For all the Ghosts that are never gone von Schnattchen91 ================================================================================ Prolog: Prolog: Einsamkeit -------------------------- Everthing is going to be fine in the End If it’s not fine .- It’s not the End   Prolog: Einsamkeit   156        verpasste Anrufe 3042     ungelesene Nachrichten   Alle von meinen Freunden aus Duskwood, doch ich hatte sämtliche Kontaktaufnahmeversuche der anderen ignoriert.   Gekonnt ignoriert!   Der Schock saß immer noch zu tief in den Knochen. Richy war für die Entführung von Hannah verantwortlich. Und Richy war am Selbstmord von Amy Bell Lewis nicht ganz unschuldig. Auch wenn er es keineswegs gewollt hatte.   Ich konnte es nicht wirklich erklären, aber ich empfand Mitleid mit ihm. Er war kein schlechter Mensch. All das war doch nur passiert, weil er sich für den Unfalltod von Jennifer Hanson verantwortlich fühlte. Dabei war er nicht einmal vor Ort gewesen. Er hatte doch nur den AMC Gremlin Amy und Hannah überlassen.   Auch wenn er wusste, dass keins der beiden Mädchen einen Führerschein besaß. Er selbst hatte schon auf dem Pine Glade Festival getrunken und war nicht mehr fahrtauglich. Er wusste das Hannah mit einem Auto umgehen konnte. Schließlich hatte sie schon öfters auf dem Gelände von Rogers Garage ihre Fahrkünste ausprobiert.   Im guten Glauben, dass Hannah das Fahrzeug beherrschen würde, hatte Richy den beiden Mädels den AMC Gremlin überlassen.   Ich konnte ihm keinen Vorwurf machen!   Zugebenermaßen auch so sehr ich es versuchte. Richy konnte nicht wissen, dass Hannah die unschuldige Jennifer auf den dunklen Straßen übersehen würde. Auch wenn es im Bereich des Möglichen lag, dass sich ein unerfahrene Fahrerin sich und ihre Fertigkeiten überschätzte. Doch wer rechnete schon mit dem Schlimmsten. Ich wäre auch so naiv gewesen. Wahrscheinlich hätte ich genauso gehandelt.   Keineswegs würde ich es rechtfertigen wollen, dass er sich 10 Jahre nach diesem tragischen Unfall als Mann ohne Gesicht ausgeben hatte um Hannah und Amy… Naja, was eigentlich? Eine Lektion erteilen? Sich rächen für seine Schuldgefühle?   Ich kam nicht umher über all das nachzudenken. Nicht nur über seine Motive, sondern auch wie ich in seiner Situation gehandelt hätte. Unsere Schicksale waren irgendwie auf eine seltsame Art und Weise verbunden. So wie Richy war auch ich unschuldig in eine Sache verwickelt, dessen Kontrolle ich am Ende ausnahmslos verloren hatte. Ich hatte zwar nicht so wie er einen Selbstmord zu verantworten.   Ich schluckte.   Doch das hatte ich! Ich konnte es auf den Kameras sehen. Ich habe gesehen wie Richy das Benzin vergossen hatte. Gefühlte tausendmale hatte ich versucht ihn telefonisch zu erreichen. Doch er hatte nicht mehr abgenommen.   Hilflos musste ich mit ansehen, wie er das Benzin angezündet hatte. Hilflos habe ich geschrien, dass er mit dem Mist aufhören sollte.   Wohlwissend das er keins meiner Worte hören würde.   Ich konnte ihn nicht retten!   Durch mein Einmischen in Hannahs Vermisstenfall klebte nun Blut an meinen Händen. Richys Blut! Mit dieser Bürde musste ich nun für immer Leben   Doch das war nicht der Grund warum mein Hass auf Richy mein Mitleid für ihn überschattet. Es lag nicht daran, dass ich mich verraten fühlte. Das tat ich ohne Zweifel. Die ganze Zeit bei der Suche und Sorge um Hannah hatte er uns belogen. Und ja eigentlich sollte ich deswegen wütend sein…. Dennoch…. Da war diese eine Sache…   Diese eine Sache die ich Richy niemals verzeihen konnte. Jake war auch in den Minen gewesen. Ich konnte mit 100% Sicherheit sagen, dass ihm irgendetwas passiert sein musste!   Die Möglichkeit die Jake gehabt hatte, waren eine Auswahl aus Cholera und Pest. Ich hätte niemals zulassen sollen, dass er in diese Minen geht. Definitiv hätte ich penetranter sein müssen.   Mein einziger Feind war der Mann ohne Gesicht. Klar, wir dachten alle Michael Hanson hatte sich diese alte Legende angeeignet um Rache für den Unfalltod seiner Tochter zunehmen.   Es ist im Nachhinein war es reinster Hohn, dass es Richy der Mann ohne Gesicht war. Ich wäre wohl nie in ernsthafter Gefahr gewesen, wenn ich in diese alten Minen von Duskwood gefahren wäre. Im Gegensatz zu Jake. Seine Verfolger waren ihm schon dicht genug auf der Spur gewesen.   Dann…   Ich stockte meine Gedanken. Es fiel mir immer noch schwer diesen Gedanken zu Ende zu bringen. Ich wusste nicht, ob Jake die Minen noch vor Richys Inferno verlassen konnte. Doch wenn er es geschafft hatte war er wohl blindlinks dem FBI, seinen Verfolgern, in die Arme gelaufen.   Klar, war dieser kleine Hoffnungsschimmer gewesen. Dieser kleine unscheinbare Hoffnungsschimmer der sich mit jeder Sekunde des Warten in ein Inferno der Verzweiflung verwandelt. Jake hätte sich gemeldet, wenn er in Sicherheit gewesen wäre.   Niemals, nie im Leben hätte er seine letzte Nachricht einfach so im Raum stehen gelassen. Gerade weil ich mit meiner Antwort klargemacht hatte, dass ich seine Gefühle erwidere. Diese drei magischen Worte von ihm hatten mich glauben lassen, ich wäre geradeaus unterwegs in Richtung Happy End.   Doch jetzt ertrank ich regelrecht in meiner Verzweiflung. Nicht zu wissen, ob er meine letzte Nachricht überhaupt gesehen hatte - das war die Hölle. Unabhängig davon, welches der beiden Endszenarien die Wahrheit war. Jake sollte wissen, dass ich ihn auch liebte.   Für den Fall, dass er dem FBI in die Arme gelaufen ist, würde ihm das doch sicher Kraft geben. Er würde wissen, dass ich auf ihn wartete. Er musste doch wissen, dass er auf Ewig der Einzige sein würde. Der Einzige der jemals zählte und es immer würde. Er bedeutete mir doch genau so viel, wie ich ihm.   Das musste ihm doch Hoffnung geben. Er würde doch nicht an diesem Wissen in seiner Verzweiflung und Hilflosigkeit ertrinken.   So wie ich.   Meine salzigen Tränen brannten auf meiner Haut. Ich war nicht mehr stark genug den schlimmsten aller Gedanken zu unterdrücken.   Was wäre wenn Jake es nicht auf den Minen geschafft hatte?   War es Frieden für ihn zu wissen, dass ich ihn liebte? Oder war es die Hölle? Musste er dadurch noch mehr leiden?   Ich hätte gelitten, wenn ich an seiner Stelle in den Minen gewesen wäre. Genau in dem Moment in dem ich realisiert hätte, dass ich es nicht mehr rechtzeitig aus den Minen schaffen würde. Der Gedanke zu wissen, dass ich ihn allein lassen würde wäre schlimmer als mein eigenes Todesurteil.   Immer mehr Tränen rann über mein Gesicht. Das Atmen fiel mir mit jedem weiterem Zug immer schwere.   Warum musste gerade ich in den Vermisstenfall von Hannah Donfort reingezogen werden?   Eine Frage auf die ich bis heute keine Antwort hatte. Ehrlich gesagt auch keine haben wollte. Der Grund, warum ich aus meinem unbeschwerten und glücklichen Leben gerissen wurde, schien so unbedeutend. Genauso wie die Tatsache, dass ich Hannah gerettet hatte.   All das zählte nicht.   Der Preis, den ich zahlen musste, war einfach zu hoch! Ich hatte Jake verloren! Wahrscheinlich für immer…   Er hätte sich sonst bei mir gemeldet. So lange würde er doch niemals brauchen, um mich zu kontaktieren! Es war doch schon so viel Zeit vergangen. So viel Zeit, dass ich den Überblick verloren hatte.   Halt! Das war eine Lüge….   Ich wusste ganz genau, dass es sieben Wochen, drei Tage, fünfzehn Stunden und achtunddreißig Minuten waren! Es war reiner Selbstschutz… Wenn ich mir den genauen Zeitraum vor Augen führte, zerstörte ich doch sämtliche Hoffnung die ich in mir aufkeimte.   Drei Tage kein Lebenszeichen konnten immer noch bedeuten, dass ihn irgendwas oder irgendwer verhindert hatte sich direkt bei mir zu melden. Doch fast zwei Monate macht dies nur noch unwahrscheinlicher.   Ich schreckte hoch als ich das Klingeln meines Mobiltelefons vernahm. Enthusiastisch griff ich danach um im nächsten Moment auf den harten Boden der Realität zufallen.   Natürlich war es nicht Jake.   Jessy war nun verpasster Anruf Nummer 157   Zugebenermaßen konnte ich man ihr wohl die meisten Versuche mich zu erreichen, zu sprechen. Die Tatsache das sich ihre Kontaktaufnahmeversuche in letzter häuften machten es mir nicht unbedingt leichter. Doch ich konnte und wollte mit keinem von ihnen sprechen.   Ich wusste, dass ich mich zu einem gewissen Teil selbst belog. Nach der Erkenntnis, dass Richy die ganze Zeit der Entführer gewesen war, wusste ich wirklich nicht wie ich ihnen gegenübertreten sollte. Doch die Angst, dass mir einer sagen könnte, dass man auch Jakes Leiche in den Minen gefunden hatte, war zu groß. Ich wollte mir nur nicht eingestehen, dass ich noch nicht bereit war diesen Hoffnungsschimmer aufzugeben.   Wieder klingelte mein Handy. Wieder war es Jessy.   Wieder hatte ich nicht die mentale Kraft das Gespräch entgegenzunehmen. Eigentlich wollte ich sie nicht für so einen langen Zeitraum ignorieren. Doch alle meine Gedanken drehten sich zurzeit um Jake.   Ich würde Jessy keine Hilfe sein. Nicht die Stütze die sie brauchte und verdiente. Ich war einfach ein emotionales Wrack. Vorgestern erst hatte ich aus Wut meinen Badezimmerspiegel zertrümmert. Mit voller Kraft mit meiner Faust darauf eingeschlagen. Selbst die Verletzungen, die ich mir dabei zugezogen hatte, störten mich nicht.   So wirklich spürte ich den physischen Schmerz nicht einmal.    Die kleine piepsige Stimme in meinem Kopf versuchte mir klar zu machen, dass ich sämtliche Warnsignale erreicht hatte und dringend professionelle Hilfe bräuchte. Doch diese leise Stimme konnte ich perfekt ausblenden.   Denn wenn ich ganz ehrlich zu mir war: Ich wollte leiden!   Das Gefühl, dass ich es verdient hatte zu leiden war zu groß. Denn so wie alles geendet hatte war es ganz allein meine Schuld. Richy hätte Hannah niemals ernsthaft Schaden zugefügt. Ich hätte niemals auf Thomas Nachricht reagieren sollen. Ich hätte mich nicht hinreißen lassen sollen Detektiv zuspielen. Und vor allem hätte ich mich niemals meiner Faszination diesen einen mysteriösen Hacker hingeben sollen.   Wenn ich ihn nicht hätte kennen lernen wollen… Wenn wir uns nicht besser kennen gelernt hätten… Dann hätten wir uns doch nie ineinander verliebt.   Jake wäre niemals anstatt meiner in diese dämlichen Minen gestiegen. Er würde jetzt in Sicherheit sein. Er wäre niemals überhaupt nur in Gefahr geraten. Immer noch versteckt vor seinen Verfolgern.   Warum habe ich ihm nicht, wie die Anderen, von Anfang an misstraut? Warum war ich so großzügig gewesen ihm sofort mein Vertrauen zu schenken?   Denn seien wir ehrlich, verdient hatte er das nicht!   Warum war ich nicht in der Lage gewesen, einzusehen wie verdächtig er sich verhielt?   Nein, ich musste mich ja ausgerechnet in den von der Regierung gesuchten Hacker verlieben!   Ich sollte definitiv meiner Männergeschmack noch einmal überdenken!   Wieder klingelte mein Handy Wieder war es Jessy Verpasster Anruf 159… 160… 161… 162… 163… 164… Dieses Mal war sie wirklich penetrant! 165… 166… 167…   Wahrscheinlich erhoffte sich Jessy, dass ich nun doch schwach werden würde und sie nicht weiterhin ignorieren würde. Irgendwie war ich auch kurz davor gewesen. Ich wollte das es aufhörte… Das alles aufhörte…   Im Nachhinein betrachtet war es doch einen gute Idee gewesen den Anruf nicht entgegenzunehmen. In meiner selbstzerstörerischen Phase hätte ich sie nur angebrüllt, dass sie mich doch endlich zufriedenlassen sollte. Das wäre ihr und ihrer Situation gegenüber nicht fair gewesen. Schließlich hatte sie Richy verloren…. Sie und Richy waren….   Das Klingeln meiner Wohnungstür ließ mich aufschrecken. Wer zum Teufel klingelte den jetzt Sturm?   Wankend machte ich mich auf den Weg, um meinem unbekannten Besucher die Tür zu öffnen. „Ich komm ja schon!“, stöhnte ich genervt. Die Hoffnung das es Jake sein könnte, kam gar nicht erst auf. Schließlich wusste er nicht einmal wo ich wohne. Geschweige denn dass er nicht einmal meinen Nachnamen kannte.   Wie sollte er mich finden? Und vor allem wieso nach fast zwei Monaten Funkstille hier auflaufen?   „Ich bin ja da!“, brüllte ich mehr wütend als genervt von dem ruhstörenden Ton meiner Türklingel. „Was soll der Scheiß?!“, brüllte ich in dem Moment in dem ich die Tür öffnete. Mir war egal wer da war. Die Person durfte ruhig wissen, wie sehr mich ihr Verhalten auf die Palme brachte.   Ich hatte auch keinen Gedanken daran verschwendet wie unpassend mein Verhalten sein könnte. Nicht nur weil ich jemand Fremdes meines Frust der letzten Monate regelrecht ins Gesicht brüllte. Es gab schließlich auch die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich damit in Gefahr brachte. Das FBI, zum Beispiel, würde sicherlich nicht zimperlich sein, wenn man ihnen nicht den nötigen Respekt entgegenbrachte. Vor allem gerade dann wenn man beinah seine eigene Liebesgeschichte mit einem gesuchten Hacker gehabt hätte.   Doch wahrscheinlich wären mir sämtliche Konsequenzen auch egal gewesen.   Jake war nicht mehr da und das war alles was für mich zählte. Ich hatte die Liebe meines Lebens verloren. Was sollte mir also noch Schlimmeres passieren?   Mein Körper erstarrte als ich realisierte wer da vor mir stand.   „J…J…J…J…“stammelte ich. Es hatte mir völlig die Sprache verschlagen Ich konnte nicht fassen, wer da vor mir stand.   Kapitel 1: Kapitel 1: Romantisch und Actionreich ------------------------------------------------ Kapitel 1: Romantisch und Actionreich   Meine Schockstarre schien meinen unerwarteten Besuch zu amüsieren. Mein eigenes Blinzeln verriet mir, ich langsam wieder handlungsfähig wurde.   „Jessy?!“, schlussendlich hatte ich auch meine Sprache wiedergefunden.   „Was machst du hier?“, meine eigene Frage hatte mich überrumpelt. Die Erste ausgesprochen folgten tausende weitere Fragen in meinem Kopf. Warum war sie hier? Wie war sie hierhergekommen? Vor allem woher wusste sie, wo ich wohnte?   Ich hatte in der ganzen Zeit nie meine Adresse genannt. Ihr nicht, sowie keinem anderen aus der Gruppe. Selbst über die Stadt, in der ich lebte, hatte ich nie gesprochen. Nicht einmal mit Jake!   Warte…   Hatte Jake etwa meine Adresse herausgefunden? Aber warum war er dann nicht selbst gekommen? Steckte er immer noch in Gefahr? Oder dachte er vielleicht ich würde ihn nicht sehen wollen? Hatte er den wirklich keine Ahnung wie schrecklich ich ihn vermisste?   Das musste ihm doch klar sein!   Schließlich hatte ich doch meine Gefühle für ihn genauso offenbart. Und wenn er noch in Gefahr schwebte würde er niemals das Risiko eingehen und meine Adresse recherchieren.   Oder würde es das doch? Oder befand ich mich in Gefahr? Hatten seine Verfolger meine Adresse herausgefunden? Und war Jessy jetzt hier, um mich zu warnen?    Warte!   Das ergab doch alles keinen Sinn!  Ich würde dem FBI keinerlei Informationen geben können.   Mal davon ab, dass ich keinen Kontakt mehr zu Jake hatte, wusste ich kaum etwas über ihn. Ich wusste nicht einmal wie er aussah. Lediglich hatte er mir verraten, dass er schwarze Haare hatte.   Seine Stimme hatte ich auch immer nur durch einen Stimmenverzehrer gehört.     Generell war er mit Informationen über seine Person sehr spärlich umgegangen. Eine Tatsache, die ich immer akzeptieren musste. Er wollte mich damit schützen und das wusste ich. Spätestens seitdem seine Verfolger versucht hatten mein Smartphone zu hacken. Dank Nymos, einen Programm, dass er zu meinen Schutz auf meine Handy installiert hatte, war es ihnen nicht gelungen.     Ich fragte mich, ob Nymos immer noch aktiv war…   Jake würde mich doch immer noch beschützen?    Auch wenn ich rein gar nichts über diesen Mann wusste, so wusste ich doch, dass er mein Seelenverwandter war. Ich merkte nicht, wie verrückt sich dies anhörte. Aber wahrscheinlich wäre mir diese Tatsache auch egal gewesen. Ich liebte….    „Du siehst furchtbar aus!“, riss Jessy mich aus meinen Gedanken.   Mist!  Ich hatte ihre Anwesenheit komplett vergessen.     „Was machst du hier?“, wiederholte ich meine Frage und merkte selbst wie mit jeder Silbe mein Ton unfreundlicher wurde.   „Lass mich doch erstmal reinkommen“, flötete Jessy gutgelaunt und ließ sich nicht von meiner ablehnenden Haltung irritieren.   „Ja klar…“, murmelte ich schließlich, immer noch mit der Situation überfordert. Jessy unbeschwerte fröhlich Art machte es mir nicht gerade leichter meine Gedanken zu sortieren. Zwar hatte ich sie so kennengerlernt, doch auf Grund der jüngsten Ereignisse hatte ich dies nicht erwartet.     Schlichtweg, es überforderte mich…    Gerade sie stand Richy doch von allem am nächsten. Das letzte Videotelefonat der beiden hatte mir regelrecht das Herz zerbrochen. Darauf ansprechen konnte ich sie nicht, schließlich hatte ich es, dank Jake, heimlich mit ansehen können. Es war furchtbar gewesen, sie nicht in diesem Moment trösten zu können.     Ich hatte regelrecht ihren Schmerz gefühlt…   Das sollte jetzt vorbei sein?  Nach nicht einmal zwei Monaten?  Könnte sie über die Tatsache, dass Richy qualvoll verbrannt einfach so hinwegsehen?  Freute sie sich im Nachhinein sogar noch über seinen Tod?   Irgendwie konnte ich mir das gar nicht vorstellen!  Vielleicht wollte ich auch diesen Gedanken einfach nicht zulassen…  Die anderen waren jahrelang mit Richy befreundet gewesen. Dann zu erfahren, dass er Hannahs Entführer war, konnte doch nicht spurlos an ihnen vorbei gehen.   Doch dass konnte doch nicht bedeuten, dass Jessy und die anderen froh über seinen Selbstmord waren!   Er war immer noch ihr Freund!    Oder war ich einfach zu sensible?   Und nahm mich die ganze Situation mehr mit als die anderen?   Auch das konnte ich mir nicht vorstellen.     Er war verdammt noch mal deren Freund gewesen! Über Jahre!  Jahrzehnte!   Jessy skeptischer Blick holte mich wieder in die Realität.   Ich hatte ihre Anwesenheit vergessen!  Schon wieder…    Ich seufzte.   „Sorry für das Chaos…“, sagte ich als ich die Tür komplett öffnete. „Aber ich habe nicht mit Besuch gerechnet…“   Zu meiner Verwunderung kicherte Jessy.   „Wenn du mal meine Anrufe entgegengenommen hättest, hättest du gewusst, dass ich komme.“, ich konnte ihre Aussage nicht einordnen. Ihre gewählten Worte klangen wie ein Vorwurf. Doch ihre heitere, fröhliche Stimmlage deutete mehr auf das Gegenteil hin.     „Oh mein Gott, [MC]“, kam es entsetzt von ihren Lippen als ihr Blick auf die gestapelten Essensverpackungen fiel. Mir war erst jetzt aufgefallen, dass sich mittlerweile einige Fliegen darum tummelten.   „Du hast dich ja wirklich von allem und jedem abgeschottet.“, seltsamerweise klangen ihre Worte so, als hätte sie nichts anderes erwartet.     Plötzlich kam in mir ein seltsames Gefühl auf, dass mir die Kehle regelrecht zuschnürte. Ich konnte es nicht beschreiben. Es war so gemischt, aus meiner Trauer, meiner Verzweiflung und meinen Schuldgefühlen. Sie hatte mir mit diesem kurzen Satz klar gemacht, wie falsch meine Reaktion auf die gesamte Situation war. Doch war ich immer noch zu sehr in meinen Emotionen gefangen, als dass ich etwas ändern könnte.     „Ich…naja… eigentlich wir… haben uns schon gedacht, dass es dir nicht so gut geht.“ Jessy musste wohl in meinem Gesichtsausdruck gelesen haben, was ich dachte. Sonst konnte ich mir ihre rasche Antwort nicht erklären.     „Du hast weder auf unsere Nachrichten noch auf unsere Anrufe reagiert.“, sprach Jessy ruhig weiter und ich richtete meinen schuldbewussten Blick auf den Boden.   „Anfangs dachten wir noch du brauchst etwas Zeit… Gerade auch wegen Jak-“, sie stockte abrupt.     Im ersten Moment hatte ich es nicht verstanden.     Doch dann drang meine eigne Körpersprache in mein Bewusstsein. Mit aufgerissenen Augen hatte ich meinen Blick vom Boden auf sie gerichtet. Mein ganzer Körper zitterte. Meine Sicht wurde zunehmend verschwommener.   Doch die Tränen in meinen Augen konnte sie nicht gesehen haben. Sie hatte mich in eine Umarmung verwickelt. Eine Umarmung, die ich gerne erwidert hätte, doch mein Körper war wie gelähmt.   Nein, das war falsch.   Mein Körper fühlte sich nicht mehr wie mein Eigner an.  Ich konnte kaum noch atmen.   Ich wollte schreien.   Doch, die leere Hülle, die mein Körper war, stand einfach nur da.   Regungslos, unfähig mich zu bewegen.   Keine Chance der Situation zu entkommen.   Ich wusste, was Jessy mir jetzt sagen würde.   Jake war tot….  Wieder spielte sich dieser Film in meinem Kopf ab.   Sie würde es mir jetzt sagen…  Dafür war ich noch nicht bereit…  Dafür würde ich nie bereit sein…    Ich rang nach Luft. Doch mit jedem Versuch den Lebensnotwendigen Sauerstoff einzuatmen, schnurrte sich meine Kehle immer mehr zu.     Jake war tot…  Jake war tot…  Jake ist in den Minen verbrannt…  Alles nur meinetwegen….    Ich war nicht mehr in diesem Moment, nicht mehr in der Umarmung. Deswegen spürte ich auch nicht, wie Jessy mich immer näher an sie drückte. Mein Gedankenkarusselle spielte verrückt…    „Ihm geht es sicherlich gut…[MC]…hörst du…“, flüsterte Jessy in einem sanften Ton.   „Jessy…“,schluchzte ich, ohne zu wissen, was ich eigentlich sagen wollte. Der dicke Schwall Tränen, der über meine Wange rang, war das Erste, was ich an meinem Körper wieder spürte. Ich konnte nicht mehr an mich halten, so dass immer mehr Tränen ihren Weg, über mein Gesicht, fanden. Schließlich klammerte ich mich in ihrer Umarmung.     „Ich hatte echt gehofft, dass ihr beide in eurem Honeymoon einfach vergessen habt euch bei uns zu melden…“, kicherte sie ihren Versuch mich aufzuheitern. Doch sie erreichte das Gegenteil…  Wieder rang ich nach Luft, wieder lähmte der Schmerz meinen Körper…  Doch ich schaffte es, warum auch immer, mich einigermaßen zu fassen.    „Er war doch auch in den Minen.“, brach ich mit schwach hervor.  „Er hatte Probleme einen Ausgang zu finden…“, meine Stimme versagte.  Es war nicht leicht meine größte Angst laut auszusprechen.     „Und dann war da doch noch das Feuer…“stammelte ichschließlich. Ein erneuter Schwalltränen rannte über meine Wangen. Meine Angst um Jake wuchs mit jeder Sekunde. Ich öffnete meinen Mund. Ich musste es endlich aussprechen.     Für mich.    Ich musste mir endlich selbst bewusstmachen, dass Jakes Ausflug in die Minen kein Happy End genommen hatte, dass es kein they-live-happily-ever-after für uns geben würde.   „Er hat es sicherlich nicht rechtzeitig raus geschafft…“, meine Worte brachten nicht die erhoffte Erleichterung.   Sie machten es tatsächlich nur noch schlimmer…  Jakes Tod fühlte sich nun nur noch reale an...    „Das kann nicht sein!“, Jessy schaffte es gleichzeitige einen ernsten sowohl auch ruhigen Ton in ihre Stimme zulegen. Ich wusste, dass sie mich trösten wollte, doch ihre Worte lösten Wut in mir aus.  Ich wusste, dass sie lügt.   Dass sie das nur gesagt hatte um mir Hoffnungen zugeben.   Eine unrealistische Hoffnung…    Ich löste mich aus der Umarmung und brüllte sie regelrecht an: „ Wieso kann das nicht sein?! Richy hat das Feuer gelegt! Jake war in den Minen! Ich habe seitdem kein Wort mehr von ihm gehört! Er war also noch in den Minen! Wie soll er es also rechtzeitig rausgeschafft haben?!