Skater Love von yamimaru ================================================================================ Kapitel 5: Längst überfälliger Entschluss ----------------------------------------- „Du erinnerst dich also.“ Ich spürte, wie sich meine Augen weiteten und alles in mir und um mich herum still wurde. Mein Atem stockte, während ich nur immer tiefer und tiefer in Karyus offenen Blick zu stürzen schien. Ich war also nicht der Einzige, der sich an diese Nacht erinnerte. Im Moment war das der letzte klare Gedanke in meinem Kopf, alle anderen hatten die Flucht ergriffen und warteten hinter meinen Gehirnwindungen bebend auf Karyus Urteil. Aber es blieb aus, ebenso wie ein verletztes Flackern in seinem Blick, mit dem ich fest gerechnet hatte. Stattdessen kam er mir langsam näher, bis seine Stirn gegen meine lehnte und ich sein Gesicht nicht länger erkennen konnte. „Ich dachte, du hättest es vergessen. Warum hast du nie etwas gesagt?“   „Das …“ Ich holte Luft, weil ich noch immer das Gefühl hatte, in meinen Emotionen ertrinken zu müssen. „Warum hast du denn nie was gesagt?“ Ich legte den Daumen über seine Lippen, als er den Mund öffnete. Sicher hatte er mich darauf hinweisen wollen, dass es unhöflich war, eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten. Recht hatte er. Trotz meiner Anspannung musste ich schmunzeln – das war so typisch für ihn. „Ich denke, ich war einfach froh, dass zu dieser Zeit alles größere Priorität hatte als ein Kuss zwischen zwei Betrunkenen.“   „So betrunken war ich gar nicht.“   „Ich auch nicht, aber darum geht es nicht.“   „Worum dann?“   Ich kniff kurz die Augen zusammen, bevor ich auf Abstand ging, um Karyu wieder ansehen zu können. Gleichzeitig zog ich meine Hand zurück, was ihm, so wie er mich anschaute, nicht sonderlich gefiel. Pech, da musste er jetzt durch. Ich brauchte wenigstens ein bisschen Distanz zwischen uns, sonst würde ich gar nicht mehr denken können. „Mensch, Karyu, überleg doch mal. Ich war in einer Beziehung …“ Ich rieb mir über die Nasenwurzel, um mir ein wenig Zeit zu verschaffen. „Außerdem war ich mir damals noch sicher, hetero zu sein. Etwas anderes war mir bis dahin nie in den Sinn gekommen.“ Ich zuckte die Schultern, als Karyu mit den Augen rollte. „Tut mir ja leid, manche von uns brauchen eben länger.“ Unangenehm berührt biss ich mir auf die Unterlippe, als ich erneut nicht wusste, wie ich mich ausdrücken sollte. „Du warst damals schon ein so offener Mensch, der keine Gelegenheit ausgelassen hat, zu flirten oder immer neue Partner zu suchen, und ich war das komplette Gegenteil. Ich hab lange nicht verstanden, warum ich dir deinen Lebenswandel so übel genommen habe.“ Zerknirscht lächelte ich und hatte begonnen, mit einem abstehenden Stück Nagelhaut an meinem Daumen zu spielen.   „So, wie du mich beschreibst, lässt mich das wirklich nicht in einem guten Licht dastehen.“ Karyu fuhr sich durch die Haare, was ihn noch mehr wie frisch aus dem Bett gefallen aussehen ließ. „Aber es ist die Wahrheit, da kann ich mich nicht mal für rechtfertigen.“   „Sollst du auch gar nicht.“ Ich schüttelte den Kopf und legte für einen kurzen Moment meine Hand über die seine. „Ich versuche, dir nur irgendwie klarzumachen, was damals in mir vorgegangen ist. Ich glaube, der Hauptgrund, warum ich nie etwas gesagt habe, ist, dass ich Angst davor hatte, mich, meine Sexualität und alles, was ich bis zu diesem Zeitpunkt als nicht veränderlich angesehen hatte, infrage zu stellen, um schlussendlich nur einer von vielen zu sein.“ Erst, als ich diese Worte ausgesprochen hatte, wurde mir bewusst, wie wahr sie waren.   