, krächzte er, ging jedoch sogleich auf Abstand, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war. „Ich weiß, ich sehe nicht danach aus, aber ich bin nicht ansteckend. Mein Selbsttest war negativ und der in der Klinik auch.“   Oh, an das große C, das weiterhin wie ein Damoklesschwert über der Menschheit schwebte, hatte ich gerade tatsächlich nicht gedacht. Nachlässig von mir, aber vielleicht auch nur ein Zeichen dafür, wie ablenkend Karyus Präsenz im Augenblick auf mich wirkte. „Schon gut“, murmelte ich also beschwichtigend und zog ihm den erstaunlich gut gefüllten Rucksack von der rechten Schulter. „Nun zieh dir erst mal die Straßenkleidung aus und komm ins Wohnzimmer. Über den Grund deines Besuchs können wir auch noch sprechen, wenn du nicht mehr danach aussiehst, als würdest du jeden Moment umkippen.“   „So schlimm?“   „Sagen wir es so, ich war noch höflich.“ Ich stellte den Rucksack auf die Seite und nahm Karyus dick gefütterten Parka entgegen, um ihn an die Garderobe zu hängen. Als Nächstes bugsierte ich den Großen, der mittlerweile aussah, als würde er auf der Stelle einschlafen, durch meine Wohnung, bis ich ihn aufs Sofa drücken konnte.   „Hier.“ Ich hielt ihm meine Tasse hin, auf Tee hatte ich jetzt ohnehin keine Lust mehr, und setzte mich mit etwas Abstand neben ihn. „Wieso liegst du in deinem Zustand eigentlich nicht bei dir zu Hause im Bett, sondern tingelst durch die halbe Stadt, um vor meiner Wohnung aufzuschlagen?“ Je länger ich mein Gegenüber musterte, desto besorgter wurde ich.   „Ich …“, begann Karyu heiser, zog sich endlich den Mundschutz vom Gesicht und trank einige kleine Schlucke des heißen Tees. „Meine Heizung … hatschi!“ Karyus Erklärung fiel dank einiger lauter Nieser deutlich kürzer aus, als er wohl geplant hatte, aber auch so hatte ich eine vage Ahnung davon bekommen, wo das Problem liegen könnte. Mitleidig verzog ich das Gesicht, obwohl ich nicht hätte sagen können, ob ich den Großen oder vielmehr mich selbst bedauerte.   „Warte kurz, du siehst aus, als würdest du jeden Moment anfangen, mit den Zähnen zu klappern. Ich hol dir eine Decke, trink derweilen deinen Tee, okay?“ Ich wartete nicht auf eine Reaktion, erhob mich stattdessen und tat, was ich angekündigt hatte. Ein wenig fühlte sich mein Aufbruch wie eine Flucht an, aber wenn das eintraf, was ich vermutete, brauchte ich jede Auszeit, die ich bekommen konnte – und sei sie noch so kurz. „Warum ausgerechnet er, warum jetzt?“, wisperte ich und rieb mir übers Gesicht. Plötzlich war die Nervosität wieder da und schickte ein unangenehmes Zittern durch meine Glieder. Verflucht, ich hasste dieses Gefühl. Viel zu schnell hatte ich eine Wolldecke aus meinem Kleiderschrank genommen und war ins Wohnzimmer zurückgekehrt, wo ich Karyu meine Errungenschaft um die Schultern legte.   „Hier, besser?“   „Ja, danke.“   „Wie konntest du dich nur so erkälten?“, stellte ich eine Frage, deren Antwort ich längst kannte. „Oder nein, sag nichts. Ernsthaft, Karyu, ich hab dir doch gesagt, dass du krank wirst, wenn du so vor die Tür gehst. Aber der Herr weiß natürlich mal wieder alles besser und zieht nicht mal im tiefsten Winter eine anständige Jacke an.“   „Gerade hatte ich eine anständige Jacke an“, murmelte Karyu und schmunzelte verlegen.   „Ja, die Betonung liegt auf ‚gerade‘. Und was war gestern?“   „Gestern war es nicht so kalt, ich dachte, das würde schon gehen. Ich wollte nicht noch mal extra deswegen zum Auto zurückgehen und dich warten lassen.“   „Wenn man auf der Eisbahn mehr mit dem Boden knutscht als Runden zu drehen, ist es ohne Jacke ganz offensichtlich doch zu kalt gewesen. Nächstes Mal vergisst du lieber deine Ritterlichkeit und denkst stattdessen an deine Gesundheit. Davon haben wir am Ende alle was.“   „Aber im Gegensatz zu dir hab ich wenigstens versucht, mich auf den Schlittschuhen zu bewegen. Zählt das nicht auch für etwas?“   „Nein.