“    „Es wurde keine Leiche gefunden!“, Jessys Stimme war ruhig, aber auch emotionslos.   „Ach keine Leiche gefunden?“, blaffte ich sie an. „Und Richy ist hat magische Weise überlebt, oder wie?!“   „Ja…“, sagte sie knapp. Ich dachte gerade ihr letzter Satz wäre emotionslos gewesen. Doch diese eine Wort enthielt keinerlei Gefühlsregungen.   Ich blinzelte verwirrt.  Es dauerte einige Minuten bis ich die Bedeutung dieses Ja begriff.   „Richy lebt?!“, ich war fassungslos.    Jessy bestätigte dies mit einen kurzen bestimmten Kopfnicken. Ich konnte nicht anders, als sie mit weitaufgerissenen Augen anzustarren.   „Wie?“, brachte ich hervor.   Sie zuckte nur mit den Schultern.   Mein Gesichtsausdruck musste ihr wohl verraten haben, dass ich mich mit dieser Antwort nicht zufriedengeben würde. Denn sie schob rasch nach: „Was genau passiert ist, weiß ich nicht. Hannah hatte nur mitbekommen, wie sich plötzlich alle zum Eingang der Mine aufgemacht hatten. Dann sah sie, dass sich Sanitäter um Richy gekümmert hatten.“ Jessy machte eine kurze Pause. „Er wurde dann ins Krankenhaus gebracht.“ Sie senkte ihren Blick. „Starke Rauchvergiftung.“    Nun senkte auch ich meinen Blick.   „Ich verstehe.“, murmelte ich schlussendlich.     Das Gefühl von Erleichterung machte sich in mir breit. Ich hätte es selbst nicht für möglich gehalten, doch da war sie. Die Erleichterung. Richy hatte überlebt! Ich war so froh. Die ganzen Schuldgefühle, meine Hilflosigkeit, dass alles viel von mir ab. Diese Schwere die meinen Körper fast zerdrückt hatte.   Richy lebte. Jake womöglich auch noch. Schließlich wurde seine Leiche nicht gefunden.   So blieb nur noch, dass ihn das FBI doch noch in die Finger bekommen hatte.   Endlich fühlte ich wieder Hoffnung.   Sollte er jetzt tatsächlich im Gefängnis sitzen würde ich ihn da rausholen.   Irgendwie.   Das würde ich schon hinbekommen.   Es könnte nun doch noch alles gut werden.   „Gott sei Dank!“, hauchte ich meine Erleichterung aus.   Jessy sah mich mit einem verwirrten, so wie auch verletzten Gesichtsausdruck an.  „Wie geht es Richy jetzt?“, fragte ich freudig.   Doch Jessy schwieg für einen längeren Moment, einige Sekunden, fast eine Minute.     „Er ist jetzt in der Psychiatrie. Immer noch stark suizidgefährdet.“, es war schon erschreckend, die sonst so heitere und fröhliche Jessy, mit einer gefühlskalten Stimme zuhören. Von meinen Freunden aus Duskwood musste sie die ganze Situation am härtesten getroffen haben. Richy und sie standen sich so nah, dass ich immer dachte, sie hätten diese süßen, unschuldigen, romantischen Gefühle füreinander.  So süß und unschuldig, dass sich keiner der beiden traute diese Gefühle offen auszusprechen. Mittlerweile war es eher eine schreckliche Befürchtung, dass ich damit recht hatte. Anfangs fand ich es noch süß ein bisschen die Verkupplerin zuspielen. Doch jetzt bereute ich es.   Eine Reue, die mich wieder in das hier und jetzt holte.   Ich hatte mich auch da in Angelegenheiten eingemischt, die überhaupt nicht meine waren.     Meine ganze Hoffnung, die sich in mir breit gemacht hatte, löste sich wieder von mir.  Wenn ich ganz ehrlich war, hatte ich es doch nur wohl durch mein Eimischen nur noch schlimmer gemacht. Wieder einmal deutlich meine Kompetenzen überschritten. Schlussendlich hatte ich doch nur noch mehr leid über sie gebracht.   So wie ich es auch bei Jake getan hatte…  Alle wären besser dran gewesen, wenn ich mich in diese ganze Geschichte nicht eingemischt hätte.     Ich wollte mir nicht vorstellen in welchem Gefühlschaos Jessy stecken musste. Dann auch noch zu wissen, dass der Mann, der ihr am nächsten Tag Trost gespendet hatte, sie in der Nacht zuvor angegriffen hatte. Zu wissen, dass ihr bester Freund hinter allem dem gesteckt hatte.     „Es tut mir leid.“, murmelte ich und konnte selbst nicht genau sagen, weswegen ich mich entschuldigte.   Eigentlich war das auch egal…  Es gab genug Gründe, die eine Entschuldigung rechtfertigten.   Zu viele   Viel zu viele...    Ich hörte Jessy seufzen. Mein leerer Blick musste wohl langsam verschwinden, denn ich konnte langsam ihre Konturen wiedererkennen.   „Ich hab‘ einfach noch nicht entschieden, ob ich Richy verzeihen kann.“, sagte sie mit gequälter Stimme. „Wir alle eigentlich.“ Jessy machte erneut eine kurze Sprechpause. Es schien als überlegte sie, ob sie mit etwas sagen oder doch besser verschwiegen sollte.   „Im Moment ist auch keiner von uns bereit über das Thema zu sprechen. Also meiden wir es.“, Jessy lächelte verschmitzt.     „Das ist aber nicht gut! Überhaupt nicht gut! Ihr verdrängt das total! Das kommt irgendwann wie ein Bumerang auf euch zurück.“, mahnte ich erschrocken und realisiert, warum sie gezögert hatte es mir zu erzählen. In der Vergangenheit hatte ich oft genug mein Talent für Standpauken bewiesen. Auch jetzt konnte ich mich kaum zurückhalten. Sie konnten doch nicht einfach so tun, als wäre das Ganze nie passiert. Ich hatte gerade meinen Mund geöffnet, um mit meiner Standpauke fortzufahren, doch Jessy schnitt mir ins Wort.     „Du brauchst gar nicht erst anfangen, als ob verkriechen, in der eigenen Wohnung einsperren und uns alle ignorieren, definitiv die bessere Variante wäre.“, sagte sie schnippisch.     Touché…    Beschämt sah ich auf den Boden, blickt jedoch sofort wieder auf als ich ihr Kichern vernahm.   „Ist doch okay. Irgendwie“, sagte sie und lächelte freundlich. „Deswegen bin ich ja hier.“   Ich hatte noch nie so ein breites Grinsen auf ihren Lippen gesehen. Meine Mundwinkel starteten den Versuch ihr Lächeln mit einem eigenen zu erwidern. Jedoch scheitert der Versuch an der ersten Muskelbewegung.     „Dein Retter in strahlender Rüstung, gekommen auf meinem romantischen und actionreichen Abenteuer um dich, meine holde Maid, auf mein Schloss nach Duskwood zu bringen.“, sprach Jessy theatralisch. Nicht nur ihre übertriebene Sprechweise, auch ihre Gestiken brachten mich zum Lachen.   Ein ehrliches, aufrechtes Lachen.   Etwas, von dem ich nicht mehr geglaubt hatte jemals wieder im Stande sein zu können.    „Ich hab‘ da ein paar Einwände.“, prustete ich   „Die wären?“, Jessy hob verächtlich eine Augenbraue, doch ihr breites Grinsen verriet sie.   „Erstens bist du ja wenn schon meine RetterIN in der Not. So viel Zeit muss sein.“, ich betonte das Femininum des Wortes Retter absichtlich.  „Einwand stattgegeben“, sagte sie mit gespielter Hochnäsigkeit. Zudem unterstricht sie ihre Aussage mit einer abwinkenden Handbewegung, so als wäre sie die Queen persönlich.   „Dann trägst du ein Kleid und keine Rüstung.“, ich versuchte meine Entrüstung über diese Tatsache zuspielen und deutete dabei auf ihr gelbes, geblümtes Sommerkleid. Doch gingen wohl die meisten meiner Worte in meinem Glucksen unter.   „Die habe ich abgelegt.“, seufzte sie gespielt. „Viel zu schwer.“    „Aber du bist wenigstens auf einen weißen Ross hier her geritten, oder?“, kicherte ich. Jessy verdrehte die Augen. „Der Gaul hat schlapp gemacht noch bevor ich Duskwood verlassen hatte…“, daraufhin kicherte sie.   Ich zog einen übertriebene beleidigte Miene. „Dann war dein Abenteuer ja gar nicht romantisch und actionreich.“, schmollte ich kichernd.   „Was?!“, entgegnete meine beste Freundin mit überspitzter Empörung. „Ich bin fünf Stunden mit dem Zug hierhergefahren! Was kann romantischer und actionreicher sein als das?!!!“   „Rein gar nichts!“, lachte ich aus vollem Herzen. Ich konnte nicht anders, als sie in diesem Moment zu umarmen. Jessy hatte es geschafft der benötigte Sonnenstrahl im meiner düsteren, tristen Welt zu sein. Ich hatte wirklich Glück, dass ich eine beste Freundin, wie sie gefunden hatte.   „Einen Einwand habe ich aber noch.“, sagte ich schließlich. „Eigentlich hatte ich dir doch versprochen, dich romantisch und actionreich aus Duskwood zu retten und nach Colville zu bringen.“ „Ach, das passt schon!“, meinte Jessy daraufhin gutgelaunt. „ Jetzt hast du es einfach nötiger gebraucht, gerettet zu werden.“    Jessy vertiefte unsere Umarmung. Eigentlich wollte ich ihr sagen, dass mein Versprechen nur aufschoben und nicht aufgehoben war. Dass wir schon bald nach Colville fahren würden und ich ihr helfen würde sich ihr Traumleben dort aufzubauen. In ihrer Traumwohnung, mit ihrem Traumjob und alles was sie sonst noch haben wollen würde. Gerade so eine Persönlichkeit, wie Jessy, hatte es mehr als verdient glücklich zu sein.   Doch noch bevor ich die Chance hatte etwas zu sagen, sagte sie mit trauriger Stimme: „Es tut mir leid, dass ich nicht der Traumprinz bin, den du dir erhofft hattest.“ „Ach Jessy!“, seufzt ich und schob dann lächelnd hinterher: „Du bist wirklich mehr als nur genug!“   Natürlich hatte sie in gewisser Weise mit ihrer Aussage schon recht behalten. Tief in meinem inneren hatte ich die ganze Zeit gehofft, vor allem als es an meiner Tür geklingelt hatte, dass Jake hier bei mir auftauchen würde. Doch Jessy, die in der kurzen Zeit, in der ich sie kannte, den Platz meiner besten Freundin eingenommen hatte, war wirklich mehr als nur genug.   Ihr Besuch zeigte mir, dass ich mich nicht auf denjenigen konzentrieren sollte, den ich augenscheinlich für immer verloren hatte. Sondern mich auf diejenigen konzentrieren, die mir noch geblieben sind.   „Es tut mir leid, dass ich mich solange nicht mehr gemeldet habe. Ich habe euch sicher große Sorgen bereitet.“, nuschelte ich schuldbewusst, aber aufrichtig meine Entschuldigung.   „Du, ich verstehe dich…[MC]“, antwortete sie ruhig, dennoch traurig. „Ich hab‘ ja selbst erstmal ein paar Tage gebraucht… all das zu verdauen und so“  Jessy löste sich aus meiner Umarmung. Sofort merkte ich das ihr Lächeln nur aufgesetzt war. „Jetzt müssen wir nur noch Jake finden und unsere kleine Truppe ist endlich komplett.“, ich konnte ihre Stimmlage nicht deuten. Besonders freudig klang sie jedenfalls nicht. Zumal es auch nicht so klang, dass sie Jake, als Bestandteile unsere Gruppe, komplett ablehnte.   „Ach Jake…Wer ist schon Jake?“, versuchte ich zu witzeln. Jedoch gelang es mir so überhaupt nicht. Allein seinen Namen auch nur zudenken riss ein tiefes Loch in mein Herz. Schnell versuchte ich die Situation mit einem Schulterzucken zu überspielen.   Jessy verzog seltsam ihre Mundwinkel. Wieder konnte ich diese Reaktion ihrerseits nicht einordnen. Es schien fast so als wüsste sie etwas über seinen Verbleib…. Etwas, dass sie mir wohl lieber verschweigen wollte.  Vielleicht bildete ich mir, dass auch nur ein. So unwahrscheinlich war es nicht. Vor allem weil ich so verzweifelt nach jeden mir möglichen Strohhalm griff.   „Bei Lilly hat er sich übrigens auch nicht gemeldet“, ihre Stimme klang so als hätte sie Angst vor meiner Reaktion. Doch warum nur?   „Lilly ist sich sicher, dass er sich auch bei ihr gemeldet hätte.“, schob sie hastig und unsicher hinterher. Jetzt verstand ich überhaupt nichts mehr. Worauf wollte Jessy hinaus? Jakes Verschwinden war keine neue Information! Auch das Lilly auch ein Lebenszeichen von ihm hoffte, war mehr als verständlich. Ich hätte Jessys merkwürdige Stimmlage verstanden, wenn er sich bei seiner jüngeren Halbschwester gemeldet hätte. Schließlich würde es bedeuten, dass Jake schlussendlich kalte Füße bekommen hätte. Natürlich wäre das nicht schön… Furchtbar, um genau zu sein… Doch es wäre die deutlich bessere Alternative als qualvoll verbrannt oder längere Gefängnisaufenthalt. Wenn er mich wirklich hätte sitzen gelassen, könnte ich ihn irgendwann dafür hassen und somit vergessen. Doch so würde immer die Frage bleiben, was wäre wenn   „Ich kann dir aber nicht sagen, warum“, schob Jessy so hastig hinterher, dass sie einige Silben fast verschluckte. Ich konnte nicht anders als zu Glucksen. Erst jetzt hatte ich ihre zögerliche Reaktion verstanden. Sie hatte doch ernsthaft befürchtet, ich könnte eifersüchtig werden auf Lilly.   Ich öffnete meinen Mund und wollte ihr widersprechen. Doch blieb ich stumm. Mir war noch rechtzeitig eingefallen, warum dieser Gedanke so absurd für mich, aber nicht für sie war. Nur Lilly und ich teilten mit Jake sein Geheimnis. Nicht einmal Hannah, mit der er vor Jahren regen E-Mail-Kontakt pflegte, hatte er gegenüber offenbart, dass er ihr Halbbruder war.   Wahrscheinlich hätte er es nicht einmal Lilly anvertraut, wenn er nicht durch ihr Video dazu gezwungen gewesen wäre. Sie hatte damals Jake und mich für die Entführer gehalten. In der Hoffnung ihrer Schwester wiederzubekommen, hatte sie persönliche Information über uns veröffentlicht. Für mich war es schon nicht besonders angenehm gewesen. Die ganzen fremden Menschen, die dachten ich wäre eine miese Entführerin und dementsprechend unfreundlich fielen ihre Nachrichten aus…   Doch für Jake bedeutete es zusätzlich, dass seine Verfolger endliche eine Spur in der Hand hatten. Für seine eigene Sicherheit musste er daraufhin schnellstmöglich untertauchen. Etwas, wogegen die ganzen Beleidigungen deutlich erträglicher waren. In gewissermaßen war dadurch die angespannte Situation zwischen Lilly und mir umso mehr hochgeschaukelt.   Doch Jake hatte es trotz seiner Abwesenheit geschafft, dass wir doch noch Freundschaft geschlossen hatten. Sein Rätsel hatte er absichtlich so aufgebaut, dass wir es nur gemeinschaftlich lösen konnten. Somit hatte Lilly den endgültigen Beweis und lies das Video offline. Ich wiederum verstand nun endlich, warum Jake so viel daran lag Hannah wiederzufinden. Ein wenig schämte ich dafür, dass ich zu Anfang gedachte, er wäre ihre Affäre.   Nach einem Besuch bei ihren Eltern hatte Lilly auch verstanden, warum Jake ursprünglich nicht geplant hatte, sie mit in sein Geheimnis einzuweihen. Es war ihr verdammt schwer gefallen ihrem Vater noch in die Augen zu sehen. Schließlich ist Jake der lebende Beweis für dessen Affäre. Mit diesem Gedanken beantwortete ich mir eine Frage, die erst jetzt in mir aufkeimte. Lilly würde Hannah nicht die Wahrheit über Jake erzählen. So sehr, wie ihre Schwester auch diese Information verdient hätte, würde Lilly ihr das in der jetzigen Situation nicht antun. Hannah würde nur für diese eine Millisekunde einen Bruder dazu gewonnen haben, nur um danach sofort zu realisieren, dass sie ihn für immer verloren hatte. Damit würde nur die Erkenntnis über die Affäre bleiben…   „Ja, dass hätte er wohl.“, versuchte ich liebevoll zusagen, doch meine Sorge um ihn übertünchte dies. Ich hörte, wie Jessy erleichtert ausatmete nur im nächsten Moment ein entsetzt „Warte, was?!“ von sich gab. „Jake hat seine Gründe sich auch bei ihr zu melden.“, ich merkte nicht wie geheimnisvoll meine Wortwahl war. „Dasselbe hat Lilly auch gesagt.“, grummelte Jessy genervt.   Ich verstand sie. Es war sicherlich alles andere als schön zu wissen, dass sie eigenen Freunde Geheimnisse vor einem hatten. Ganz gewiss dachte sie, wir würden sie nicht für Vertrauenswürdig genug halten, um sie einweihen zu können. „Es tut mir leid Jessy…“, seufzte ich. „Aber es ist Jakes Geheimnis. Du wirst es sicherlich noch erfahren, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.“   Ihr Kichern ließ mich stutzen. Mit so einer Reaktion hatte ich definitiv nicht gerechnet. „Du klingst schon wie Jake.“, grinste sie und ich lief puterrot an. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich exakt seine Wortwahl verwendet hatte. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist… Wie oft hatte Jake wohl diesen einen Satz geschrieben… Mit gezählt hatte ich definitiv nicht. Doch ich wusste, dass es oft gewesen war. Zu oft… Wie mich dieser eine Satz in unseren Ermittlungen immer auf die Palme gebracht hatte…   „Es tut mir leid, aber ich kann es dir wirklich nicht sagen.“, ich ärgerte mich über mich selbst. Jetzt hatte ich selbst gemerkt, wie sehr ich mich nach Jake anhörte. Meine Gesichtsfarbe wurde nun nur noch dunkler.   Jessy kicherte um so mehr. „Ihr passt wirklich gut zusammen.“ Am liebsten wäre ich jetzt im Boden versunken. Es war doch höchstpeinlich so etwas ins Gesicht gesagt zubekommen. Jessy hatte wohl gemerkt, dass mir dieses Thema doch sehr unangenehm war, weswegen sie noch hinterher schob: „Und bei eurer Hochzeit bin ich dann Trauzeugin.“ „Jessy!“, schrie ich empört auf. Ihr war bewusst gewesen, dass mir diese Thematik Jake und ich unangenehm war und trotzdem hatte sie weitergestichelt. Ich unterstrich meinen Missmut noch mit einem Grummeln.   „Kleine Rache für die Geheimnisse.“, stichelte jetzt sie. „Unfair!“, protestierte ich. „Nur weil du nicht weißt, was Lillys Strafe ist.“, grinste sie verschwörerisch. „Arme Lilly!“, lachte ich und Jessy stimmte mit ein.   Doch sie stoppte abrupt. Nervös blickte sie auf den Boden. „Da ist noch etwas…“, nuschelte sie verlegen. „Ja?“, fragte ich verunsichert. Wusste sie doch etwas über Jake? Etwas das ihr schwerfiel mir zusagen? Ich merkte schnell wie lächerlich dieser Gedanken war. Nur weil meine Welt sich komplett um Jake drehte, musste ihre dies noch lange nicht… „Wenn wir in Duskwood sind musst unbedingt zu Alan Bloomgate.“erklärte sie mir nervös. „Wieso?“, fragte ich ernsthaft verunsichert. „Du musst noch eine Aussage machen…“, erklärte sie weiter.   Ich war so dumm!!! Wie konnte ich nur vergessen, dass Alan Bloomgate der Chef vom Duskwoods Polizeipräsidium war. Ich hatte auch gesehen, dass Alan mich kontaktiert hatte. Natürlich wollte er nicht einfach nur plaudern… Ich war wirklich so dumm!!! Schlussendlich, unabsichtlich hatte ich doch noch in Gefahr gebracht. Ich hatte mein Versprechen gegenüber Jake gebrochen… Alan war sicherlich alles andere, als amüsiert über die Tatsache, dass ich ihn erneut ignorierte.   „Wir konnten ihn gerade noch davon überzeugen keinen Haftbefehl gegen dich auszustellen.“, bestätigte Jessy meine Gedanken. „Ist das nicht etwas übertrieben?“, versuchte ich die Situation herunterzuspielen. „Er war wirklich stocksauer!“, erzählte Jessy weiter. „Hat gesagt einen Grund würde er schon finden und so…“   Mit einem genervten Augen verdrehen versuchte ich meine Angst zu überspielen. Ich hatte definitiv keine Lust auf einen Gefängnisausenthalt, auch nicht auf einen kurzen. „Ich habe ihn aber damit überzeugen können, es nicht zu tun, wenn ich dich nach Duskwood bringe.“, erzählte sie mir.   Diese Information ließ ich erst einmal einen Moment sacken. „Warte!“, sagte ich erschrocken. „Du hast meine Adresse von Alan?!“ Die Erkenntnis hatte mich wie der Schlag getroffen. Alles ergab plötzlich Sinn. Naja fast alles… Zu mindestens wie Jessy meine Adresse herausgefunden hatte. „Genau.“, bestätigte sie. „Von Datenschutz hält die Polizei ins Duskwood wohl nicht viel.“, grummelte ich. „Ist es den schlimm, dass ich hier bin?“, fragte Jessy erschrocken.   Ich schüttelte den Kopf. „Keineswegs!“ Daraufhin lächelte ich. „Ich freue mich ehrlich gesagt, dass du hier bist.“ „Ich freue mich auch, [MC]“, erwiderte sie mit einem Lächeln. „Endlich lernen wir uns persönlich kennen.“ „Ja.“, lächelte ich. „Die anderen freuen sich auch schon auf dich! Weißt du nach deiner Aussage bei der Polizei wollen wir zur Hütte fahren und endlich mal Urlaub machen.“, erzählte sie von dem Plan. „Du meinst aber nicht die Hütte, oder?“, irgendwie konnte ich nicht vorstellen, dass sie oder einer der anderen noch einmal freiwillig in diese Hütte zurückzukehren wollten. Nicht, dass diese Hütte nicht wunderschön war. Diese idyllische Atmosphäre…. Irgendwie wäre ich damals gerne dabei gewesen. Auch wenn es eigentlich nur als Versteck diente vor dem Mann ohne Gesicht.   Doch irgendwie war gerade zum Anfang die Stimmung so harmonisch gewesen.   Lilly hatte mich extra angerufen als alle am Lagerfeuer gesessen hatten und Thomas auf seiner Gitarre gespielt hatte. Zu gerne wäre ich da gewesen… Mit Jake… Passenderweise hatten wir gerade miteinander geschrieben. Der Anruf hatte uns zwar unterbrochen, aber ich konnte mich umso mehr in den Gedanken verlieren, wie Jake und ich bei der Gitarrenmusik am Lagerfeuer schmusten.   „Doch, doch.“, holte mich Jessys Kichern in die Realität zurück, bevor ich mich wieder in meiner Phantasie verloren hätte. Ich wollte eigentlich nachhaken, ob sie oder die anderen es wirklich für eine gute Idee hielten in der Zufluchtshütte einen Urlaub zu machen.   Doch Jessy hatte es geschafft vorher das Thema zu wechseln. „Naja vorher müssen wir aber auch noch in die Aurora. Mein Bruder besteht förmlich darauf, dass du vorbeikommst.“, grinste sie vielsagend. „Warum?“, fragte ich verdutzt. Ich konnte mir wirklich nicht erklären, wieso Phil so darauf pochte mich zu treffen. „Na, weil er dank deiner Ermittlungen das Gefängnis wieder verlassen konnte.“, flötete sie fröhlich. „Naja.“, sagte ich leise. Es schien, bei dem ganzen Mist, den ich verzapft hatte, doch noch etwas Richtiges dabei gewesen zu sein. „…Wenigstens etwas“, seufzte ich.   Doch besonders wohl fühlte ich mich nicht bei dem Gedanken Phil zutreffen. Es lag ja nicht daran, dass ich ihn nicht mochte. So ganz im Gegenteil. Phil war ausgesprochen nett und höflich gewesen. Doch… Ich wusste, dass es Jake so gar nicht gefallen würde. Er war nämlich sowas von eifersüchtig auf Phil gewesen. Auch wenn er es nicht zugeben wollte. Seine grundlose Ablehnung gegen Phil ließ sich nur so erklären.   Ach Jake wo steckst du bloß?   „Duuuu?“, fing Jessy plötzlich an. „Wie wäre es wenn du duschen gehst und ich hier mal anfange aufzuräumen?“ „Ähm naja duschen wäre wirklich keine schlechte Idee…“, begann ich. Ich musste fürchterlich stinken. Schließlich hatte ich in den letzten zwei Monaten auch meine Körperhygiene stark vernachlässigt. Neben allem anderen. „Aber ich kann gleich selbst aufräumen…“,meinte ich nun beschämt. „Ach was! Ich mach das schon“, lächelte sie. „Und jetzt ab unter die Dusche!“ Kapitel 2: Kapitel 2: Das Abenteuer beginnt ------------------------------------------- Kapitel 2: Das Abenteuer beginnt   Ich beobachtete die Regentropfen, die am Fenster des Zuges hinunterflossen. In meinem linken Ohr steckte Jessy Kopfhörer. Das rechte Pendant hatte meine Sitznachbarin in dem Ihren. Wir lauschten ihrer sanften Popmusik. Eigentlich hatte ich nicht erwartet, dass sie diese stereotypische Mädchenmusik bevorzugte. Gerade bei ihrem Faible für düstere Legenden hatte ich doch eher erwartet, dass ihre Vorlieben in die Rockrichtung gehen würden. Auf der anderen Seite passte diese Form mehr zu ihrer unbeschwerten Persönlichkeit. Diese durfte ich in den letzten drei Tagen in natura erleben.   Es war wirklich eine fantastische Zeit gewesen. Wir hatten rumgeblödelt, Horrorfilme sowie romantische Komödien geschaut. Ich hatte ihre meine Heimstadt gezeigt. Mit einem Shoppingtrip verbunden, haben wir bedeutende Orte in meines Lebens besucht. Es war schon sehr amüsant, als erwachsene Frau noch einmal auf den alten Schulhof meiner Grundschule zuspielen. Ich konnte in dieser Zeit selbst noch mal unbeschwert wie ein Kind sein. Vor allem, weil sie keinen unangenehmen Fragen gestellt hatte. Keine Einzige über meine Freunde oder Familie. Nicht einmal als sie die Scherben meines Badezimmerspiegels aufgefegt hatte. Ich hatte ihren Blick auf die Verletzung meinen Handrücken bemerkt. Sicherlich konnte sie sich zusammenreimen, was passiert war. Doch diesbezüglich kaum auch kein Wort über ihre Lippen.   