Reboot von MizunaStardust ================================================================================ Kapitel 6: Easy as Binary Code ------------------------------ 6. Easy as Binary Code Mit einem leisen Ächzen legte Seto sein Buch auf dem kleinen Beistelltisch ab, lehnte sich in seinem Sessel zurück und fasste sich mit der rechten Hand an die Stirn. So verharrte er wenige Sekunden angestrengt, bis ihn eine sanfte Stimme aus seinen Gedanken schreckte. „Was ist los?“, fragte Atemu, während er auf seine übliche elegante Art leichtfüßig an den Firmenchef herantrat. Dieser öffnete die Augen, um einen Moment lang in den besorgten, offenherzigen Augen seines Gegenübers zu versinken. „Nichts, nur … manchmal überkommen mich seltsame Gefühle, die aus dem Nirgendwo zu kommen scheinen. Ich denke, es sind Erinnerungen an Ereignisse, die ich noch nicht ganz erfassen kann. Ich kann mit diesen Fetzen einfach nichts anfangen und sie … gehen mir ehrlichgesagt nur noch auf die Nerven.“ Atemu legte für einen Moment den Kopf schief, dann jedoch nickte er verständnisvoll und ein leichtes Lächeln legte sich auf seine Züge, das seine ausdrucksstarken Augen nur noch mehr in Szene setzte. Schließlich streckte er beide Hände aus und berührte mit kühlen, schlanken Fingern Setos Schläfen, so zaghaft wie kühle Regentropfen. Dieser erschauerte unter der gefühlvollen Berührung und elektrische Impulse jagten durch seinen gesamten Körper. Glücksgefühle kochten in ihm hoch. „Kann ich etwas tun, das dir helfen könnte?“, wollte der Pharao nun wissen. Nun war es an Seto, ein erschöpftes, aber dankbares Lächeln zu lächeln. „Nichts abgesehen von dem, was du ohnehin schon die ganze Zeit tust.“ „Ach ja? Und was genau wäre das?“, hakte der Pharao amüsiert nach, der sich offenbar keiner besonderen Leistung bewusst war. Wenn er wüsste, wie sehr er Seto in den letzten Wochen mit seiner bloßen Existenz geholfen hatte, wäre er womöglich weniger bescheiden. Wobei – wohl eher nicht. Es war mittlerweile Ende Januar und obwohl sich Seto an die letzten Jahre seines Lebens nicht erinnern konnte, hatte er den Eindruck gewonnen, dass er nie zuvor so gelöst und – ja, man konnte getrost sagen – glücklich gewesen war. Auch auf Mokuba schien es diesen Eindruck zu machen, und dieser hatte immerhin in den letzten Jahren reichlich Gelegenheit dazu gehabt, ihn Tag für Tag zu beobachten. Für Setos geistige Gesundheit war Atemu nicht vollkommen allein verantwortlich, denn auch in seiner Arbeit ging er vollends auf und lernte jeden Tag neue Dinge, die ihn geistig forderten und ausfüllen. Ja, er hatte richtig Spaß an diesem Job, den er sich selbst eigentlich ja nicht gewählt hatte. Hatte das Gefühl, er konnte ihn für sich neu entdecken und erobern. Dennoch steuerte der ehemalige Pharao einen nicht geringen Anteil zu diesem Hochgefühl bei, das seit der Silvesternacht anhielt. Denn im Gegensatz zu früher legte Seto, seit er Atemu regelmäßig traf, viel mehr Wert auf ein ausgeglichenes Verhältnis von Arbeit und Privatleben (zumindest nach Mokubas Aussage, die sein einziger Vergleichswert war) und konnte es kaum erwarten, abends oder an den Wochenenden Zeit mit dem König der Spiele zu verbringen. „Was liest du denn da?“, hatte sein jüngerer Bruder ihn vor einigen Tagen gefragt und neugierig auf ein Buch mit der Aufschrift „Zehn sichere Wege zum langfristigen Erfolg für Selbstständige“ in Setos Hand gedeutet. „Ach das“, hatte Seto etwas verlegen erklärt, „naja, ich dachte, ich eigne mir mal ein paar Softskills an. Immerhin weiß ich ja im Grunde nichts davon, wie man eine Firma erfolgreich führt. Hier drin steht zum Beispiel, man soll lernen, Aufgaben zu delegieren. Das macht Mitarbeitende glücklich, weil sie Verantwortung übertragen bekommen und man ihnen das Gefühl gibt, dass man ihnen Dinge zutraut. Und noch dazu hält es CEOs gesund.