Karyu schloss für einen langen Moment die Augen, als hätte ihn das Gesagte tief getroffen. Verdammt, das hatte ich nicht gewollt. Manchmal war meine Offenheit mehr Fluch als Segen, kein Wunder also, dass ich meist alles für mich behielt. Nun spürte ich am eigenen Leib, was meine Ehrlichkeit angerichtet hatte. „Karyu“, murmelte ich und streichelte zaghaft über seinen Handrücken. „Das war kein Vorwurf. Ich wollte nur, dass du mich verstehst …“   „Ich hab mich geändert.“   „Das weiß ich.“   „Und gerade du wärst nie nur einer von vielen gewesen.“ Ich öffnete den Mund, ohne jedoch etwas sagen zu können. Mein Herz krampfte, als mir wieder der Gedanke in den Sinn kam, was ich alles hätte haben können, hätte ich nur früher gewusst, was ich wollte. „Aber weißt du was?“   „Nein, was denn?“   „Ich glaube, es ist gut, dass wir nie darüber gesprochen haben.“   „Was? Wieso?“   „Ich hab das Gefühl, als wäre damals einfach nicht unsere Zeit gewesen. Wie du schon sagtest, alles andere, die Band, die Musik und unser Erfolg, alles war wichtiger als wir selbst. Es war einfach alles viel größer als wir …“   „Und …“ Seine Worte hatten mir eine Gänsehaut verpasst und meine Stimme war ganz rau geworden. „Was machen wir nun?“   Plötzlich fühlte ich seine Hand an meiner Wange. Ohne, dass ich es bewusst hätte beeinflussen können, sanken meine Lider herab, bis ich ihn nur noch aus zwei schmalen Schlitzen ansah. Er kam mir immer näher, ein sanftes Lächeln auf den Lippen, die sich keinen Herzschlag später auf die meinen legten. Die Zeit schien still zu stehen, das Blut rauschte so laut in meinen Ohren, dass ich nicht einmal meine eigenen Gedanken noch hören konnte. Vielleicht dachte ich auch gar nicht mehr, was mich nicht überraschen würde. So viele Emotionen und Empfindungen auf einmal konnten nur einen Kurzschluss verursachen. Erst als seine Hand in meinen Nacken glitt und ihre Wärme mich dort zu ankern schien, realisierte ich richtig, was gerade passierte. Karyu küsste mich und ich? Ich machte mit nahezu demselben Enthusiasmus mit. Himmel, das fühlte sich so gut an, viel besser als in meinen Erinnerungen.   Ein leises Seufzen entfloh mir, als Karyu sich kurz löste und sich provokant langsam über die Unterlippe leckte, als wollte er sagen, dass ich ihm schmeckte. Der neckische Glanz in seinen Augen schien diese Vermutung zu bestätigen, aber noch bevor ich etwas darauf hätte sagen können, küsste er mich erneut. Nun fielen mir endgültig die Augen zu und ich krallte mich im Stoff seines Oberteils fest, als ich das Gefühl hatte, mir würde der Boden unter den Füßen weggerissen. Ein dummer Gedanke, schließlich saßen wir beide auf dem Sofa, aber gut. Ausgeprägte Hirnleistungen waren von mir momentan wirklich nicht zu erwarten. Doch trotz des wohligen Nebels, in den mich Karyu und seine Küsse mehr und mehr zu ziehen schienen, drängte sich mir eine Frage auf. Wie sollte das alles hier nur weitergehen? Ich versuchte, wieder in das genussvolle Nichts abzutauchen, in dem es keine Sorgen und Denkspiralen gab, aber einmal gedacht, ließ sich die Frage nicht länger ignorieren.   Unwillig zog ich den Kopf zurück, bis sich unsere Lippen zwangsläufig trennten. Karyu murrte leise, versuchte, mich erneut einzufangen, aber ich blieb standhaft. Mit gesenktem Kopf schob ich ihn auf Armeslänge von mir, bis auch er verstand, dass es mir ernst war. „Wir können das nicht tun“, murmelte ich so leise, als hoffte ich, er würde mich nicht verstehen.   „Nein? Und warum nicht?“   „Karyu.“ Ich hasste den jammernden Unterton in meiner Stimme, aber verdammt, warum musste er es mir so schwer machen? „Wir kennen uns seit mehr als zwanzig Jahren und sind beinahe genauso lang befreundet. Das können wir doch nicht alles einfach so aufs Spiel setzen!