Zum Glück.   Last Friday night Yeah, we maxed our credit cards And got kicked out of the bar   hörte ich Katy Perry singen. Innerlich musste ich grinsen, so hatte mich diese Passage doch an Cleo und Thomas erinnert. Da kam mir die Frage in den Sinn, ob das Hausverbot in der Aurora für die beiden noch aktiv war. Natürlich verstand ich Phil. Die beiden waren schließlich in seinen Keller eingebrochen. Dennoch wäre es doch stark bedauernswert, wenn die beiden uns nicht begleiten könnten. Schließlich hatte ich die beiden total liebgewonnen.   Thomas hatte das Herz auf dem rechten Fleck. Das war mir sofort aufgefallen. Im Gegensatz zu den Anderen hatte ich ihn nie verdächtigt. Mir war schon nach kurzer Zeit klar gewesen, wie sehr er Hannah vergötterte. Nie und nimmer hätte er ihr auch nur ein Haar gekrümmt. Auch seine ganzen Handlungen und Entscheidungen, egal wie fragwürdig sie im ersten Moment schienen, waren mehr als verständlich. Er wollte seine Liebe wieder in seine Arme schließen, koste es, was es wolle. Ich war einfach ein Kollateralschaden, den er bereit war zu zahlen, als er mich bat zu Michael Hanson zugehen. Böse konnte ich ihm deswegen nicht sein. Mein Leben im Austausch für zwei.   Das war ein fairer Preis.   Richy und Hannah retten, war auch meine oberste Priorität gewesen. Ihre Nachricht mit meiner Kontakt-ID hatte mich erst in die ganze Geschichte hineingezogen. Bis zum jetzigen Zeitpunkt kannte ich immer noch nicht ihre genauen Beweggründe. Wahrscheinlich würde ich bald wenigsten auf diese offene Frage eine Antwort erhalten. Nicht nur deswegen war ich gespannt darauf, Hannah endlich kennenzulernen. Ich wollte auch wissen, was sie für ein Mensch war.   Die ein oder andere noch offene Frage würde Richy mir beantworten können. Doch war ich mir immer noch nicht sicher, ob ich ihn besuchen wollen würde. Ihm allein gab ich die Schuld an Jakes Verschwinden. Wenn dieser Umstand nicht gewesen wäre, hätte ich ihm wohl die ganze Mann ohne Gesicht Geschichte verziehen. Es wäre mir sogar egal gewesen, was die anderen davon gehalten hätten. Richy und ich hatten immer einen guten Draht zueinander gehabt. Dieser eine Sache, dieser eine Fehler, war so verdammt aus dem Ruder gelaufen. Trotz seiner Ambition, das Richtige zu tun.   Ich konnte nicht ahnen, dass schon bald ein Besuch bei ihm unausweichlich sein würde…   Lilly hatte ich schließlich auch verziehen. Auch wenn sie mir Schreckliches angetan hatte. So hatte ich doch auch ihre Beweggründe verstanden. Mittlerweile waren wir auch wirklich guIchte Freundinnen geworden. Ihr die Chance zu geben, ihren Fehler auszumerzen, hatte sich also mehr als nur gelohnt.   Die kommenden Ergebnisse würden unsere Freundschaft nur noch intensiver werden lassen.   Cleo hatte also recht behalten. Wenn Lilly und ich unter anderen Umständen hätten kennengelernt, ohne diese Startschwierigkeiten, hätten wir uns sofort gut verstanden. Cleo würde ich nun auch bald persönlich treffen. In den letzten drei Tagen wurden mir ihre Koch- und Backkünste von Jessy angepriesen. Darauf freute sich mein Magen und ich auch schon.   Auf eine Sache hatte Jessy mich auch schon vorbereitet. Dan saß immer noch im Rollstuhl. Er hatte ihr und den anderen dennoch die ganze Zeit über beteuert, dass dieser Zustand nur von kurzer Dauer sein würde. Er musst wohl jedoch in letzter Zeit immer gereizter auf Fragen diesbezüglich reagieren. So war zu mindestens Jessys Eindruck und ich konnte es mir nur zu gut vorstellen. Harte Schale, weicher Kern diese Beschreibung traf am besten zu. Natürlich wollte er nicht über die Möglichkeit, wahrscheinlich eher Tatsache, sprechen ein Leben lang an dieses Hilfsmittel gefesselt zu sein. Keineswegs wollte er, dass seine Freunde sich um ihn sorgten. Den Starken mimen. Ein Umstand, weswegen ich ihm nie geglaubt hatte, dass der Rollstuhl nur von kurzer Dauer wäre. Armer Dan! Auch wenn er an dieser Misere nicht ganz unschuldig war. Mit mehreren Whiskeys, egal wie gut und teuer sie waren, sollte man sich nicht mehr ans Steuer setzen. Er hätte eh nicht auf mich gehört. Da war es auch egal, wie penetrant ich versucht hatte, ihn zu überzeugen nicht mehr zufahren.   Nicht einmal das trübe Regenwetter konnte mir meine Vorfreude nehmen. Sie endlich alle zu treffen. Jessys Unbeschwertheit hatte wirklich auf mich abgefärbt.   Jessica Hawkins – das beste Antidepressivum der Welt.   Ich hatte zwar nie im Leben SSRI oder ähnliche Mittel genommen. Aber diesbezüglich war ich mir sicher, keins davon wirkte so schnell wie Jessy. Irgendwo tief in mir wusste ich, dass ich einfach nur meine negativen Gedanken und Probleme unterdrückte. Da waren Dan und ich vom gleichen Schlag. Bloß vor den Liebsten keine Schwäche zeigen.   Etwas, dass noch wie ein Bumerang auf mich zurückkommen würde…   So wie ich eigentlich für Jessy und die anderen prophezeit hatte.   Just a small town girl Livin' in a lonely world She took the midnight train going anywhere   Natürlich war auch Journey in ihrer Playlist. Ich beobachtete weiterhin die Regentropfen auf der Fensterscheibe. Das Wetter kam mir so verdammt falsch vor. Woher hätte ich wissen sollen, dass die aktuelle Wetterlage meine kleine Reise perfekt widerspiegelte. Düster, wie die dunklen schwarzen Wolken am Himmel… Trübe, wie der Regenschauer, der einfach nicht enden wollte… Hoffnungslos, wie die Sonne, die es mit keinem einzigen Strahl schaffte, durch den wolkenbehangene Himmel durchzudringen. Keine Chance auf das benötigte Licht und die ersehnte Wärme in meinem Leben. Selbst der Donner kündigte mir an, dass mein Leben durch einen ohrenbetäubenden Knall erneut und für immer aus den Fugen geraten würde.   Doch nahm ich diese Zeichen des Unheils gar nicht erst war. Wie auch… Ich konnte zum jetzigen Zeitpunkt nicht wissen, dass sobald ich mich auf der Heimreise befand, wieder nicht allein sein würde. Nur würde es dann nicht Jessy sein, die mich begleitete.   Woher sollte ich wissen, mit welcher Grausamkeit mein Schicksal mich zu quälen vermark …   Wäre dieses Wissen vorhanden gewesen, hätte ich mich niemals in diesen Zug gesetzt. Nicht einmal für die schönen Momente….   Verwirrte wandte ich mich zu Jessy, als ich keine Musik mehr vernahm. So war ich doch gerade darin vertieft, heraus zu finden, ob die Interpreten des Liedes die Backstreet Boys waren. „Sorry.“, murmelte sie. „Ich wollte was essen. Möchtest du auch was?“ „Später vielleicht.“, entgegnete ich und beobachtete, wie Jessy in ihrem Rucksack nach einem Sandwich kramte. Als sie sich wieder zurück in ihren Sitz lehnte, reichte sie mir den Kopfhörer, welchen sie vor wenigen Sekunden aus dem Ohr gerissen hatte.   You're never not on my mind, oh my, oh my I'm never not by your side, your side, your side I'm never gon' let you cry, oh cry, don't cry I'll never not be your ride or die, alright   Ich wollte meinen Blick gerade wieder aus dem Fenster richten. „Die anderen freuen sich auch schon auf dich.“, forderte eine fröhlich mampfende Jessy meine Aufmerksamkeit. Mit einem Finger zeigte sie auf ihr Mobiltelefon und deutete mir, dass ich den Gruppenchat lesen sollte. Aus reiner Höflichkeit zog ich mein Handy aus der Hosentasche.   39 ungelesene Nachrichten.   Alle samt aus dem Gruppenchat. Mein genervtes Stöhnen hörte ich nicht. Doch Jessy hochgezogen Augenbraue bekam ich sehr wohl mit. Ich lehnte mich zu ihr. „Selfie!“, forderte ich sie auf, in meine Handykamera zu grinsen. Nachdem ich das Foto geschossen hatte, schrieb ich noch schnell: „Sind auf dem Weg, Leute. Freu mich!“   Danach wollte ich das Handy sofort wieder in die Tasche stecken. Doch kam ich nicht umher, Dans rasche Antwort zu lesen. „Sexy“   Ein leichtes Lächeln zauberte sich auf meine Lippen. Dan war mal wieder so typisch Dan. Ich richtete meinen Blick wieder auf dem Fenster. Doch lange blieb meine Aufmerksamkeit nicht bei dem Regen. Ich konnte nicht mal genau sagen, weswegen, aber ich schielte zu Jessy hinüber. Und irgendwie blieb mein Blick auf ihrem Chatfenster mit Dan hängen. Wahrscheinlich hatte ich durch letzte Zeit sämtliche Skrupel verloren, um die Privatsphäre eines Chats zu respektieren. Im Zuge der Ermittlungen war es von Nöten gewesen, sämtliche Chatverläufe meiner Freunde mitzulesen.   In deren Unwissenheit…   Wahrscheinlich wären sie heute nicht meine Freunde, wenn sie es gewusst hätten. Auch wenn es ja eigentlich gar nicht meine Schuld gewesen war. Wenn sie deswegen sauer sein wollte, dann doch bitte auf den, an den ich nicht denken wollte… Jake…   Mist, da hatte er sich schon wieder in meine Gedanken geschlichen…   Schnell konzentrierte ich mich auf mein eigentliches Vorhaben. „Hey Süße, alles in Ordnung bei euch?“, hatte Dan geschrieben.   Was war das denn für eine Frage?!   Natürlich war alles in Ordnung! Wie sollte es auch anders sein?! Wir saßen doch im Zug… In nicht mal drei Stunden würden wir am Bahnhof ankommen. Wir würden uns doch endlich alle persönlich treffen.   Vielleicht würde ich auch Jake endlich treffen…   Verdammt, warum war ich den plötzlich wieder so optimistisch. Es gab doch einen Grund, warum ich beschlossen, hatte nicht mehr an ihn zudenken… Irreparable würde mein Herz zerbrechen, sobald die Realität meine Hoffnungen zerschlagen würde. Deswegen hatte ich doch die Faustregel aufgestellt: Hoffnungslos gleich glücklich.   „Ich weiß es nicht.“, hatte Jessy getippt.   Was sollte das den jetzt bedeuten?! Hatten wir nicht in den letzten drei Tagen den Spaß unseres Lebens gehabt?!!! Ich war doch die ganze Zeit glücklich! Wie konnte ihr das den nicht auffallen?!!!!   „Sie ist soooo still seitdem wir im Zug sind!“, ihre Nachricht hatte sie noch den Emoji mit dem heruntergezogenen Mund beigefügt.   Entschuldige!!! Was sollte das denn?! Nur weil ich 10 Minuten mal still war, sollte gleich nicht alles in Ordnung sein?!   Krampfhaft presste ich meine Fingerkuppen in meine Handinnenfläche. Ich war glücklich! Verdammt! War sie blöd, oder was?! Ich war auf dem Weg in den Urlaub mit wohl den besten Freunden der Welt. Wie sollte ich mich auch anders fühlen als glücklich?   Wütend schnauben wandte ich meinen Blick aus dem Fenster. Ich spürte Jessys besorgten Blick im Nacken. Rückblickend hätte ich den Sorgen meiner Freunde besser wohl mehr Aufmerksamkeit schenken sollen.   Wer weiß schon, ob das dann nicht alles anders gekommen wäre…   Nun war es einmal so, dass ich keine hellseherischen Fähigkeiten besaß. Selbst wenn hätte ich es auch wohl eher als Intuition abgestempelt. Ich glaubte nicht an solche Scharlatane, wie Wahrsager und dessen weibliches Pendant. Selbst Ladylotus gänzlich zutreffende Vorhersagungen zweifelte ich an. Ich redete mir ein, dass was sie in das Darkness Forum geschrieben, hatte auf reinen Zufall basierte. Natürlich auch, weil solche Aussagen wie, etwas Schreckliches passierte oder etwas Unausgesprochenes würde zwischen einem stehen, doch sehr allgemein gehalten waren. Ich wusste nicht genau, warum aber meine Gedanken drifteten zum Videotelefonat mit Richy. Indem er mir vorgegaukelt hatte, dass er vom Mann ohne Gesicht getötet wurde.   Geweint hatte ich damals nicht. Die ganze Zeit hatte mich dieses seltsame Gefühl begleitet. Meine Intuition, mein Bauchgefühl oder mein gesunder Menschenverstand hatten mich angeschrien, dass etwas nicht stimmte. Irgendwie hatte ich es immer gekannt: Das Gesicht hinter der Maske. So vieles hatte einfach dafürgesprochen.   Richy hatte als Erster den Verdacht auf Phil gelenkt. Er hatte vorzeitig gewusst, dass Jessy allein unterwegs sein würde, mit mir am Telefon. Dann wurde sie angegriffen, um mich zu warnen. Es war so verdächtigt gewesen, dass ihm das Zeichen des Raben nicht beunruhigte. Auch wenn mir dieser Gedanke erst kam, als Jessy gesagt hatte, dass Richy nie mitgekommen wäre, zu der Hütte im Wald. Er hätte seine Eltern zurücklassen müssen. Einen Fakt, den ich die ganze Zeit übersehen hatte. Jeder Bewohner des markierten Hauses sollte in der ersten Neumondnacht geholt werden. Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, die Gruppe meiner Freunde wären als Einzige gefährdet.   Und irgendwie war es ja auch so gewesen…   Richy hätte keinen Ausstehenden in diese Angelegenheit mit reingezogen. Keinen Ausstehenden außer mich. Obwohl ich mich deswegen wohl eher bei Hannah bedanken sollte. Hatte super-duper viel Spaß gemacht, die ganze Ängste, die schlaflosen Nächte, die Drohungen. Ich konnte mir ja kaum was Besseres vorstellen. Vor allem weil sich alle auf mich verlassen hatte und somit das Gefühl zu haben, sein Leben für eine Fremde geben zu müssen.   Also Danke, Hannah!   Vor allem sagte meine Intuition mir, dass ich wirklich nur durch einen Zufall in die ganze Sache reingezogen wurde. Vielleicht war es auch einfach mein gesunder Menschenverstand. Schließlich war sie eine Fremde für mich. Bis zu Thomas Nachricht hatte ich nicht mal etwas von dem kleinen Städtchen Duskwood gehört. Zu dem konnte ich keine großen Ermittlungskenntnisse vorweisen oder besaß gar Kontakte in diese Branche.   Außer vielleicht eine Affinität für True Crime. Aber auch das machte mich nicht zu etwas Besonderem. Welche Frau zeigte kein Interesse an dieser Thematik? Und wenn ich schon dabei war, die ganzen Youtuberinnen und Podcasterinnen beschäftigten sich deutlich intensiver mit diesem Bereich.   Da konnte Jake noch so oft sagen, ich wäre der Schlüssel. Ja, ja. Schlüssel am Arsch. Mich hätte keiner gebraucht. Je mehr Zeit verging, desto sicherer war ich mir…   Da lag wohl mal Mr. Superschlauer Hacker ausnahmsweise mal falsch. Ich war nie der Schlüssel gewesen. Ein gewöhnlicher Mensch… Ein Niemand… Mich zeigten keine besonderen Fähigkeiten aus. Natürlich wäre ich gerne Jakes Schlüssel gewesen. Naja, irgendwie war ich schon der Schlüssel zu seinem verschlossen Herzen gewesen…   Ich biss mir wütend auf die Unterlippe. Wieder hatte ich zugelassen, dass Jake sich auf diese Art und Weise in meine Gedanken schlich… Schlimmer eigentlich… Ich hatte wieder zugelassen, dass dieser kleine Hoffnungsschimmer in mir aufkeimte….   Woran hatte ich gerade gedacht? Ach ja, Richy. Auf mein Bauchgefühl war wohl verlass. Schließlich war es die ganze Zeit Richy gewesen. Danke Bauch, dass du Alarm geschlagen hast, als er Jessy geschrieben hatte, dass er ihr etwas über mich erzählen müsse. Zu einem Zeitpunkt, wo er kaum ein Wort mit mir gewechselt hatte. Ich weiß nicht genau, ob es mein Herz oder mein Hirn waren, welches lautstark protestiert hatten. Es würde kein Motiv geben. Eigentlich war auch egal, wer von beiden es verbockt hatte. Wahrscheinlich sogar beide. Dann war es wohl eine Mehrheitsentscheidung gewesen. Bauch überstimmt. Verdacht nicht nachgegangen.   Naja es gab eine Sache, die Bauch, Herz und Hirn gemeinschaftlich vermasselt hatten. Genervt von mir selbst stöhnte ich auf und vernahm Jessy eifrige tippen auf ihrem Smartphone. Doch ich riskierte keinen Blick. Es war mir schlichtweg egal, welche Gemeinheit sie über mich nun verbreitete.   Ich hatte ein größeres Problem. Jake war wieder in meinen Gedanken aufgetaucht und ließ sich nicht vertreiben. Wenn die Büchse der Pandora einmal geöffnet war… Okay, wahrscheinlich war sie nie wirklich verschlossen gewesen. Und ich hatte keine Kraft mehr dagegen zu kämpfen. Das Einzige, was ich noch schaffte, war, dass kleine Glimmen der Hoffnung selbst zu ersticken. Bevor ich mich wieder unrealistischen Träumen hingab. Jake würde in Duskwood, einfach so, irgendwann, vor mir stehen. Da gab ich mich doch lieber einem viel realistischen Szenario hin. Was wäre wenn, doch eine Leiche in der abgebrannten Eisenbruchmine gefunden wurde. Der tote Körper von einem Hacker dessen Feinde das FBI war… Gerade diese Institution hätte doch großes Interesse, diese Angelegenheit unter den Teppich zu kehren. Und vor allem: Sie hatten auch die Mittel.   Offiziell keine Leiche, inoffiziell hatte sich das Problem von selbst erledigt.   Keiner würde unangenehme Fragen stellen. Ein glücklicher Zufall, dass Jake das Opfer eines Suizidversuchs eines Anderen geworden war. Sie sparten sich das Geld für seine Verfolgung und wahrscheinlich noch wichtiger, den öffentlichen Hohn. Egal in welche Angelegenheit er verwickelt war. Von Alan hatte ich erfahren, dass es sich um etwas Schwerwiegendes handeln musste. Auch wenn ich mir das schon längst gedacht hatte. Das wohl Witzigste daran war, dass es mir egal war.   So was von egal.    Mein Herz, mein Hirn und mein Bauch, diese drei miesen Verräter von Organen, hatte beschlossen ich diesem mysteriösen und gruseligen Hacker vertrauen sollte. Es war ja nicht so, dass er jemals diesen Vertrauensbonus missbraucht hatte. Eher das Gegenteil… Er fand mich genauso interessant wie ich ihn. Und was hatte ich nun davon? Einen Schmerz, der mich von innen zerriss. Wie sollte ich jemals über diesen Verlust hinwegkommen?   Mein Handy vibrierte dreimal in meiner Hosentasche. Meldete sich Jake endlich? Mein Herz sprang auf Wolke Sieben. Schnell zog ich mein Handy aus der Hosentasche, um zu prüfen, ob meine Intuition recht hatte. So hatte ich mein Bauchgefühl bezüglich des Mann ohne Gesichts noch gelobt. Nur um jetzt von diesem enttäuscht zu werden. Ich sollte wirklich mal mit meinen Organspendeausweis herumwedeln. Als kleine Drohung, damit sie sich bemühten, weitere Fehltritte zu vermeiden.   Es war so dumm von mir auch nur ansatzweise zudenken, mein Happy End würde kommen. So viele Jahre auf diesem Planeten und ich hatte immer noch nicht eingesehen, dass bedingungslos glücklich einfach nicht für mich vorgesehen war.   „Hey Kleines“, es gab nur einen, der mir so einen primitiven Spitznamen gab. Ich öffnete den Chat von Dan. „Alles in Ordnung bei dir“ „?“   Mit leerem Blick starrte ich auf den Display meines Handy. Einige, mehrere Sekunden später raffte ich mich eine Antwort zu tippen. „Alles Bestens“ mit einem breitgrinsenden Emoji. Ich zog scharf die Luft durch die Nase ein als Dan keine Millisekunde nach Erhalt meiner Nachricht anfing zu tippen. Der konnte unmöglich so schnell meine Nachricht gelesen haben.   Seine Antwort bestätigte meine Vermutung: „Jessy sagte du bist so still“ „Bin nur müde!“, meine Nachricht fühlte sich grundlos wie eine Lüge an mich selbst an. Eigentlich war es doch eine leere Phrase, um ein Gespräch abzublocken. Zudem war ich wirklich müde. Seit dem Showdown in den Minen verfolgten mich nachts die Albträume. Naja vielleicht sogar schon länger… Fakt war einfach, dass ich die letzten Wochen keine Nacht mehr durchgeschlafen hatte. Selbst in den letzten drei Tage, in den Jessy wieder in mein Leben getreten ist.   In meinen Gedanken versunken bemerkt ich erst jetzt, dass Dan bereits geantwortet hatte- „Es ist wegen Hackerboy, nicht wahr?“ Dieselbe Wut, die gerade noch beim unauffälligen Mitlesen gespürt hatte, stieg in mir auf. Blind vor Zorn getrieben tippte ich bewusst im Capslock. „ER HEISST JAKE!!!“ „J“ „A“ „K“ „E“ „MERK DIR DAS ENDLICH!!!!!“   Ich wollte noch so viel mehr schreiben… Es fühlte sich mehr als befreiend an. Einfach so die ganze Wut in mir abzuladen. Doch die drei mit tränenden Augen lachende Emoji seinerseits hielten mich davon ab. Für einen kurzen Moment starrte ich auf meinen Display. Großartig eine Antwort überlegen konnte ich mir wohl sparen. Mir wurde schließlich angezeigt, dass Dan noch tippte sowie hin und wieder seine Nachrichten löschte. Bis ich Folgendes erhielt: „Kopf hoch Kleines!“ „Dein Boyfriend wird schon wiederauftauchen.“ „Und wenn nicht andere Mütter haben auch schöne Söhne…“   Ich verdrehte die Augen. Wahrscheinlich wollte Dan mich nur aufheitern. Eigentlich war mir das klar. Doch irgendwie schürte, dass eine neue unbekannte Angst in mir. Jake hatte zum Schutz seiner Person nur eine Anonymous-Maske als sein Profilbild, so kannte ich sein Aussehen nicht. Gerade das machte meine Liebe so besonders.   Blind von Äußerlichkeiten…   Es würde keinen geben, der jemals Jakes Platz einnehmen könnte. Ich wusste selbst, wie kitschig das klang… Jake war mein Seelenverwandter! Unersetzbar also… Wenn es zwischen uns nie ein wir geben würde, würde ich mein Leben für immer allein bleiben. Das Schlimme daran bis zu dem Moment, in dem Jake in mein Leben getreten war, hatte mir dieser Umstand nie etwas ausgemacht. Ähnlich wie er war auch in meinem Leben an Einsamkeit gewöhnt. Ich glaube, unser einziger Unterschied war, dass ich noch ein paar Freunde hatte und somit nicht komplett auf mich allein gestellt war.   „Du brauchst jetzt nicht damit kommen das Hackerboy wäre der einzige Wahre“ „Oder so ein Blödsinn!“ Das war Dans Reaktion auf mein endloses Tippen und Löschen meiner Nachricht. In der Hoffnung, schnell aus dieser Konversation zu können, ebenso um mir das Überlegen einer Antwort zu ersparen, sendete ich den augenverdrehenden Emoji.   Meine Hoffnung, dass er genervt den Chat verlassen würde, zerschlug sich mit der Anzeige, das Dan tippte. „Kleines!“ „Ich meine es ernst“ „Sowas gibt es nur in kitschigen Liebesschnulzen!“ „Klar es tut weh“ „Will ich dir auch echt nicht absprechen!“ „Aber du musst nach vorne blicken“ „Okay?“ „Weiß eh nicht was du an dem findest“   Ich wusste, dass Dan recht hatte. Doch wollte oder eher konnte ich es einfach nicht akzeptieren. Natürlich gab uns Hollywood eine verklärte Perspektive auf die Liebe. Wenn Jake nicht auf diese Art und Weise in mein Leben getreten wäre, hätte ich Dan wohl recht geben. Ich war nie der Typ Frau, der an die große, wahre einzigartige Liebe geglaubt hatte. Oft genug hatte ich meine Freunde belächelt, als sie sagten der Richtige würde noch kommen.   Und dann kam Jake…   Plötzlich war alles in Rosarot. Ein Entführungsfall, in dessen Aufklärung ich verwickelt war. Warum auch immer… Meine Intuition sagte mir, schrie mich förmlich an, dass es alles nur ein Zufall war. Mein Herz erhoffte sich ,dass dieser Zufall mit Jake im Zusammenhang war. Als Wink des Schicksals, dass uns zusammengeführt hatte. Durch ihn war alles so viel leichter zu ertragen gewesen. Die Drohanrufe, die Ängste um meine Freunde, das Gefühl der Hilflosigkeit, da ich manchmal einfach nur tatenlos zu sehen konnte. „:)“ Ein Smiley von ihm genügte und meine Welt war wieder in Ordnung. Wie kindisch, wegen so etwas schwebte ich schon auf Wolke Sieben. Geschweige den mein Gefühlshoch, als unsere Gespräche immer mehr in Richtung unsere Zuneigung füreinander gingen. Das war nicht in Worte zu fassen.   Alles gipfelte in seiner Liebeserklärung.   Doch so weit oben wie ich war, machte den Aufprall in die Realität nur noch härter. Ich wollte Dan gerade schreiben, dass ich einfach noch nicht bereit war, dass Kapitel Jake zuschließen. Gerade weil das Lesezeichen der Ungewissheit mich erst recht davon abhielt. Doch dann sah ich, dass er noch etwas geschrieben hatte. „Kleines mein Angebot steht noch.“ „Du.“ „Ich.