Road Trip through Hell von Arcturus ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Eine Geschichte braucht mehr als nur das Wiedergeben von Ereignissen.  Sie braucht Struktur. Einen roten Faden, der die Figuren in die Geschehnisse webt und der gerade lang genug ist, um sich daran zu erhängen. Das erste Segment dieses Fadens ist immer der Anlass. Dieser kann bei erster Betrachtung klein und unscheinbar sein, nahezu unbedeutend: Eine junge Sterbliche, die eine hübsch verzierte Büchse mit in die Ehe bringt. Eine junge Weberin, die stolz auf ihr Handwerk ist. Drei Göttinnen, die einem Sterblichen die unschuldige Frage stellen, wer die Schönste von ihnen sei. Die folgende Geschichte steht dem in nichts nach …   Haus des Hades -------------- Unsere Geschichte beginnt am Ende einer langen Arbeitstages.  Ermattet von den immer gleichen Klagen der Sterblichen kehrt der Gott des Todes in die Unterwelt zurück. Sehr zu seiner Überraschung findet er im Westflur des Hauses jedoch nicht die ihm so vertraute Ruhe vor, sondern seinen geliebten Prinzen, der sich wie die Göttin der Liebe auf seinem Ruhesessel räkelt - nur in deutlich mehr Kleidungsschichten gehüllt.   Thanatos stockte - und das nicht nur wegen Zagreus. (Auch wenn es sicher nicht half, dass Zagreus seinen Chiton so auf seiner Schulter drapiert hatte, dass er bei jeder Bewegung herunterzurutschen drohte.) Er spähte zum Balkon.  Nichts.  Auch nicht hinter ihm.  Nicht über ihm.  Selbst ein Blick den Flur hinab offenbarte nichts ungewöhnliches. Nur Statuen, Teppiche und den ganzen anderen Kitsch, den Zagreus hatte aufstellen lassen. Sonst … nichts. Keine Dusa. Keine tuschelnden Schatten. Nicht einmal Achilles war auf seinem Posten. Nur Hades’ Schreibfeder kratzte irgendwo im großen Saal über Pergament. “Hörst du das auch?” Zagreus runzelte die Stirn. Ohne sich vom Fleck zu bewegen, drehte er sich um und spähte den Gang entlang. Fast war es Thanatos so, als gelte seine Aufmerksamkeit der Büste eines alten Mannes, doch sein Freund kommentierte die Geste nicht. Nach einem kurzem Augenblick zuckte Zagreus mit den Schultern. Unter leisem Stoffrascheln drehte er sich zurück. “Nein.”  Einen Moment starrten sie einander an. Sie waren sich beide sehr wohl bewusst, dass Zagreus’ Chiton nun mehr betonte, als er verdeckte.  Es war Zagreus, der den Blick zuerst senkte, wenn auch nur, um zu seiner entblößten Schulter zu blicken. Gedankenverloren zupfte er an seinem Chiton. “Denkst du, ich sollte mich in weniger Kleidungsschichten räkeln?” Thanatos öffnete den Mund, schüttelte dann aber nur den Kopf. Nein. Das warf mehr Fragen auf, als es beantwortete. “Was?”, fragte Zagreus unschuldig. “Ich dachte, wir könnten eine Pause beide gut gebrauchen.” Thanatos zog die Augenbrauen hoch. Zagreus zuckte erneut mit den Schultern. Nur seine Hand hielt seinen Chiton davon ab, noch weiter zu rutschen. “Lernie hat mich vorhin übel erwischt.” “Und jetzt erwartest du, dass ich es mir ansehe?” Ein Lächeln umspielte Zagreus’ Lippen. Zugegeben, die Frage hätte er sich sparen können. Natürlich sollte er sich die langsam verblassende Bissspur ansehen, die er unter dem Chiton nur erahnen konnte. Die und noch viel mehr. “Warum nicht?” “Im Westflur?” Zagreus öffnete den Mund, doch was auch immer er zu sagen hatte, ging in der Stimme seines Vaters unter. “Junge!”, bellte Hades, laut genug, um durch das gesamte Haus zu schallen. “Das ist weder die Zeit, noch der Ort dafür! Vor allem nicht der Ort. Wenn du sonst nichts mit deiner Zeit anzufangen weißt, dann geh und mach dich nützlich!” Zagreus zog eine Grimasse. “Ugh”, raunte er, “das hat er gehört?” Zur Antwort verdrehte Thanatos die Augen. “Du weißt, der Flur hat keine Tür?” Sein Freund erwiderte seinen Blick, beinahe so, als wolle er ihn herausfordern. Thanatos blickte so stoisch wie möglich zurück. Auch wenn die Zeit in gewissen Schlafgemächern es ihn so manches Mal vergessen ließ, so hatte er sehr wohl Prinzipien. Und der zugige Westflur, in dem er seinen Bruder zuweilen schnarchen hören konnte, war eine davon. Es war Zagreus, der schließlich einknickte.  “Erinnere mich daran, dass ich eine in Auftrag gebe.” Missmutig zog sein Gegenüber seinen Chiton wieder auf seine Schulter. Einen Augenblick lang sah er so aus, als erwarte er, dass Thanatos einfach wieder verschwinden würde. Und einen Augenblick lang dachte Thanatos an, genau das zu tun. Beinahe, als sei es eine Antwort auf Thanatos’ Pläne, seufzte Zagreus. Er klang so theatralisch wie sonst nur die Musen in Apollos Theater. Thanatos wusste, er sollte gehen. Doch er wusste auch, dass keiner von ihnen wollte, dass er ging. “Wie lautet Plan B?” Zagreus Miene hellte sich auf. “Ähm, also weißt du”, begann er und warf einen verschwörerischen Blick Richtung des großen Saales. “Ich habe vorhin mit Dusa gesprochen. Sie ist es, die sich um Kerb kümmert. Du weißt schon. Sie füttert ihn und sie striegelt ihn. Sie schrubbt sogar die Schattenflecken aus seinem Bettchen. Und … ich hab ein bisschen Sorge, dass er sie im Eifer des Gefechtes irgendwann mit einem Bällchen verwechselt.” Thanatos legte den Kopf schief. “Du willst Kerberos’ Lager schrubben?” “Äh … nein.” Zagreus klang milde empört. “Ich dachte, wir könnten mit ihm Gassi gehen.” “Du willst mit ihm … Gassi … gehen?”, fragte er. Bei jedem seiner Worte zog er die Augenbrauen ein wenig höher. Zagreus schien seine Skepsis entweder nicht zu bemerken, oder zumindest demonstrativ zu ignorieren. Er nickte begeistert. “Durch die Unterwelt, ja. Schatten verbuddeln, Alecto annagen, gegen Vaters Urnen pinkeln. Sowas halt. Er mag das. Und wir waren ewig nicht mehr zusammen unterwegs.” Thanatos versuchte, sich die Szene vorzustellen. Zag und Kerberos unterwegs im Tartarus. So sehr er sich auch bemühte - vor seinem inneren Auge war es nicht Kerberos, der gegen irgendwelche Urnen pinkelte.  “Also? Komm schon, Than. Das wird Spaß machen!” “Gassi gehen oder das Reich deines Vaters zu verwüsten?” “Beides!” Zag strahlte. “Also? Gehen wir.” Thanatos seufzte schwer. Er mochte die gelegentlichen Treffen in der Unterwelt. Die Wettstreite. Die Flirts. Die Zeit weg von all den neugierigen Augen des Hauses. Aber das hier? Das würde er bereuen. “Fein.” Begeistert sprang Zagreus von seinem Ruhesessel. Für seinen Geschmack ein wenig zu begeistert. Sein Chiton rutschte erneut von seiner Schulter. Dieses Mal gewährte er Thanatos einen Blick auf Zags muskulösen Rücken. “Wer zuerst bei Kerb ist!”  Eifrig schob Zagreus den Chiton wieder hoch. Einen Augenblick später waren dort, wo er eben noch gestanden hatte, nur noch Brandstreifen. Thanatos konnte ihn hören, wie er sich mit quietschenden Füßen und unter dem protestierenden Stöhnen seines Vaters mit einem “Wer ist ein guter Junge? Du bist ein guter Junge!” auf den Wächter der Unterwelt stürzte. Ja, Thanatos war sich sicher. Er würde das hier definitiv bereuen. Die Frage war nur noch, wie.   Die Erkenntnis, dass er, nur weil er der Gott des Todes ist, nicht immer weise Lebensentscheidungen trifft, wiegt schwer auf Thanatos Schultern. Die Entscheidung jedoch ist längst getroffen, die Zusage längst gemacht. Und so bleibt ihm nichts anderes übrig, als seinem Prinzen zu folgen.   Thanatos sah sich um. Da war immer noch niemand. Oder? Beim Balkon? Nein. Bei den Statuen? Nein. Unter dem Teppi- Nein. Er schüttelte den Kopf und folgte seinem Prinzen. Zagreus’ Gemächer ----------------- Als er vor dem Salon auftauchte, sah er nur noch, wie ein großer, roter Schemen in Zagreus’ Gemächern verschwand. Ebenso rote Flusen folgten ihm. Irgendwas klirrte. Zagreus, der mit qualmenden Füßen neben ihm zum Stehen kam, verzog das Gesicht. “Das waren die Hanteln.” Seiner Meinung nach konnte sein Freund froh sein, dass es nur die Dinger waren und nicht etwa die Wahrsageschüssel, die Leier oder eine der dutzend anderen Stolperfallen, die Zagreus “Dekor” nannte. “Bist du dir sicher, dass du ihn in dein Zimmer lassen solltest?” Zagreus warf einen Blick zum Eingang seiner Kammer und runzelte die Stirn.  “Irgendwie müssen wir doch hier rauskommen.” Zur Antwort zog Thanatos die Augenbrauen hoch. “Wir könnten den Garten nehmen”, schlug er vor. “So wie alle anderen auch.” Statt begeistert zu nicken wurde Zagreus ungewohnt blass. “Ähm … nein.” “Warum nein?”, fragte Thanatos. “Ich bin mir sicher, Kerberos mag den Garten.” Zagreus schluckte. “Oh, das tut er. Sehr-”, begann er. Mit einer fahrigen Geste strich er sich durchs kohlrabenschwarze Haar. Er hätte niedlich dabei gewirkt, klänge er nicht so, als säße ihm noch eine Standpauke im Nacken. “Beim letzten Mal hat er sich in Mutters Mohn gewälzt.” “Oh.” “Anschließend hat er ihre Hyazinthen aus- und ihre Pflanzschaufel eingegraben und ist danach in den Styx gesprungen.” Oh … richtig.  