“ Ruckartig hob ich den Kopf und funkelte ihn an. „Stell dir vor, das ist nur eine Phase, und irgendwann bereuen wir das hier.“   „Wie lange?“   „Mh?“   „Wie lange empfindest du schon mehr für mich als nur bloße Freundschaft?“   „Das … ich … darum geht es doch jetzt gar nicht.“   „Wie lange?“ Sein Blick war lauernd, als würde er mich herausfordern wollen.   „Ich weiß nicht genau.“ Ich verzog das Gesicht, als ich mir ein Stück der abstehenden Nagelhaut abriss und die verletzte Stelle unangenehm zu brennen begann. Aber obwohl Karyus Blick kurzzeitig zu meinem Daumen wanderte und ich für eine Sekunde den Eindruck hatte, er würde etwas zu meiner kleinen Selbstverstümmelung sagen wollen, blieb er stumm. Ich schnaubte und hätte mein Gesicht am liebsten hinter beiden Händen versteckt, um ihn nicht länger ansehen zu müssen. „Ich glaube…“, begann ich schließlich, als ich einsehen musste, dass ich mit meiner Hinhaltetaktik gegen Karyus Sturheit im Moment nicht ankommen würde. „Es hat im ersten Lockdown begonnen. Ich hatte so viel Zeit, dass ich gar nicht wusste, was ich damit anfangen sollte. Endlich hätte ich mal all die Treffen mit dir nachholen können, zu denen wir sonst nie gekommen sind, aber nein, wir durften uns ja nicht sehen.“ Ich zuckte mit den Schultern, mir selbst nicht ganz im Klaren, worauf ich mit meinem Gerede eigentlich hinauswollte. „Nicht, dass ich da gleich gewusst hatte, was los war, aber, ja, ich glaube, da fing es an.“   „Himmel, Zero, das sind beinahe zwei Jahre!“   „Ja?“   „Und da denkst du noch immer, dass es nur eine Phase sein könnte?“   „Ich …“   „Wovor hast du solche Angst?“   „Ich hab keine Angst“, wisperte ich mit bebender Stimme, die die Ernsthaftigkeit meiner Worte ins Lächerliche zog.   „Doch, die hast du.“ Sein Blick war derart liebevoll, dass ich die Augen schließen musste. Aber auch das brachte nicht die erhoffte Flucht, denn nun begannen lange Finger, zärtlich durch meine Haare zu fahren. Eine Gänsehaut ließ mich kurz erschauern, bevor ich all meinen Mut zusammenraffte und Karyu erneut in die Augen sah.   „Ja, verdammt, ich hab Angst. Ich will dich nicht verlieren, nur … nur ... weil ich plötzlich so empfinde, wie ich es tue. Ich will, dass alles wieder so wird, wie es immer war. Ich will mich in deiner Gegenwart nicht mehr befangen fühlen und dich vermissen, wenn wir uns länger nicht sehen können. Das ist doch alles scheiße, verdammt!“ Energisch erhob ich mich, löste mich von den zarten Berührungen, die mir die Sinne noch mehr zu vernebeln drohten, und raufte mir die Haare. Aber auch der schmerzhafte Zug an meiner Kopfhaut brachte nicht die gewünschte Wirkung. Nur mein Kopf machte mit stetigem Pochen darauf aufmerksam, dass er diese harsche Behandlung nicht sonderlich schätzte. „Ich brauch frische Luft“, nuschelte ich, während ich bereits zielstrebig in Richtung Flur unterwegs war.   „Warte.“   Ich schüttelte immer wieder den Kopf, während ich unwirsch in meine Schuhe stieg und mir Mantel und Schal überstreifte. Karyu stand dicht hinter mir, aber ich vermied es, ihn anzusehen. „Bitte“, murmelte ich schließlich, als er Anstalten machte, sich ebenfalls seine Winterkleidung anzuziehen. „Ich muss nachdenken. Außerdem bist du noch immer krank.“   „Frische Luft hat noch niemanden umgebracht und ich werde mich auch extra dick einpacken. Was ich allerdings nicht machen werde, ist, dich jetzt alleinzulassen und zu riskieren, dass du wieder einmal alles zerdenkst und mich vor vollendete Tatsachen stellst.“ Nun hob ich doch den Kopf, um ihn aus geweiteten Augen und mit leicht offen stehendem Mund anzusehen. „Schau nicht so.