“ „Und ein guter Horrorfilm“   Ein beklemmendes Gefühl machte sich in meinem Brustkorb breit. Dan hatte mich schon einmal gefragt. Ein Gespür für unpassende Zeitpunkte schien er zu haben. Damals wie heute… Mal davon ab, dass ich dachte, er würde Jessy auf diese Art mögen. Solange war es auch nicht her, dass er sich mit unzähligen Whiskeys abgeschossen hatte. Nur weil sie ihn versetzt hatte. Mit den Folgen, seinen Ehrenplatz im Rollstuhl, musste er wohl dauerhaft leben. Ob das der Grund war, weswegen Dan sich nun auf mich fixierte? Als Ersatz für Jessy?   Zu mindestens hatte er sich das erste Mal so richtig für mich und meine Rolle interessiert, als er im Black Swan versetzt wurde. Oder Dans Beuteschema bestand in Frauen, die ihr Herz bereits verschenkt hatten…. Ich hatte sowieso nicht verstanden, warum er sich Hoffnungen gemacht hatte. So offensichtlich wie die Gefühle zwischen Richy und Jessy waren. Vielleicht sogar genauso wie die zwischen mir und Jake. Es war so vielen aufgefallen: Lilly, Jessy, dem FBI. Und sogar Dan wusste, dass ich seine Einladung wegen Jake abgelehnt hatte.   Ich war sie so leid, die kaputte Platte in meinen Kopf. Jake, Jake, Jake, Jake… Und tausendmal mehr Jake… Und jedes Mal dieser unerträgliche Stich. Ich wusste, wie sinnlos es war, dagegen zu kämpfen. Doch ich durfte nicht aufhören. Für mich!   Ich zog Jessy Kopfhörer aus meinem Ohr. Der Musik hatte ich sowieso nicht mehr richtig gelauscht. „Zu früh?“, hatte Dan seiner letzten Nachricht beigefügt. Ich lächelte und bemerkte Jessy besorgten Blick nicht. „Nein. Passt schon.“ „Aber ich such den Film aus!“ „Und wehe, du heulst wie ein Baby!“, nahm ich seine Einladung an. Es sprach nun mal nichts dagegen, einen Filmabend als Freunde zu verbringen. Mehr würde es jedoch nicht werden. Dan war wie ein sarkastischer Bruder für mich. Oder besser gesagt die Sorte Bruder, die ich gerne abgehabt hätte.   „Jow“ „Vor dir hab schließlich mehr Angst als vor jeder Legende“ „Und so“ Um seine Nachrichten die benötigte Betonung zugeben, fügte er noch den zwinkernden Emoji hinzu. „Darauf kannst du dich verlassen.“, meine Antwort enthielt den Emoji mit der Sonnenbrille.   Daraufhin öffnete ich den Gruppenchat, um die ignorierten Nachrichten zu lesen. Ein Schmunzeln zauberte sich auf meine Lippen und ich spürte Jessys Erleichterung im Nacken. Den Bildern von Cleo und den dazugehörigen Nachrichten konnte ich entnehmen, dass die gerade einen Willkommen-in-Duskwood-Kuchen backte. Genauso waren Bilder der gepackten Reisetaschen der anderen im Gruppenchat. Thomas hatte sogar ein Foto seiner Gitarre fotografiert und mit „Die darf natürlich auch nicht fehlen“ kommentiert. Dan hatte es wohl nicht lassen können und darauf geantwortet: „Tommyboy, du musst langsam lernen auch ohne Gute-Nacht-Geklimper einzuschlafen.“   Mein Lächeln im Gesicht wurde breiter. Sie hielten sich alle nicht zurück, wie sehr sie sich auf meine Ankunft freuten. Und deren Bedauern, dass Phil die Ehre hatte, mich und Jessy vom Bahnhof abzuholen. Entschieden hatte das seine kleine Schwester. Mir hatte sie das gestern Abend schon mitgeteilt. Zu einem wäre Phil es ihr wohl schuldig und am fairsten den Anderen gegenüber. Mein Beliebtheitsgrad schien keine Grenzen zu kennen. Ehrlich gesagt, genoss ich meinen kleinen Promistatus.   Auch wenn ich mir nicht sicher war, ob ich Phil wirklich treffen wollte. Vielleicht war aber gerade diese Art am besten. Jake könnte mir keinen Vorwurf machen. Es lag schließlich nicht in meiner Hand. Obwohl Vorwurf auch das falsche Wort war. Jake hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er Phil nicht mochte. Und ich wusste, dass es auf seiner Eifersucht basierte. Genauso wie dass ich diese mit der Annahme der Einladung in die Aurora erst getriggert hatte. Damals, als er nicht da war, als er untertauchen musste. Zum damaligen Zeitpunkt, an dem noch keiner von uns so wirklich den Mut über dieses schöne Gefühl zusprechen. Vor allem für Jake war es schwer, sich das selbst einzugestehen. Er wollte nicht, dass ich die Konsequenzen seines Handelns mittragen musste. Kein Wunder also, dass er befürchtete, ich würde mich anderweitig umsehen. Auf die Flirts von Phil eingehen, da ich kein Interesse mehr an ihm hatte.   Ich seufzte.   Es war gut, dass Jake nicht lesen konnte, dass ich Phil schon attraktiv fand. Aber als das zählte nicht mehr. Mein Herz gehörte ihm für immer… Auch wenn wir nie das Vergnügen haben würde, eine physische Zweisamkeit zu genießen.   Und viel wichtiger war, dass ich mich endlich zusammenriss. Dauerhaft. Für Jessy und die anderen.   Ich starrte weiterhin auf den offenen Gruppenchat. Die voller Vorfreude geprägte Stimmung hatte sich schnell umgeschlagen, als ich nicht mehr antwortete. Mir ging so viel durch den Kopf, dass ich schreiben hätte können. Doch ich brachte nicht die Kraft auf. Nicht einmal den Mut für eine aufrichtige und nötige Entschuldigung konnte ich aufbringen. Ich war eine miese Freundin… Der einzige Weg, welcher blieb, war, dass ich mich selbst belügen müsste. Mir selbst immer wieder einreden, dass mir Jakes Verschwinden nichts ausmachen würde. Nicht für mich, sondern für die anderen. Damit ich endlich der Mensch sein konnte, den die anderen verdienten. Sie sollten glücklich und sorgenfrei sein. Nach allem, was passiert ist…   Ich blickte mit einem Lächeln zu Jessy. „Langsam bekomme ich auch Hunger.“ „[MC]“, sagte sie erschrocken und genauso schaute ich sie nun an. „Du musst doch jeden Satz mit Muh beenden, muh“ Ich kicherte: „Die Kühe haben also endlich die Weltmacht erreicht, muh“ Zur Bestätigung nickte sie. „Ich habe es ja immer gesagt, muh“, grinste ich breit. „Alle Macht den Kühen, muh“, bestätigte Jessy.   „Ja, alle macht den Kühen!“   Kapitel 3: Kapitel 3: Die Ankunft --------------------------------- Kapitel 3: Die Ankunft Ich zog meinen schweren Koffer aus dem Zug. Beim packen hatte ich mich noch gefreut, dass ich mich nicht an die 20 Kilo Begrenzung für einen Flug halten musste. Eigentlich war ich auch nicht der Typ Frau, der sonst großartige Probleme beim packen hatte. In der Regel schaffte ich es sogar weit unter der besagten Grenze zu bleiben. So konnte ich das ein oder andere Mal Freundinnen aushelfen. Es hatte sich schon so etabliert, dass ein breitgrinsender Emoji reichte, damit ich Bescheid wusste. Das Organisationstalent, dass ich war, hatte dann immer sofort mit meiner freien Kapazität geantwortet.    Doch dieses Mal hatte mich beim packen ein andere Gedanke getrieben. Jake… Diese dumme Fantasie er würde in Duskwood auf mich warten. Er würde mich mit in seine Welt nehmen. Und unser Leben auf der Flucht beginnen. Wir gegen den Rest der Welt! Wie Bonney & Clyde… Für diesen Fall musste ich doch all meine Lieblingskleidungsstücke mitnehmen. Und für andere Szenarien brauchte ich zudem noch besondere Unterwäsche.   Ich kam mir selbst bescheuert vor, als ich vor meinem Kleiderschrank überlegte, welche Farbe Jake wohl bevorzugte. Doch dass hielt mich nicht davon ab meine komplette Sammlung an Spitzenunterwäsche einzupacken. Also wirklich total bescheuert…   Allein schon der durchaus unwahrscheinliche Fall Jake würde aus heiterem Himmel aufgetaucht. Das würde noch lange nicht bedeuten, dass er auch bereit war sich auf mich einzulassen. Emotional, sowie körperlich… Ich war bereit! Schon so lange…   Er wiederum hatte so lange gegen seine Gefühle gekämpft. Natürlich war da meinerseits die Furcht seinen Ängste hatten die Oberhand gewonnen. Es schmerzte… Doch ich hoffte nun mal auf sein Wohlergehen. Egal, wie sehr mich dieser Gedanke von innen zerriss. Ich wollte ihn in Sicherheit und Freiheit wissen.   Was machte die Liebe nur mit mir?   So selbstlos wie ich mein Leben für seins geben würde. Alles für sein Glück. Auch wenn es bedeuten könnte, dass ich kein Teil davon sein würde. Es vielleicht sogar einfach schon war. Dies bedeutete aber nicht zwangsläufig, dass ich mich keinen Träumereien hingeben durfte. Anderseits konnte ich es nicht, da Jessy mich fast 24/7 bewachte. Keine Ahnung ob ich ihr deswegen dankbar oder nicht sein sollte.   „Lass mich dir helfen“, sagte eine vertraute Männerstimme hinter mir. Naja so vertraut, wie eine Stimme nach einem Telefonat sein konnte. Einen Anruf aus dem Gefängnis, nebenbei bemerkt. Ein störender Anruf… Jake und ich waren in unsere Unterhaltung gerade in eine intimere Richtung gegangen waren. Naja was für uns Intimität bedeutete. Ich hatte es geschafft über meine Vorstellung, wie es sein würde ihn endlich zu treffen. Sogar getraut hatte ich mich auszusprechen, dass ich mir einen Kuss wünschte. All meine Worte an ihn gerichtet basierten auf seinen Mut mich zum Essen einzuladen. Irgendwann…   Chinesisch… Durchaus eine Küche, welche ich stark bevorzugte. Naja zu mindestens die westliche Art der chinesischen Küche. Jake war so verdammt süß gewesen. Er wollte es vermeiden mich in ein Restaurant einzuladen, dessen Essen mir nicht schmeckte. Wie zuvorkommend… Vor allem weil ich wirklich überall mit hingekommen wäre. Selbst irgendwo tief in den Wäldern von Duskwood. Hauptsache ich hätte ihn treffen können. Doch das würde ich nie! Also sollte ich mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Bevor ich noch etwas Dummes tat…   Phil stand direkt hinter mir. Ohne wirklich Rücksicht auf meinen persönlichen Freiraum zunehmen. Seine Hand berührte meine. Ein angenehmer Schauer durchfuhr meinen Körper. Das konnte doch nicht wahr sein! Sehnte ich mich tatsächlich so sehr nach männlichen Berührungen, dass ich mich mit dem Widersacher meines Freundes zufriedengab? Dieses verdammte Herz sollte aufhören so schnell zuschlagen. Traute ich mich deswegen nicht mich umzudrehen? Weil ich genau wusste, wie attraktiv Phil war? Oder wollte ich mir die Illusion seines Profilbild nicht nehmen lassen? Befürchtete ich ernsthaft Jake könnte vor Eifersucht platzen, wenn ich es tat? Und wenn schon! Rein für den hypothetischen Fall, dass er wirklich kalte Füße bekommen hatte. Dabei nicht einmal die Courage das offen zu kommunizieren. Also wenn er mich wirklich hat sitzen lassen… Dann hatte er wirklich sämtliches Recht auf Eifersucht verspielt! Vor allem dann auch noch für so eine Lappalie!   Endlich schaffte ich es mich zu Phil umzudrehen. Sich selbst zu belügen war gar nicht so schwer… Er war ungefähr genauso groß, wie ich. Vielleicht nur einen Zentimeter größer. Seine Statur war schlaksig und schlank. Mein Blick traf seine leuchtenten grünen Augen. So vertrauensvoll. Das Fledermaus-Tattoo auf seinem Hals wirkte in Natura noch verruchter. Die Fotos hatte in seinem Profil hatten definitiv keinen falschen Eindruck vermittelt. Eher noch seine Attraktivität heruntergespielt.   „Danke…“ stammelte ich nervös. Es war schon dezent peinlich Jessys älteren Bruder mit meinem Blick so anzuschmachten. Vor allem dann noch in ihrer Anwesenheit. Schnell und leicht panisch wandte ich meinen Blick wieder zu meinem überfüllten Koffer. „Hast du vor längerfristig in Duskwood zu bleiben?“, scherzte er während er mir half das schwere Gepäckstück aus dem Zug zu heben.  „Ich…“, begann ich und auf meinen Wangen bildete sich ein zartrosa Schimmer. Es war schon unfair, dass Tattoos den Attraktivitätsgrad eines Mannes so unglaublich steigern ließen. Und Phil hatte einfach eine Menge davon.   „Das habe ich sie auch gefragt.“, kicherte Jessy. Die leichte Rosafarbe auf meinen Wangen färbten sich zu einem knalligen Tomatenrot. „Aber ich glaube sie hat andere Pläne.“ Am liebsten wäre ich im Boden versunken. Aus irgendeinem Grund war ich sicher, dass ihre Bemerkung auf die Sammlung meine Unterwäsche für besondere Anlässe basierte. „Naja.“, war der Neuanfang eines Erklärungsversuch. „Ich wusste ja nicht worauf ich mich einstellen muss. Wetter und so.“, sagte ich nach einem peinlichen Moment der Stille.   „Ja, ja, das Wetter.“, kicherte Jessy und ihre Betonung ließ keinen anderen Schluss zu. So rein hypothetisch, sollte man sie tot auffinden, mit Würgemahlen. Dann wäre die Wahrscheinlichkeit doch relativ hoch, dass ich an diesem Umstand nicht gänzlich unbeteiligt war.   So gerne wie ich ihm in diesem Moment den Hals umgedreht hätte!   Ich musste mich doch schon ständig vor mir selbst rechtfertigen. Jedes Mal wenn ich mich meinen Tagträumen hingab. Dann noch zu wissen, dass andere Menschen in meinem Umfeld realisierten, wie bescheuert ich tatsächlich war. Naja für meinen theoretischen Mord an Jessy würde es ohne hin zu viele Zeugen geben. Auch auf ein Erdloch zum Verkriechen brauchte ich wohl auch nicht hoffen. Die taten sich in der Regel nie auf, wenn man sie benötigte. Okay, eigentlich taten die sich nie auf. Eine Flucht in den Zug war auch nicht mehr möglich. Dessen Türen waren bereits geschlossen. Kurz vor Abfahrt zwischen Bahnsteig und Lok zu springen würde auch nur unnötig schmerzhaft enden. Also hieß es, peinliche Situation ertragen und im besten Fall überspielen.   „Muss ich jetzt nicht verstehen, oder?“ Phil hatte sich an seine jüngere Halbschwester gewandt. „Jessy spinnt.“, antwortete ich in dem Versuch Jessy Aussage nichtig erscheinen zulassen. Zudem funkelte ich sie böse an. „Genauso wunderschön, wie intelligent. Du hast den geistigen Status meiner geliebten Schwester sofort richtig eingeschätzt.“ Ich war mir unsicher, ob Phil tatsächlich mit mir flirtete oder nur seine Schwester necken wollte.   Mein Herz hatte seinen Schlag zu mindestens für einige Sekunde beschleunigt. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich mich beobachtet fühlte. Eine Absurdität, welche nicht nur allein der Tatsache geschuldet, dass die Wahrscheinlichkeit Jake würde genau in dem Moment zu mir rüber sehen unter Null lag. Sondern auch weil sich der Bahnhof ca. 1,5 Stunden von Duskwood entfernt war. Ich meine für den sowieso schon unwahrscheinlichen Fall, dass Jake in Duskwood sehnsüchtig auf mich wartete…   Warum sollte er dann am Hauptbahnhof von Coleville stehen?   Außer, es sei denn, er hatte den Standort meines Handy gehackt. Halt! Das müsste er nicht einmal. Mal davon ab, dass er dann nicht so schnell hier sein könnte. Er war immer noch im Gruppenchat. Da musste er nicht mal der begabte Hacker sein, der er nun mal war. Nachrichten nachlesen würde sogar jemand wie Thomas hinbekommen.   Automatisch blickte ich mich um. Nur im nächsten Moment enttäuscht zu werden. Keiner der anderen Menschen am Bahnhof schien sich für mich zu interessieren. Auch passte keiner in sein Profil. Kein Mann mit schwarzen Haaren oder gar einem schwarzen Hoodie.   Was hatte ich mir nur gedacht.   „[MC]“, holte mich Jessy wieder in Hier und Jetzt. „Ist etwas passiert?“ „Nein.“, winkte ich ab. Sie schenkte mir ein unsicheres Lächeln. Phil war mit meinem Koffer ein paar Schritte vorgegangen. Die Gelegenheit nutzte Jessy um sich zu mir rüber zu lehnen. „Du dachtest er könnte hier sein.“, flüsterte sie mir ins Ohr. Besonders bedacht darauf, dass Phil sie nicht hören konnte.   Die Sorge in ihrer Stimme  überhörte ich bewusst.   Um meine Emotionen zu regulieren bildete ich mit meiner linken Hand eine Faust. Ich durfte jetzt nicht die Fassung verlieren. Nicht in der Öffentlichkeit und nicht vor Phil. Der Fakt jedoch, dass meine ganze Wut wieder gegen Jessy richtete, war mir egal. „Schwachsinn!“, blaffte ich sie an. In so einem aggressiven und lauten Ton, dass sich nicht nur Phil erschrocken zu mir umdrehte. Auch meine rechte Hand ballte sich zu einer Faust. Ich stampfte so schnell an ihr vorbei, dass ich auch Phil mit wenigen Schritte überholte. Dieser blieb abrupt stehen. „Was ist mit [MC]“, fragte er verwirrt an seine jüngste Schwester gewandet. „Sie hat im Moment eine schwierige Zeit.“, seufzte Jessy. „Und du nicht?“, hakte Phil skeptisch nach. Natürlich hatte er recht. Auch für Jessy war es alles andere als einfach. Durch die ganze Richy-ist-der-Mann-ohne-Gesicht-Sache. hatte sie nicht nur ihren besten Freund verloren, sondern auch zusätzlich ihren Job. Es war mir bewusst. Tief in meinem inneren war es mir bewusst. Sie brauchte mich eigentlich genauso, wie ich sie…   Doch sah ich nur meine eigene Probleme. Deswegen hatte ich den beiden nicht einmal zugehört. Ich fühlte mich von Jessy ertappt. Dabei kam ich mir doch schon in meinen eigenen Gedanken dumm vor. So hatte mein emotionales Denken mir erzählt, dass sie mich für genauso dumm hielt. Zu mindestens genauso dumm.   Das ich nicht besonders intelligent war bestätigte sich als ich auf dem Parkplatz stand. Ich hatte keine Ahnung welches Auto Phil gehörte. Wie bestellt und nicht abgeholt stand ich nun da. Das hätte ich beim meinem wütenden Abgang bedenken sollen.   So blieb mir nichts anders übrig als zu warten.   Auch wenn es sich maximal um zwei Minuten handelte, kam es mir eine unerträgliche Ewigkeit vor. Vor allem da meine dämliche Hoffnung Jake wäre hier immer noch nicht gänzlich verfolgen war. Ich biss mir auf die Unterlippe, um mein Verlangen mich umzublicken, zu unterdrücken. Er war nicht hier! Warum wollte ich das einfach nicht verstehen? Am liebsten hätte ich geschrien. Es war doch genau das eingetreten wovor ich mich beschützen wollte. Deswegen hatte ich mir doch vorgenommen mir keine Hoffnung zumachen. Um diesen unerträglichen Schmerz in meiner Brust nicht andauernd spüren zu müssen. Meine Zähne bohrten sich tiefer in meine Unterlippe. Ich kämpfte mit den Tränen, aber ich durfte nicht anfangen zu weinen. Nicht vor den ganzen Fremden Menschen um mich herum.   Ich wollte wieder nach Hause. Mich einfach wieder in meinem Bett verkriechen. Am besten für immer. Und dass alles wegen einem Mann den ich im Internet kennengelernt hatte. Meine True-Crime Affinität sagte mir, dass doch gerade diese gefährlichen Männer waren. Wie viele Frauen sind den schon Betrügern und Mördern auf den Leim gegangen. Mein Herz sagte mir, dass Jake der Diamant unter den ganzen Glassteinen war. Die Ironie daran war nicht, dass Frauen zum Opfer gefallen sind, wohl genau dasselbe gedacht hatten. Nein, die Ironie war das genau wusste, dass Jake ein Gesichter Verbrecher war. Der vom fucking FBI gesucht wurde! Sein Verbrechen war keinen Lappalie. Er musste etwas Schwerwiegendes getan haben. Auch wenn er von sich behauptet zu den Guten zugehörte. Aber das würde ein Serienmörder wohl auch von sich behaupten. So war es mir doch jedes Mal ein Dorn im Augen, wenn Männer auf Dating-Plattformen behaupten, sie wären ein guter Kerl. Ich hasste es so sehr, dass ich sämtliche Interessen an ihnen verlor.   Doch bei Jake… Ich hatte es ihm sofort geglaubt. Glaubte es ihm immer noch…   Ich war in einem Verbrecher verliebt. So ungesund verliebt…   Ich kramte mein Handy aus der Hosentasche. Es gab da etwas, dass ich überprüfen musste. Damit ich endlich nach vorne Blicken konnte. Ich öffnete den Gruppenchat. Mein Blick blieb auf meiner letzten Nachricht hängen. Sie hatte nur einen Haken. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich musste es überprüfen. Meine Befürchtung hatte sich bestätigt. Sie wurde Jake nicht zugestellt. Ich scrollte zu einem anderen älteren Nachrichten. Genau dasselbe wie bei der anderen Nachricht. Gelesen von allen außer Jake. Er war wirklich weg. Tod, gefangen oder kalte Füße…   Er würde nicht hier auftauchen. Er wusste nicht einmal, dass ich mich auf den Weg nach Duskwood befand. Ich öffnete das Menü des Gruppenchats. Ich atmete einmal tief ein. „Bist du sicher, dass du Jake aus der Gruppe entfernen möchtest?“ „Ja“ „Nein“ Zögerlich bewegte ich meinen Zeigefinger auf den „Ja“-Button. Sollte ich wirklich? Irgendwie war es schwer als ich es mir vorgestellt hatte…. Dabei wollte ich doch endlich nach vorne blicken. Die Vergangenheit hinter mir lassen. Wenigstens diesen kleinen Schritt gehen. Wenn ich es nicht einmal schaffte ihn außer der Gruppe zu entfernen. In die er eigentlich gar nicht wollte. Nie hatte er sich als Teil der Gruppe gesehen. Deswegen sollte es mit doch erst recht nicht schwerfallen. Wie sollte ich unseren Chat löschen, wenn ich das nicht einmal hinbekam?   „ [MC], kommst du?“, rief Phil zu mir rüber. Genau in dem Moment traf mein Finger den Display berührte. Nur weil ich mich so erschrocken hatte. Überfordert mit meinen Emotionen, nicht wissen ob ich wütend oder dankbar sein sollte, stand ich verdattert da. „Ähm ja.“, sagte ich mit niedergeschlagener Stimme und ging zum dem Van mit der Aufschrift „Aurora.“ Okay, dass hätte ich vermuten können, dass dieses Fahrzeug Phil gehörte.   Phil öffnete mir die Beifahrertür. „Steigen Sie ein, schöne Frau.“, okay das war wirklich ein Flirt. Als Höflichkeit hätte man es wirklich nur abtun können, wenn er mir nicht noch zugezwinkert hätte. „Danke.“, kicherte ich verlegen und merkte wie ich leicht rot um die Nase wurde.   Ich kletterte auf den Beifahrersitz und schnallte mich an. Mein Handy hatte ich auf die Armatur gelegt. Jessy und mein Koffer befanden sich im hinteren Teil des Vans. „Auf geht’s nach Duskwood“, quickte Jessy vergnügt als Phil auf dem Fahrersitzplatz nahm. „Ja, auf nach Duskwood.“, bestätigte ich mit deutlich weniger Euphorie. Das fing mit einen mitfühlenden Blick von Phil ein. Wahrscheinlich hatte auch Jessy dies bezüglich ihre Miene verzogen. Alleine der Gedanke ließ mich Unbehagen fühlen. „[MC], dein Handy.“, wies Phil mich dass mein Gerät immer noch auf dem Armaturenbrett lag. Womöglich bei der nächsten scharfen Bremsung oder Kurve herunterfallen könnte.   Ein kaputtes Handy konnte nun niemand gebrauchen.   Ich nahm mein Smartphone im Moment in dem Phil den Motor startete. Es würde nun endlich losgehen. Die Nervosität durch flutete meinen Körper. Gespannt darauf was mich die nächsten zwei Wochen erwarten würde. Und ob ich es schaffte die Liebe meines Lebens am unbekannten Ort der Verbundenheit zu vergessen.   Automatisch entsperrte ich den Bildschirm. „Du hast Jake aus der Gruppe entfernt???!“ Diese Worte versetzten mir einen Stich ins Herz. Ich hatte es tatsächlich wirklich getan… Jake war nicht mehr Teil der Gruppenunterhaltung. Das Positive daran, sollte er in nächster Zeit doch die Nachrichten lesen, würde mir kein zweiter Haken diesen Umstand verraten. Keine Hoffnung würde sich mehr in mir breitmachen. Der nächste Schritt war unseren Chat zu löschen. Eigentlich sollte ich am besten seine Nummer gänzlich blockieren. Ich belog mich selber damit, dass Jake mittel und Wege finden würde diese Blockierung aufzuheben.   Mein Hacker würde schon eine Möglichkeit finden mit mir in Kontakt zu treten, wenn es das wollte.   Jake als Sündenbock war die einfachste Lösung. Deutlich einfacher als mir selbst einzugestehen, dass ich noch viel zu weit entfernt war ihn gehen zu lassen. Zu groß war die Hoffnung er würde mich nach fast zwei Monaten endlich kontaktieren. Ich wollte die Chance darauf einfach nicht verpassen…   In voller Motivation öffnete ich unsere Unterhaltung. Nur um den nächsten Stich ins Herz zubekommen „ [MC] “, „Ich liebe dich“ Meine Augen klebten an seiner letzten Nachricht. Verdammte zwei Monate war es her… Okay fast zwei Monate… Damals habe ich noch ein Gefühlshoch erlebt, war da jetzt nur noch schmerz… Ein unerträglicher Schmerz… Mein ganzer Körper flutete sich mit diesen drei magischen Worten. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich noch nicht bereit war. Ich konnte ihn noch nicht loslassen. Und ich hasste mich dafür…   Diesem Phantom, dieser Fantasie, ihm so hinterher zu trauern. Enttäuscht von mir selbst wollte ich gerade mein Handy wieder einstecken, als es wieder viebierte. „?“ Ich öffnete den Chat mit Lilly. Sie musste wohl gesehen haben, dass ich ihre letzte Nachricht ignorieren wollte. Trotzig sendete ich ihr auch nur ein Fragezeichen. „Warum hast du Jake auf der Gruppe entfernt?“, antwortete sie mit dem hochgezogenen Augenbrauch Emoji, sowie den wütend schnaubend. „Weil er weg ist!“, ich wiederum verzichtet auf jeglichen Emoji. „Das kannst du doch nicht wissen“ „Er kommt wieder“ „Ganz bestimmt“ Seine jüngere Halbschwester hatte also noch Hoffnung. Wie töricht…   Wahrscheinlich wollte sie sich nicht eingestehen, dass sollten seine Verfolger ihn bekommen haben, sie daran mitschuldig war. Die Aktion #IamJake hatte im Nachhinein rein gar nichts gebracht. Lilly und ihr Vide hatten das FBI doch erst auf die benötigte Spur gegeben. „Lilly sieh es ein! Jake ist weg!“ „Der kommt nicht wieder“, selbst diese Worte in mein Handy zutippen, riss mir das Herz aus der Brust. Ich wollte nicht mit ihr diskusstieren. Es würde sowieso nichts bringen, außer das ich mir nur noch mehr Hoffnung machte.   „Er kommt wieder“ „Ganz bestimmt“ „Das würde er dir niemals antun.“ „Er liebt dich“ Ich spürte wie mein Handy viermal vibrierte, nachdem ich es in die Hosentaschen gesteckt hatte. Doch ich blieb stark und ließ Lillys Nachrichten unbeachtet.   Stattdessen beobachte ich die Umgebung. Wir waren noch immer in Coleville. Jessy hatte mir gesagt, dass es so der einfachste Weg war. Vom Hauptbahnhof Coleville hätten wir noch mit dem Bummelzug weitergekonnt. Dabei wären wir laut ihrer Aussage noch etwas über drei Stunden unterwegs gewesen. Um anschließend noch mit dem Bus fahren zu müssen.  Duskwood war wirklich ein Kaff…   Wir standen an einer roten Ampel als Phil die Gelegenheit nutzte und sich zu mir wandte. „Dein Termin bei der Polizei ist morgen um 8 Uhr.“, sagte er schließlich „So früh“, quäkte Jessy gequält von der hinteren Reihe. „Unser lieber Mr. Bloomgate wollte den Termin eigentlich schon um 6 Uhr ausmachen. Nur um [MC] eins auszuwischen.“, man konnte seiner Stimme entnehmen, dass er nicht unbedingt den Vorsitz in Alan Bloomgates Fanclub beanspruchte. Aber wer sollte es ihm verübeln. Es würde jedem so gehen, der unschuldig ins Gefängnis käme. Phils Abneigung zu urteilen, hatte Dan wohl immer noch keinen reinen Tisch gemacht. Diese feige Sau! Nur durch seine falschen Anschuldigungen ist Phil doch erst ins Visier geraten.   „Aber ich konnte ihn überzeugen, dass es doch etwas zu früh ist.“, brüstete sich Phil stolz. „Danke. Schätze ich“ murmelte ich kleinlaut. Meine überfällige Aussage hatte ich längst wieder verdrängt. Eigentlich wollte ich auch diesen ganzen Scheiß endlich hinter mir lassen,   „Später hättest du nicht aushandeln können?“, schmollte Jessy. „Sorry, aber aus gegeben Anlass will ich mit denen nur noch das nötigste sprechen.“, antwortete Phil trotzig. „Ist schon in Ordnung. Umso früher habe ich es hinter mir.“, sagte ich mit einem gespielten Lächeln. Auf Grund der langen Autofahrt, hatte ich nur wenig Lust in einen Geschwisterstreit hineinzugeraten. „Danke auf jedenfall, dass du dich für mich eingesetzt hast.“, meine Dankbarkeit war aufrichtig. Selbst wenn ich es nicht schon vergessen hätte, hätte ich es wohl aufgeschoben. Wahrscheinlich war das auch der Grund meiner plötzlich auftretenden Vergesslichkeit….   „Ich fahr dich morgen dahin.“, meinte Phil in einem Ton, den sogar ich als Flirten richtig interpretieren konnte. „Dann kann mein Schwesterherz noch ausschlafen.“, fügte er noch sticheln hinzu. „Das ist wirklich nicht nötig.“, entgegnete ich verlegen. „Für dich schon, [MC]“, da war er wieder sein flirtender Ton.   Überfordert mit der Situation suchte ich im Auto nach der perfekten Ablenkung. Dann erblickter ich den USB-Stick am Autoradio. Ich kannte es von meinem Auto. „Können wir Musik hören?“, fragte ich. Da war sie die perfekte Ablenkung. Musik, egal welche konnte unnötige Gespräche verhindern. Deswegen hatte ich nicht mal auf eine Antwort gewartet und die Musik angestellt.   Ich riss meine Augen auf. Das Gitarrenriff hatte ich sofort erkannt. „Das ist kein Krach.“, konterte ich auf Jessy Bemerkung, ihr Bruder würde nur Krachmusik hören. „Das ist My Chemical Romance.“ „Du kennst MCR?“, fragte Phil verdutzt. „Natürlich! Man könnte sogar sagen, dass ist meine Lieblingsband.“, grinste ich breit. „Sie ist nicht nur wunderschön, sondern hat auch noch einen verdammt guten Musikgeschmack.“   Meine Wangen glühten vor Verlegenheit. Doch ich entgegnete seinem Flirtversuch nichts, sondern betätigte die Reverse-Taste. Ich wollte das Lied noch einmal von vorne genießen, ohne störenden Gespräche. Zum Leidwesen von Jessy hatte ich zudem noch die Lautstärke erhöht. Und wahrscheinlich zum Leidwesen aller Insassen, alle außer mir versteht sich, sang ich lauthals mit. Ein Gefühl von Freiheit durchflutete meinen Körper als ich die Lyrics von „I’m not okay, (I promise)“ mit grölte.   Es war der einfachste Weg der Welt, und vor allem auch mir selbst, entgegen zu schreien, dass es mir alles andere als gut ging. Das keine meiner Wunden verheilt war. Vor allem auch die Leere die Jake in meine Leben hinterlassen hatte.   Ironischerweise fühlte sich gerade das laute singen, so wie das Airdrum spielen, so gut an. In diesem Moment fühlte ich mich mehr als nur okay.   Kapitel 4: Kapitel 4: Frühstück ------------------------------- Kapitel 4: Frühstück   Es war kurz nach 5 Uhr morgens. Mein Schlaf war seit gut zwei Stunden beendet. Ich hatte mich in Jessys dunkle Küche verzogen. Nur weil mir ein Albtraum wieder den Schlaf geraubt hatte, musste ich nicht den ihren rauben. Es reichte schon, dass ich diesen einen Fehler begangen hatte.   Hier saß ich nun. Das Handy in meiner Hand und scrollte durch den Chat mit Jake. Die Tränen kullerten in dicken Tropfen über meine Wange. Das, was niemals sein würde, war viel schlimmer als mein Albtraum. Ich konnte selbst nicht mit Gewissheit sagen, warum ich mich dieser Tortur unterzog. Dabei sollte ich mich doch besser auf meine Zeugenaussage vorbereiten. Dazu hatte Phil mir schließlich geraten. Ob das nur an seinen schlechten Erfahrungen mit der Polizei Duskwoods lag oder ob er wusste, dass ich im Zuge meiner Ermittlungen nicht immer den legalen Weg gegangen war, wusste ich nicht. Obwohl es doch sehr naheliegend war. Aus meiner Sicht zu mindestens…   Jessy hatte mir versichert, dass sie Jakes Rolle sowie seine Existenz vor ihrem Bruder gänzlich unerwähnt ließ. Nobel von ihr. Auch wenn Jake verschwunden ist, wahrscheinlich sogar gestorben, schadete es nicht, den Kreis der Mitwissenden möglichst gering zu halten. Nur für den Fall, dass er doch noch da draußen war. Gerne hätte ich ihren und Lilly Optimismus geteilt.   „Kannst du mich nicht einfach in den Arm nehmen.“ Meine eigenen Worte schnürten mir die Kehle zu. Seinem emotionalen Support in Form von einer wirklichen physischen Umarmung brauchte ich jetzt noch mehr als damals. Aber ich wusste, dass ich diesen nicht bekommen konnte. Wahrscheinlich niemals bekommen würde. Ich fühlte mich so allein. Auch weil ich wusste, wenn ich wieder nach Hause zurückkehrte, in mein gewohntes Leben, ich nur noch einsamer sein würde.   Keine Jessy mehr, mit der ich die halbe Nacht noch rumblöden konnte. Keinen Phil, der versprach, um 7 Uhr mit frischen Brötchen aufzulaufen. Auch wenn diese Tatsache weniger Relevanz hatte. Sollte ich wirklich beschließen nach Duskwood zuziehen, konnte ich nicht erwarten, dass er mein persönlicher Essenlieferant wurde. Nur weil er jetzt zwei Mal so nett gewesen war. Ich hatte schon zu viel seiner Gutmütigkeit ausgeschöpft, als ich ihn bat, nicht beim chinesischen Imbiss unser Abendessen zu besorgen. Das italienische Restaurant befand sich deutlich weiter entfernt.   Zum Glück wusste Jessy nicht, dass meine plötzlich Abneigung gebratener Nudeln gegenüber, durch Jakes unerfüllte Einladung, herrührte. Obwohl ich mir nicht sicher, ob sie es doch erahnt hatte. Ihr mitfühlender Blick war nicht zu übersehen, als ich fragte, ob sich dieser Imbiss gegenüber Mrs. Walters Motel befinden würde.   Es war schon seltsam… Seit der Millisekunde, in der ich Duskwood erreicht hatte, fühlte ich seine Präsenz. Auch wenn dieser Umstand mein Leid nur noch verschlimmerte, war es doch der Grund, weswegen ich einen Umzug in dieses verschlafende Städtchen überhaupt in Erwägung zog. Mein Unterbewusst wusste das. Doch mein Bewusstsein log mich an. Zu meinem Schutz…   Es war eine sehr schöne Lüge. Endlich war da wieder Glück in meinem Körper. Bedingungslos glücklich… Umgeben von allen.   Ich scrollte weiter durch unseren Chat. Mit jedem Wort kam eine neue Träne. Selbst unsere sachlichen Fallanalysen zeigte mir, wie sehr ich ihn vermisste. Und dann erreichte ich das Ende. „[MC]“ „Ich liebe dich.“ Noch bevor ich meine Antwort „Ich liebe dich auch, Jake.“, gelesen hatte, brach ich in meiner Verzweiflung zusammen. Die Indizien waren der Schwall der Tränen, meine Rangen nach Sauerstoff sowie mein sadistisch-selbstquälende tippen, um das Verdunkeln meines Displays zu verhindern. All das hatte mich den Wecker überhören lassen.   Das Jessy wach war, realisierte ich, als zwei Arme mich zaghaft umarmten. „[MC]“,sagte sie meinen Namen liebevoll. Ich wusste, dass sie Jakes letzte Nachricht nun auch kannte. Jetzt war es offenbart. Eins seiner vielen Geheimnisse. Auch wenn dies wohl das Offensichtlichste war. Eins, dass ich auch nie geleugnet hatte. Vor allem was meine Gefühle betraf. Nur das es wirklich so war… Es war unser Geheimnis… Jake und meins… Jetzt wusste Jessy es zu 100 %. Es fühlte sich auf eine seltsame Weise beklemmend an. Dabei war es nicht einmal sein schlimmstes Geheimnis. Selbst ich kannte es nicht, wollte es nicht wissen. Sein Verbrechen…   Die Informationen, die ich kannte, waren spärlich. Einen Tag vor vier Jahren hatte sein Leben verändert. Deswegen konnte er keinem vertrauen. Keinem außer mir… Er musst mal Personen gehabt haben, die ihm viel bedeuteten. Einmal hatte er mir gesagt, dass schlechte Nachrichten leichter zu ertragen sind, wenn sie von einer nahestehenden Person überbracht werden. Den Zusammenhang mit seinem Verbrechen hatte ich mir zusammengereimt. Naheliegend, da er sagte, er hatte vor vier Jahren alles verloren. Ich konnte mir kaum etwas Schlimmeres vorstellen.   Meine Gefühle diesbezüglich konnte ich nicht einordnen. Die Traurigkeit über sein Schicksal hatte mir schon damals mein Herz zerrissen. Doch die Tatsache, der einzige Mensch in seinem Leben zu sein, der ihm noch etwas bedeutete, ließ es wieder vor Freude hüpfen. Nur dann war da noch diese eine Gedanke. Ein seltsamer Gedanke… Ob er schon vor mir einer Frau seine Liebe bekundet hatte. Meine Eifersucht war lächerlich, das wusste ich. Auch in meinem Leben hatte es Männer geben. Einer überschaubaren Anzahl von Dreien hatte ich auch gesagt, dass ich sie lieben würde. Zu mindestens hatte ich es damals angenommen. Es wirklich geglaubt…   Jake hatte mir gezeigt, wie falsch ich damit lag.   Mein ganzes Leben hatte ich ein falsches Bild von Liebe gehabt. Wahrscheinlich war das der Grund, weswegen die Männer nach spätestens 6 Monaten vor mir geflohen waren. Besonders traurig war ich nie gewesen.   Das Klischee eines Umstylings hatte jedes Mal wieder ein Wunder bewirkt. So hatte ich in meinem Leben schon viele Haarfarben ausprobiert. Blond, brünett, schwarz, sogar einmal feuerrot. Sämtliche Frisuren zwischen lang und kurz. Jedes Mal hatte ich mich neu erfunden.   Aber damals hatte ich nun mal nicht wirklich an die einzig wahre Liebe geglaubt. Der Gedanke, man wäre mit einem anderen Menschen durch ein rotes Band verbunden, schien so lächerlich. Bis meins durchtrennt wurde…   Jessy hatte mich unter die Dusche geschickt. Das warme Wasser auf meiner Haut tat gut. Nur das einmalige Türklingeln störte kurz meinen kleinen Moment des Friedens. Bevor ich meine Gedanken wieder abschweifen lassen konnte.   Da war die Frage, wie sich Liebe wohl anfühlte, wenn man seinem Seelenverwandten wirklich physisch nah war. Wie es sich wohl anfühlte, in seinen Armen liegen zu dürfen…   Ich erlaubte es mir, dies vorzustellen. Einfach, weil ich wusste, dass meine Fantasie niemals an die nie-existente Realität heranreichen würde. Irgendwie blieb das Gefühl in meiner Vorstellung immer ähnlich wie eine Umarmung mit Jessy. Doch das war lächerlich. Natürlich mochte ich Jessy, dass stand außer Frage. Doch Jake… Für ihn empfand ich einfach so viel mehr…   Ich kletterte aus der Dusche und wischte mit der Handinnenfläche über den Spiegel. Den kleinen Moment, in dem der Spiegel vom Dunst befreit war, nutzte ich. Die Gestalt, die mich anblickte, sah furchtbar aus. Blass… Tiefe, dunkle Augenränder... Fast wie der Tod persönlich…   Meine fast schlaflose Nacht hatte ihren Tribut gefordert. Mit der Bürste kämpfte ich mich durch mein nasses, widerspenstiges Haar. Ich schlug mit den Händen gegen meine Wangen. Doch die erwünschte Farbe kam nicht. Enttäuscht griff ich nach dem gelben Handtuch und schlang es um meinen Körper.   Im nächsten Moment hatte ich schon meine Hand an der Türklinke. Das grelle Licht blendete mich, machte mich fast blind.   „Einen wunderschönen Guten Morgen.“, begrüßte mich Phils Stimme als noch im Versuch war, mich zu orientieren. „Morgen.“, entgegnete ich mit schwacher Stimme. Ich sah zu den beiden Hawkins-Geschwistern und den gedeckten Frühstückstisch. Meine linke Hand krallte sich an den Knoten meines Handtuchs. Die Wassertropfen, die von meinem Körper fielen, waren so unnatürlich laut. Ich hatte das Gefühl, der Tisch, an dem die beiden saßen, würde sich immer weiter entfernen.   Meine Wangen fingen langsam anzuglühen, bis sie vor Schamesröte brannten!   Viel zu langsam hatte mein Gehirn gebraucht, um die Schlussfolgerung zu erlangen, dass das Türklingeln Phils erscheinen ankündigte. Dann hatte ich auch noch viel zulange gebraucht, um zu realisieren, dass ich halbnackt im Raum stand.   Ich öffnete meinen Mund und hauchte. „Ich…“ Mein rechter Fuß machte einen wackeligen Schritt zurück. „Also ich habe kein Problem damit, wenn du dich so zu uns setzt.“, zwinkerte Phil mir zu.   Wahrscheinlich war seine Intention gewesen, die Situation ein wenig aufzulockern. Das Gegenteil zeigte sich in meiner ungesund-roten Gesichtsfarbe. Damit hatte sich die Option Selbstbewusstsein vortäuschen auch erledigt. Nach einem nervösen Schlucken sagte ich: „Ich geh mich eben anziehen.“ Ich hörte noch, wie Phil meine Worte mit „Schade“ kommentierte. Genauso wie Jessys kichern.   Mein Rücken lehnte gegen die geschlossene Schlafzimmertür. Das wildpochende Herz in meiner Brust verhinderte, dass sich meine schnelle Atmung beruhigte.   Ich war halbnackt vor Phil gewesen!   Zudem verstand ich nicht vorher dieses flaue Gefühl in meinem Magen kam. Das waren doch keine Schmetterlinge im Bauch? Ich meine, Phil war attraktiv. Sehr attraktiv… Aber Jake gehörte doch mein Herz!?   Ich setzte mich auf das Bett meiner besten Freundin. Irgendwie, egal wie musste ich meine Gedanken schnell sortieren. Die anderen warteten auf mich. Wenn ich mir zur viel Zeit ließ, würde Jessy gleich wieder auf der Matte stehen. Sie meinte es lieb. Das wusste ich… Nur das, was mir gerade durch den Kopf ging, konnte ich unmöglich mit ihr besprechen. Wirklich nicht!   Was, wenn sie mich in ihrer Euphorie verkuppeln wollte?   Meine Augen suchten verzweifelt nach meinem Handy. Ich brauchte den Chat zwischen mir und Jake. Unseren Chat… Ich brauchte seine Worte… Ich brauchte seine Eifersucht… Ich brauchte klare Gedanken!   Scheiße! Es lag noch auf dem Küchentisch.   Ich ließ mich auf die Matratze fallen. Die Deko-Sterne an ihrer Zimmerdecke waren eine perfekte Ablenkung für mein Gedankenkarussell. Ich konzentrierte mich auf meine Atmung. Ein… Aus… Ein… Aus…   „[MC], alles in Ordnung?“, fragte Jessy besorgt, als sie zaghaft an die Tür klopfte. „Ja…“, ich erschrak über meinen verweinten Ton. Die Finger meiner linken Hand berührten meine Wange. Da waren wirklich Tränen. Ich hatte nicht gemerkt, dass ich angefangen hatte zu weinen. Nur Zeit, den Grund zu erkunden, hatte ich nicht. Das Knarren der Tür verriet mir, dass Jessy den Raum betreten hatte. Sie setzte sich neben mich auf das Bett.   „Ist es wegen J-A-K-E?“, ich konnte mir nicht erklären, warum sie seinen Namen buchstabierte und nicht gleich direkt aussprach. Wahrscheinlich dachte sie, sie könnte mich dadurch vor meinem eigenen Leid schützen. „Vielleicht…Ich weiß es nicht.“, meine Umarmung war genau so ehrlich wie meine Worte. Ich verstand wirklich nicht, warum auch noch immer mehr Tränen aus meinen Augen flossen.   „Phil denkt bestimmt, ich habe eine Vollmeise.“, lächelte ich schief. Ich hatte mich auch schon ein wenig wieder gefangen. Es wäre unfair zu behaupten, dass mir ihr emotionaler Support nicht geholfen hätte. Noch unfairer wäre es ihr einen Vorwurf daraus zu machen, dass wir nie über meinen Kummer gesprochen haben. Jessy hatte immer den ersten Schritt gemacht, um eine Konversation zu starten. Aufgrund der Sensibilität des Themas war sie zudem darauf bedacht, mich nicht zu bedränge. Ich war die Person, die es immer abgeblockt hatte. In den Tagen bei mir, heute Morgen vor meiner Dusche, so wie jetzt. Es war immer ich. Hätte Jessy doch wenigstens einmal darauf bestanden…   „Bestimmt nicht!“, munterte sich mich auf. „Phil mag dich.“ Ihr vielsagendes Kichern konnte sie sich nicht verkneifen. „Der ist auch sonst nicht so zuvorkommend.“, erzählte sie mir. „Er will sicher ordentlich Eindruck bei dir schinden.“   Meine Lippen formten sich zu einem höflichen Lächeln. Eigentlich hätte ich ihr sagen können, dass mein Herz immer noch Jake gehörte. Es würde ihm immer gehören… Doch ich blieb stumm. Warum auch immer…   „Phil ist nett, weißt du.“, war der Preis für mein Schweigen. „Außerdem hat er mich schon ganz neugierig gefragt, ob du Single bist.“ Das war keine neue Information für mich. Schließlich hatte ich die Unterhaltung der beiden damals mitgelesen. Es wäre eine Lüge gewesen, wenn ich behaupten würde, ich wäre nur geschmeichelt gewesen. Mein Herz hatte doch ziemlich doll geklopft und meine Wangen waren puterrot angelaufen. Letzteres, obwohl ich damals allein in meiner Wohnung gewesen war. So ein attraktiver Kerl interessierte sich für mich.   Jessy musste die Tatsache, dass ich nicht überrascht war, falsch interpretiert haben. Sie grinste mich breit an. „Das hat er mich wirklich gefragt. Ich kann es dir zeigen.“ Auch darauf hin schwieg ich. Jessy verzog das Gesicht.   „Vielleicht könnt ihr ja wirklich mal ausgehen.“, ich hörte, wie schwer ihr es fiel mir das zusagen. Tief in meinem Inneren konnte ich ihre Ambition verstehen. Ich wusste, dass sie mir helfen wollte, über Jake hinwegzukommen. Allein, dass sie noch hinzufügte: „Phil ist gar nicht so schlimm wie sein Ruf. Und es könnte dir ganz guttun, glaube ich.“   Doch ich konnte in diesem Moment nur falsch interpretieren. Sonst hätte ich mir nur selbst eingestehen müssen, mit dem Gedanken gespielt zu haben. „Hör auf mich mit deinem Bruder verkuppeln zu wollen.“, zischte ich darauf bedacht, nicht zu laut zusprechen. Meine Wut konnte ich gerade noch so kontrollieren, dass mir bewusst blieb, Phil sollte mich besser nicht hören. Dieses Mal war es Jessy die stumm blieb.   „Ich ziehe mich jetzt an.“, unterbrach ich die Stille in einem unfreundlichen Ton. Sie sah mich mit einem bemitleidend Blick an und verließ wortlos den Raum. Ich biss auf meine Unterlippe, um einen Schrei zu unterdrücken.   Zehn Minuten später kam ich einer Jeans, einer weißen Bluse und einem blauen Blazer in die Küche. Meine Haare hatte ich zu einem strengen Dutt zusammengebunden. Bis auf ein wenig Wimperntusche hatte ich komplett auf Make-up verzichtet. Stillschweigend setzte ich mich an den Tisch und griff nach einem Brötchen. Lustlos rupfte ich mir ein kleines Stück raus und steckte es mir in den Mund.   „Nervös?“, fragte Phil in einem fürsorglichen Ton. Ich war erleichtert, dass er mein Verhalten auf diese Weise missinterpretierte. Wahrscheinlich auch der Tatsache geschuldet, dass er das Detail Jake nicht kannte. „Ein wenig.“, nuschelte ich. „Mach dir keine Sorgen.“, lächelte Phil freundlich. „Es ist nur eine Zeugenaussage. Und wenn der Idiot dir blöd kommt, bestehst du auf einen Anwalt.“ Ich schenkte ihm ein Lächeln, bevor ich mich wieder meinem Brötchen widmete.   Es war eine unangenehme Stille, die den Raum beherrschtet. Kein Wunder also, dass Phil das Schweigen wieder durchbrach. „Kommst du heute Abend die Aurora?“, fragte er. Ich hätte schwören können, dass seine Stimme wieder mit mir flirtete. Unsicher blickte ich zu Jessy. „Weiß nicht.“, nuschelte ich. Eigentlich wollte ich noch hinzufügen, dass ich nicht wusste, wie die Pläne der anderen waren. Schließlich musste ich mich nach denen richten. Doch diese Ausrede fiel mir leider viel zu spät ein.   „Für dich gehen die Getränke natürlich aufs Haus.“ Mein Herz stolperte wegen der Art und Weise, wie er sagte „Auf Lebenszeit, meine Retterin.“Auch spielte sich in meinem Kopf dieser seltsame Film ab, in dem wir hier allein waren. Er war mir deutlich näher und hatte mich nach Beendigung seines Satzes leidenschaftlich geküsst. Verdammte scheiße, warum musste Phil auch so verdammt gut aussehen…? Vor allem warum musst mich sein Bad-Boy-Charme, dessen Hauptauslöser definitiv die vielen Tattoos waren, so dermaßen in seinen Bann ziehen? Warum hat Jessy mich überhaupt damit wuschig machen müssen? Ich wusste natürlich, dass ihre Bemerkung diese Gedankengänge überhaupt nicht beeinflusste hatte. Schließlich hatte ich solche Gedanken schon seit gestern. Okay, nicht so detailliert… Dennoch war einfacher, ihr den schwarzen Peter zuzuschieben.   Wer wollte sich schon mit seiner eigenen Gefühlswelt auseinandersetzten? Kapitel 5: Kapitel 5: Poltergeister ----------------------------------- Kapitel 5: Poltergeister   Pünktlich um 7:30 Uhr verließen Phil und ich Jessys Wohnung. Ich hatte mein trockenes Brötchen sowie meinen Kaffee fast unberührt stehen gelassen. Meine kommende Zeugenaussage fing doch langsam an mir auf den Magen zuschlagen. Angefangen, nachdem ich mir Phils heißen tätowierten Körper aus dem Kopf geschlagen hatte. Ich war in einer Beziehung mit Jake, irgendwie. Auf jeden Fall wollte ich ihm treu bleiben. Auch wenn, dass lebenslange Abstinenz bedeuten würde. Phil war aber auch eine verdammt heiße Ablenkung… Jedoch nicht die geschwisterliche Neckerei zwischen Jessy und Phil heute Morgen.   