“ Mokuba verschluckte sich fast an seiner Cola und brach in einen heftigen Hustenanfall aus, der sich jedoch nach einigen Sekunden zu einem heiseren Lachen wandelte. „Lass mich raten: In meinem alten Leben habe ich von solchen Tipps nicht allzu viel gehalten“, stellte Seto unbeeindruckt fest. Eifrig nickte der jüngere Kaiba. „Nicht das Geringste. Du hast immer gesagt, dein Erfolg gebe nur dir recht und nicht irgendwelchen Ratgeberfritzen, die im Leben noch rein gar nichts erreicht hätten. Und dass man alles selbst erledigen müsse, wenn man will, dass es gut wird.“ Seto nickte. „Sowas in der Art dachte ich mir.“ In den letzten Wochen hatte er sein früheres Ich kennengelernt wie diesen einen Freund, von andere ständig die unmöglichsten Dinge und Ansichten berichten, den man aber selbst nur aus Erzählungen kennt. Fast fühlte dieser Seto Kaiba sich an wie eine Allegorie für alles, was man im Leben nicht sein wollte oder sollte. Aber jetzt lernte er seine Arbeit vollkommen neu kennen. Jetzt hatte er keine andere Option, als alles anders zu machen. Alles so zu machen, wie er es hier und heute für richtig hielt. Von vorn zu beginnen. Und außerdem hatte er jetzt Atemu. Seinen … Freund, wie es schien (An dieses Wort musste er sich wohl erst gewöhnen), für den es ihm wichtig war, Zeitfenster freizuschaufeln und der ihn seine Arbeit ab und an durch das Eintauchen in seine eindrucksvollen Augen vollkommen vergessen ließ. Noch immer wusste er nicht wirklich, wer er war, aber wenn er mit Atemu zusammen war, hatte er manchmal das Gefühl, sich in ihm zu wiederzufinden. Noch war Atemu natürlich für ihn kein echter Partner. Aber er war jemand, den er sich definitiv in der Zukunft als ein solcher an seiner Seite vorstellen konnte. „Alles, was du mich fühlen lässt, hält mir diese verwirrenden Emotionen und Bilder vom Hals“, erklärte Seto jetzt ruhig. Atemu nickte daraufhin verstehend. Seine Finger bewegten sich nun wie nebenbei weiter an Setos Schläfen nach hinten, vergruben sich in dessen Haar und kraulten sanft seine Kopfhaut, sodass auch die Muskeln in Setos Nacken sich automatisch ein wenig entspannten. Sein ganzer Körper wurde leicht und eine Gänsehaut jagte über seine Arme. Ohne, dass er es hätte verhindern können oder wollen, entwich ihm ein entspanntes Seufzen. Schließlich platzierte Atemu sich rittlings auf Setos Schoß, während er die letzte Distanz zwischen ihnen überbrückte und Seto automatisch in einen Kuss zog, wobei seine Hände schließlich locker in Setos Nacken liegenblieben. Dieser empfing den mittlerweile bereits vertrauten Körper nur zu bereitwillig und seine Hände glitten über die warme Haut unter Atemus schwarzem Langarmshirt. Der ehemalige Pharao drängte sich nun dichter an ihn, nahm Setos Gesicht in seine Hände und knabberte leicht an dessen Lippen, verwickelte ihn in einen spielerischen Tanz ihrer Zungen, während sein Körper sich gefühlvoll auf Setos Schoß bewegte und sich rhythmisch an ihn drängte, so dass dessen Blut in Richtung seiner Körpermitte schoss. Seto spürte deutlich, dass dies wieder einer dieser Augenblicke war, in die er sich nur zu gerne fallen ließ, um alles – seine ganze Situation, seine Person und all die Fragen in seinem Kopf – einfach auszublenden. Seine Gedanken waren dann nur noch und vollkommen bei Atemu und bei alldem, was dieser ihn seit einigen Wochen fühlen ließ. Dessen Hände wanderten nun an Setos Oberarmen hinab zu dessen