Thanatos war selbst nicht vor Ort gewesen, doch er hatte Dusa putzen gesehen. Pfotenspuren tauchten vor seinem inneren Auge auf, Fellbüschel und irgendwas, das nach einer zertretenen Blume ausgesehen hatte. Der ganze Saal hatte geschwommen. “Und dann ist er, wie er war, einmal durch das ganze Haus, oder?” Zagreus nickte klamm. “Er hat sich vor Vaters Schreibtisch geschüttelt und sich dann auf den Rücken gerollt, damit er ihn streichelt.” Das erklärte, warum in einer seiner Dieser-unmögliche-Bengel-Tiraden von Kerberos die Rede gewesen war. Nicht, dass Kerberos seinen Lieblings-Prinzen brauchte, um Unsinn anzustellen und danach um Leckerchen zu betteln, als könne er kein Styxwasser trügen. Thanatos erinnerte sich an den Bettelblick. Und an den Salon, den er nach dem letzten dieser Blicke wohlweislich nicht mehr betreten hatte. Unwillkürlich warf er einen Blick über seine Schulter. Abgesehen von einer Reihe neuer, plüschiger Sofas, die niemand benutzte, konnte er nichts ungewöhnliches erkennen. Auch das rhythmische Tschakk-Tschakk-Tschakk!, mit dem der Chefkoch schnitt, was auch immer Zag zuletzt aus dem Styx gezerrt hatte, ließ auf kein neues Kerberos-Desaster schließen. “Jedenfalls war niemand begeistert. Nicht einmal Hypnos.” Zagreus blickte zum Tor, das in den Garten führte, als erwartete er schlechte Nachrichten. “Mutter ist ihm nicht mehr sauer. Du kennst sie. Sie kann ihm nicht böse sein. Aaaaaber er hat Gartenverbot. Für beide Gärten. Und-” Und Kerberos mochte keine Standpauke zu hören bekommen - Zagreus schon. Thanatos nickte. “Fein”, entschied er. “Lass uns-” “Whoah!” Der Schrei war laut genug, um jedes seiner Worte zu übertönen. Thanatos blinzelte. Kurzzeitig fragte er sich, warum die Panik, die mitschwang, so seltsam klang. Ein lautes “Wheeee!” später beschlich ihn die Ahnung, dass das gar keine Panik war. Schlimmer noch: Die Stimme kam ihm bekannt vor. Und sie kam eindeutig aus Zagreus’ Gemächern.  Sie drehten sich beide dem Gang zu, der zu Zags Kammer führte. Thanatos zog die Augenbrauen hoch. In seinem Augenwinkel tat Zagreus es ihm gleich. Sie tauschten einen Blick. “Was ist das?”, fragte Thanatos, auch wenn er sich nicht sicher war, ob er die Antwort wissen wollte. Er kannte den Klimbim in diesem Zimmer und wenn das Zeug jetzt auch noch ein Eigenleben entwickelte- Als Antwort verdrehte Zagreus die Augen. “Skelly.” Thanatos runzelte die Stirn. Skelly? Skelle- Urgh. Richtig. Daher kannte er die Stimme. Zagreus’ masochistischer Knochenberg von einem Nachbarn. “Dieses Skelett?” Zag nickte und sagte: “Genau -”  “Ja, gibs mir!” Sein Freund verschränkte die Arme vor der Brust. Demonstrativ verdrehte er die Augen. “das.”  “Heyoooo!”  “Am Besten, du igno-”  “Ah! mein Oberschenkelknochen!”  “-rierst ihn einfa-” “Das steht nicht in meinem Arbeitsvertrag!”  Zagreus beendete seinen Satz nicht und das nicht nur, weil dieses verdammte Skelett nicht zu ignorieren war. Erneut tauschten sie einen Blick. Sein Freund riss die Augen auf. Einen Moment später fiel der Obol auch bei Thanatos. Richtig. Skelly war nicht allein. Ein Grollen übertönte den nächsten, spitzen Schrei. Es klang aufgeregt. Zagreus reagierte zuerst. “Kerberos!” Thanatos folgte seinem Freund - und dem leichten Geruch nach Rauch, den seine Füße hinterließen - durch das Schlafgemach und in die Kammer dahinter. Über Zagreus’ Schulter hinweg konnte er das Skelett ausmachen. Es hatte beide Arme in die Hüften gestützt und hüpfte auf einem Bein. Das andere Bein hing zwischen Kerberos Zähnen. Der Wächter der Unterwelt wackelte mit dem Schwanz. “Gib das sofort zurück!” Einer von Kerberos Köpfen - der, der gerade nicht damit beschäftigt war, an einem der Knochenenden zu zerren - bellte. “Kerberos!”, rief Zagreus und trat vor. “Aus!” Kerberos dachte nicht an Aus!. Einer seiner Köpfe zerrte an der Ferse, ein zweiter am Oberschenkelhals und der dritte hechelte aufgeregt. Die Knochen knackten bedenklich. Hilflos warf Zag ihm einen Blick zu. Thanatos blickte ebenso hilflos zurück. “Das war die Fibula”, wimmerte das Skelett. All das beeindruckte Kerberos nicht. Es knackte wieder. “Und das die Patella.” “Kerb! Spuck das sofort aus-!” Noch halb im letzten Wort drehte Zagreus sich um. Einen Augenblick lang starrte er das Skelett an. Furchen zogen sich durch seine Stirn, fast so, als hätte man ihn im Arbeitszimmer seines Vaters ausgesetzt. “Skelly? Was sind das eigentlich für Begriffe?” “Ist doch egal! Tu was, Boyo!” Zagreus warf erst Skelly und dann Kerberos einen skeptischen Blick zu. Seine Augen glitten zu den Waffen, die am anderen Ende des Raumes auf ihn warteten. Keine davon sah Hunde-geeignet aus. Er schluckte. Thanatos konnte ihm förmlich dabei zusehen, wie er einen Plan nach dem anderen verwarf. Schwert? Nein. Bogen? Nein. Schild? Nein. Speer - Nein. Am Ende hielt Kerberos den für ein überdimensionales Stöckchen. Schlussendlich atmete Zagreus tief durch - und stürzte sich mit bloßen Händen auf den Wächter der Unterwelt. Als hätte selbiger nur darauf gewartet, spannte Kerberos seinerseits die Muskeln an. Wie ein sehr roter, sehr klobiger Blitz katapultierte er sich durch die Kammer. Alles bebte. Irgendwie bekam Zag den Oberschenkelknochen zu fassen. Wie ein Kuscheltier wurde er mitgeschliffen. “Gib - AU! - das - ARGH! - sofort her!” Kerberos bellte und wackelte freudig mit der Rute. Die Bewegung schickte Sturmböen durch den ganzen Raum. Thanatos störten die Böen nicht. Als Gott des Todes stand er über solchen Dingen. Das Skelett jedoch stolperte zurück. Mit rudernden Armen hüpfte es nach hinten. Einmal, zweimal - Knochige Finger vergruben sich in Thanatos’ Chiton. Einen Wimpernschlag später hing Skelly wie ein nasser Sack an ihm. “Uff!”, verkündete das Skelett. “Danke, Kumpel.” Thanatos starrte zurück. Sterbende Menschen waren ihm lieber. Verdammt, normale Schatten waren ihm lieber. Erstere fürchteten ihn und … letztere fürchteten ihn auch. Die meisten hielt das automatisch auf Abstand. Skelly dagegen machte keine Anstalten, loszulassen. Er hörte Zag japsen und im Augenwinkel konnte Thanatos sogar sehen, wie Kerberos seine Beute mitsamt Prinzen schüttelte, doch sein Blick hing an Skelly. Diese großen, roten Augen waren ihm eindeutig viel zu nah. “Uh”, sagte Skelly, während Zagreus hinter ihm durch die Kammer rollte. “Du bist doch der Tod, oder?” Kerberos bellte auffordernd, doch Thanatos war damit beschäftigt, zurückzustarren. Argwöhnisch beobachtete er jede Bewegung des Skeletts. Wie es sich aufrichtete und seine Finger dabei noch etwas fester in seinen Chiton verhakte. Wie es ihn musterte. “Jep, eindeutig”, entschied Skelly, während Zag sich erneut auf Kerberos stürzte. “Gib’s mir!” “Entschuldigung?!” Irgendwo hinter Skelly bekam Zag etwas zu fassen, das Knochen sein musste. “Bring mich um!” Thanatos legte den Kopf schief. “Du hast mich schon verstanden, Bursche! Zieh mir eins über! Mit der Sense da!” Bei seiner Arbeit waren es nicht die Sterblichen, die ihn um mehr Zeit anflehten, die ihn irritierten. Thanatos wusste, er sollte Fragen stellen. Er wusste auch, dass Zag von ihm erwartete, Fragen zu stellen. Doch da waren immer noch diese roten Augen, die ihn aus ihren Höhlen heraus anstarrten, und die Fingerknochen, die wie Zangen an seinem Chiton hingen. “In Ordnung.” Thanatos spürte den Faden, der Skellys Existenz mit seinem Körper verband. Ein dünnes Band, rau, dehnbar und mit einem Zahn zu wenig. Er stank nach Styx. Er fasste nach der Sense. Lavendelfarbenes Licht folgte seinem Griff. Bedächtig nahm er einen tiefen Atemzug und zählte bis drei.  Es war leichter bei Schatten. Ihr Weg war … kürzer. Das machte ihre Bindungen flüchtiger. Alles, was blieb, waren Ascheflecken auf seinem Chiton. Am anderen Ende der Kammer bissen Hundezähne aufeinander. Etwas, das entweder ein nasser Sack oder Zag war, fiel mit einem dumpfen Schlag zu Boden.  Thanatos löste den Blick von seinem Chiton und sah auf. Von seinem Freund erkannte er kaum mehr als die lodernden Füße. Alles andere verschwand hinter drei witternden Hundeköpfen. “Skelly?” Zagreus’ Hand streckte sich tastend an Kerberos’ linker Nase vorbei. “Ich glaube, dein Fuß ist weg.” “Nicht nur der”, warf Thanatos ein. In seinen Fingern juckte der Drang, an den Flecken herumzuwischen. Er schluckte ihn hinunter. Wenn er nicht an ihnen wischte, bemerkte Zagreus sie vielleicht nicht einmal.  “Nicht nur-?” Zagreus hielt inne. Vermutlich sah er sich in der Kammer um. Vielleicht erahnte er sogar ein paar Ascheflocken. Sehen konnte Thanatos das hinter Kerberos, der seine mittlere Nase gerade unter Zags Chiton zu vergraben schien, nicht. “Oh.” “Er wollte es so.” Zagreus’ schwarze Locken - oder das, was er von Ihnen sehen konnte - nickten. Entweder das oder Kerberos schubste den Kopf seines Freundes beim Schnüffeln durch Hundespeichel. Potentiell beides. “Uh, ja - Hör auf, mich vollzusabbern, Kerb - Das klingt nach ihm.” Der Wächter der Unterwelt fiepte. Dreistimmig. Thanatos hätte das zum Anlass genommen, den übertrieben traurigen Blick zu hinterfragen, der damit sicher einher ging. Doch Zagreus war nicht Thanatos. “Hey, was ist denn mein Junge? So hab ich das nicht gemeint!” Zag hob seine Hand, um den Kopf zu streicheln, der ihm am nächsten war. “Oh, vermisst du deinen Knochen? Keine Sorge, Skelly kommt bald wieder!” Thanatos öffnete den Mund. War es bei dem ganzen Drama nicht darum gegangen, dass das nicht Kerberos’ Knochen war? Ugh. Zag. Einen Moment lang hoffte er, dass das Skelett klug genug war, um sich von ihnen fernzuhalten. Zumindest, bis sein Oberschenkelknochen in Sicherheit war. Dann erinnerte er sich daran, dass dieses Skelett nicht fürs Denken bezahlt wurde. Missmutig knirschte er mit den Zähnen. “Wollten wir nicht gehen?” Einen Moment lang wusste er nicht, ob Zagreus ihn gehört hatte. Sein Freund hatte seine Finger immer noch in Kerberos’ Fell und nuschelte irgendwas, das sich verdächtig wie “Guter Junge!” anhörte. Schließlich hielt er aber doch noch inne. “Oh, richtig!”, verkündete er und rappelte sich auf. “Komm, Kerb! Wir suchen dir einen neuen Knochen!” Kerb wuffte zustimmend. “Wer zuerst im Tartarus ist!”, rief er und schlitterte mit qualmenden Füßen an Thanatos vorbei. Mit einem Satz sprang er durch den Bogen, durch den er sonst immer floh. Kerberos jagte hinterher. In Thanatos’ Nacken kribbelte eine dunkle Vorahnung. “Nein”, grollte er. Er konnte förmlich hören, wie die Stimme in seinem Nacken beim Luftholen innehielt.  “Sag nichts”, fuhr er fort. “Nichts über die Asche in meinem Chiton. Nichts über meinen Prinzen. Und vor allem nichts über mein Urteilsvermögen. Verstanden?” Er konnte die Stimme nicht nicken sehen, aber er hörte sie schlucken. Für einen Moment war es beinahe unheimlich still. Nur Hades’ Stimme, der im großen Saal nach dem nächsten Schatten rief, dröhnte dumpf durch die Mauern.   Und mit diesen Worten folgt der Gott des Todes Prinz Zagreus hinab in den Tartarus …   Tartarus -------- Die Suche nach einem neuen Knochen gestaltet sich jedoch schwieriger, als Prinz Zagreus es sich ausgemalt hat. In den ersten Kammern des Tartarus begegnen unsere Protagonisten nicht einmal dem Schatten eines Schattens. Zwischen den imposanten Statuen und dem leisen Plätschern des Styx ist es beinahe schon gespenstisch still…   Zagreus stellte die Urne ab, die er angehoben hatte, um sie Kerberos unter die Nasen zu halten. Unter zusammengezogenen Augenbrauen starrte er zu niemand bestimmtem. “Du meinst, es wäre gespenstisch still, wenn du nicht die ganze Zeit reden würdest, alter Mann.” Die Antwort war betretenes … nein, beleidigtes Schweigen. Thanatos folgte Zagreus’ Blick, sah aber, wie erwartet, niemanden. (Also niemanden außer Kerberos, der sich, nun da ihm sein Prinz keine interessanten Dinge mehr hinhielt, auf die Suche nach einer neuen Beschäftigung gemacht hatte. Aktuell war das einer dieser massiven Steintische, der schon von weitem so aussah, als sei vor kurzem etwas darauf gestorben.) “Du könntest dich nützlich machen”, schlug Zagreus der Stimme vor. “Normalerweise hätten sich jetzt schon drei dutzend Schatten auf mich gestürzt, um mir den Garaus zu machen. Du kannst uns doch sicher sagen, warum sie es nicht tun.” So sehr es ihm auch danach verlangt, so kann der unruhige Prinz doch keinen Schatten entdecken. “Es geht hier nicht um mich.” Zagreus stemmte eine Hand in die Hüfte. Mit der anderen richtete er sein Schwert in die Mitte des Raumes. “Du gibst hier doch immer den allwissende Erzähler. Sicher kannst du uns sagen, wo sie sind. Genauso, wie du uns sagen kannst, was Kerberos über sein neues Lager denkt. Oder Than über meinen Chiton.” Thanatos hielt inne. Hatte Zagreus gerade- Ja.  Ja, hatte er. Langsam wandte er sich von den rostigen Ketten ab, die unheilschwanger von der Decke hingen. Genauso langsam musterte er seinen Freund. Die unzähmbaren, schwarzen Locken, den Funken sprühenden Lorbeerkranz und den gottverdammten Chiton. Immerhin hatte Zagreus ihn mittlerweile fest genug gezogen, damit er ihm nicht ständig von der Schulter rutschte. Die unordentlichen Falten betonten trotzdem mehr, als sie verdeckten. Vor allem die dummen Ideen, die mit Sicherheit gerade durch seinen Kopf spukten. Thanatos schnaufte. “Zag.” Zur Antwort zuckte selbiger mit den Schultern. Ein herausforderndes Lächeln spielte in seinen Mundwinkeln. “Ja?” Thanatos wusste nicht, ob Zagreus mit ihm oder mit der Stimme spielte. Genauso wenig, wie er wusste, ob es sinnvoller war, auf das Thema einzugehen oder es im Keim zu ersticken. Zumal er zwar den Faden spürte, der Zagreus an seine Existenz in Raum und Zeit band, nicht aber den der Stimme. Und Zags Faden würde Thanatos nicht durchtrennen. Egal, wie sehr es ihm auch in den Fingern juckte. Und es juckte ihm in den Fingern. Statt zu antworten, presste er die Lippen aufeinander. “Du würdest überrascht sein.” “Ich möchte nicht überrascht werden, Zag.” Ganz im Gegenteil.  Er mochte Routinen. Ereignislos war ihm seine Arbeit am Liebsten. Thanatos brauchte keine Sterblichen, die ihn mit irgendwelchen Sonderwünschen behelligten. Er brauchte auch keine Schatten, die es taten. Oder Götter. Es gefiel ihm, das Zag, trotz all des Chaos, das ihn umgab wie eine zweite Haut, erstaunlich berechenbar war. Egal, was er auch trieb - irgendwann stieg er immer aus dem Bassin im Haus des hades. Ihr Ausflug in den Tartarus war ihm bereits anders genug. Die Stimme schwieg für einen weiteren, unangenehm langen Moment, in dem sich Thanatos nicht sicher war, ob er gerade rot oder blass wurde. Schließlich schluckte die Stimme hörbar. Just in dem Augenblick, als der Prinz der Unterwelt seine Suche unterbricht, erklingt das erste Zeichen von Leben - so man es in den Tiefen der Unterwelt so nennen kann - in Form eines einsamen Platschens am anderen Ende der Kammer. Wie um diese Worte zu unterstreichen, platschte es tatsächlich. Irgendwo hinter Zagreus, zwischen Kerberos und einem Haufen Urnen. Beinahe simultan drehten sich vier Köpfe dem Geräusch zu. Der fünfte steckte bis zur Nasenwurzel in einer Urne.  Kerberos war der erste von ihnen, der reagierte. Mit zwei großen Sätzen war er bei dem Loch und steckte seine zwei freien Köpfe tief genug hinein, um es beinahe komplett auszufüllen. Den Dritten schüttelte er, bis sich die Urne löste.  Thanatos duckte sich reflexartig. Hinter ihm schepperte es. Skeptisch warf er einen Blick zu dem frischen Scherbenhaufen. Ein paar Bruchstücke steckten noch in der Wand. Im Gegensatz zu ihm hatte Zagreus vermutlich nicht einmal geblinzelt. Thanatos hörte, wie er Kerberos mit einem Spurt nachsetzte. “Alles in Ordnung, Than?” “Ich-” Er schüttelte den Kopf. Dieser Hund. “Ja, alles in Ordnung.” “Okay.” Nachdem er sich versichert hatte, dass keine weiteren Töpferwaren wie Zags Schild durch die Gegend flogen, folgte er seinen Begleitern. Der Wächter der Unterwelt hatte immer noch zwei von drei Köpfen im Loch und schnüffelte hörbar über die Wasseroberfläche des Styx. Zagreus hockte daneben und rang offenbar mit der roten Mähne um die verbleibende Sicht. “Denkst du, das war ein Fisch?”, hörte er Zagreus fragen, als er sie erreichte. Zur Antwort drängelte sich Kerberos’ mittlerer Kopf an den anderen beiden vorbei und verschwand mit einem Platschen im Styx. “Wenn es einer war, dann ist er jetzt weg.” Zagreus seufzte zustimmend. “Wobei ich schon davor”, er deutete mit den Händen auf Kerberos’ Kopf und die Luftbläschen, die neben ihm an die Oberfläche stiegen, “kein Blubbern gesehen habe.” “Du konntest neben dem ganzen Fell etwas sehen?” Sein Freund öffnete den Mund, antwortete dann aber doch nicht.  Behutsam stupste Kerberos’ linker Kopf ihn an und fiepte leise. “Ja, ich weiß”, antworte Zagreus ihm und hob die Hand, um gedankenverloren durch das dichte Fell seines Begleiters zu streichen. “Ich versteh es auch nicht nicht. Sicher. Dass sich die Fische vor mir verstecken, ist nichts neues. Die hat Vater höchstens auf seinem Teller, aber nicht unter seiner Fuchtel. Aber seine Schatten?” Thanatos nickte bedächtig.  