“ War sein Blick eben noch beinahe hart, wurde er mit jedem verstreichenden Herzschlag weicher, bis er sich vorbeugte und sanft meine Stirn küsste. „Ich schwöre hoch und heilig, dass ich dieses Thema mit keinem Wort ansprechen werde, solange wir unterwegs sind, nur … nimm mich bitte mit, okay?“   Mein Herz hätte aus Stein und unter einer meterdicken Eisschicht vergraben sein müssen, um keinerlei Verständnis für seine Worte aufbringen zu können. Leicht fiel es mir dennoch nicht, aber wenn ich für einen Augenblick ignorierte, dass alles in mir nach Flucht schrie, musste ich zugeben, dass er recht hatte. Es wäre unfair von mir, ihn mit all den ungeklärten Offenbarungen der letzten Minuten allein zu lassen.   „Okay.“ Ich versuchte mich an einem Lächeln, was mir jedoch kläglich misslang. Karyu sah mir nur unverwandt in die Augen, ohne etwas darauf zu sagen. Kurz bevor mir die angespannte Stille zwischen uns noch unangenehmer wurde, senkte er die Lider in einem langen Blinzeln und nickte.   „Wollen wir durch den Park gehen?“   „Ja, warum nicht.“ Mir war es egal, wohin wir gingen, Hauptsache ich bekam frische Luft. Fahrig packte ich Haustürschlüssel, Zigaretten und Feuerzeug ein, bevor ich für einen kurzen Moment mein Unbehagen vergessen konnte, als ich mein Gegenüber kritisch musterte. Ohne näher darüber nachzudenken, holte ich ein Paar Handschuhe aus der Kommode im Flur, reichte sie meinem Freund und steckte seinen Schal anständig fest. Karyu lächelte und ich hätte beim besten Willen nicht sagen können, ob es ein dankbares oder amüsiertes Lächeln war. Sicherheitshalber schnaubte ich, bevor mir mein Verhalten noch peinlich werden konnte, verließ die Wohnung und sperrte hinter uns ab.   „Gott, tut das gut“, stellte ich tief ein- und wieder ausatmend fest, als mir wenige Minuten später der doch recht kalte Wind um die Ohren pfiff. Gut, dass Karyus Parka eine dicke Kapuze hatte, die er sich fröstelnd sogleich über den Kopf zog, sonst hätte ich ihn noch einmal hochgeschickt, um sich wirklich winterfest zu machen. So jedoch war meine innerliche Fürsorge, was ihn betraf, für den Moment zufrieden.   Schweigend setzten wir uns in Bewegung. Die Straßen und Gehwege waren früher am Tag geräumt worden, dennoch bedeckte eine schmierige Schicht aus Halbgefrorenem Schnee den Boden. Die Luft war frisch, aber feucht und ließ mich vermuten, dass es später erneut regnen würde. Hoffentlich waren wir bis dahin wieder zurück, denn auf Eisregen hatte ich nun wirklich keine Lust.   Der Kies knirschte unter den Sohlen meiner Schuhe, als wir einige Zeit später den Park erreichten, und noch immer hatte Karyu kein Wort gesagt. Ich knabberte ekelhaft nervös auf meiner Unterlippe herum und suchte krampfhaft nach einem unverfänglichen Gesprächsthema. Genau das waren diese Situationen, die ich in den letzten Monaten zu hassen gelernt hatte. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hatten Karyu und ich über jeden Mist reden oder lachen können und selbst in den Momenten, in denen wir uns nichts zu sagen hatten, hatte ich mich in seiner Nähe wohlgefühlt. Und jetzt? Jetzt wäre ich am liebsten davongelaufen, nur um dieser aufgeladenen Spannung zwischen uns zu entfliehen.   „Das ist doch nicht die Möglichkeit“, murmelte er plötzlich neben mir, was mich so abrupt aus meinen Überlegungen riss, dass ich ihn mit großen Augen von der Seite her anstarrte.   „Wie bitte?“   Er grinste ein wenig wacklig, als hätte ihn meine etwas zu heftige Reaktion überrascht. Zu verübeln war es ihm nicht. „Ich hab nur gerade festgestellt, dass ich keine Ahnung habe, worüber wir reden könnten.“   „Manchmal bist du mir unheimlich.