Taille. Ihrer beider Atem ging mittlerweile schneller. Seto ließ seine Hände von Atemus Rücken nach vorne zu dessen Oberschenkeln gleiten. Nun erhob sich der Kleinere der beiden und kümmerte sich um die Knöpfe an Setos Hemd, während er ihn weiter küsste. Schließlich entledigte er sich auch seiner eigenen Oberbekleidung, ohne seine Aufmerksamkeit auch nur einen Moment von Seto abzuwenden. Er hielt kurz inne, nur um den Firmenchef glücklich anzulächeln, bevor er endlich seiner dessen mittlerweile unbequem gewordenen Beinkleider öffnete und einnehmend über die darunter freigelegte Boxershorts strich. Am Ende fielen auch die letzten Kleidungsstücke und auch wenn dies nicht das erste Mal war, verspürte Seto doch jedes Mal ein aufgeregtes Ziehen, wenn sie letztlich so Haut an Haut miteinander agierten, sich einander so schutzlos auslieferten und ihre Körper die Kontrolle übernehmen ließen. Atemu hatte paradoxerweise eine gleichsam elegante und rohe Art, den Begierden seines Körpers stattzugeben und auch wenn Seto ahnte, dass dies in seinem alten Leben vermutlich keine Option für ihn gewesen wäre, überließ er ihm ab und zu nur zu gerne die Oberhand und ließ ihn sich nehmen, was er begehrte. Und zu beobachten, wie sehr Atemu sich in die Hitze des Moments fallen lassen und genießen konnte, verleitete ihn dazu, dies ebenfalls zu tun und erregte ihn mit jedem Mal mehr. Atemu legte seinen Kopf in den Nacken und bäumte seinen Körper auf, um Seto in sich intensiver zu spüren, während Setos Hände an dessen Taille lagen und seine Lippen über Atemus erhitzten Nacken und Schultern glitten. Ihre Nähe zueinander war so natürlich, dass Seto sich kaum vorstellen konnte, dass es einmal anders gewesen sein sollte. Später ließ Atemu sich erschöpft gegen Setos Brust fallen. Sein Schweiß benetzte Setos Haut und roch angenehm vertraut. Tiefe Entspannung überkam ihn, während er sein Gesicht in Atemus nun unordentlich wegstehenden Haar vergrub und seine Arme um den zierlichen Körper legte. Beide dösten in einen schläfrigen Dämmerzustand, bis Atemu sich widerwillig erhob. Er suchte seine Sachen zusammen und kraulte Seto dann noch einmal wie abwesend durch sein Haar. Als ihre Blicke sich erneut ineinander verhakten, bemerkte der Firmenchef wieder eine für Atemu äußerst rare Gefühlsregung: Meistens wirkte er wie diese alte, veredelte Seele, die so sicher durch jede Situation navigierte. Aber in seltenen Momenten blitzte in seinem sonst so herrschaftlichen Blick eine Unsicherheit und Verletzlichkeit auf. „Was ist?“, sprach er seine Beobachtung sachte an, doch ein Lächeln auf den Lippen des Pharaos kaschierte die Wehmut in seinen Augen schnell. „Nichts nur … ich wünschte, alles könnte immer so bleiben wie jetzt. Manchmal kommt es mir vor, als befänden wir uns in einer Seifenblase.“ „Dann … lass uns doch einfach dafür sorgen, dass es so bleibt“, sagte Seto, vielleicht etwas zu naiv. Natürlich wusste er so genau, wie er es spürte, dass seine Beziehung zu Atemu nicht so einfach war, wie er sie heute empfand, dass sie unter dieser aalglatten Oberfläche vielschichtiger und komplexer sein musste. Aber im Augenblick teilte er die Sehnsucht des Kleineren. Er wünschte sich, dass seine Erinnerungen nie zurückkehrten und dass er einfach einen Strich hinter sein früheres Ich setzen konnte. So wie er scheinbar einen Strich hinter Gozaburo Kaiba gesetzt hatte. Vielleicht gab es für alles eine Zeit. Und diese hier war dafür da, um zu leben. ~*~ In den kommenden Wochen und Monaten rückte sein Wunsch ganz einfach deshalb mehr und mehr in den Hintergrund, da er scheinbar zur Realität wurde. Die wenigen Schlaglichter