Die Schatten verhielten sich tatsächlich anders als üblich. Aber ihr Ausflug war auch anders als üblich. “Ich kenne die Einzelheiten ihrer Aufträge nicht, aber es ist möglich, dass wir sie nicht erfüllen”, sagte er schließlich. “Du fliehst heute nicht.” “Und deswegen lassen sie sich die Chance entgehen, mit Zaubern nach mir zu werfen, mich in Ketten zu legen und mir den Garaus zu machen?”, fragte Zagreus und legte den Kopf schief. Das nahm Kerberos zum Anlass, ihm mit dem verbleibenden Kopf übers Haar zu lecken. Zag zuckte nicht einmal, er seufzte nur betont wehleidig. “Normalerweise bist du es, der ihnen den Garaus macht, Zag.” “Ich hatte bislang nicht den Eindruck, dass sie das kümmert.” Thanatos zuckte mit den Achseln.  Vermutlich mussten sie bis zu Zags nächsten Ausbruchsversuch warten, um seine These zu prüfen. Nicht, dass er Zag diesen Vorschlag jetzt unterbreiten würde. Seine Pause war die einzige Zeit, die keine von Hades’ Vorschriften unterworfen war, und ihm war daran gelegen, dass es so blieb. “Ich frage mich, warum wir ihm nicht einfach einen Knochen aus diesem Glas im Salon beschafft haben.” “Weil die kitschiges Dekor sind, das meinen Vater um den Verstand bringt.” Als Antwort zog Thanatos die Augenbrauen zusammen, doch das veranlasste Zag nur dazu, noch breiter zu grinsen, als ohnehin schon. “Außerdem zappeln die nicht.” Während Thanatos noch überlegte, ob er dazu etwas sagen wollte (er tendierte zu nein), tauchte Kerberos’ mittlerer Kopf wieder auf. In einer fließenden Bewegung spuckte er Zagreus ein paar Edelsteine in den Schoß. Anschließend schüttelte er sich. Blutiges Wasser spritzte überall hin. Auf die Steinkacheln, auf Zagreus und in sein Gesicht. Langsam ließ Thanatos seinen Blick über seinen Freund wandern. Über die glänzenden Edelsteine, über die Flecken auf seinem Chiton und seine unter dem Styxwasser schimmernde Brust, bis ihre Blicke sich trafen. Zag prustete. Thanatos prustete nicht. Schweigend hob er den Arm und wischte sich mit der freien Hand übers Gesicht. “Du weißt, dass ich das für dich machen könnte?”, schlug Zag vor. Als wolle er seine Worte unterstreichen, fuhr er sich durchs Haar. Es hätte verführerisch aussehen können, hätte er dabei nicht ausgesehen, als hätte er höchstpersönlich im Styx gebadet.  Thanatos wurde das Gefühl nicht los, dass er das Wasser nur von links nach rechts wischte. Das seine Kapuze und sein Chiton an ihm hingen, wie eine zweite Haut, machte es nicht besser. “Du weißt, dass du deine Belohnung einpacken könntest?” Sein Freund seufzte schwer. Das “Spielverderber”, das darin mitschwang, konnte Thanatos förmlich hören. Immerhin machte er sich aber daran, gehorsam die Edelsteine aus seinem Schoß zu fischen. “Warum habe ich das Gefühl, dass du nachher eine Rückenmassage brauchst?” Weil vermutlich nicht nur Thanatos das angespannte Knacken in seinen Schultern hören konnte - auch wenn er das sicher nicht ansprechen würde. “Lass uns gehen.” Er wartete nicht darauf, dass Zagreus ihm folgte, sondern glitt demonstrativ zur nächsten Tür. Hinter ihm seufzte Zagreus theatralisch. “Denkst du, ich kann einen Krug mit Massageöl beim Baumeister ordern?” “Ich dachte, der habe nur kitschiges Dekor, das deinen Vater um den Verstand bringt?” “Das auch.” Er konnte Zagreus nahezu grinsen hören. Genauso, wie er hören konnte, wie er stockte, eilig die Edelsteine in seinen Chiton stopfte und sich aufrappelte. “Hey! Warte auf mich!”     *     Die nächste Kammer war so still, wie all die anderen davor. Keine Schatten, keine Fische, keine weiteren Flirtversuche, die Thanatos endgültig davon überzeugen konnten, einfach umzudrehen.  Für eine Weile schwiegen sie beide. Es war angenehm, mit Zagreus durch die Kammern zu streifen und Kerberos dabei zu beobachteten, wie er durch sorgsam aufgestellte Urnen trabte und seine Nase in jedes Styxloch steckte, in dem sich auch nur rein theoretisch ein Schatten hätte verstecken können. Es wäre noch angenehmer gewesen, wäre da nicht diese dumpfe Gewissheit, beobachtet zu werden, die in seinem Nacken kribbelte. “Wer ist das eigentlich?”, fragte er irgendwann. “Diese … Stimme?” “Eh?” Zagreus sah ihn verdattert an. “Oh, du meinst den Alten?” Zur Antwort nickte Thanatos knapp. “Du scheinst ihn zu kennen?” Statt seine Vermutung zu bestätigen, spähte Zagreus erst die Kammer hinab und warf dann einen Blick hinter sich. Die Bewegung betonte die Muskeln in seinen Schultern und Thanatos kam nicht umhin, sich zu fragen, ob das Absicht war. “Bedaure.” Er zuckte mit den Achseln. “Hat sich mir noch nie gezeigt. Eigentlich kenne ich noch nicht einmal seinen Namen.” Thanatos öffnete den Mund, hielt dann aber doch inne. Die Entgeisterung, die ihm im Rachen saß wie ein Kloß, fand keine Worte. Er schüttelte den Kopf. Auch das half nur bedingt. Hatte er das wirklich gerade gesagt? Ja. Ja, hatte er. Zag. “Ignorier ihn einfach.” Die Entgeisterung schmeckte sauer. “Willst du mir wirklich sagen, dass du eine Stimme kennst, der du vorschlägst, meine Gedanken zu lesen, obwohl du keine Ahnung hast, zu wem sie gehört?” “Ähm … Ja?” Zumindest hatte er den Anstand, sich verlegen am Hinterkopf zu kratzen und dabei betreten dreinzuschauen. “Es ist einfach das, was er tut. Er wusste von Mutter.” Thanatos rieb sich die Schläfen. “Zagreus.” Zagreus schrumpfte in sich zusammen. “Ich weiß”, gestand er schließlich. “Es ist nicht so, als hätte ich mir diese Frage nicht auch schon gestellt. Selbst ich stelle mir Fragen, wenn plötzlich eine Stimme aus dem Nichts auftaucht, meine Ausbruchsversuche kommentiert wie den neuesten Epos und zu allem eine Meinung hat.” Thanatos schnaubte, doch Zagreus zuckte nur mit den Achseln. “Alles, was ich sagen will, ist … ohne diesen Besserwisser wäre ich nicht so weit gekommen, wie ich es bin. Wenn er es gewollt hätte, hätte er mehr als genug Gelegenheiten gehabt, um mich in Schwierigkeiten zu bringen. Und normalerweise hält er sich aus allem heraus, was in meiner Kammer passiert.” “Tsk.” “Vielleicht sollten wir unser nächstes Treffen wieder in meine Kammer verlegen.” “Bitte.” Kerberos, der ihre Diskussion bislang zugunsten einer besonders interessanten (und jetzt besonders nassen) Feuerschale ignoriert hatte, stupste ihn mit einer seiner Nasen gegen die Schulter. Irritiert drehte er sich zu dem Wächter der Unterwelt. Sie tauschten einen langen Blick, während dem Thanatos die Augenbrauen immer weiter zusammenkniff und Kerberos seine rote Mähne auf eine passiv-aggressive Art plusterte, wie es nur ein dreiköpfiger Hund konnte. Im Gegensatz zu Zagreus wusste sein pelziger Liebling nicht, wann er aufzugeben hatte. Seufzend hob Thanatos die freie Hand, um ihm übers Fell zu streichen. Während Kerberos zufrieden hechelte, warf Thanatos seinem Freund einen finsteren Blick zu. Zagreus ignorierte ihn prinzlich. Er grinste ebenso prinzlich. Wenigstens verkniff er sich das Kichern. Thanatos wusste, wann er auf verlorenem Posten stand und sparte sich jeglichen Kommentar. Stattdessen griff er ihr eigentliches Thema wieder auf: “Und du weißt wirklich nicht, zu wem diese Stimme gehört?” Zagreus schüttelte den Kopf. “Ich habe versucht, es herauszufinden”, antwortete er. “Zuerst habe ich geglaubt, es sei irgendein Gott. Kalliope würde nicht passen, aber Apollo schon. Er gehört zu den Olympischen Göttern und er ist der Gott der Weissagung, der Dichtung und-” Sein Freund zuckte mit den Achseln, ohne den Satz zu beenden. Thanatos kannte die Antwort auch so: allem, was nicht bei drei auf einem Baum war. Ja. Er kannte Apollo. Gut genug, um zu wissen, dass es erklären würde, warum sich die Stimme ausgerechnet bei Zagreus’ Flirtversuch auf dem Ruhesessel eingeschaltet hatte. Es war einfach sein … Ding. Eines seiner Dinger, jedenfalls. “Er ist es trotzdem nicht”, sprach Thanatos aus, was sie vermutlich beide dachten. Zagreus stimmte nickend zu. “Wäre er es, er hätte keinen Grund, die Geschichte nicht brühwarm den anderen Göttern aufzutischen. Vielleicht nicht nach meinem ersten Fluchtversuch, aber …” “... sobald er der Meinung ist, dass die Geschichte einen spannenderen Konflikt braucht, als die schwierige Beziehung zu deinem Vater, ja”, vervollständigte Thanatos seinen Satz. Außerdem standen die Chancen gut, dass Apollo sich selbst als den spannendsten Konflikt erachtete. “Die anderen Musen sind es sicher auch nicht. Wie steht es mit Schatten?” “Das ist mein anderer Verdacht”, sagte Zagreus. “Du erinnerst dich an diese Büste, die ich habe aufstellen lassen?” “Dieser bärtige Alte?” “Bingo. Weißt du, immer, wenn ich sie mir genauer ansehen will, fängt er an zu schmollen. Und der Baumeister hat das Ding als - ähm, wie war das? - ‘Marmorne Darstellung eines bedeutenden Dichters’ ausgeschrieben, oder so. Erinnert sie dich an jemanden?” Thanatos versuchte, sich die Büste in Erinnerung zu rufen, doch mehr