“ Ich grinste, als Karyu eine kleine Schnute zog, seinen eingeschnappten Gesichtsausdruck jedoch nicht lange aufrechterhalten konnte, weil er erneut von einem Niesen geschüttelt wurde. „Außerdem hast du eine ganz falsche Sicht auf die Dinge. Ich kann mir eingestehen, wenn ich etwas nicht kann, im Gegensatz zu dir. Und der Glühwein dort war echt lecker. Du hättest auch lieber einen trinken sollen, statt einen auf Eisprinzessin zu machen.“ Ich grinste schief, als ich mich wieder an Karyus Verrenkungen auf dem Eis zurückerinnerte.   „Pfff.“   „Aber mal zurück zum eigentlichen Thema: Was bringt dich hierher und was ist mit deiner Heizung?“ Karyu versteckte die Hälfte seines Gesichts hinter der Tasse oder zumindest kam es mir so vor, als er mich über den Rand hinweg aus seinen großen, glasigen Augen fast beschwichtigend ansah. Verflucht, dieser Welpenblick gehörte verboten. „Jetzt sag schon“, murrte ich und wirkte sicherlich mürrischer, als ich eigentlich war. Aber meine Vorahnung schien sich zu bewahrheiten und ich war mir absolut nicht sicher, wie ich das überstehen sollte.   „Na ja, die Sache ist die … Ich bin heute Morgen nicht nur mit verstopfter Nase und einem dicken Kopf aufgewacht, sondern auch in einer eiskalten Wohnung. Mein Vermieter konnte mir nur sagen, dass die Heizanlage ausgefallen ist und es einige Tage dauern wird, bis sie repariert werden kann.“   „Oh, nein“, seufzte ich und rieb mir über die Nasenwurzel.   „Ich wäre ja in ein Hotel gegangen, aber …“   „So, wie du aussiehst, schicken die dich doch gleich in Quarantäne.“   „Eben.“   „Du willst also hierbleiben?“   „Wenn ich darf?“   „Natürlich darfst du. Ich setze dich in deinem Zustand sicher nicht vor die Tür.“   „Aber wirklich glücklich darüber bist du auch nicht gerade, oder?“ Täuschte ich mich, oder gesellte sich zu dem fiebrigen Glanz in Karyus Augen nun noch so etwas wie Enttäuschung? Himmel, wie sollte ich die nächsten Tage in seiner Gegenwart ertragen, wenn ich mich nach Minuten bereits nicht mehr ganz zurechnungsfähig fühlte? Das konnte doch nur in einem Desaster enden. Aber wie wir beide bereits festgestellt hatten, mangelte es an sinnvollen Alternativen.   „Das liegt nicht an dir, ehrlich“, versuchte ich also, den Großen zu beschwichtigen, wusste ich doch nur zu gut, wie sensibel er reagieren konnte. „Ich hatte nur andere Pläne, aber nichts, was ich nicht verschieben könnte.“   „Wolltest du deine Eltern besuchen?“   „Nein, das nicht. Meine Eltern verbringen die nächsten Wochen auf Okinawa bei meiner Tante, da wären wir ohnehin zu viele, wenn ich da auch noch aufschlage.“   „Verstehe.“ Karyu zupfte ein Taschentuch aus der Box, die ihren angestammten Platz auf dem Glastisch vor ihm hatte, drehte sich weg und putzte sich lautstark die Nase. „Entschuldige.“   „Nicht dafür.“ Ich winkte ab, musste mich jedoch zusammenreißen, den anderen nicht übertrieben anzustarren. Wenn es nach mir ginge, hätte ich Karyu längst ins Bett verfrachtet, damit er sich erholen und gesund werden konnte, aber er schien anderes vorzuhaben.   „Verrätst du mir, was du unternehmen wolltest?“ Ich seufzte, verschränkte die Finger in meinem Schoß, nur um sie in der nächsten Sekunde zu lösen und meine schwitzenden Handflächen an meiner Hose abzuwischen. „Ist alles in Ordnung? Wenn ich wieder einmal zu neugierig bin, sag es mir, bitte.“   „Nein, quatsch“, winkte ich ab, obwohl Karyu den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Mir war es unangenehm, über meine Pläne zu sprechen, und ich wusste nicht einmal wieso. „Mir ist nur zu warm“, log ich also und zog mir zur Untermalung den Pullover über den Kopf. Nun also im T-Shirt neben Karyu sitzend, hatte mein verräterischer Körper nichts Besseres zu tun, als meine Schwindelei mittels einer Gänsehaut auffliegen zu lassen. Schönen Dank auch. Karyu musste es bemerkt haben, sagte jedoch nichts, sondern schaute mich noch immer neugierig an. „Ich wollte ausmisten, noch ein wenig für Weihnachten dekorieren und …“ ich tat so, als würde ich mir über die Nase reiben, während mir die nächsten Worte nuschelnd über die Lippen kamen.   „Wie bitte?“   „Kekse backen. Ich wollte Kekse backen“, gab ich geschlagen zu und wusste genau, was Karyu nun sagen würde.   „Das ist ja cool, dann werde ich tatsächlich die einmalige Gelegenheit haben, mitzuerleben, wie die himmlischen Kekse entstehen, mit denen du uns seit Jahren versorgst?“   Na toll, genau mit dieser Reaktion hatte ich gerechnet. Verdammt, ich war so am Arsch. „Ja, genau.“ Ich schaffte es gerade so, nicht abgrundtief zu seufzen, als sich auf Karyus spröde Lippen ein kleines Lächeln schlich.   „Ich helfe dir“, verkündete er dann auch mit so viel Enthusiasmus, wie es sein desolater Zustand zuließ.   „Ich würde sagen, du ruhst dich erst einmal aus. Alles andere sehen wir dann.“ Verflucht, ich hätte doch auf den Vorschlag meiner Mutter eingehen sollen. Nicht umsonst hatte sie angeboten, noch vor ihrem Besuch bei Tante Aiko die Kekse für meine Freunde zu backen. Mit Traditionen sollte man eben nicht brechen. Was hatte mich nur geritten, dass ich ernsthaft geglaubt hatte, das allein hinzubekommen? Wenn ich jedoch ehrlich war, musste ich zugeben, dass ich mir mein sprichwörtliches Grab schon vor langer Zeit geschaufelt hatte. Hätte ich mich erst gar nicht mit fremden Federn geschmückt, wäre das alles jetzt kein Problem. Aber, nein, ich musste ja angeben und behaupten, ein Meisterbäcker zu sein. Und warum das alles? Keine Ahnung. Vermutlich hatte ich damals einfach meine Freunde beeindrucken wollen oder war süchtig nach ihrer Anerkennung gewesen und nun hatte ich den Salat. Und als Bonus würde ich nun auch noch einen Zeugen haben, der mein Scheitern live mitbekommen würde. Ich unterließ es, vor lauter Frust mit den Zähnen zu knirschen, und schenkte Karyu stattdessen ein nur etwas gezwungen wirkendes Lächeln. „Ich überzieh dir schnell das Bett frisch, dann kannst du dich hinlegen.“   „Mach dir bitte keine Umstände, ich kann mich auch auf dem Futon lang machen.“   „Nichts da“, meckerte ich und schickte einen strengen Blick hinterher, der mein Gegenüber verstummen ließ. Kopfschüttelnd erhob ich mich und ging zum zweiten Mal in der letzten viertel Stunde in mein Schlafzimmer.   Um ehrlich zu sein, hatte ich vorgehabt, zu trödeln, um so Karyus Gegenwart so lange wie möglich zu entgehen. Aber nicht zuletzt die Tatsache, dass mein Freund wirklich nicht gut aussah und ich ihn in regelmäßigem Abstand husten oder niesen hörte, spornte mich zu neuen Höchstleistungen an. Das Bett also in Rekordzeit gemacht und den Raum gut gelüftet, kehrte ich ins Wohnzimmer zurück und bedeutete meinem Gast mit ausladender Handbewegung, dass er sich gefälligst ins Bett verziehen sollte.   „Kann ich dir noch was bringen? Hast du Hunger? Brauchst du etwas gegen Kopfschmerzen? Ich kann dich auch einreiben, wenn dir das hilft?“   „Hey.“ Karyu hatte sich vor mich gestellt und lächelte mich mit einem Mal auf so eigenartige Weise an, dass mir ganz anders wurde. „Mach dir nicht so einen Kopf. Ich werde die Medizin nehmen, die mir der Arzt vorhin verschrieben hat, und dann bin ich erst einmal glücklich und zufrieden, wenn ich mich hinlegen kann.“   „O… okay“, murmelte ich lahm und blinzelte. „Ich stell trotzdem einen Topf Hühnersuppe auf, die schadet dir nicht und irgendwas muss ich mittags schließlich auch essen.“   „Das hört sich nach einem guten Plan an.“ Karyu nickte und für einen irrwitzigen Moment hatte ich das Gefühl, er würde mir näher kommen, als es in der gegenwärtigen Situation angemessen gewesen wäre. Aber der Augenblick war so schnell vorbei, wie er gekommen war, und ließ mich wieder einmal an meinem Verstand zweifeln.   „So, husch jetzt, ab mit dir ins Bett“, murrte ich und scheuchte ihn aus dem Wohnzimmer, während ich mich in der Küche verbarrikadierte. Himmel, was sollte das noch werden? tbc … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)