auf Emotionen und Bruchstücke aus seinem Gedächtnis quälten ihn zwar von Zeit zu Zeit, doch schaffte er es, sie ziemlich erfolgreich beiseitezuschieben, da er ohnehin meist wenig mit ihnen anfangen konnte. Manchmal waren es auch kleinere Erinnerungen an Ereignisse aus seiner geschäftlichen Laufbahn oder seiner Zeit bei Gozaburo, die er ohnehin nur zu gerne direkt wieder von sich wies wie einen Film, den er am Vorabend gesehen und am nächsten Morgen vergessen hatte. Die Tage und Wochen zogen ins Land und seit seinem Gedächtnisverlust waren nun mehr sechs Monate verstrichen. Gerade packte Seto im Büro seine Sachen zusammen und richtete sich noch einmal seine Krawatte. „Ich bin dann weg“, informierte er Roland, der gerade einige Aktenordner hereintrug und auf seinem Schreibtisch platzierte. „Schönen Feierabend, Herr Kaiba“, sagte sein Assistent wohlwollend, „und viel Spaß bei Ihrem Tanzkurs.“ „Danke, Roland. Oh, und mach du heute ebenfalls nicht mehr so lange. Es wurde mir zugetragen, heute ist ein großer Tag für dich. Dein Junggesellenabschied?“ „Da haben Sie richtig gehört“, Roland schmunzelte etwas ertappt. Seit jeher hatte er mit seinem Chef, den er von klein auf kannte, ein sehr gutes Verhältnis geführt. Doch für sein Privatleben hatte dieser sich früher wenig interessiert. „Na dann – lass es krachen oder was auch immer“, entgegnete Seto trocken, bevor er flüchtig winkte und schließlich mit seiner Aktentasche unter dem Arm eilig das Büro verließ. Beinahe wäre er mit seinem jüngeren Bruder zusammengestoßen, der gerade zur Tür hereinschneite. Auch mit ihm tauschte er nur einen flüchtigen Gruß, bevor er auf uns davon war. Mokuba sah ihm für einen Augenblick grübelnd nach. „Herr Kaiba?“, sprach ihn Roland vorsichtig an, „alles in Ordnung? Über was denken Sie nach?“ „Ach nichts“, Mokuba schüttelte hastig den Kopf, wie um die Gedanken zu vertreiben, „es ist nur … ich bin so hin- und hergerissen. Seto wirkt jetzt so glücklich. Fast kommt es mir richtig egoistisch vor, mir trotzdem zu wünschen, dass seine Erinnerungen zurückkommen.“ Roland nickte verstehend. „Ich finde nicht, dass Sie egoistisch sind“, widersprach er ihm nachdrücklich, „aber vielleicht“, schlug er nachdenklich vor, „schließt das eine das andere ja nicht aus. Vielleicht kann er sich seinen Lebenswandel auch mit seinen Erinnerungen beibehalten.“ „Ja, möglich“, entgegnete der jüngere Kaiba, aber in Wahrheit bezweifelte er es. Wenn all seine vergifteten Gefühle zurückkehrten, würde es schwer werden, sich diese Reinheit und Unvoreingenommenheit zu bewahren. Und sein gutes Verhältnis zu Atemu, der ihn in den letzten Monaten stetig aus dem Büro und vor die Tür zerrte. Seit neustem machten sie gemeinsam einen Tanzkurs. Eigentlich konnte Seto bereits ganz passabel tanzen (eine Fähigkeit, die er trotz seines Gedächtnisverlustes nicht verlernt hatte). Diese Erkenntnis hatte sein Bruder aus der ersten Stunde mitgenommen und sie hatte Seto selbst überrascht. Es stimmte also, dass man bestimmte Dinge einfach nicht verlernen konnte. Atemu aber kannte sich mit den Standardtänzen nicht aus und so begab sich sein Bruder nun bereitwillig noch einmal auf das Anfängerniveau.(*) „Wie auch immer, wir sollten an die Arbeit gehen, damit du heute Abend pünktlich hier rauskommst“, schloss Mokuba das Thema schließlich ab, „oh und Roland – lass doch bitte das ‚Herr Kaiba‘ Weg. Mokuba reicht nach wie vor vollkommen aus.