als das Abbild eines generischen, alten Mannes erschien nicht vor seinem inneren Auge. Es sah nicht einmal besonders griechisch aus. Sein Blick glitt zu Kerberos, der mittlerweile die Augen geschlossen hatte und sich an seine Hand schmiegte. Nein, der wusste es sicher auch nicht. Schließlich schüttelte Thanatos den Kopf. “Hast du es schon im Arbeitszimmer deines Vaters versucht?” “Im-” Zagreus wurde blass. “Wenn er ein Schatten ist, sollte es Aufzeichnungen über ihn geben.” “Urgh. Than!” Thanatos erlaubte sich ein dünnes Lächeln. “Ja?” “Wie wäre es, wenn wir uns künftig einfach wieder in meinem Gemach treffen?” Er zuckte mit den Achseln. Generell war es ihm lieber, wenn sie sich in Zagreus’ Zimmer trafen und nicht im hellhörigen Westflügel. Vor allem dann, wenn sie vorhatten, die Ruhesessel, die Zag überall aufgestellt hatte, nicht nur als bloßes Dekor zu benutzen. Andererseits wäre es ihm noch lieber, das ohne neugierige Schatten zu tun, die Zags Chiton kommentierten. Oder Thanatos’ Innenleben. “Denkst du wirklich, dass ihn das davon abhält, dein Liebesleben zu kommentieren als hätten wir Publikum?” “Er stört dich wirklich, oder?” “Dich nicht?” “Kommt … auf das Publikum an?”, fragte Zag kleinlaut. Er schluckte. “Und darauf, ob du damit einverstanden bist?” Thanatos atmete durch. Einen Moment lang suchte er nach der Verwunderung über dieses Geständnis, doch da war keine. Natürlich nicht. Sie wussten beide, warum sich Zagreus’ ausgerechnet den Ruhesessel im Westflügel ausgesucht hatte, um sich darauf zu räkeln wie - wie hatte es die Stimme genannt? - die Göttin der Liebe, nur in deutlich mehr Kleidungsschichten gehüllt. Genauso, wie sie um den Grund für all die verstohlenen Berührungen im Salon und heimlichen Küsse am Balkon wussten. Zagreus seufzte. “Hör mal”, begann er, “wenn er es wirklich tun sollte … jetzt wo Mutter zurück ist, habe ich Zeit. Und ich habe Erfahrung damit durch die Unterwelt zu kriechen und Schatten ausfindig zu machen. Sisyphus. Eurydike. Patroklos … Wie schwer kann es sein?” Sie tauschten einen langen Blick. Zagreus lächelte dünn. “Ich denke, ich kann ein paar Stunden für einen Besuch im Arbeitszimmer reservieren.”  Thanatos lächelte zurück. Die Stimme blieb stumm. Thanatos konnte schwören, er hörte sie schlucken.   Charons Laden ------------- Es dauerte noch drei weitere Kammern, bis sie zumindest auf einen Teil der Routine trafen, nach der sie suchten. Er kam in Form eines leisen Ka-tsching, als Zagreus die nächste Tür aufstieß. Die Tür war kaum offen, als Kerberos beschloss, dass er genug davon hatte, ihnen brav hinterherzutrotten. Wendiger, als es für einen dreiköpfigen Hund seiner Größe hätte möglich sein sollen, schlängelte er sich an Thanatos vorbei, stieß Zagreus aus dem Weg und streckte erst einen und dann die anderen beiden Köpfe durch den Türrahmen. Erst mit seinen Schultern blieb er stecken. “Kerberos? Was ist-” Zagreus stockte und Thanatos hätte schwören können, dass er blass wurde. “Oh nein. Kerberos, nein!” Wenn Thanatos Kerberos’ gefiepte Antwort richtig deutet, bedeutete sie so etwas wie “Kerberos, ja!”  Ein letztes Schulterruckeln später und der Wächter der Unterwelt glitt durch den Türbogen. Zagreus setzte ihm mit einem weiteren “Nein!” hinterher. Von seiner Position aus konnte Thanatos nicht sehen, worauf sie sich stürzten. Er konnte gerade noch Zag erkennen, wie er mit einem Spurt Anlauf nahm. Er hechtete vorwärts, schlug auf dem Boden auf, rutschte über die Steinkacheln unter Kerberos’ massigen Körper und verschwand hinter einem roten Knäul aus Pfoten, Nasen und Fell. Etwas, das nach wertvoller Töpferware klang, klirrte und zerbarst. Irgendetwas quietschte. Kerberos bellte, doch Thanatos hätte nicht sagen können, ob es unglücklich oder fordernd war. “Ich habe Nein gesagt! AUS!” Zu seiner Überraschung duckte sich Kerberos tatsächlich und zumindest zwei seiner drei Köpfe legten die Ohren an, fast so, als täte es ihnen leid. Der Dritte hingegen ignorierte sowohl Zagreus, als auch seine besseren Drittel. Vorsichtig witterte er erst an an dem halb eingewickelten Shawarma, das neben ihm in der Luft hing. Schließlich streckte er, zunehmend mutiger, die Zunge danach aus. “Gaaaaaaaahhhhhh.” Der ganze Hund zuckte zusammen, und nicht nur der: Thanatos kannte diese Stimme. Einen Moment lang überlegte er, einfach umzudrehen. Noch wussten nur Zag und Kerberos von seiner Anwesenheit und die beiden hatten wichtigere Dinge zu erklären. Anderseits - nein. Kopfschüttelnd folgte er seinen Begleitern doch in die Kammer. “Bruder.” Thanatos schluckte. “Ich würde dir das gern erklären, aber-” Er deutete auf Kerberos. Ein großer, dreiköpfiger Hund zwischen seinen Waren war einerseits selbsterklärend und andererseits einfach nicht zu erklären. “Keine Sorge!”, fiel Zagreus ihm irgendwo hinter Kerberos ins Wort. “Ich hab’s! Es ist alles sicher!” “Uuuuuunnnnghhhh”, antwortete Charon unbeeindruckt. “Ich weiß, ich weiß!”, antwortete Zagreus und klang dabei, als würde er gerade den Kopf einziehen. “Wer es anfasst, muss es bezahlen. Nimm die Zunge von den Pommes, Kerb.” Winselnd versteckte sich der rechte Kopf unter den anderen beiden. Zagreus drängelte sich zwischen dem Wächter der Unterwelt und dem Shawarma hindurch zu Charon. Der Sack, den er fest gegen seine Brust presste, zappelte. “Wie läuft das Geschäft, Charon? Gibt es, ähm, viel zu tun?”, fragte Zagreus, zweifelsohne um Zeit zu schinden und nach ausreichend Obol zu kramen. “Seit wann bewegen sich die Wundertütensegen, die du verkaufst, eigentlich? Und warum stinkt er durch das Leinen?” “Hrrrnahhh.” “Oh”, antwortete Zagreus und wirkte nicht nur wegen den Lichtverhältnissen des Tartarus ziemlich grün im Gesicht. Thanatos spürte, wie ihm ebenfalls übel wurde.  “Das”, stammelte Zagreus, gleichzeitig darum bemüht, weniger vom Sack anzufassen und ihn außer Reichweite von drei neugierigen Schnauzen zu halten. “… erklärt … vieles.” Der Sack quiekte. Es klang beinahe empört.  Zagreus ignorierte ihn tapfer - etwas, das vermutlich leichter gesagt war, als getan. Mittlerweile war der Geruch von Kot und Verwesung selbst bei Thanatos angekommen. Mit dem Sack in seinen Händen musste das noch schlimmer sein. Doch Zagreus hatte sogar noch genug Atem übrig, um die Nase anzupusten, die neugierig über seine Schulter witterte.  Kerberos zog sich lautstark niesend zurück. “Hrmpf.” Zagreus warf den anderen beiden Köpfen einen skeptischen Blick zu. Zähneknirschend überreichte er die Obol. “Sag Charon, Kumpel, ist da wie immer eine Furie hinter der Tür? Und wenn ja, wie gut ist ihre Laune?” “Mmmhhhn hrnngahhh.” “Oh, so schlimm?” Zag warf ihm einen Blick zu. Thanatos zuckte mit den Achseln. Was erwartete er denn bitte? Schließlich war er derjenige, der ihm diesen Spaziergang als ‘Schatten verbuddeln, Alecto annagen, gegen Vaters Urnen pinkeln. Sowas halt.’ verkauft hatte. Bei so einem Spaziergang war man als zufällig Anwesende:r entweder ganz schnell weg oder sehr, sehr schlecht gelaunt. Eigentlich war es kein Wunder, dass sie bislang keinen Schatten begegnet waren. “Nun, ich weiß ganz genau, was sie braucht. Kommt ihr, Jungs?” Kerberos musste Zag nicht zweimal fragen - aber der würde Zag momentan auch ohne Aufforderung bis ans Ende der Unterwelt folgen. Er durfte nur den Sack nicht loslassen. So schnell er konnte, ohne Zagreus dabei über den Haufen zu rennen, tapperte er ihm zur Tür hinterher. Thanatos derweil warf seinem Bruder einen leidlichen Blick zu. “Graaahhnnggghh.” “Ich weiß. Ich … weiß”, erwiderte er und seufzte. “Es ist nicht so, als könnte ich sie aufhalten.”  Wie um seine Worte zu unterstreichen, quetschte sich das Zag-Kerb-Knäuel durch die nächste, viel zu enge Tür. Es klang mehrfach so, als stünden sie sich gegenseitig auf den Pfoten. “Hrrrrr”, erklärte Charon und deutete mit seinem Ruder auf Kerberos’ Rute, die gerade durch die Tür verschwand, “nnnnghhh ohhhh raaahhh.” Thanatos blinzelte. Was? Meinte sein Bruder das ernst? Skeptisch warf er seinem Bruder einen Blick zu, doch der starrte entschieden zurück. Und er musste zugeben: Es machte Sinn.  Trotzdem hatte er sich Hades eigentlich immer anders vorgestellt. Aus dem angrenzenden Raum drang Megaeras Stimme zu ihnen herüber, doch die Worte zogen an ihm vorbei. Sein Bruder beantwortete seine stumme Frage mit starrem Blick. “Wirklich?”, fragte Thanatos schließlich. “Davon wusste ich nichts.”  “Gnnnhhh.” “Heh.” Er zuckte mit den Achseln und lächelte dünn. “Doch. Ich sehe die Ähnlichkeit jetzt. Meg wird sie hassen.”   *   Nachdem er den nächsten Raum ebenfalls erreicht hatte, wurde Thanatos klar, dass er sich geirrt hatte. Meg hasste sie schon jetzt. So sehr, dass sie die Hölle vom Himmel regnen ließ. Wortwörtlich.  