Auf jeden Fall wurde von den beiden beschlossen, dass unsere Truppe heute Abend in die Aurora besuchen würden. Phil gewährte sogar Cleo und Thomas diesen Abend auf sein Hausverbot zu verzichten. Auf meine Bitte hin. Das neuaufgelegte Alkoholverbot für beide konnte ich nicht aufheben. Beziehungsweise hatte ich den Versuch aufgeben, nachdem Jessy meinte, dass wir doch so Fahrer für heute Abend hatten. Das war definitiv ein Argument…   Auch Jessy hatte sich einen gratis Cocktail aushandeln können. Nachdem sie lauthals protestiert hatte, dass sie als Schwester nicht einmal einen Familienrabatt bekam. Irgendwie wunderte es mich, dass sie dies nicht viel früher verhandelt hatte. Phil hatte doch den Ruf des erfolgreich flirteten Barkeepers. So wie ich es mitbekommen hatte, nutzte er seine Position hinter dem Theresen des öfteren, um schönen jungen Frauen einen Drink auszugeben. Seinem Ruf als Womanizer wurde er zu mindestens gerecht mit der Art, wie er mir die Beifahrertür öffnete. Obwohl dieses Wissen vorhanden war, kicherte ich wie ein verlegenes Schulmädchen.   Ganz zur Freude von Phil…   Dieser setzte sich auf den Fahrersitz, während ich mich anschnallte. Eigentlich wollte ich wieder mein Handy rausholen, um erneut Jakes letzten Wor te zu lesen. Es war selbstquälend, dass wusste ich… Doch in Anbetracht der Lage, dass meine Zeugenaussage bevorstand, musst ich mich noch einmal daran erinnern. Vor allem wenn der Polizeichef nicht gut auf einen selbst zusprechen war. Ich brauchte Jake… Wirklich dringend! Unser Chat war jedoch das Einzige, was mir geblieben ist. Das Einzige, was ich jemals haben würde…   Doch ich kam nicht dazu. Phil legte seine Hand auf meine Oberschenkel. Ich war mir nicht sich, ob diese Position beabsichtigt war. Schließlich lag diese doch sehr nah an meiner privaten Zone. Jake würde durchdrehen, wenn er das wüsste. Vor allem wenn er sehen würde, wie Phils Hand auch noch sanft über die Innenseite meines Oberschenkels strich.   „Ich habe meinem Anwalt Bescheid geben.“, begann Phil in einem ruhigen Ton. Dann war seine Berührung wohl doch kein Flirtversuch. Wahrscheinlich interpretierte ich einfach viel zu viel in sein Verhalten. Nur weil ich nach einem Grund suchte, damit Jake vor Eifersucht platzen könnte. Damit er endlich auftauchte…. Nur wie sollte er, wenn von zwei Monaten auf tragische verbrannt war… Da könnte er wohl eher als Poltergeist Phil heimsuchen. Da ich jedoch nicht die Hauptrolle im nächsten Horrorfilme hatte, war das Übernatürliche doch eher auszuschließen. Obwohl… Hatte ich nicht wochenlang damit verbracht, die Legendenfigur „Der Mann ohne Gesicht“ zu jagen. Wer wusste schon, was in Duskwood möglich war…   Anderseits… Sollte Jake dann nicht lieber seine Geisterkräfte nutzen, um mir einem Nachricht zukommen zulassen, statt Phil zu quälen…?! Dann hätte ich wohl einen Grund, wirklich sauer auf Jake zu sein. Vielleicht wäre das gar nicht so schlecht. Wenn ihm seine Eifersucht mehr bedeutet als seine Liebe zu mir, dann könnte ich meine Wut nutzen und über ihn hinwegkommen. Mal davon an, dass es doch relativ amüsant sein würde. Ein ahnungsloser Phil, der sich über seltsame Geschehnisse wunderte. Seltsames Fußbodenknarren, Gegenstände, die plötzlich verschwanden und an den seltsamsten Orten wiederauftauchen.   Gruselige Nachrichten auf seinem Smartphone und Computer. Okay, Jake würde definitiv den Computer für seine heimsuche nutzen.   Jedes Mal, wenn Phil mit mir flirtete…   Ich spürte, wie sich Phil seinen Griff auf meinen Oberschenkel verfestigte. Ob er gerade die erste Geistererscheinung gesehen hatte? „[MC], hast du mir gerade überhaupt zugehört?“, fragte Phil mich in einem besorgten Ton. „Nein. Entschuldige.“, sagte ich und versuchte mein Lachen zu unterdrücken. Ich war wirklich dämlich… Habe ich wirklich gerade die Existenz von Poltergeistern in Betracht gezogen? „Schon gut“, entgegnete er im ruhigen Ton. Dennoch hatte ich das Gefühl, er betrachtete mich mit einem missmutigen Blick.   „Ich habe mit meinem Anwalt gesprochen.“, wiederholt er. Auch wenn diese Information eigentlich nicht neu für mich war, überraschte sie mich. Mit einem Stirnrunzeln wandte ich mich zu ihm. „Du bist ziemlich nervös, nicht wahr?“, meinte er sanft mit einem dezenten Lächeln. Ich nickte. Es war keine Lüge, in diesem Sinne… Nervös war ich. Alans Reaktion auf mich war mir gänzlich unbekannt. So wie Jessy und Phil klangen, war er wohl nicht gut auf mich zusprechen. Doch beschäftigte mich andere Themen nun mal mehr. Jake… Da ich es schon mied mit meiner besten Freundin zusprechen, würde ich erst recht nicht ihrem Bruder meine Gefühlswelt offenlegen.   „Mach dir keine Sorgen.“, Phil sprach weiter mit sanfter Stimme. „Wenn dir unser inkompetenter Polizeichef blöd kommt, verweigerst du die Aussage.“, seine Stimme klang nun deutlich ernster. Ich musste ihn wohl mit einem verwirrten Blick angesehen haben. Deswegen fügte er noch hinzu: „Mein Anwalt meinte, es wäre unklug, wenn er von vornherein mitkommt. Es ist halt nur eine Zeugenaussage. Nicht, dass wir ihn noch unnötig verärgern. Sollte er aber versuchen, dir irgendeine Schuld zuzuweisen, kommt mein Anwalt sofort.“   Ich nickte als Zeichen, dass ich seine Worte verstanden hatte. Es herrschte einen Moment, eine unangenehme Stille zwischen uns. „Kennst du Nothing but Thieves ?”, fragte Phil enthusiastisch, wohl in der Hoffnung mich abzulenken. Ich schüttelte den Kopf. Während er auf dem Display, des Radios, seinen Musikordner durchforstet, sagte er: „Die Band könnte dir gefallen.“ Er lächelte mich an.   „Amsterdam – Nothing but Thieves“ stand auf dem Display. Gespannt lauschte ich der Musik. Phil hatte recht. Das Lied bzw. die Band traf genau meinen Musikgeschmack. Ich genoss die fünfzehn Minuten Autofahrt. Vor allem schienen wir wirklich die gleiche Art von Musik zu mögen. Wenn ich gewusst hätte, welchen unbekannten Schätze auf seinem USB-Stick waren, hätte ich Jessy die My-Chemical-Romance-Dauerschleife nicht angetan. Concrete Jungle von Bad Omens war eines dieser Schätze. Den Enthusiasmus in seinen Augen, als ich positiv auf diesen Song reagierte, konnte man nicht anders als süß bezeichnen.   Wir standen auf dem Parkplatz des Polizeireviers. Am liebsten hätte ich noch weitere Stunde damit verbracht, weitere Musikschätze zu entdecken. Doch Phils Anmerkung, ich sollte mich melden, sobald er mich abholen könnte, war die höflichste Art, mich rauszuwerfen.   „Mach ich.“, lächelte ich nervös. Aus zweierlei Gründe… Zum einen war da natürlich mein bevorstehendes Gespräch mit Alan. Zum anderen und das war viel wichtiger, wusste ich nicht, wie ich mich von Phil verabschieden sollte. Er hatte seine Chance genutzt, um mit mir zu flirten. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich hätte dies nicht erwidert. Allein schon, weil ich es zugelassen hatte, dass seine Hand über meinen Oberschenkel streichelte.   Die ganze Fahrt über…   Nur zum Schalten hatte er diese von mir genommen. Dann hatte ich noch verlegen, wie ein vorpubertärer Teenager gekichert, bei jeder zweideutigen Anspielung. Obwohl es schon mehr als eindeutig war, als er meinte, dass es auch gute Musik für den Geschlechtsakt sei. So gesehen, wenn man mal von meinem purpurroten Gesicht absah, hatte ich dem zugestimmt. Irgendwie… Zu mindestens hatte ich peinlich berührt genuschelt, dass er dies bezüglich recht hatte. Oh mein Gott!!! Hatte ich zugestimmt, mit Phil zu schlafen? Wollte ich das wirklich?   Phil war schon verdammt attraktiv. Außerdem schien er zu mindestens laut seinem Ruf einen großen Erfahrungsschatz aufzuweisen. Oder mit anderen Worten: Ich würde sicherlich auf meine Kosten kommen, wenn er mich über das Bettlaken scheuchte. Es würde bestimmt wild und leidenschaftlich werden. Verlegen bis ich mir auf die Unterlippe. Ich musste bei klaren Gedanken bleiben. „Manchmal würde ich gerne wissen, was in deinem süßen Kopf vorgeht.“, grinste Phil mich schelmisch an.   „Besser nicht.“, schoss es mir in dem Kopf. Zum Glück hatte ich ausnahmsweise mal vorher nachgedacht, bevor ich sprach. Wäre da nicht die verräterische Röte auf meinen Wangen gewesen. Phil lachte verführerisch auf.   „Viel Glück.“, sagte er und gab mit einem Kuss auf die Wange. Mein ganzer Körper erstarrte. Außer mein Herz, dass sich den ein oder anderen Freudensprung nicht nehmen ließ. „Danke…“,stammelte ich undeutlich. Mit einem peinlich berührten Blick auf den Boden griff ich nach dem Türöffner.   „Bis gleich, [MC]“, sagte er in einem charmanten Ton. Ohne etwas zu entgegnen, stieg ich mit mechanischen Bewegungen aus dem Auto. Als ich die Tür hinter mir schloss, hörte ich noch Phils verwegenes, verführerisches Lachen.   Irgendwie, auf unerklärlicherweise tat sich in mir der Gedanke auf, mich wirklich auf Phil einzulassen. Hatte ich nach dem ganzen Scheiß der letzten Monate nicht etwas Spaß verdient? Mit einfach mal verwöhnen lassen? Hatte ich nicht lange genug den Babysitter für die anderen gespielt? Sollte ich nicht endlich mal für meine Detektivarbeit entlohnt werden? Schließlich hatte ich Phil aus dem Gefängnis geholt ! Und er schien sich wohl mit etwas Bettsport bedanken zu wollen.   Es gab zwei Dinge dir mir nicht bewusst waren. Ich suchte verzweifelt nach einer Rechtfertigung für einen heißen One-Night-Stand mit Mr. Aurora. Es war wirklich nicht meine Art. So flüchtige Affären… Am liebsten würde ich auch sagen Bad-Boys an sich. Doch zu oft blieb ich mit gebrochenem Herzen zurück. Gerade weil diese Art von Männern sich im Normalfall herzlich wenig für jemanden Unscheinbarem wie mich interessieren. Genau das faszinierte mich an Phil Hawkins.   Er war das Lehrbuch Beispiels eines Bad Boys, eines Womanizers und er wollte mich! Langsam konnte ich seine Flirtversuche nicht leugnen. So offensichtlich und direkt, wie er vorging. So ganz anders als Jake… Seine Flirts waren deutlich subtiler. Es war doch gerade diese Art, weswegen ich diesem mysteriösen Hacker so verfallen war. Weswegen ich ihn so sehr liebte…   Dann war da Phil… Er wollte Spaß… Ich wollte… Nicht zwangsläufig eine neue Liebe finden. Das würde sowieso unmöglich werden. Einen Seelenverwandten gab es nur einmal. Doch das musste nicht bedeuten, gänzlich ohne Spaß bleiben zu müssen. Oder? Mit meinem eingeredeten Entschluss, mir eine heiße Liebesnacht mit dem noch heißeren Barkeeper zu verbringen, betrat ich das Polizeirevier.   Mein neugewonnenes Selbstvertrauen hielt nur, bis ich vor den Empfang trat. Der grimmige, aussehende Polizeibeamte blaffte mich an: „Was gibts?“ Dabei bekam ich einige Krümel seines Frühstücksbrötchen ab.   „…einen Termin bei Mr. Bloomgate.“,stammelte ich und hatte den Anfang des Satzes verschluckt. Der füllige Polizist musterte mich verächtlich. „Ich nehme an, [MC]“, sprach mich ein Mann in seinen Vierzigern an. Ich nickte. Er reichte mir seine Hand zur Begrüßung. „Alan.“, sagte er freundlich. Ich nahm diese Geste verunsichert an. Alan wirkte gar nicht so, wie man es mir angedroht hatte. Mit seinen grauengrünen Augen und dem vereinzelten graue Strähnen in seinem dunkelbraunen Haaren machten eher einen gütigen Eindruck. Auch wie er behutsam seine Hand auf meinen Rücken legte, um mich in das Gebäudeinnere zuleiten, war mehr fürsorglich als bedrohlich.   „Frank kannst du Karen bitten, uns Kaffee und Gebäck in Raum 102 zu bringen.“, sagte er sanft zu dem grimmigen Mann am Empfang. Diese erwiderte sein „Ja“ genauso unfreundlichen Ton, mit dem er auch mit mir gesprochen hatte. Alan musste wohl meinen irritierten Blick bemerkt haben. „Lassen Sie sich nicht von Frank irritieren. Die Frühdienste sind nicht so seins. Vor allem seit ihm das Baby seiner siebzehnjährigen Tochter nachts wach hält.“, erklärte mir Alan für meinen Geschmack mit zu vielen Informationen. Erleichtern darüber, dass Alan meinen verdutzten Gesichtsausdruck missinterpretiert hat, atmete ich aus. „Ich bin froh, dass sie endlich bereit sind, eine Aussage zu machen.“, ich war mir unsicher, ab er einfach nur das unangenehme Still unterbrechen wollte oder gegen meine zweimonatige Funkstille sticheln wollte. „Entschuldigen Sie.“ , murmelte ich schuldbewusst. „Mir ging es einfach nicht so gut.“ „Ihre Freundin Jessica Hawkins hatte mir bereits erzählt, dass Sie zunächst auch den Kontakt zu ihr und den anderen abgebrochen hatten.“ Zur Bestätigung nickte ich. „Das Ganze muss Sie stark mitgenommen haben, nicht wahr?“, sprach er fast schon in einer väterlichen Fürsorge. „Ja. Schon. Irgendwie.“ Meine Stimme war immer von Nervosität geprägt. Doch die Anspannung in meinem Körper ließ allmählich nach.   Alan öffnete die Tür zu Raum 102. Auch wenn er mich zügig in den Raum geleitete, konnte ich dennoch die Raumbeschriftung lesen. „Audio-Vernehmungsraum“ Alan weißte mir einen Stuhl zu, auf dem ich Platz nehmen sollte. Was ich auch so gleich tat. Es war so ganz anders als in meiner Vorstellung. Die Wände waren nicht in einem kalten weiß oder grau gehalten, sondern in einem warmen Dunkelgrün. Die Sitzgelegenheit waren keine unbequemen Holzstühle, sondern weiche Ledersessel in Schwarz. Auf dem Mahagonitisch stand ein Diktiergerät. Doch viel wichtiger war, dass ich keine verspiegelt Glaswand oder Ähnliches entdecken konnte. Es konnte uns tatsächlicher keiner beobachten.   „Ganz anders als in Ihrer Vorstellung, nicht wahr?“, lächelte er und ich nickte. „Also vorab.“, sagte er und setzte sich mir gegenüber. „Ich werde Ihre Aussage gleich mit dem Diktiergerät aufnehmen. Wundern Sie sich nicht, dass sich gleich noch einiges wiederholt von dem, was ich jetzt sage. So können wir vorab reden, ohne dass es offiziell festgehalten wird.“ Mit einem Nicken gab ich mein Verständnis zu verstehen. „Ich werde Ihnen nachher Ihre persönlichen Daten nennen und sie müssen mir diese bestätigen.“ Auch dieses Mal nickte ich. „Dann ist wichtig: Es handelt sich hierbei nur um eine Zeugenaussage. Sie werden hier zu keinen Zeitpunkt als Verdächtigte gehandhabt. Dennoch müssen oder besser sollten Sie nichts sagen, was Sie belastend könnte. Ich denke besonders in Ihrem Fall ist dies wichtig zu erwähnen. Kleinerer Delikte werden zwar zwangsläufig nicht geahndet. Jedoch größere Delikte, wie zum Beispiel das Hacken in einen Polizeiserver, werden schon geahndet.“ Neben dieser Aussage war da noch sein wissender Gesichtsausdruck. Beschämt blickte ich zu Boden und nuschelte: „Das war ich wirklich nicht.“   „Das war der Hacker aus ihrer Gruppe, nicht wahr?“ Geschockt blickte ich Alan an. Er erwartete jetzt wirklich, dass ich ihm dies bestätigte? Er erwartete jetzt nicht wirklich, dass ich Jake ans Messer liefern würde. Das konnte er vergessen!   Meine Angriffslust war geweckt! „Ich werde Ihnen nichts über den Hacker verraten!“, keifte ich ihn an. „Sein Fall überschreitet deutlich den Verantwortungsbereich eines so kleinen Polizeireviers wie dem unserem. Das habe ich ihn bereits gesagt…!“, sprach Alan in einem sanften, ruhigen Ton.   Ich wandte meinen Blick ab. „Genauso wie ich Ihnen bereits gesagt habe, dass es mich interessiert, wieso jemand wie er an so einem verhältnismäßigen kleinen Vermisstenfall Interesse zeigte.“, sprach Alan weiter, nachdem ich stumm blieb.   Genauso wie jetzt! „Wenn sie wüssten, in welchen Gegebenheit dieser Hacker alles verwickelt ist, würden Sie jetzt nicht schweigen.“, seine Stimme war immer noch ruhig.   Im Gegensatz zu meiner...   „Und, wie ich das würde!“, meinte ich in einem passiv-aggressiven Ton. „Ich würde ihn niemals verraten.“ „Sie wissen, dass sie gerade einen gesuchten Verbrecher schützen.“ „Das ist mir egal“, keifte ich und Tränen bildeten sich in meinen Augen. Das Letzte, was ich wollte, war mit Alan über Jake reden. Ich wollte eigentlich mit niemanden über Jake reden. Es gab ja auch niemanden, mit dem ich das wirklich konnte. Die anderen hatten ihn doch die ganze Zeit nur misstraut. Keiner hatte und würde je meine Gefühle verstehen. Alle würden doch nur heuchlerisch ihr Mitgefühl vorspielen.   „Es liegt mir fern, warum sie ihn so zwanghaft schützen wollen.“, versuchte Alan mich aus der Reserve zu locken. Dies ließ mich nur noch sturer werden. Ich war schon aufgesprungen und wollte den Raum verlassen. „[MC], ich habe Sie extra vor unserer offiziellen Vernehmung auf den Hacker angesprochen.“ Alan erreichte mit dieser Aussage sein Ziel. Ich blieb abrupt stehen. „Dieser ganze Fall… Ich möchte es einfach nur verstehen.“, sagte er ruhig. „Ich weiß selbst nicht viel über ihn.“, mein Blick senkte sich zum Boden, bevor ich mich umdrehte. „Er hatte seine Gründe Hannah zu retten…“, nuschelte ich, während meine Schuldgefühle mich erdrückten. Auch wenn Alan sich diese Information wohl selbst zusammenreimen konnte… Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit wusste er auch, dass Jake an jenem Abend in der Mine war. „Mehr bekomme ich nicht aus Ihnen heraus, nicht wahr?“ ,seine Stimme klang sanft. Ich nickte. „Egal, wie sehr ich Ihnen versichere, dass ich nichts gegen den Hacker unternehmen kann.“ Erneut nickte ich. „Dann werde ich dies akzeptieren müssen.“   Erleichterte atmete ich aus und setzte mich zurück auf meinen Platz. „Nur, falls sie eines Tages anders überlegen, können Sie mir auch mit mir in einem privaten Rahmen sprechen.“ Er ließ immer noch nicht locker… „Alan, bitte!“, flehte ich. „Ich wollte es Ihnen nur anbieten.“ „Ich versteh schon.“, seufzte ich.   „Dann gibt es noch etwas, was ich Ihnen sagen möchte, bevor wir angefangen.“, begann er weiterhin in einen ruhigen Ton. „Wenn Sie bei einer Sache unsicher sind, ob Sie etwas Bestimmtes erzählen können, geben Sie mir ein Handzeichen.“ Irritiert sah ich ihn an. „Dann können wir die Vernehmung unterbrechen“ „Und das geht so einfach?“, fragte ich skeptisch. „Lass Sie das mal meine Sorge sein.“, lächelte er mich freundlich an. „Es ist definitiv einfacher, als wenn etwas auf dem Band ist, dass Ihnen im Nachhinein Probleme bereitet.“ Jeder andere würde sich jetzt wohl in Sicherheit wiegen. Doch bei mir weckte es nur weiteres Misstrauen. „Warum sind Sie so nett?“, ich hob eine Augenbraue.   Im nächsten Moment verwandelte sich mein skeptischer Gesichtsausdruck in einen verwirrten. Alan hatte lauthals angefangen zu lachen.   „Auf Ihre Erklärung bin ich gespannt.“, meinte er weiterhin amüsiert. „Jessy und Phil meinten, Sie wären nicht gut auf mich zusprechen.“, ich machte eine kurze Sprechpause. Alan sollte die Chance haben, dem etwas entgegenzuwirken. Da er diese Gelegenheit nicht nutzte, sprach ich weiter. „Sie haben Jessy gedroht, mich ins Gefängnis zustecken, wenn ich mich hier nicht blicken lassen. Außerdem hat Phil gesagt, dass Sie den Termin eigentlich um 6 Uhr stattfinden lassen wollten. Nur im mich zu quälen.“ Diese mal gab ich Alan keine Chance, in meine Worte zu intervenieren. Wahrscheinlich hätte er dies auch nicht gewollt. Er betrachtete mich für einen Moment amüsiert, bevor er heiter sagte: „Also ich gebe zu, dass ich bei Ms. Hawkins ein wenig die Beherrschung verloren habe, was Sie angeht. Jedoch bezüglich Mr. Hawkins liegt ein Missverständnis vor.“ Verwirrt runzelte ich die Stirn. „Zu Mr. Hawkins habe ich lediglich gesagt. Dass es wohl in beiderlei in Interesse läge, den Termin frühestmöglich zu legen. Und ich wäre ab 6 Uhr für diesen erreichbar.“ Dieses Mal gab Alan mir die Chance, der Konversation etwas beizutragen.   Ich nickte und etwas der Verwirrung löste sich von meinem Gesicht. „Mr. Hawkins kann man wohl aufgrund der Umstände keinen Vorwurf machen, dass es zu diesem Missverständnis kam.“, sprach Alan meinen Gedankengang aus. „Und bezüglich Ms. Hawkins sollte ich mich entschuldigen. Jedoch hatte ich meine Drohung ausgesprochen, als ich noch nicht wusste, dass Sie sich auch bei Ihren Freunden nicht gemeldet haben.“   Dieser Aussage entgegnete ich mit einem beschämten Blick zur Seite. „Tut mir wirklich leid. Nur, dass alles-“ „Sie hatten bereits gesagt, dass es an Ihrer psychischen Verfassung lag.“, unterbrach mich Alan. „Außerdem war es nach den Informationen Ihrer Freunde doch relativ offensichtlich. Ich habe Ms. Hawkins daraufhin Ihre Adresse ausgehändigt, damit sie sich um Sie kümmern kann.“   Ich blinzelte verwirrt. „Sie haben sich Sorgen gemacht?“, fragte ich mit einigen Sekunden Verzögerung verdutzt. Mit einem Nicken bestätigte er: „Natürlich. Selbst für uns Beamte sind solche Fälle nicht immer leicht zu verkraften. Ich könnte Ihnen gerne die Nummer der psychologischen Praxis geben, die für solche Fälle spezialisiert sind.“   Mit einem Kopfschütteln lehnte ich ab. „Vielen Dank, aber seit Jessy da ist, geht es mir wieder gut. Ich stand halt einfach nur unter Schock.“ Die Krux an der Sache war, dass ich wirklich geglaubt, dass ich alles ohne professionelle Hilfe meine traumatischen Erfahrungen verarbeiten könnte. „Sind sie sicher?“, hakte Alan besorgt nach. „Ja, bin ich.“, lächelte ich ihn an. „Auch hier gilt, wenn Sie sich das anders überlegen, könnten Sie mich jederzeit kontaktieren.“ „Ich weiß“   Kapitel 6: Kapitel 6: :) ------------------------ Kapitel 6: :) Karen, eine junge fröhliche Frau Anfang dreißig hatte den bestellten Kaffee sowie das Gebäck gebracht. Das nicht zu knapp. Neben einer beträchtlichen Auswahl an Keksen gab es noch fünf Muffins. Drei mit Schokostückchen und zwei mit Blaubeeren. Mein leerer Magen dankte diesem Umstand sehr. Deswegen hatte ich mir sogleich einen der Schoko-Muffin genommen und aß ihn, während Alan meine persönlichen Daten vorlas.   Meinen Namen, mein Geburtsdatum, meine Adresse, all dies stimmte. Als Alan mit der Belehrung anfing, nippte, ich an meinem Kaffee. Zusagen, dass es der beste Kaffee sie, den ich je getrunken hätte, wäre übertrieben gewesen. Aber er kam ganz nah ran.   „Sie müssen sich jedoch nicht selbstbelasten. Haben Sie noch Fragen?“ „Ja, ich habe das verstanden.“, bestätigte ich und nippte erneut an meinen Kaffee. „Fangen wir doch am besten damit an, wie Sie in den Entführungsfall Hannah Donfort hineingeraten sind, [MC]. Sie sind ja nicht einmal aus Duskwood.“   Meine Augen hefteten sich an das große Diktiergerät und das schwarze Tonband, von der einen Spule auf die andere wanderte. „Thomas hat mich angeschrieben und einer Gruppe hinzugefügt.“ Immer noch sah ich Alan an. „Thomas sagte, er habe meine Nummer von Hannah bekommen.“ Ich griff mit zittriger Hand nach meinem Kaffee. „Nachdem sie schon entführt war.“ Die verschütteten Kaffeetropfen bildeten große Flecken auf meiner Bluse. „Haben Sie eine Erklärung, warum Ms. Donfort das getan hat?“   Automatisch schüttelte ich meinen Kopf.   „Für das Protokoll die Zeugin schüttelt den Kopf.“, Alans Stimme überraschte mich. „Entschuldigung, ich habe da nicht dran gedacht.“, sagte ich mit peinlich berührten Wangen „Schon in Ordnung. Ich kann so was immer noch, wie gerade es so in das Audio-Protokoll aufnehmen. Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen machen. Ihre Aussage dient lediglich, um die Anklage gegen Richy Rogers vorzubereiten.