“ ~*~ Seto betrat derweil gutgelaunt den Aufzug nach unten und betätigte den Knopf, der ihn ins Erdgeschoß brachte. Die Tür schloss sich fast geräuschlos und das leichte Ziehen im Magen, das die Abwärtsbewegung des fahrenden Raums ankündigte, nahm er kaum noch wahr. Ohnehin war er mit den Gedanken bereits bei dem geplanten Abend. Doch von einem Moment auf den anderen schlug Setos Wahrnehmung vollkommen um. Beklemmung überkam ihn so heftig wie ein Schlag auf den Kopf und ihm war, als kämen die metallenen Wände immer näher. Sein Magen machte sich bemerkbar und er musste sich zusammenreißen, um sich nicht zusammenzukrümmen. Hilflos krallte er seine rechte Hand in sein Haar und suchte mit der linken an der Wand Halt. Urplötzlich war er froh, dass sich außer ihm niemand im Aufzug befand. Und während es in seinen Eingeweiden riss und sein Magen sich fühlte, als drehe er sich einmal um, prasselten Bilder und Emotionen so heftig auf ihn ein, dass er keine Gelegenheit mehr hatte, sie zurückzudrängen. Er konnte nur hilflos abwarten, bis sie eine nach dem anderen Einzug in seine Gedanken gefunden hatten wie eine groteske Parade. Während er noch so dastand und unregelmäßig atmete, öffnete sich die Aufzugtür mit einem melodischen „Pling“. Von draußen blinzelte Atemu ihn verwirrt an. „Seto, alles okay? Ich hab etwas früher Schluss gemacht. Ich dachte, ich komme dich abholen.“ Langsam richtete der Angesprochene sich auf. Die Intensivität des Augenblicks verebbte langsam, aber etwas blieb bei ihm, ließ sich nicht abstreifen. Wie ein hartnäckiger öliger Film. „Ja, ich glaub schon“, antwortete er langsam und blickte Atemu an. Dessen skeptischer Ausdruck machte Seto sofort klar, dass er kein Wort vom dem Gehörten glaubte. „Schön. Sollen wir … gehen?“, fragte er dennoch, ohne weiter nachzuhaken. „Ja. Ja, auf jeden Fall.“ Als Seto neben Atemu herschritt, besah er ihn unauffällig von der Seite. Jetzt, gerade in diesem Moment, wäre er lieber alleine gewesen. Oder mit irgendjemand anderem unterwegs. Denn das, was er eben empfunden, was er gesehen hatte - all das hatte mit Atemu zu tun. Zum ersten Mal hatten ihn Erinnerungen an ihn erreicht. Und mit ihnen vollkommen unbeschreibliche Gefühle. Gefühle der Abscheu, der Rivalität, der Verachtung und Minderwertigkeit. Er fühlte sich hilflos, gedemütigt, rastlos und – verunsichert. All das konnte er nicht einordnen und auch nicht mit dem Bild von Atemu vereinbaren, das er in der Zeit nach seinem Erinnerungsverlust gewonnen hatte. Es war in etwa so wie diese seltenen Begebenheiten, bei denen man nachts überraschend von Personen aus dem eigenen Alltag träumt und man ihnen am darauffolgenden Tag völlig ungewohnte Gefühle entgegenbringt, wenn man ihnen im realen Leben begegnet. „Du bist so still. Hast du dich denn an etwas erinnert?“, schnitt Atemu nun das Thema noch einmal zaghaft an, nachdem sie bereits fast den gesamten Weg zum Studio schweigend nebeneinanderhergelaufen waren. Auch der Pharao schien wahrzunehmen, dass heute etwas zwischen ihnen stand. „Nichts, was der Rede wert wäre“, wich Seto resigniert aus. Wie sollte er es erklären? Er musste zuerst darüber nachdenken. In aller Ruhe seine wirren Gedanken ordnen. „Okay. Wenn du darüber reden möchtest, du weißt ja, ich bin hier.“ „Ja, danke.“ Das geplante Abendessen ließen sie nach der Tanzstunde einvernehmlich ausfallen. Atemu schien zu spüren, dass eine unsichtbare Barriere Seto zurückhielt. Und dieser war dankbar für dessen Feingefühl. Und dennoch fühlte es sich falsch an, als sie so auseinandergingen. Beklemmend. So ruhig Atemu auch äußerlich versuchte zu wirken. In seinen Augen hatte Seto bei ihrer Verabschiedung Angst gesehen. Dieselbe Angst, die er bereits bei seltenen Gelegenheiten manchmal erhascht hatte. Und die er ihm nicht nehmen konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)