Mit einem bedrohlichen Knistern erschienen vier riesige Energiekreise vor ihm. Für einen Augenblick flackerten sie unwirklich. Dann schloss sich der Kreislauf. Die geballte Wucht einer erzürnten Furie flutete den Raum. Thanatos riss seinen Umhang schützend vor sein Gesicht. Die elektrostatische Ladung des Angriffs war stark genug, um ein unheilvolles Kribbeln über seine Haut zu jagen - und im Gegensatz zu Zag war er nicht mittendrin. Während Thanatos sich wegdrehte, sah er selbigen gerade noch durch die Kreise hindurch flitzen. Dann hörte er es japsen. “Du musst mich dieses Mal wirklich nicht auf dem schmerzhaften Weg zurückschicken!”, rief Zagreus einen Moment später. Er klang, als würde er die Zähne aufeinanderbeißen. Thanatos senkte seinen Arm gerade weit genug, um Zagreus hinter einer Statue ausmachen zu können. Sein Chiton hing ihm von der Schulter, als sei er irgendwo gerissen - und zwar nicht auf die vielversprechende Art. Blut lief ihm den Arm hinab. In einer Hand hielt er noch immer den Sack, in der anderen sein Schwert. Und er war umzingelt. Auf der einen Seite schritt Megaera durch die Kammer, offensichtlich auf der Suche nach einer Schwachstelle. Auf der anderen lauerte Kerberos. “Komm einfach raus”, schlug Megaera vor, “dann erlöse ich dich schnell.” Sie sah nicht viel besser aus, nur wütender. Verdammt, so lange hatte sein Gespräch mit Charon doch gar nicht gedauert. Wie schafften die Beiden es nur immer wieder, sich so schnell so zuzurichten? “Aber immer noch schmerzhaft!”, rief Zagreus hinter seiner Säule hervor. Halb außerhalb von Megaeras Sichtfeld duckte er sich. “Ich verzichte.” Noch, bevor das letzte Wort seinen Mund vollständig verlassen hatte, warf er den Sack. Quiekend und wackelnd flog der Klumpen aus Leinen und Was-auch-immer-darinnen-war in einem hohen Bogen durch die Kammer. Thanatos starrte. Meg starrte. Kerberos nahm Anlauf. Und Zag - der war irgendwo mittendrin. Er hörte die Hiebe mehr, als dass er sie sah. Megaera sprang halb, flog halb durch den Raum, schlug nach dem Sack, schlug nach Zag, schlug nicht nach dem Hund. Es war Zag, der traf. Einmal, zweimal- Kerberos Zähne kratzten über das Leinen, doch letztendlich erwischten sie nur Luft. Die Berührung reichte, um dem Sack einen sanften Drall zu geben. Mit einem nassen Pflatsch! landete er vor Thanatos Füßen. “Hast du eigentlich nie frei?”, hörte er Zagreus fragen, während sich der Anblick des Sackes in seine Netzhaut brannte.  “Ich würde mir frei nehmen, um dich dahin zu prügeln, wo du hingehörst.” “Wir wollten doch nur Gassi!” “Dir gebe ich gleich Gas-!” Megaera stockte. Thanatos hätte nicht sagen können, warum. Vielleicht, weil ihr klar wurde, dass Zagreus Worte wie ‘Gassi’ selten in den Mund nahm. Vielleicht erinnerte sie sich auch an Kerberos. Oder an den Sack. Er blinzelte.  Sicher war es der Sack. Der Stoff war von etwas durchtränkt, das nach einer Mischung aus Blut und Erbrochenem aussah. Er roch auch so. Das ganze Ding pulsierte wie eine mehrere Tage alte, aufgedunsene Leiche.  Fünf Paar Augen richteten sich auf ihn, während er seine am liebsten zusammengekniffen hätte. Der Gestank, der aus dem Bündel zu ihm aufstieg, biss sich in seinen Schleimhäuten fest. Tränen stiegen ihm in die Augen. “Uh, Thanatos?”, fragte Megaera. Er war sich sicher, sie roch das Ding mittlerweile auch. Sie klang jedenfalls so, als würde sie es tun. Das war nicht mehr ihr ‘Urgh, Zag!’-Tonfall. “Was machst du hier? Und was ist das?” Thanatos spähte zu Zagreus und Kerberos. Er spürte, wie er rot wurde. Vielleicht war das aber auch nur eine neue Woge der Übelkeit. Er schluckte. “Bis eben war das ein … Date”, würgte er hervor. Mittlerweile war sein Magen sich da nicht mehr so sicher. “Zag? Dein Sack.” Zagreus blickte von ihm zu Megaera zu dem wackelnden Leinenbündel. “Äh, ja klar.” Mit ein paar Sprüngen war er bei ihm. Unter Kerberos’ wachsamen Blick griff er nach dem Sack, als sei nichts Schlimmeres darinnen als ein paar Granatäpfel. Megaera beobachtete jede seiner Bewegungen wie Argus die Io. “Nicht, dass es nicht zu dir passen würde, aber seit wann hast du stinkende Säcke in deinem Arsenal?” “Sonderangebot aus Charons Laden”, erklärte er, beinahe schon beiläufig. “Zum Für-den-Wächter-der-Unterwelt-Preis.” Abschätzig warf Megaera Kerberos einen knappen Blick zu. Sie musste das, was Charon ihm erzählt hatte, auch kennen. Oder zumindest genug Bruchstücke davon, um die Alarmglocken in ihrem Hinterkopf schellen zu hören.  “Du bist dir im Klaren, dass Kerberos hier nichts zu suchen hat?” “Nö?”  Selbst auf Entfernung konnte Thanatos sehen, wie Megaera die Augen verdrehte. “Dein Vater wird außer sich sein.” “Das ist er immer. Oh, und Meg?” Die Art und Weise, wie Zagreus den Sack in seiner Hand wog, ließ Thanatos nichts gutes ahnen. “Fang!” Mit diesen Worten war er wieder in Bewegung. Er spurtete los und warf - nicht den Sack, sondern sein Schwert. Wie ein Speer schnitt es durch die Luft, doch Megaera sah es kommen und ließ die Peitsche schnalzen. Der Riemen wickelte sich routiniert um die Waffe. Meg riss sie in einer ruckartigen Bewegung aus der Luft. Ungefährlich klirrte die Klinge über die Steinplatten. Im gleichen Moment warf Zagreus den Sack. Thanatos glaube nicht, dass Meg ihn kommen sah - sie wich dem Sack trotzdem aus. Kerberos nicht. Der Wächter der Unterwelt hatte alles beobachtet, oder zumindest alles, was mit dem Sack zu tun hatte. Jeden von Zags Schritten. Jedes Anheben. Jedes Luftholen. Und jetzt sah er seine Chance gekommen. Wie der Stier von Minos preschte er durch die Kammer. Meg kreischte, als er mit ihr kollidierte. Nur der linke seiner Köpfe legte die Ohren an, als habe er etwas gehört. Die anderen Beiden schnappten sich den Sack. Mit sich und der Welt zufrieden, ließ Kerberos sich fallen, wo er stand. Irgendwo unter ihm stöhnte Meg. Thanatos spürte, wie sich erste Fasern vom Faden lösten, der sie ans hier und jetzt band. Automatisch schloss er den Griff um seine Sense fester. Nicht, dass er irgendwas hätte tun können, außer den Prozess zu beschleunigen.  “Sorry”, sagte Zagreus und es klang nicht nach einer Entschuldigung, “aber ich hätte ihn nicht aufhalten können, selbst wenn ich das gewollt hätte.”  Während der rechte Kopf stolz vor sich hin hechelte, biss der mittlere beinahe schon zaghaft in den Sack und rupfte am Leinen. Während vier Hundeohren aufmerksam dem Reißen des Stoffes und dem Quietschen des Innenlebens lauschten, hatte der linke Kopf längst andere Beute gefunden. Zufrieden leckte er an etwas Blauem, das verdächtig nach Haar aussah. Unter ihm grollte Meg, doch sie klang, als habe sie Fell im Mund. Zu viel Fell für irgendwelche berühmten, letzten Worte. Irgendwie klang alles wie “Ich bring dich um.” Thanatos nahm einen tiefen Atemzug. Wenn er je eine Chance gehabt hatte, hier irgendetwas zu deeskalieren, so war sie gerade ebenso gerissen, wie das Leinen unter Kerberos’ Zähnen. Kopfschüttelnd schwebte er zu Zagreus. “Ich … bring ihn einfach raus”, verkündete er, während er seine Hände auf Zagreus’ Schultern legte. Sachte bugsierte er ihn zum Ausgang der Kammer. Zwischen Zagreus’ Schritten beugte er sich vor und raunte ihm ins Ohr: “Du bist ein toter Gott, Zag.” Zag schien das nicht zu stören. Thanatos hörte ihn grinsen. “Ich weiß.”   Asphodel -------- Der Asphodeliengrund begrüßte sie mit einem ungewöhnlichen Anblick. Statt schwarzem Gestein grüßte sie allumfassendes Grau. Ein seltener Ascheregen hatte alles mit einer dicken Schicht überzogen. Den Boden, die Statuen, selbst die Ruinen in der Ferne - alles verlor sich darunter. Nur die Ströme des Phlegethon durchzogen die Monotonie wie rote Adern aus brennendem Blut. Es erinnerte Thanatos an den Schnee der Oberwelt, nur deutlich weniger weiß und dafür umso bedrückender. Am Ufer des Phlegethon blieben sie stehen, Zagreus bis zu den Knöcheln in Asche versunken, Thanatos eine halbe Armlänge hinter ihm, die Hände noch immer auf seinen Schultern. Vielleicht hätte er ihn loslassen sollen, doch eine kleine, selbstsüchtige Stimme in seinem Hinterkopf erinnerte ihn an Zag auf seinem Ruhesessel, den Chiton nicht mehr als ein Anreiz auf seiner Schulter. Einen Moment lang schwiegen sie beide.  Es war Zagreus, der die Stille schließlich brach. “Willst du mich eigentlich umarmen oder erwürgen?”, fragte er. Er klang fast so, als hätte er an beiden Optionen Interesse. Thanatos zuckte mit den Achseln. “Weiß ich noch nicht”, gestand er. “Habe ich noch Bedenkzeit?” “Klar.” Wie um seine Worte zu unterstreichen, lehnte Zagreus sich in die Berührung. Sachte legte er den Kopf schief, nicht weit genug, als das sein Haar Thanatos’ Handrücken hätte berühren können. Nicht ganz. “Was ist das eigentlich?”, fragte er und hob die Hand, um eine der Ascheflocken zu fangen, die noch immer auf sie herab rieselten. “Es erinnert mich an Demeter … aber es ist nur Asche?”   “Die Quelle des Phlegethon.” Thanatos lehnte sich vor, bis ihm der Geruch von Zags Haar - Zunder und Styx - in die Nase stieg. Ohne den Arm von seiner Schulter zu nehmen, deutete er in die Ferne. “Von Zeit zu Zeit tritt sie über die Ufer und speit Lava und heißes Gas. Es ist immer die Asche, die als erstes im Asphodeliengrund ankommt.” “Klingt, als würden meine nächsten Fluchtversuche heiß werden.” Einen Wimpernschlag später fügte er suggestiv hinzu: “Nicht so heiß wie du, aber …” “Tsk.” Thanatos schüttelte den Kopf. Vornehmlich, um Zagreus’ Haare zu spüren, wie sie sein Kinn kitzelten. “Gib dir mehr Mühe.” “Ach komm, so schlecht war der gar nicht.” Zur Antwort schwieg Thanatos einen Moment lang missbilligend. Erst, als er spürte, wie sich Zagreus’ Schultern anspannten, erhob er das Wort. “Du hast recht, weißt du? Charon hat mir vor langer Zeit davon erzählt, wie es für mehrere Oberweltzyklen Asche geregnet hat. Es war so schlimm, die Asche ist bis in die hintersten Ritzen des Elysiums gedrungen. Und dann … erreichte die Lava den Asphodeliengrund.” Einen Moment lang schwiegen sie beide und sahen den Ascheflocken dabei zu, wie sie durch die Kammer stoben. Dort, wo der Phlegethon flacher war, ließen sie sich sogar auf der Oberfläche des Flusses nieder und bildeten triste, graue Inseln. “Seitdem brennt es hier”, murmelte Zagreus irgendwann. “Ja.” Sein Freund schnaufte. Es klang unbehaglich. Fast so, als würde ihm klar werden, wie wenig Freude Thanatos an diesen Vergleichen hatte. “Es ist nicht das einzige, von dem Charon mir erzählt hat”, fuhr er fort. Vor ihm spähte Zagreus über seine Schulter. “So? Weitere Schreckensszenarien, die mich von meinen Ausflügen aufhalten wollen?” “Vielleicht”, antwortete Thanatos. “Kerberos sollte nicht hier sein.” Er konnte zwar nicht sehen, wie Zagreus die Augen verdrehte, doch dafür konnte Thanatos es förmlich spüren, in der Art und Weise, wie sein Freund seinen Nacken bewegte. “Fängst du auch noch damit an?” “Ich dachte, es würde dich interessieren, wenn du nicht der Einzige bist, wegen dessen Abwesenheit Kerberos den Salon in seine Einzelteile zerlegt.” Mehr als ein leises “Oh” wusste Zagreus darauf nicht zu antworten. Unter seinen Fingerspitzen spürte Thanatos, wie er sich anspannte. Es war die gute Anspannung, die, die ihm sagte, dass er Zagreus’ Interesse geweckt hatte. “Rate, wer sich davongeschlichen hat, nachdem Königin Persephone die Unterwelt verlassen hat.” “Nicht dein Ernst!” Unter seinen Händen spürte er, wie Zagreus sich zu ihm umdrehen wollte. Mit einem leisen “Tsk” und sanftem Druck forderte er ihn dazu auf, innezuhalten. Zagreus fügte sich, aber nicht, ohne ihm einen kritischen Blick über die Schulter zuzuwerfen. Thanatos erwiderte den Blick mit einem zufriedenen Grinsen. Sachte ließ er seine Daumen über Zags Haaransatz kreisen. Ebenso sachte lehnte er sich vor, um seine nächsten Worte in Zagreus’ Ohr zu raunen. “Charon meint, er habe ewig an der Pforte zur Unterwelt gestanden, um sehnsüchtig in die Ferne zu starren.” Er neigte den Kopf zurück. Lauter fügte er hinzu: “Und das hast du nicht von mir.” Sein Freund prustete. Ein wenig klang er, als wolle er an seinem Unglauben ersticken. Thanatos ließ ihm Zeit, sich das Ganze bildlich vorzustellen. Schließlich hatte Zagreus ihn dort sogar schon stehen sehen. Verdammt, Sie hatten ihn dort beide schon stehen sehen. “So, wie du das erzählst, klingt der Alte fast romantisch.” Thanatos zuckte mit den Achseln. “Nur fast.” Thanatos gönnte sich ein dünnes Grinsen. “Das ganze Haus war in Aufruhr. Die Furien, die Schatten, selbst Hypnos. Und … Kerberos. Natürlich. Selbst ich erinnere mich daran, wie er die ganze Zeit gejault hat.”  Er schüttelte den Kopf. Bei Zagreus’ ersten Ausbruchsversuch hatte er das auch getan. Und auch wenn Thanatos das niemals zugeben würde, so hatte er ihm damals doch zugestimmt. “Irgendwann hat er seinen Frust am Salon ausgelassen. Und nicht nur an dem. Deswegen sind wir keinen Schatten begegnet.” “Weil sie nicht als Kauknochen enden wollen?” “Kannst du es ihnen verübeln? Im Grunde sind sie alle wie Sisyphus. Sie stellen ihre Arbeit ein, sobald du ihnen den Rücken zudrehst. Von gewissen Ausnahmen abgesehen.” “Theseus?” “Zum Beispiel.” Zagreus lachte einen Moment lang, verstummte aber so plötzlich, dass es beinahe unheimlich war. Thanatos konnte der dummen Idee beinahe dabei zusehen, wie sie sich in seinem Kopf formte. “Denkst du”, fragte Zag schließlich, “der läuft?” “Zag, nein.” “Ach komm schon.” Thanatos wusste nicht, ob es sinnvoller war, nachdrücklicher zu widersprechen oder ihn anzuschweigen - beides hatte sich in der Vergangenheit nur selten als erfolgreich erwiesen. Aber er kam auch gar nicht dazu, sich zu entscheiden.  Hinter ihnen wurden Schritte laut. Viele Schritte. Schnelle Schritte- Er spürte noch, wie ihn etwas mit der Kraft von Hephaistos’ Lieblingsspielzeug rammte. Sein Kinn schlug gegen Zags Hinterkopf. Er stürzte. Fiel. Schlug mindestens dreimal auf irgendetwas Hartem auf. Die Konzepte von “Oben” und “Unten” verloren an Bedeutung. Dafür taten sie weh. Thanatos blinzelte. Mehrfach. Nur langsam wurde er sich bewusst, dass er sich in einem Knäuel befand, das neben ihm aus Zagreus, Asche und einem viel zu großen, dreiköpfigen Hund bestand. “Urgh”, verkündete er. Er schmeckte Haare - und es waren nicht Zags. “Kerb!” Die Stimme hingegen war Zag. Für jemanden, der gerade halb in den Asphodeliengrund gerammt worden war, klang er viel zu enthusiastisch. “Da bist du ja! Guter Junge!” Thanatos wären sicher andere Bezeichnungen eingefallen, würde seine Welt sich nicht immer noch drehen. Immerhin: Das Fell verschwand aus seinem Gesicht. Dafür berührte ihn etwas anderes. Es war warm und fest und feucht und strich ihm vom Kinn bis hoch zum Haaransatz durchs Gesicht. Mehrfach. “Urgh”, wiederholte er. Als er die Augen schließlich öffnete, fand er sich Nase-an-Nase mit einem von Kerberos’ Köpfen wieder. Der Kopf hechelte. “Than, bist du in Ordnung?” Umständlich befreite er eine seiner Hände aus dem Knäuel und wischte sich übers Gesicht. “Nein.” “Ach komm, so schlimm ist das nicht.” “Ich suche mir gerne selbst aus, wer mich ableckt.” “Also wenn du willst-”  In seinem Augenwinkel sah er das Gesicht seines Freundes näher kommen. Es war zwar ein Kerberosbein Sicherheitsabstand zwischen ihnen, aber das hielt ihn nicht davon ab, ihm die Zunge rauszustrecken. Und damit zu wackeln. Thanatos stöhnte. “Zag.” Zagreus ließ den Kopf hängen, so gut er das mit einer Hundeschnauze auf der Brust - Kerberos witterte an ihm, als hätte er Reste seines Lieblingssacks gefunden - konnte. Er seufzte theatralisch. “Fein”, murmelte er schließlich. “Kerberos! Hoch!” Zu Thanatos’ Überraschung bewegte Kerberos sich tatsächlich - und er rammte ihm dabei nur einmal den spitzen Ellbogen in die Seite. Neben ihm rappelte Zagreus sich auf. Er hielt Thanatos die Hand hin. “Frieden?” Thanatos rieb sich noch einen Augenblick lang die schmerzenden Rippen, dann nahm er das Friedensangebot an und ließ sich von Zag in die Senkrechte ziehen. Er nickte in Kerberos’ Richtung. “Sag ihm das.” “Ich würde ja, aber …” “Ich sollte froh sein, dass ihr keinen Sack mehr habt?” “Ähm”, erwiderte Zagreus mit einem verlegenen Grinsen. “Ja.” Thanatos schüttelte den Kopf. Das Schlimme war: Es wunderte ihn nicht einmal mehr. Dafür kannte er Zag schon viel zu lange. Und eigentlich waren es ja gerade seine Spontanität und seine Energie, die Thanatos anzogen wie das Licht die Motte. Aber manchmal … “Hey, das sieht fast aus wie Asterius.” Er stutzte. Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte er zu Zagreus. Statt seinen Blick zu erwidern, deutete dieser auf den Boden. Kerberos’ Kuschelangriff hatte die Ascheschicht an mehreren Stellen aufgewirbelt, sodass der Boden darunter zum Vorschein kam. Asterius sah er darunter jedoch nicht. Thanatos musterte seinen Freund. Misstrauisch runzelte die Stirn. Der Kampf mit Meg hatte seine Spuren an ihm hinterlassen. Er blutete immer noch leicht aus diversen, kleinen Schnitten und über seinen Schwertarm zogen sich vier garstige Peitschenstriemen. Neue Wunden konnte er jedoch nicht entdecken, aber das musste nichts heißen. Hatte er sich bei dem Sturz vielleicht den Kopf angeschlagen? Also mehr als üblich? “Die Flecken hier. Das hier sind die Hörner”, erklärte Zagreus im Brustton der Überzeugung. Er streckte seinen Arm aus und bewegte ihn, als würde er damit einer unsichtbaren Spur folgen. Ja, das klang wirklich so, als wenn da irgendwas nicht ganz in Ordnung war. Thanatos warf einen Blick zu Kerberos, doch der saß zufrieden hechelnd neben ihnen und wackelte mit dem Schwanz. “Seine Hörner”, wiederholte er die Worte seines Freundes und versuchte, dabei so ungläubig wie möglich zu klingen. Doch Zag nickte nur unbeirrt. “Ja. Die große Stelle dort ist sein Körper”, erklärte er, als würden die grauen Flecken auf dem dunklen Stein irgendeinem Schema folgen, das auf mehr als Zufall zurückzuführen war. “Und das dort ist die Axt.” “Zagreus?” Sein Freund blickte auf. Er grinste. “Ja, ich glaube, ich kriege da eine Beule”, verkündete er und deutete vielsagend auf seinen Hinterkopf. “Ich glaube, meine Beule kriegt eine Beule.” Natürlich. … Aber immerhin sah er es ein. “Wir sollten zurückkehren.” Zagreus zuckte mit den Achseln. “Findest du?”, fragte er. Versonnen blickte er auf den Asterius-Fleck. “Meine Mutter hat mir mal davon erzählt, wie sie als junge Göttin hinter dem Rücken ihrer Mutter die Sterblichen beobachtet hat. Bei Schnee haben sich die Kinder in den Schnee geworfen und Figuren gemacht.” “Was für Figuren?”, fragte Thanatos, obwohl ihm bewusst war, dass er diese Frage noch bereuen würde. “Ich weiß nicht genau. Nymphen, vielleicht. Oder Satyre. Nicht, dass ich die empfehlen könnte. Die spucken.” Einen Moment lang starrten sie beide auf den dunklen Fleck zwischen ihnen. Thanatos trat sogar neben Zagreus, um ihn aus dem gleichen Blickwinkel betrachten zu können. Auf der Suche nach den Hörnern legte den Kopf schief. Nein.  Was auch immer Zagreus in dem Aschegestöber zu sehen glaubte, war zu hoch für ihn. “Du erkennst ihn nicht, oder?” “Höchstens dein Blut, fürchte ich”, sagte Thanatos und deutete auf einen besonders dunklen Fleck im Fleck. Zagreus lachte auf. Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf.  “Ach, ja. Der. Tut schon gar nicht mehr weh.” Zur Antwort zog Thanatos die Augenbrauen hoch. Er beschloss, das Thema nicht weiter zu erörtern. Stattdessen sagte er: “Ich glaube nicht, dass diese Kinder ihre Figuren nach dem Zufallsprinzip gemacht haben.” “Zugegeben.” Zag stockte. “Hey, ich könnte dir ein paar Figuren machen. Zur Übung.” Er wollte … bitte was? Zagreus musste seine Frage - oder zumindest einen Teil seiner Frage - in seinem fassungslosen Blick gesehen haben. Jedenfalls nickte er. “Klar. Lernie zum Beispiel. Oder wie wäre es mit Harpyien? Oder Meg?”  Thanatos starrte ihn an. Lernie? Harpyien? Meg?! Vor seinem inneren Auge sah er Zagreus schon durch die Asche robben wie Kerberos’ neuestes Spielzeug. “Das ist wirklich nicht nötig”, beteuerte er, obwohl er wusste, dass er auf verlorenem Posten stand. Immerhin: Das war Zag. Und der war mindestens genauso stur, wie König Theseus selbst. Und tatsächlich - wie Thanatos es bereits befürchtet hatte, streckte er beide Arme aus; offensichtlich für alle Schandtaten bereit. “Zag, nein! Das ist-”  Zagreus ließ sich nach hinten fallen. Für einen Moment sank er in der Asche ein. Dort, wo der Chiton über seine Schulter fiel, züngelte ein erstes Flämmchen über den Stoff. “-das Ufer.” “Au”, stimmte Zagreus zu. Statt aufzuspringen, begann er, seinen rechten Arm auf und ab zu bewegen, um damit die Asche zu verschieben. Weitere Flammen loderten an ihm empor. Sie begannen dort, wo der Chiton den Fluss berührte. Langsam fraßen sie sich die Haut entlang. “Zagreus. Das wird dich umbringen.” “Du wolltest doch zurück.” Thanatos seufzte. Er warf Kerberos einen hilfesuchenden Blick zu, doch der schnüffelte nur irritiert an Zagreus’ Fuß. “Das machst du nicht wirklich.” Zagreus’ Grinsen wirkte wie ein großes “Oh doch”. Langsam sank er tiefer. “Sieht es wenigstens Ansatzweise aus, wie ein Flügel?”, fragte er, während die lodernden Fluten des Phlegethon über seine Schienbeine und Ellenbögen strömten. Thanatos starrte ihn an. Er spürte, wie eine von Kerberos’ Nasen sich seinem Handgelenk näherte, um daran zu schnüffeln. Nicht hilfreich. “Ähm … ja? Vielleicht?” Er hörte ihn noch so etwas wie “Super!” sagen. Das letzte, das er von Zagreus sah, als er im Phlegethon versank, war seine erhobene Faust mit nach oben gestrecktem Daumen. Dann war er fort. Fassungslos gaffte er seinem Freund hinterher. Hatte er gerade? Ja, er hatte. Und war das ernsthaft eine- Ja? Im Grunde sah das, was Zag hinterlassen hatte, nicht einmal ansatzweise aus wie Megaera. Aber er erkannte den Versuch - und das war mehr, als er erwartet hätte. Oder auch nur vor einem von beiden zugeben würde. Irgendwas feuchtes stupste ihm gegen die Wange. Immer noch benommen sah er auf - und fand sich auf Augenhöhe mit Kerberos wieder. Richtig. Kein Gassi ohne Zag. Thanatos presste sein Gesicht in sein dichtes, rotes Fell. Er stöhnte. “Manchmal glaube ich, das macht er mit Absicht.” Kerberos winselte zustimmend. Irgendeiner seiner Köpfe sabberte. Der Speichel durchtränkte seinen Chiton und lief ihm über die Schulter. Er wischte darüber, aber Kerberos sabberte nur noch mehr. Thanatos seufzte. “Lass uns nach Hause gehen, ja?”   Haus des Hades -------------- Licht wusch über ihn, dann schwebte Thanatos über dem Bassin im Haus seines Herren. Von Zagreus war abgesehen von ein paar Blutspuren auf der Eingangstreppe nichts mehr zu sehen. Er seufzte. Natürlich. Nicht einmal warten konnte er. Weiter vorn im Gang fiel Hypnos vor lauter Schreck beinahe von seiner niegelnagelneuen Liege. Er japste laut und aufmerksamkeitsheischend. “Thanatos!”, rief er, immer noch kopfüber, kaum, dass Thanatos ihn erreicht hatte. “Ich, uhm, hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet du einmal diesen Weg nehmen würdest!” Er zog die Augenbrauen zusammen und starrte seinen Bruder an.  “Beim Asche-Furienmachen im Phlegethon- uh.” Hypnos blickte zu ihm auf, die Augen zum ersten Mal offen. Er blinzelte. Irritiert blickte er von Thanatos auf seine Liste und wieder zurück. Ebenso irritiert richtete er sich die Schlafmaske. “Oh? Oh! Tschuldigung, das war Zagreus’ Todesursache. Also bist du doch nicht- Egal! Willkommen zurück!” Thanatos atmete durch. “Oh, apropos Zagreus! Er sagte, er sei in seiner Kammer. Irgendwas von wegen Wunden zu lecken. Ich frage mich ja, welche Wunden er meint. Immerhin ist er ertrunken-” Er wendete sich ab. Sein Bruder rief ihm hinterher, doch Thanatos ignorierte ihn. Im großen Saal lag Kerberos längst wieder auf seinem Lager. Eingehend knabberte er gerade an seinem Hinterlauf, doch als er ihn bemerkte, wandte er ihm einen seiner Köpfe zu. Sie tauschten einen wissenden Blick. Der Wächter der Unterwelt wusste, dass sein Gassi fürs Erste vorbei war. Thanatos war klar, dass das nicht lange anhalten würde. Er nahm sich vor, ihm von seinem nächsten Ausflug in die Oberwelt Leckerchen mitzubringen. Vielleicht einen der Fische, von denen Zagreus immer sprach. Noch hatte das Zeit. Erstmal hatte er Wunden zu lecken.   Und so endet das Abenteuer des Gott des Todes. Thanatos stockte. Er warf einen Blick über seine Schulter. Wenn er den Kopf zur Seite drehte, konnte er im Augenwinkel die Büste sehen, von der Zagreus gesprochen hatte. Er runzelte die Stirn.  Nein, er erkannte ihn immer noch nicht. Desto mehr er darüber nachdachte, desto mehr sah das Ding aus wie ein generischer Mann mit einem generischen Bart. Es war auch egal. “Ich sollte mir wirkliche diese Stunden für das Arbeitszimmer nehmen”, verkündete er. Niemand antwortete ihm. Mit sich zufrieden betrat er Zagreus’ Kammer.   Epilog: Anderswo ---------------- Das Fläschchen klirrte leise, als sie es auf den Tisch zwischen ihnen stellte. Die Bewegung ließ den goldenen Nektar im Inneren gegen das Glas schwappen. Einladend. Betörend. Verlockend. Gedankenverloren strich sie über das Schleifchen, das sich um den kurzen Flaschenhals wand.  Sie ließ es nicht los.  Auf der anderen Seite des Tisches kniff der andere Schatten die Augen zusammen. Er sah einer gewissen Büste nicht einmal in dieser Geste ähnlich.  Mein Teil der Abmachung wurde erfüllt. Oh. Sie kippte das Fläschchen. Versonnen beobachtete sie den Nektar dabei, wie seine Wellen im Licht glitzerten. Wurde er das? Es ist dir sicher bewusst, dass ich mein möglichstes gegeben habe. Und du hast ihn gehört. Sie lächelte über den Preis ihrer kleinen, unschuldigen Wette hinweg. Du könntest es das nächste Mal mit Poesie versuchen. Einen Moment lang schwiegen sie beide. Auf der anderen Seite des Tisches wurde der Mann grünlich-blass. Das nächste Mal? Sappho!  Sappho lachte nur. Aber immerhin: Sie ließ das Fläschchen los.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)