“   Alan hatte mir das schon gesagt, bevor wir mit der Vernehmung angefangen hatten. Es hatte eigentlich keinen Grund geben, diesem Sachverhalt gegenüber misstrauisch eingestellt zu sein. Doch das Alan es nun offiziell mit aufnahm, löste den größten Teil meiner Nervosität. „Haben Sie den eine Vermutung, warum Ms. Donfort ausgerechnet Ihre Nummer an Mr. Miller verschickt haben könnte?“ „Ich kenne Hannah wirklich nicht. Bis zur Nachricht von Thomas hatte ich nicht einmal etwas von Duskwood gehört.“ „Verständlich. Sie wohnen ja mehrere Hunderte Kilometer von unserem kleinen Duskwood entfernt. Jedoch werden sie doch sicherlich Gedanken über, nennen wir es mal, Ihre Rolle gemacht haben. Diese Theorien würde ich einfach gerne hören.“ Ich nahm mir den zweiten Schoko-Muffin und brauch mit ein Stück an. Jedoch hielt ich es in der Hand und steckte es mir nicht in den Mund. „Ja. Ich denke, dass Hannah sich einfach vertippt hat. Vielleicht wollte Sie Richys Nummer verschicken. Oder es war Jennifers Hanson alte Nummer. Aber wenn Sie den genauen Grund wissen wollen, sollte Sie Hannah fragen und nicht mich.“ „Das haben wir bereits getan. Jedoch hat Ms. Donfort uns versichert, sie hatte Ihre Nummer nicht versendet. Sie hatte ihr Handy bei dem Übergriff verloren.“   Das Muffin-Stück, dass ich gerade noch in meinen Fingern hatte, war mir in meinen Kaffee gefallen. Das heiße Gebräu müsste laut physikalischen Gesetzten auf meiner Haut brennen, doch ich spürte nichts. „Ms. Lilly Donfort hatte in Ihrem Video einen Mann erwähnt. Können Sie sich vorstellen, dass er Sie in den integriert hat?“ „Nein.“, sagte ich mit einem heftigen Kopfschütteln. „Er wollte nur helfen.“ Ich ließ mir nicht anmerken, wie sauer ich gerade war. Vor Beginn des offiziellen Teils hatte ich noch klargestellt, dass ich nicht über Jake reden wollen würde. Jetzt war ich gezwungen, mein eigenes Herz raus zerreißen. Auch wenn ich bedacht war, nur positiv und möglichst wenig über ihn preiszugeben, fühlte ich mich wie eine Verräterin. „Aber die Möglichkeit hätte er? Ihre Nummer zu versenden und sie anschließend wieder zu löschen.“ „Alan…“, flehte ich. „[MC], bitte antworten Sie auf meine Frage.“   „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich schon. Aber ich wüsste nicht, warum. Wir kannten uns auch nicht.“ Der Stich in meiner Brust war unerträglich. Nicht nur, dass ich mich von Alan verrate fühlte, wuchsen zum ersten Mal wirklich Zweifel in mir. Meine Nummer im Nachhinein aus Thomas Handy löschen konnte doch nur Jake gewesen sein. Klar hatte die anderen so was vermutet und mich darauf angesprochen. Doch da konnte ich diesen Gedanken abschmettern, weil ich das wahre Gesicht hinter der Legende nicht kannte. Richy… Ich wollte nicht sagen, dass er computertechnisch nicht begabt war. Nur war er nun mal Automechaniker und kein Hacker. Letzteres war Jakes Job. Doch hieß das gleich, dass er mich in die Gruppe einschleuste? Ich als sein persönlicher Spion… Die ganzen Gefühle nur vorgespielte, um mich bei Laune zu halten. Irgendwie konnte, eher wollte ich mir das nicht vorstellen. Obwohl es rein über das geschriebene Wort leicht war zu schauspielern. Hatte er mir nicht eins erzählt er könnte so keine Emotionen lesen? Und tat es doch jedes Mal bei mir… Außerdem würde es erklären, warum er seit zwei Monaten verschwunden war. Wenn er einfach nur verschwunden war…. Dann war ich wohl wirklich nur eine Bauernfigur auf seinem Schachbrett. Rein von der Logik gesehen, würde es Sinn ergeben. Jake wollte Hannah retten. Um jeden Preis… Selbst war er nicht in der Lage gewesen, sich in der Gruppe einzubringen.   Jedoch emotional gesehen… Er war doch immer darauf bedacht, mich zu beschützen. Doch nicht etwa, weil wusste, wie unschuldig ich war… Nein! Ich wollte das nicht glauben… Nicht einmal darüber nachdenken…. Das würde Jake nicht tun! Oder etwa doch?!   „Also sehen Sie kein Motiv diesbezüglich bei diesem Mann.“, holte Alan mich ins Hier und Jetzt. „Genau.“, bestätigte ich. „Sie wissen nichts über diesen Mann, habe ich das richtig verstanden?“, meinte er in einer merkwürdigen Betonung. „Ja…?“, antwortete ich und versuchte meine Unsicherheit zu verstecken. „Dann macht es auch keinen Sinn, Sie weiterhin bezüglich des Hackers zu befragen.“, er zwinkerte mir zu und ich starrte ihn mit weitgeöffneten Mund an. Natürlich musste er Jake erwähnen… Das Video von Lilly hatte in kurzer Zeit über 4000 Aufrufe gehabt. So viele Menschen wussten mindestens, dass neben mir noch eine ausstehende Person in den Fall verwickelt hatte. Ob Alan mich vorgewarnt hätte, wenn ich nicht so auf stur geschalten hätte? „Danke.“, formte meine Lippen tonlos und Alan nickte mir vielsagend zu.   „Sie haben, nachdem Thomas Miller Sie kontaktiert hat, beschlossen zu helfen? Das konnte ich Ihren vorangegangen Worten richtig entnehmen?“, lenkte Alan die Vernehmung wieder in die Richtung meiner Rolle der Geschichte. „Genau. Beziehungsweise haben mich die anderen darum gebeten. Sie hatten endlich wieder einen Strohhalm, an den sie klammern konnten. Auch konnte ich Thomas Angst verstehen, dass, wenn er mit meiner Nummer zu Polizei geht, sich noch verdächtiger macht. Also verdächtiger, als dass es der Lebensgefährte ohnehin schon ist.“ „Und Sie hatten keine Angst ins Visier der Ermittlungen zugeraten?“ „Nein, warum sollte ich auch. Ich hatte ja nichts damit zu tun. Ich kannte Hannah nicht. Ich kannte Duskwood nicht. Ich habe kein Motiv und wahrscheinlich hätte ich auch ein Alibi gehabt. Einfach, weil ich so weit weg war. Ich hätte es ja gar nicht schaffen können. Es hätte mehr danach ausgesehen, dass Thomas mit meiner Nummer den Verdacht von sich ablenken wollte. Das hätte ihn zu mindestens ja schlussendlich nur noch verdächtiger gemacht.“   Alan lachte auf. „Sie haben eine interessante Denkweise. Schon einmal über eine Karriere im Fachbereich der Kriminalistik nachgedacht?“ Das Kompliment hinterließ auf meinen Wangen einen roséfarbenen Schimmer. „Danke…Aber auf den Schluss wäre wohl jeder gekommen. Außerdem zeigen die ganzen True-Crime-Doku, dass es oft der Partner ist.“ Ich lächelte unsicher, während Alan herzhaft lachte. „Na ja. Sie haben zwei Fälle gelöst. Das schaffen die wenigstens. Vor allem dann noch einen Cold Case.“ „Beide Sachen gehörten ja zusammen. Irgendwie.“, entgegnete ich schüchtern.   „Jemand wie Sie wird definitiv gebraucht.“, meinte er freundlich. „Aber genug geplaudert. Wie sind Sie den zu der Verbindung von Jennifer Hansons tödlichen Unfall auf die Entführung von Hannah Donfort gekommen?“ Ich seufzte. „Puh! Die Frage kann ich nicht so einfach beantworten. Das ist ja eigentlich die ganze Geschichte.“ „Das war mir bewusst. Wir haben Zeit, fangen Sie einfach an. Wenn ich dann Frage habe, werde ich diese zwischendurch stellen.“ Ich nickte. „Also unsere erste Spur war, dass Alfie, also der Sohn von Miss Walter gesehen hat, dass Hannah vom Mann ohne Gesicht in den Wald gelockt wurde. Also er hat das Cleo erzählt und Cleo dann mir.“ „Und Sie haben einer alten Legende glauben geschenkt?“, fragte Alan verdutzt. „Na ja, es war die erste Spur, die wir hatten. Und abwegig ist ja nicht, dass ein Täter sein Verbrechen hinter eine Legende verstecken will. Oder wie in Richys Fall etwas damit ausdrücken will. Also das Hannah Schuld an etwas hatte. Und so“   Damit begann ich Alan die Geschehnisse aus meiner Sicht zu erzählen. Ich begann bei der Recherche zum „Mann ohne Gesicht“. Genauso von den Drohanrufen bis hin zu den Angriffen auf Jessy. Das uns klar wurde, dass der Entführer mit der Legende in Verbindung gebracht werden wollte. Genauso wie wir auf die Verbindung zwischen Hannah und Jennifer kamen. Obwohl ich gewisse Teile ausließ. Also die Teile, die Jake betrafen und mir zusätzlichen Ärger ersparten. Beispielweise sollte Alan besser nicht wissen, dass ich seine Sprachnotizen von Amy Wohnungsbegehung kannte. Ich erzählte, wie die anderen beschlossen, hatten in der Hütte im Wald unterzutauchen. Außerdem ließ ich nicht unerwähnt, wie Richy, nachdem er uns den gefakten Livestream geschickt hatte, verkleidet in der Hütte auftauchte. Dass Dan nur auf ihn geschossen hatte, weil er dabei war Jessy anzugreifen. Ich beteuerte, dass Dan nur geschossen hatte, da er uns gedroht hatte, dass er uns alle umbringen wollen würde. Ich erwähnte meine Schlussfolgerung, dass Richy deswegen seinen Plan ändern musste. Mit seiner Schussverletzung konnte er uns nicht mehr den Helden vorspielen. Meine Vermutung, dass Richy mich zu Grimrock locken wollte, nur um mir seine Tat zugestehen, teilte ich ebenso mit. Nur hatte ich schließlich Angst dorthin zukommen, da wir zu diesem Zeitpunkt noch von Michael Hanson als Täter ausgingen. Schlussendlich erzählte ich, wie Richy mir alles am Telefon gestanden hatte.   „Und Sie wollen wirklich kein Praktikum bei uns machen.“, versuchte Alan mich aufzuheitern, nachdem der offizielle Teil beendet war. Ich lächelte ihn schief an. Es wäre unfair zu behaupten, er wäre nicht nett zu mir gewesen. Ich war mir relativ sicher, dass er ein paar Mal interveniert hatte, damit ich mich nicht in Teufelsküche brachte. Außerdem schien er wirklich beeindruckt, von unseren Ermittlungsergebnissen zu sein. Er hatte mir mehrmals einen Praktikumsplatz angeboten.   „Ich kann es mir ja mal überlegen.“ Nervös nippte ich an den kalten Resten meines Kaffees. Seitdem unser Gespräch zu den Ereignissen vom Grimrock Wasserfall kamen, brannte diese Frage auf meine Lippe. Hatte Alan mitbekommen, was mit Jake an diesem Abend passiert war? Laut Jessy gab es ja keine Leichen. Aber vielleicht war dies nur die offizielle Information. „Alan? Darf ich Sie etwas fragen?“, gab ich meinen inneren Konflikt auf.   Die Neugierde war zu groß! Außerdem hatte Alan mir den Eindruck vermittelt, dass ich ihm vertrauen konnte. Mal davon ab. Dass er wusste, dass Jake an diesem Abend in den Eisenbruchminen war. „Sie haben nicht mitbekommen, was mit dem Hacker passiert ist. Also ob ihre Kollegen von FBI ihn festgenommen haben.“ Ich stammelte meine Worte nur während mein Gesicht rot glühte.   Erst sah mich Alan mich irritiert an, bevor er sanft lächelte. „[MC], es tut mir wirklich leid.“ Es fühlte sich an, als hätte mein Herz abrupt aufgehört zuschlagen. Dieser Anfang ließ mich meine Frage so gleich bereuen. Mein Gesprächspartner hatte wohl gemerkt, dass mir seine Antwort Angst bereitete. Weswegen er schnell hinterher schob: „Leider habe ich dies bezüglich nichts mitbekommen. Der ganze Trubel am Grimrock, zu sagen, es wäre chaotisch gewesen, wäre untertrieben. Und ich musste mich zusätzlich um Ms. Donfort kümmern.“   „Ich verstehe“, sagte ich und versuchte mein Gefühlschaos zu unterdrücken. Natürlich war ich enttäuscht, da ich immer noch keine Antwort auf Jakes verbleib hatte. Aber auch weil Alan wohl der Einzige war, der mir noch eine Antwort hätte geben können. Jedoch keimte wieder Hoffnung in mir auf. Vielleicht hatte das erwähnte Chaos Jake geholfen, unbescholten zu entkommen. Vielleicht gab es ja wirklich noch eine Chance, dass er lebte und eines Tages zu mir zurückkommen würde. Dieser Hoffnungsschimmer ließ mein Herz schneller schlagen.   „Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr sagen kann.“, fügte Alan noch hinzu. „Passt schon.“, lächelte ich. Damit war unser Gespräch eigentlich beendet. Wir redeten zwar noch, als Alan mich wieder zum Eingang brachte. Doch das war mehr belangloser Smalltalk und weitere Versuch, mir einen Praktikumsplatz bei der Polizei anzudrehen. Er verabschiedete sich mit den Worten, dass ich mich melden sollte, falls mir noch etwas einfallen sollte.   Als ich vor dem Polizeipräsidium stand, schrieb ich Phil, dass er mich abholen konnte. Überrascht stellte ich fest, dass wir mittlerweile schon fast 11:30 hatten. Ich hätte nicht erwartet, dass es schon so spät war. Es fühlte sich doch maximal an, als wären eineinhalb Stunden vergangen. Mit dem Gedanken, dass es mittlerweile fast schon Zeit für das Mittagessen war, find mein Magen anknurren. Ich grummelte. Hätte ich doch heute Morgen doch nur vernünftig gefrühstückt…. Na ja, ändern konnte ich das jetzt auch nicht.   Meine Augen erspähten einen freien Fahrradständer, den ich als Sitzgelegenheit missbrauchen konnte. Um mir die Wartezeit zu versüßen, suchte ich auf meinem Smartphone nach einem Spiel. Candy Crush… Daraufhin fiel meine Wahl. Die erste Runde schaffte ich ohne große Probleme. Wenn Cloud hacken, doch so einfach gewesen wäre… Diesen Gedanken warf jedoch wieder, als ich das nächste Level verlor. Wahrscheinlich hätten sich die Ermittlungen nur unnötig langgezogen. Genervt startete ich das Level erneut, nachdem ich schon das dritte Leben verloren.   „Hallo [MC] :)“ Mein Herzschlag setzte abrupt aus, als diese Nachrichte bei mir aufpoppte. Dieser Smiley… Es gab doch nur eine Person, der diese altmodischen Dinger verwendete…   Jake…? Kapitel 7: Kapitel 7: Marktplatz -------------------------------- Kapitel 7: Marktplatz   „Ich bin in 10 Minuten bei dir.“ Im ersten Moment irritiert mich die zweite Nachricht. Doch dann öffnete ich meinen Messenger und sah, wer mir wirklich geschrieben hatte. Phil… Es gab zwei Menschen in meinem Leben, die keine Emojis, sondern Smileys verwendeten. Nur ich suchte so verzweifelt nach einem Hinweis auf Jake, dass ich alle anderen Eventualitäten ausblendete.   „Danke.“, antwortete ich und versuchte mein gebrochenes Herz wieder zusammenzusetzten. Heute Morgen noch an eine flüchtige Affäre mit Mr. Aurora in Erwägung gezogen hatte. Jetzt fühlte ich mich doch einfach nur so allein und verlassen. Das Schlimme daran war, dass obwohl mir bewusst wurde, dass ich damit meinen Freund betrügen würde, diesen Gedanken nicht ganz abtun konnte. Doch ich hoffte darauf, dass mein moralischer Kompass mir den richtigen Weg weisen würde und nicht die Leere und meine Einsamkeit die Oberhand gewinnen würde.   Ich sah, wie Phils Van auf den Parkplatz bog. Mit einem Sprung stand ich auf meinen Füßen und machte mich auf den Weg zum geparkten Fahrzeug. Es wunderte mich, dass Phil ausstieg. Doch dann sah ich, dass er sich eine Zigarette ansteckte. „Möchtest du auch eine?“, fragte Phil mich, als er meinen Blick bemerkte. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Ich rauche nicht.“ „Besser ist es.“, grinste Phil mich an. „Es ist nur eine teure, schlechte Angewohnheit.   Ich beobachte, wie er an seiner Zigarette zog und den Rauch wieder ausatmete. Ich biss mir auf meine Unterlippe. Verdammt! Warum war Phil so attraktiv! Diese dumme Angewohnheit gab ihn definitiv noch extra Punkte. Nein, ich durfte nicht… Ich hatte doch Jake! Irgendwie… Eher vielleicht… Eventuell… Wenn er beschließt, doch noch zu mir zurückkommen würde…   Ich bemerkte Phils Blick. Sein schelmische Grinsen… Er wusste genau, was ich dachte. Automatisch erröteten meine Wangen. Schon wieder…   So ein Mist! Dass ich sein verruchtes Kichern vernahm, machte meine Situation nur noch schlimmer. Phil schnipste den Filter seiner Zigarette auf den Boden. Mit seinen rechten, schwarzen Converse-Chuck trat er die Glut aus. „Hast du noch Lust eine Kleinigkeit zu essen?“, fragte er mich. Mein leerer Magen überzeugte meinen Kopf zunicken. „Perfekt“, in Phils Stimme lag etwas Verruchtes. Oder ich wollte es so hören…   Ich konnte es nicht wirklich beschreiben. Mit niemand anderem als mit Jake wollte ich zusammen sein. Doch irgendwie brauchte mein Ego zurzeit die Aufmerksamkeit eines Mannes. Vielleicht verdrehten mein Gehirn deswegen Tatsachen.   Meine Augen beobachten mit verschwommen Blick die Strecke, an der wir vorbeifuhren. Verzweifelt versuchte ich meine chaotischen Gedanken zu sortieren. Besser gesagt suchte ich nach Hinweisen darauf, dass ich mich mir seine Flirts nur einbildete.   Der einfachste Weg, mir meine Fluchtgedanken aus der Einsamkeit zu verbieten. Doch Phil machte mir nicht besonders leicht, diese Illusion aufzubauen. Genauso wie heute Morgen ruhte seine Hand auf meinen Oberschenkeln. Noch bevor ich mir glaubhaft versichern konnte, dass er diese nur für meine Beruhigung gemacht hatte. Wie sollte ich der Versuchung widerstehen, wenn sie tatsächlich Existenz war? Ich hasste mich für diesen Gedanken. Es wurde auch nicht besser, als er mir meinen Döner spendierte mit den Worten, eine schöne Frau sollte in Begleitung eines Mannes nicht für ihr Essen bezahlen. Auch das wir mit unserem Essen durch die kleine Innenstadt liefen, half mit keineswegs.   Neben meiner Unsicherheit, ob es sich um ein Date handelte oder nicht, kam noch das Gefühl unter Beobachtung zustehen hinzu. Jedoch gab es eindeutig Indizien, dass ich mir dieses Gefühl nur einbildete. Die Blicke, die ich in meinem Nacken spürte, kamen von überall her. Selbst aus der Schale mit den Tomaten-Gurken-Salat. Irgendwie war da der Wunsch, Jake würde mich sehen, wie ich mit seinem Kontrahenten so heiter durch die Straßen zog. Ich war ein furchtbarere Mensch…. Da wollte ich doch seine Eifersucht provozieren nur um mir Genugtuung zu verschaffen. Meine Strafe dafür, dass er mich mit seiner Abwesenheit strafte. Es gab einen Grund dafür, das wusste ich… Er würde mir das nicht einfach antun! Und ich…. Warum war ich nur so ein furchtbarer Mensch…?   „Phil können wir langsam zu Jessy fahren?“, ich hörte den leidenden Ton in meiner Stimme, weswegen ich mich nicht über Phils irritierten Blick wunderte. „Das bei Alan war anstrengend. Ich will mich noch ein wenig ausruhen. Bevor es heute losgeht. Und so.“, wieder einmal war mir diese Lüge zu schnell eingefallen. Eigentlich zu schnell… Ich war einfach nur furchtbar…   Zu meiner Verwunderung schaute Phil zuerst auf seine Armbanduhr, bevor er mir antwortete: „Ja, geht in Ordnung.“ Seiner Stimmlage konnte ich nicht entnehmen, ob Enttäuschung darin lag. Auf jeden Fall wirkte es so, als hätte er meine Lüge geschluckt und ahnte nicht, dass ich einfach von ihm wegwollte. Ich saß schon bereit zu Abfahrt auf dem Beifahrersitz, während Phil sich noch eine Zigarette gönnte. Der Zeigefinger und Mittelfinger seiner linken Hand, dazwischen die Zigarette, bewegten sich von seinem Mund weg, gefolgt von dem Rauch, den er ausatmete. Sein Blick war jedoch auf seine rechte Hand gerichtet. Er steckte seine Zigarette wieder zwischen seine Lippen. Dieses Mal brauchte er seine linke Hand, um das Smartphone in seiner rechten Hand zu bedienen.   Auch auf dieser Autofahrt hatte er seine Hand wieder auf meine Oberschenkel gelegt. Außerdem redete er, nein, preiste er die Aurora an. Dabei betonte er des Öfteren wie sehr er sich freute, dass ich heute Abend kommen würde. Wahrscheinlich dank seiner Euphorie bemerkte er nicht, dass ich ihm nur mit einem gefakten Lächeln ansah. Die Vereinbarung, dass die Gruppe und ich den heutigen Abend in der Bar verbringen würde, hatte ich komplett verdrängt.   Phil und ich in der Kombination mit Alkohol konnte nur schief gehen. Ein Vorteil war, dass ich noch genug Zeit hatte mir eine plausible Ausrede, weswegen ich heute Abend keinen Alkohol trinken würde, würde mir bestimmt einfallen. Etwas schade, wenn ich an die gratis Drinks dachte. Wann hatte man schon mal so eine Chance…   Phil stellte den Motor ab. Nach einer kurzen Ratlosigkeit registrierte ich das wir schon bei Jessys Wohnung angekommen waren. Den Moment meiner Verwirrung nutzte ich er zum Aussteigen und die Beifahrertür zu öffnen. Phil hielt mir seine Hand hin, um mir den Ausstieg zu erleichtern.   „Unser kleines Date hat mir gefallen.“, meinte er mit sanfter Stimme. Automatisch nickte ich zustimmend. Ein kurzen Moment bekam ich ein schlechtes Gewissen. Was wenn Phil sich doch Hoffnung auf etwas Ernsteres machte? Schließlich war ihm die Existenz eines gewissen Hackers nicht bekannt. Ich öffnete meinen Mund, schloss ihn dennoch gleich wieder. Nicht aus dem Grund, da ich mir noch keine Worte zurechtgelegt hatte. Sondern weil der rettende Gedanke gerade noch rechtzeitig kam. Warum sollte gerade jemand wie Phil an mir ernsthaftes Interesse haben? Wirklich in seiner Liga spielte ich nicht. Damit wollte ich nicht sagen, dass ich hässlich war. Mein Attraktivitätslevel lag eher im durchschnittlichen Bereich. Dagegen war Phil bei dieser Skala eher auf dem Niveau „Anwärter für sexiest man alive“.Dann war da doch noch sein Ruf. Ein paar schmeichelnde Worte und Gesten und er konnte sich sicher sein: Jemand wie ich war eine leichte Kerbe in seinem Bettpfosten. Ich hätte mich doch nur lächerlich gemacht, hätte ich diesbezüglich etwas gesagt.   „Bis heute Abend, [MC]“, sein flirtender Ton überraschte mich keineswegs. In meine Gedanken hatte ich seine Masche doch längst durchschaut. Doch dann spürte ich flüchtig seine Lippen auf den meinen. Mein Körper fühlte sich an, als hätte mich der Zauber „Petificus Totalus“ getroffen. Nur im Gegenteil zu Neville Longbottom fiel ich nicht unsanft auf den Boden. Stattdessen, neben meinem versteinerten Körper, war mein Gesicht bordeauxrot angelaufen.   „Du bist wirklich eine einzigartige Frau, [MC]“, die Betonung, wie ernst er diese Worte meinte, überhörte ich bewusst. Ich wollte nicht, dass es Phil wirklich ernst mit mir meinte. Warum fing die Männerwelt den ausgerechnet jetzt an, sich für mich zu interessieren? „Danke“, quiekte ich in einer hohen Stimmenlage. „Ich freu mich auf heute Abend.“, ich konnte nicht erklären, warum diese Worte aus meinem Mund kamen. Meine ungewöhnliche schwärmende Stimme hatte ich nie von mir gehört. Dieses verruchte Lächeln auf seinen Lippen ließ mein Herz höherschlagen. Mein Vorhaben, an diesem Abend keinen Alkohol zu mir zunehmen, war vergessen. Eigentlich hatte Phils Kuss alle meine guten Vorsätze über Bord geworfen.   Ich stand auch noch ein paar Minuten nach dem Phil abgefahren war, verdattert da. Hatte er tatsächlich noch gesagt, dass er es schade findet, nicht mit mir in einem Bett liegen zu können? Ich meine so, wie er mich angesehen hatte, wie nah er mir war, die Art, wie er es mir ins Ohr geflüstert hat, dass er nicht kuscheln bei einem Mittagschlaf meinte. Das musste ich mir eingebildet haben! Es durfte nicht anders sein.   Wahrscheinlich hatte mein kaputtes Gehirn die Information, dass er auch noch einen Mittagschlaf halten würde, falsch verarbeitet. So hatte er doch während der Fahrt noch erwähnt, dass er trotz regulärem Arbeitswochentag nie wusste, wie lange die Nacht werden würde. Die Frage, die im Raum stand, war nicht, warum er trotz dieser schlechten Arbeitsbedingungen so von seinen Job schwärmte. Sondern warum Phil, nachdem ich ein verwirrtes „Warum nicht.“ von mir gegeben hatte, mich so verführerisch angegrinst hatte. Nur um mir dann ins Ohr zu flüstern, dass er leider jetzt gehen müsste. Außerdem hatte er dabei noch erwähnt, dass andere Aktivitäten mit mir im Bett bevorzugte. Genauso wie sein Angebot, diese Aktivität in der heutigen Nacht zu vollziehen. Dabei ließ er nicht außer Acht, dass sich seine Wohnung über der Aurora befand.   Und dann… Der zweite Kuss widersprach auch meiner Theorie meiner verdrehten Wahrnehmung. Oh mein Gott! Ich hatte diesen Kuss erwidert! Wie konnte das passieren?!   