“   „Ach? Wieso das denn?“   „Mir ist gerade etwas Ähnliches durch den Kopf gegangen.“ Wieder musste meine Unterlippe dran glauben, während ich mich erneut in Bewegung setzte. Mir war gar nicht aufgefallen, dass wir stehen geblieben waren. Himmel, wo war ich nur mit meinen Gedanken?   „Es wundert mich, dass so wenig los ist.“   Aha, jetzt mussten wir uns also schon mit Small Talk über Wasser halten, aber mir sollte es recht sein. Alles war besser als dieses Schweigen. „Vermutlich verzichten noch immer einige darauf, auszugehen, damit sie zum Jahreswechsel ihre Familie besuchen können.“   „Damit könntest du recht haben. Fährst du zu deinen Eltern oder sind die beiden bis Silvester noch nicht wieder zurück?“   „Doch, geplant ist, dass sie einen Tag vorher nach Hause kommen. Du glaubst doch nicht, dass meine Mutter es sich entgehen lässt, ihre Schäfchen zum Jahreswechsel unter ihrem Dach zu haben.“   „Deine fürsorgliche Ader hast du eindeutig von ihr geerbt.“ Karyu grinste mich von der Seite her an und diese Tatsache brachte mich für einen Herzschlag so aus dem Konzept, dass ich gar nicht dazukam, seine Worte falsch zu verstehen.   „Danke, denke ich“, murmelte ich daher nur wenig eloquent und befürchtete schon, damit den kurzzeitigen Strom der Unterhaltung ausgetrocknet zu haben, da redete Karyu zum Glück weiter.   „Sieh mal, da drüben.“ Er deutete in die Richtung, in der ein kleiner Holzverschlag zu erkennen war. Im selben Moment fiel mir das cremig-rauchige Aroma auf, das schon eine ganze Weile in der Luft liegen musste. „Bin gleich wieder da, okay? Ich hol uns nur eine Portion Maroni.“   Noch bevor ich ihn hätte zurückhalten können, weil mein Magen noch von den Waffeln gut gefüllt war, war er auf die Holzhütte zugegangen und tauschte sich mit dem Verkäufer dahinter aus. Gerade musste Karyu irgendetwas sehr Unterhaltsames gesagt haben, denn der junge Mann lachte herzhaft auf, bevor er sich abwandte, um die bestellten Maroni herzurichten. Ein Teil in mir, den ich auf den Tod nicht leiden konnte, spuckte Gift und Galle bei diesem Anblick. Wie hasste ich diese unbegründeten, eifersüchtigen Momente doch, die sich ebenso wie diese unangenehmen Augenblicke des Schweigens in den letzten Monaten stetig häuften. Wie sollte das alles nur weitergehen?   Ich war so vertieft darin, mich innerlich zu zerfleischen, dass ich nicht mitbekommen hatte, wann Karyu an meine Seite zurückgekehrt war. Die warme Maroni jedoch, die beinahe meine Lippen berührte, bemerkte ich sofort. Leicht zuckte ich zurück, aber Karyu hielt die kleine Nuss wie ein Geschenk noch immer vor meine Lippen, dass ich nicht anders konnte, als schief lächelnd den Mund zu öffnen.   „So gefällst du mir schon besser.“   „Mh?“, brummte ich fragend mit vollem Mund und kaute auf der leckeren Maroni herum.   „Du hast gerade ausgesehen, als wäre dir eine Laus über die Leber gelaufen.“   „Ach das.“ Ich winkte ab, nachdem ich heruntergeschluckt hatte, und konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, als mir Karyu eine zweite Maroni hinhielt. „Willst du mich eigentlich mästen oder so?“   „Nein, ich mag es nur, dir eine Freude zu machen.“   „Süßholzraspler“, nuschelte ich, während ich mit den Zähnen nach der Nuss geschnappt hatte und sie mir schmecken ließ. „Mmmh, keine Arbeit, nur genießen. Ich glaub, du bist eingestellt.“   „Als was? Dein persönlicher Maroni-Puler?“   „Ja, ganz genau.“   Karyu schenkte mir ein beinahe verstohlenes Lächeln, das ich für den Moment nicht einordnen konnte. Im nächsten Augenblick setzte er sich wieder in Bewegung und nahm es mir somit ab, mir weitere Gedanken zu machen. Hin und wieder hielt er mir eine geschälte Maroni hin, naschte zwischendurch ebenfalls, und schien sich ansonsten die behandschuhten Finger an der Tüte zu wärmen.   „Ist dir kalt?“   „Ein wenig, aber solange es nicht wieder zu regnen anfängt, können wir ruhig noch etwas herumlaufen. Die frische Luft tut richtig gut.“   „Du sagst mir aber Bescheid, wenn es dir zu kalt wird, in Ordnung?“   „Versprochen.“   Wieder kehrte Stille zwischen uns ein, aber diesmal machte sie mich weniger befangen als eben noch. Vielleicht fing ich endlich an, mich daran zu gewöhnen? Leise schnaubte ich und schüttelte den Kopf, als mich Karyu fragend von der Seite her ansah. Was machte ich mir vor? Plötzlich lag ein kaum hörbares Surren in der Luft, aber noch bevor ich verwundert fragen konnte, wo das nun wieder herkam, fingen überall um uns herum kleine Lichtpunkte zu strahlen an. Stimmte ja, ich hatte gelesen, dass sich das weihnachtliche Lichtkonzept der Stadt in diesem Jahr selbst in die Vororte erstreckte, aber ich hatte nicht mitbekommen, dass dieser Park auch dazugehörte.   „Wow“, hauchte Karyu neben mir und ich konnte ihm nur stumm nickend zustimmen. Wir befanden uns auf einer Anhöhe, von der aus wir ein gutes Stück des Parks überblicken konnten. In der Ferne leuchtete sogar das Riesenrad, unter dem ein eher kleiner Weihnachtsmarkt aufgebaut war. Aber viel spektakulärer war der Anblick der Tausenden Lichter, die die Kronen der winterlich kahlen Bäume schmückten.   „Möchtest du noch auf den Weihnachtsmarkt gehen? Der ist zwar nicht so groß wie der, für den du die Karte hast, aber wir könnten ihn uns zumindest einmal ansehen.“ Karyu reagierte nicht, sah nur weiter wie verzaubert geradeaus und mein Herz fühlte sich plötzlich an, wie in eine warme, flauschige Decke eingehüllt. Ich atmete tief die kühle Luft ein und langsam begann das Karussell meiner Gedanken zum Stehen zu kommen. Beinahe hätte ich geseufzt, als all die Anspannung der letzten Stunden meinen Körper zu verlassen begann. Wenn ich Karyu so betrachtete, war alles nicht so schlimm, wie ich es mir die ganze Zeit über ausgemalt hatte. Vielleicht musste ich einmal in meinem Leben mutig sein und mich damit abfinden, dass es Wege in meinem Leben gab, die ich im Vorfeld nicht bis ins Detail planen konnte. Ich rückte näher an ihn heran, lehnte mich sogar leicht gegen seine Seite und schloss für einen Herzschlag lang die Augen. „Schön, oder?“, murmelte ich, obwohl ich das Lichtermeer vor uns gerade gar nicht sehen konnte.   „Ja.“ Ich fühlte seine Hand nach meiner tasten, bis Karyu unsere Finger miteinander verschränkte. Schmunzelnd und mit hochgezogener Augenbraue suchte ich seinen Blick. „Ich hatte nur versprochen, nicht darüber zu reden.“   Ich lachte – so eine Aussage konnte wirklich nur von ihm kommen – und drückte ihm einen kurzen Kuss auf die Wange. „Schon gut, ich glaube, das ist schon ganz in Ordnung so.“   „Dir ist aber bewusst, dass wir irgendwann noch mal drüber reden müssen.“   „Ja“, wisperte ich und stellte mit einiger Verwunderung fest, dass mir dieser Gedanke weniger Angst bereitete, als noch vor unserem Spaziergang. „Ja“, wiederholte ich mit festerer Stimme und suchte erneut seinen Blick. Langsam hob ich meine freie Hand, legte sie an seine Wange und brachte ihn mit leichtem Druck dazu, den Kopf zu senken. „Frohe Weihnachten, Karyu.“ Kurz flackerte mein Blick zu seinen Lippen, bevor ich erneut seine Augen suchte, die mir noch immer offen entgegensahen. Einen Atemzug brauchte ich noch, bevor ich auch den letzten Abstand zwischen uns überbrückte und seinen Mund in einem liebevollen Kuss vereinnahmte.     tbc … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)