Mein Zeigefinger strich über meine Lippen. Im nächsten Moment war der Nagel besagten Fingers zwischen meine Schneidezähne. Nervös versuchte ich die letzten Ereignisse mit Phil zu rekonstruieren. Seine Hand an meiner Hüfte. Nur wenige Sekunden bevor seine Lippen die meine erneut berührt hatten. Seine Hüfte gegen meine gepresst. Dafür mein Rücken, welcher an die Hauswand gepresst wurde. Dann seine Lippen, die sich immer wieder sehnsüchtig auf meine drückten. Und dann die meinen, die hungrig seine forderten. Seine Zunge… Ach du Scheiße… War in diesem Kuss wirklich unsere Zungen im Spiel? Ich hatte meinen Zeigefingernagel gegen den meines Daumens getauscht. Bevor ich mir erlaubt hatte, meine Gedanken weiter zu verfolgen, biss ich ein Stück meines Nagels ab. Ich war es gewesen… Meine Zunge hatte den Einlass in seinen Mund gefordert. Was hatte ich getan? Wie konnte ich das tun?   Nervös blickte ich mich um. Jake durfte das nicht gesehen haben! Bitte nicht… Meine Kopfbewegungen wurden immer panischer, als ich niemanden erblickte. Ich konnte diese neugewonnene Erkenntnis nicht einsortieren. Bedeutete, dass er uns gesehen hatte und mit seinem gebrochenen Herzen die Flucht ergriffen hatte. Für immer… Oder hatte ich wirklich so viel Glück und er hatte uns nicht gesehen. Das passte doch so gar nicht zu meinem Leben. Sonst liebte das Schicksal es doch mir jeden denkbaren Streich zu spielen. Ein zwei Monate vermisster Jake tauchte genau in diesem Moment in meiner Nähe auf. Das wäre doch so typisch mein Leben… Jedoch in Betracht der mathematischen Wahrscheinlichkeit lag dies doch eher im Bereich des Unmöglichen. Dennoch wurde kein Glimmen der Hoffnung in meinem Herzen ausgelöst. Zu groß war die Angst, die Liebe meines Lebens konnte diesen kleine Moment der Schwäche gesehen haben.   Tiefseufzend setzte ich mich auf die Treppe des Hausflurs, bewusst an den linken Rand. Schließlich stand die Haustür sperrangelweit offen. Da lag die Vermutung nah, dass einer von Jessy Nachbarn jeden Moment durch den Flur kommen könnte. Beispielweise, um den Hausmüll rauszubringen oder mehrere Etappen des Supermarkt-Einkaufes in die Wohnung zutragen.   Zittrig fischte ich mein Smartphone aus meiner Hosentasche. Fast wie von Geisterhand öffnete sich unser Chat. Die drei magischen Worte gaben mit die Ruhe, die mein aufgewühltes Gemüt brauchte. Ich zog den Sauerstoff durch die Nase ein. Durch meinen geöffneten Mund entließ ich die überschüssige Luft wieder.   Mein Finger glitt über die Tastatur. Ich tippte seinen Namen mit einem Fragezeichen. Doch bevor ich die Nachricht abschickt, löschte ich sie wieder. „Du fehlst mir.“, auch diese Nachricht landete im Nirwana, bevor sie sich auf die Reise zu ihrem Empfänger aufnehmen konnte. Es brachte doch nichts. Es gab kein Indiz darauf, dass er sich bei mir melden würde. Sein nicht-vorhandenes Lebenszeichen musste einen Grund haben. Egal welchen… Es gab seinerseits keine Veranlassung, jetzt auf meine Nachricht zu reagieren. Vor allem nicht, wenn er das mit angesehen hatte. Eine positive Sache hätte es… Es würde bedeuten, dass er lebte. Dieser Gedanke machte mein Herz für einen winzigen Moment leichter. Bis meine Gedanken an den Pfad einschlugen, dass es kaum Anhaltspunkte für sein Überleben gaben. Mit einem Schlucken erlaubte ich es mir nicht, dieser Vermutung weiter nachzugehen. Es wäre definitiv besser, er hätte Phil und mich gesehen. Besser als sein Tod…   Ich rappelte mich auf. Es wurde Zeit, endlich Jessys Wohnung zu betreten. Sie wartete bestimmt schon sehnsüchtig auf meine Ankunft. Wir wollten doch am heutigen Tag noch die luxuriöse Hütte im Wald beziehen. Es lag durchaus im Bereich des Möglichen, das die anderen schon dort auf uns warteten.   Ich blickte grundlos aus dem kleinen Flurfenster. Meine Augen erspähten die hohen Bäume des Waldes. Zugegebener Maßen lag dies nicht gerade am Zufall. Duskwood machte seinem Namen alle Ehre. Dieses kleine Städtchen war von mehrere Hektar Wald umrandet. Neben der Frage, wie oft die Stadt in das angrenzende Waldgebiet passte, fragte ich mich, wo genau sich der Grimrock-Wasserfall befand. Eine Erklärung, warum ich auf diesen Gedanken kam, hatte ich nicht.   Sowie aus einem Samen in der Erde eine Pflanze wuchs, so wuchs aus diesem Gedanken eine Idee. Ich könnte mich heute Abend aus der Aurora schleichen und zum Grimrock gehen. Zwei Fliegen mit einer Klappe würde ich schlagen. Als aller Erstes konnte ich dem sexy Barkeeper aus dem Weg gehen. Dann braucht ich mit auch keine weiteren Szenarien überlegen, wie es zwischen uns weiter gehen würde. Vor allem bräuchte ich kein schlechtes Gewissen für diverse Hoffnungen haben. Vor allem wenn ich mir die Möglichkeit auf Bettsport selber nahm. Der andere Vorteil bestand darin, dass ich meine alten Detektivtätigkeiten wiederaufnehmen würde und in den Eisenbruchminen nach meinen eigenen Spuren suchen.   Vielleicht würde ich tatsächlich Anhaltspunkte über Jakes Verbleib finden.   Mein Herz stolperte wegen der aufkommenden Euphorie. Vielleicht würde ich endlich Antworten erhalten… Mein Plan motivierte mich, meinen Weg zur Wohnung meiner besten Freundin fortzuführen. Nur um am Ziel meiner Reise wieder ein Wechselbad der Gefühle zu erleben.   Die weiße Wohnungstür war einen kleinen Spalt geöffnet. Kalter Schweiß bildete sich auf meiner Haut.   Das Zeichen des Raben war doch noch das Alte? Ich hatte es doch gestern noch gesehen?   Meine zittrige Hand griff zur Türklinke. Es machte doch keinen Sinn, dass der Mann ohne Gesicht wieder zurück war. Richy war laut Jessy Aussage in der Psychiatrie. Außerdem war sein Selbstmordversuch doch ein eindeutiges Zeichen. Nein, der Mann ohne Gesicht würde nicht zurückkehren… Konnte nicht… Durfte nicht…   Doch warum war die Wohnungstür offen? Ich hatte keine Menschenseele gesehen… Was, wenn jemand anders im Schutz des Mantels der alten Legende Jessy etwas angetan hatte. Was, wenn ich sie wieder nicht beschützen konnte…. Was, wenn es wieder meine Schuld war…. Mein Magen schmerzte vor Angst.   Das Knarren der Tür hallte in meinen Ohren, als ich sie öffnete. Mein Herz blieb stehen, als ich die ungewöhnlich dunkle Wohnung betrat.   Hast… du… Angst? Kapitel 8: Kapitel 8: Hast du Angst? ------------------------------------ Kapitel 8: Hast du Angst?   „Überraschung“   Mehrere Stimmen hallten gleichzeitig im Raum. So grell und so plötzlicher, wie ein Blitz im dunklen Nachthimmel, wurde das Licht angeschaltet. Meine Augen wurden ganz automatisch zusammengekniffen. Es fühlte sich an als hätte mein Herz aufgehört zuschlagen. Nach einigen Sekunden der Orientierungslosigkeit erkannte ich ihre breitgrinsenden Gesichter.   Hast du Angst?   Cleo stand mit Jessy vor den Anderen. Beide präsentierten in ihren Händen ein silbernes Tablett, auf dem sich ein quadratischer Schokosahnekuchen befand. Nah zu perfekt war die Sahne glattgestrichen und die kleinen Sahnehäufchen zierten den Rand in einer exzellenten Symmetrie. Kunterbunte Zuckerbuchstaben bildeten die Worte „Willkommen in Duskwood.“ Jedes Wort war eine eigene Reihe gewidmet. Es wirkte nicht so als wäre dieser Kuchen in Handarbeit gefertigt worden. Dennoch wusste ich, dass es so war. Schließlich hatte ich Cleos Fotos des Bearbeitungsprozess im Gruppenchat gesendet.   Hast du Angst?   Thomas stand links hinter Cleo. Ebenfalls auf der linken Seite, allerdings hinter Jessy, stand Lilly. Mittig zwischen den beiden stand eine junge Frau dessen Blick nicht mir, sondern dem Fußboden galt. Ich wusste, wer sie war. Die schüchterne Hauptfigur meiner Geschichte. Hannah Donfort. Perfekt platziert zwischen ihrem Freund und ihrer kleinen Schwester. Im Gegenzug wirkt Dan in seinem Rollstuhl mehrere Zentimeter neben Jessy und Lilly wie ein Außenseiter.   Hast du Angst?   Mein linker Mundwinkel versuchte verzweifelt ein Lächeln zu formen. Doch sein rechter Zwilling war noch immer gelähmt. Es war schon eigenartig, dass ich mich mit, der einzigen Fremde in diesem Raum, am meisten verbunden fühlte. Wir beide geplagt von einem extremen Unwohlsein, dem Wunsch am liebsten von hier zu verschwinden. Auch wenn das grundlegende Motive für dieses Gefühl bei uns beiden hätte, nicht unterschiedlicher sein können.   Hast du Angst?   Ich verstand meinen Körper und meine Gefühle überhaupt nicht mehr. Jeder einzelne Muskel hatte sich gegen mich verschworen. Statt fröhlichen Endorphinen oder gar beruhigende Serotonin überflutete mein Gehirn mich mit dem stressigen Adrenalin. Der Amygdala meines Gehirnes wurde wohl noch nicht die Botschaft vermittelt, dass dies hier keine Gefahrensituation war.   Hast du Angst?   Andere Teile meines Körpers jedoch schienen diese Erkenntnis schon verstanden haben. Anders ließ sich mein stocksteifer Körper doch nicht erklären. Schließlich war ich kein Kaninchen dessen Selbstschutz einen Todähnlichen Zustand hervorrief. Im tatsächlichen Fall eine Gefahrensituation wäre ich so doch jedem Angreifer zum Opfergefallen.   Hast du Angst?   „[MC], Ist alles in Ordnung?“ Der Informationsfluss zwischen meinem Gehör und meinem Gehirn funktionierte noch so gut, dass ich verarbeiten konnte, dass es Dan Stimme war, die mit mir gesprochen hatte. Da mein Gedächtnis wusste, wo er war, konnte ich meinen Kopf mit mechanischen Bewegungen in seine Richtung drehen.   Hast du Angst?   „Ja, natürlich“, krächzte ich und versuchte diese Aussage mit einem aufgesetzten Lächeln zu unterstreichen.  Ihre Blicke waren der eindeutige Beweis, dass sie meine Masche durschaut, hatten. Dan unterstreicht dies nur noch mit seinem besonders skeptisch betontem: „Wirklich?“   Hast du Angst?   Automatisch machte trat mein linker Fuß einen Schritt zurück. Ich spürte ihre irritierten Blicke. Ich wollte nicht fliehen, mein Körper befand sich einfach im Fluchtmodus. „Ich…“, begann ohne zu wissen, was ich sagen wollte. Oder auch nur ansatzweise meine akute emotionale Verfassung zu verstehen.   Hast du Angst?   Ich verstand nicht wieso so mein Herz einfach nicht aufhören wollte so panisch gegen meine Brust zuschlagen. Genauso wenig, wie den Grund warum mein Körper so panisch zitterte.   Hast du Angst?   Meine Augen suchten verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit. Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, um diese optischen Eindrücke zu verarbeiten. Eine Tür... Jessys Schlafzimmertür...   Hast du Angst?   Nach einem tiefen Atemzug log ich: “Tut mir leid Leute! Ich habe letzte Nacht kaum geschlafen. Ich werde mich noch etwas hinlegen.” Selbst mich überraschte die Überzeugung in der ich meine Worte rüber brachte.    Hast du Angst?   Mit wackligen, schnellen Schritten war ich in das Schlafzimmer meiner besten Freundin geflohen. Rasch die Tür hinter mir geschlossen, lehnte meine Rücken an diese. Ich konnte den Wasserfall an Tränen nicht mehr unterdrucken. Auch wenn mir des Ursprungs gänzlich unbekannt war.   Hast du Angst?   Jessy und auch die Anderen waren in Sicherheit! Warum wollte mein Körper das nicht verstehen? Es war alles in Ordnung! Verdammt nochmal! Warum konnte ich mich dann einfach nicht beruhigen? Warum wurde es dann auch noch schlimmer?   Hast du Angst?   Mit meinem Rücken an der Tür gilt ich zum Boden. Ich legte meine Hände auf meine Ohren. In der Hoffnung, dass diese Stimme endlich verstummte. Dabei wusste ich, dass Richy stimmenverzehrte Worte nur in meinem Kopf waren.   Hast du Angst?   Diese Stimme wurde immer lauter. So unerträglich laut…. Ich kniff meine Lippen zusammen. Langsam drifte mein Oberkörper auch auf den Boden.   Hast du Angst?   Ich kauerte auf den Boden, die Knie zu meinem Gesicht gezogen. Mein Verstand versuchte weiterhin vergeblich meinem Körper zu verklickern, dass niemand in Gefahr war. Ich hatte nicht schon wieder meine Freunde der Gefahr einfach ausgeliefert. Ich war nicht schon wieder verantwortlich. Im Gegensatz, ich hatte jetzt die Verantwortung eine gute Freundin zu sein.   Hast du Angst?   Die anderen hatte sich so eine Mühe gemacht mir eine positive Überraschung zumachen. Und wie dankte ich es Ihnen? In dem ich wie ein hysterisches Miststück in Jessy Schlafzimmer verkroch. Wegen rein gar nichts!   Hast du Angst?   Diese Stimme sie sollte aufhören! Warum hörte sie nicht auf mich zu quälen? Warum war Jake nicht hier? Warum konnte er mich nicht einfach jetzt in den Arm nehmen und mir sagen, dass alles in Ordnung war. Wahrscheinlich wurde mein Körper ihm mehr glauben.   Hast du Angst?   Ich konnte das alles doch sowieso nur wegen Jake ertragen. Auch wenn ich zu Anfang nur den anderen helfen wollte. Mein Mitleid so wie meine Neugierde hatte nun mal gesiegt. Doch so schnell wie ich in diesen Entführungsfall hineingezogen wurde, so schnell wurde dieser mysteriöser Hacker auch mein Ruhepol.   Hast du Angst?   Und dieser Ruhepol war nun spurlos verschwunden.   Hast du Angst?   Zittrig, fast schon automatisch glitt meine Hand zu meiner Hosentasche. Im nächsten Moment befand sich mein Handy schon in meiner Hand. „Jake?“, ich konnte kaum noch drüber nachdenken, schon hatte ich diese Nachricht versendet.   Hast du Angst?   Trotz meines tränengetränkten Blickes konnte ich erkennen, dass diese Nachricht nur einen Haken hatte. Ungelesen… „Bitte…“ „Jake, ich brauche dich…“ „Bitte!!!“ Aber auch diese Nachrichten blieben ungelesen.   Hast du Angst?   Ich lag einfach nur noch da und starrte auf mein Handy. Zeit war nur noch ein unrelevanter Faktor in meinem Leben, dessen ich keine Beachtung mehr schenkte. Das Einzige, was gerade für mich zählt, war das Jake meine Nachrichten nicht einmal gelesen hatte.  Noch nicht… Irgendein Teil von mir hatte immer noch Hoffnung, dass er jeden Moment online kommen würde.   Hast du Angst?   Der andere Teil hatte die Hoffnung schon lange aufgeben und ließ zudem noch zu, dass mich diese Stimme in meinem Kopf quälte. Es war fast schon so, als wäre ich mit meinem Smartphone und diesen drei Worten irgendwo. Zu mindestens nicht in Jessy Zimmer. Irgendwie auch nicht auf dieser Welt.   Hast du Angst?   Der große Vorteil lag dieses Mal nicht nur darin, dass ich die Tränen auf meiner Wange nicht spürte. Sondern, dass mein erschöpfter Körper in der Lage war sich seine Berührungen vorzustellen. Es war fast so als würde ich wirklich in seinen Armen liegen. Vielleicht war er wirklich in den Minen ums Leben gekommen und sein Geist versuchte mich wirklich zu beruhigen.   Hast du Angst?   „Na, schöne Frau“ „Noch wach?“ „Ich dachte du wolltest schlafen?“ Diese drei Nachrichten von Phil hatte ich genauso schnell geschlossen, wie diese aufgepoppt waren. Meine Augen wollten in Jake Chat bleiben. Diese minimale Hoffnung in mir wollte den Moment nicht verpassen, wenn sich der zweite Haken bildete.   Hast du Angst?   Mein Körper war erschöpft. Ich hatte kaum noch Kraft. Wenn ich wieder die Realität wahrnehmen würde, würden meine Augen schmerzen. Doch jetzt merkte ich nicht einmal die Schwere meiner Augenlider. Ich kauerte weiterhin auf dem Boden, bis mich die letzte Kraft verließ und ich einschlief.   Du bist der Schlüssel! Kapitel 9: Kapitel 9: Hannah ---------------------------- Kapitel 9: Hannah   Irgendwie fand ich mich dann doch an der Theke in der Aurora wieder. Und irgendwie war mein Vorsatz, an diesem Abend keinen Alkohol zu trinken, auch über Bord geworfen worden. Keine 5 Minuten nachdem ich die Bar betreten hatte… Phil die Schuld geben, war wohl am einfachste, aber nicht die fairste Lösung gewesen. Aber mir ging es nicht darum, mich besonders fair zu verhalten. Vor allem nicht in meinen eigenen Gedanken. Wessen Gefühle sollte ich denn damit verletzen?   Außerdem legte er es doch ein bisschen darauf an, wenn er mir immer wieder einen neuen Cocktail brachte. Mittlerweile war es der fünfte Sex on the Beach. Sein Ziel war klar. Auch wenn es hier in Duskwood keinen Strand gab.   Eins musste man ihm lassen, als Barkeeper verstand er sein Handwerk. Ich hatte selten so einen gut gemixten Cocktail getrunken. Außerdem fand mein alkoholbenebeltes Gehirn seine Performance hinter der Theke mit jedem Schluck attraktiver.   Ich wusste nicht einmal, ob ich wirklich noch eine Wahl hatte. Phil hatte seine Entscheidung schon getroffen. Das sagten mir die Art und Weise, wie er mich berührte. Eine liebevolle Hand auf meiner Schulter. Jedes Mal, wenn er an mir vorbei ging...   Ich war aber auch selbst daran schuld. Wenn ich doofe Kuh doch einfach seinen Kuss nicht erwidert hätte… Ich hatte mich selbst in diese Lage katapultiert. Nun muss ich diese Suppe auch bis zum Ende auslöffeln.   Meine Lippen berührten erneut den Strohhalm und ich nahm einen weiteren Schluck des süßen Getränkes zu mir. Das waren die einzigen Momente, in denen mein Körper spürte, dass ich mich wirklich gerade in einer Bar befand. Alles andere fühlte sich so unwirklich an. Die Gespräche, das Lachen meiner Freunde war für mich mehr Hintergrundkulisse als alles andere. So war es also, in einer Menschenmasche ganz allein zu sein….   Ob Jake sich so jeden Tag fühlte? Angenehm war es definitiv nicht. Wenn er sich nur ansatzweise so gefühlt hatte… Dann war ich wohl auch nur ein Lückenfüller für diese Gefühl…   Deswegen war er verschwunden…   Automatisch bewegte sich mein Körper von dem Barhocker. „Alles in Ordnung?“, hörte ich Jessy besorgte Stimme neben mir. „Ja. Ich muss nur zur Toilette“, gab ich genauso emotionslos von mir, wie ich mich fühlte. „Schon wieder?“, ich musste sie nicht ansehen, um zu wissen, dass sie skeptisch eine Augenbraue hob. Da war ein Teil in mir, der sie anschreien wollte. Ihr sagen, was sie von mir erwartete. Ich hatte keine Kraft mehr. Wer wusste schon, ob ich jemals wieder die Kraft haben würde, um glücklich zu sein. Doch ich konnte mich zusammenreißen und setzte ein gefaktes Lächeln auf. „Na ja, wenn die Büchse der Pandora einmal geöffnet ist…“, scherzte ich, bevor ich meinen Weg fortsetzte.   ***   „Geht es [MC] nicht gut?“, fragte Phil besorgt. Beim Polieren der Gläser konnte er das Spektakel aus erster Reihe beobachten. Jessy wiederum zuckte nur mit den Schultern. „Sie redet nicht mit uns.“ Traurig blickte sie auf ihr halbgefülltes Glas. „Unsere Überraschungsparty war der reinste Flop. Sie ist sofort in mein Schlafzimmer verschwunden.“   Phil lächelte seine jüngste Schwester an. „Ach, mach dir keinen Kopf. Sie hatte mir schon gesagt, dass sie müde war. Schließlich-“ Doch Jessy unterbrach ihn in einem wütenden Ton. „Cleo hat sie auf den Boden gefunden!“ Verwirrt blinzelte Phil.   „Wir wollten schonmal zur Hütte fahren. Cleo wollte ihr wenigstens Bescheid sagen.“, traurig senkte Jessy ihren Blick. „Mh.“, kam es nachdenklich von Phil. Doch auch dieses Mal war Cleo diejenige, die ihn davon abhielt, weiterzusprechen. „Phil kann ich noch eine Cola haben?“, fragte Cleo freundlich. „Meinetwegen.“, entgegnete Phil wenig bemüht, freundlich zu sein. „Du brauchst dich nicht wundern, dass keine Kundschaft kommt, wenn du so unfreundlich bist.“, kam es schnippisch Cleo, als sie ihr Getränk entgegennahm. „Vielleicht kommt ja keine Kundschaft, weil du mich hier als Entführer dargestellt hast.“, ihre bissige Bemerkung hatte Phils Angriffslust geweckt.   Genervt verdrehte Cleo ihre Augen. „Du brauchst jetzt nicht die Augen verdrehen.“, keifte Phil sie an. „Wenn du nicht hier rumgeschnüffelt hättest, hätte ich mir meinen Knastaufenthalt wohl sparen können.“ „Ich kann doch nichts dazu, dass sie eine Streichholzschachtel neben Amys Leiche gefunden wurde.“, Cleo konnte ihre Wut kaum noch unterdrücken.   Dies wurde mit einem genervten Seufzen seitens Phil kommentiert. Als Gegenreaktion konnte Cleo ein genervtes Augenrollen nicht vermeiden. „Du brauchst nicht so zugucken. Ich kann mir eh denken, wer mich verpfiffen hat.“, kam es patzig vom Barkeeper. „Wie oft noch, ich war es nicht!“, keifte sie zurück.   Phil hob eine Augenbraue. „Einer von euch war es.“, man spürte regelrecht die unverdaute Wut in seinen Worten. „Ihr könnt froh sein, dass ihr mit [MC] befreundet seid.“ „Du kannst froh sein, dass du überhaupt Kunden hast.“, mit einem Grinsen, dass man schon als gehässig bezeichnen konnte, sah Cleo ihn an.   „Könnt ihr bitte aufhören zu streiten.“, jammerte Jessy verzweifelt auf. „Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich deinen Freunden positiv über gestimmt bin, solange keiner davon die Eier in der Hose hat, um sich aufrichtig bei mir zu entschuldigen.“ „Phil bitte.“, flehte Jessy. „Es hat doch keiner von euch die Vorstellung was ,es bedeutet, in Untersuchungshaft zu sein. Vor allem nicht, was es in so einem Kaff wie hier bedeutet.“   Phil kramte an der Theke nach seiner Schachtel mit Zigaretten. Schnell steckte er sich eine Zigarette auf sein rechtes Ohr und suchte nach seinem Feuerzeug. Nachdem er dieses in seiner Hosentasche gefunden hatte, wandte er sich zu Jessy. „Ich geh eine rauchen.“   „Warte, ich komm mit.“, antworte Jessy und sah verächtlich zu ihrer Freundin. Phil grummelte. „Meinetwegen.“ Dann wandte er sich zu Cleo. „Ihr braucht gar nicht auf den Gedanken kommen euch gratis Drinks einzuschenken. Ich hab’ hier Kameras.“ „Phil.“, flehte Jessy.   ***   Ich hatte mich in einer der Kabinen eingeschlossen. Mal wieder… Die genaue Anzahl meiner kleinen Auszeiten konnte ich nicht festmachen. Es war mir auch irgendwie egal. Ich musste mein Handy checken und das ohne die neugierigen Blicke der anderen.   Immer noch waren meine Nachrichten an Jake ungelesen. Wieder tippten meine Finger drei Wort, wieder löschte ich diese. Ich konnte nicht einmal genau sagen, was ich schrieb. Die Worte „Ich“ und „Dich“ waren dabei. Doch ob es sich um das Verb in der Mitte um „liebe“ oder „vermisse“ handelte, hatte ich nicht mitbekommen. Es war auch egal…   Mir fehlte eh die Courage, diese oder die andere Nachricht zu versenden. Zu groß war der Schmerz, dass mein Hilfeschrei seinerseits so unberührt blieb.   Meine Augen brannten. Wahrscheinlich hatte ich meinen Tränenvorrat langsam wirklich verbraucht. Doch das linderte meinen inneren Schmerz keineswegs. Ich war hilflos. Meine Gedanken sprangen im Dreieck, ohne dass ich sie auch nur im Ansatz sortieren konnte.   Jake... Phil... Der Mann ohne Gesicht... Richy... Die Anderen... Hannah....   Ich gehörte einfach nicht hier her. Oder zu mindestens fühlte zurzeit ganz danach an. Irgendwo tief in mir drin wusste ich, dass ich das Problem war. Wie sonst auch immer… Ich wusste, dass ich mich zusammenreißen musste. Dass ich der Fehler war…   Das zeigte doch allein mein Verhalten an dem heutigen Tag. Nur für die Zeugenaussage bei Alan hatte ich mich zusammenreißen können. Alles andere, was ich heute verzapfte, war der reinste Mist. Mein ganzes Auf und Ab mit Phil. Bei dem ich immer noch nicht wusste, was ich wollte. Na ja, eigentlich wusste ich, was ich wollte. Jake… Ich war wie ein kleines bockiges Kind. Nur weil ich das eine Spielzeug nicht haben konnte, hatte ich mir ein anderes genommen. Irgendwie in der Hoffnung, dass das eine Spielzeug so eifersüchtig wird und zu mir zurückkommt. Und das zeigte, wie schrecklich ich war. Ich stellte Jake und Phil mit Gegenstände gleich. Was machte ich hier überhaupt?   Phil aus dem Weg gehen? Jessy aus dem Weg gehen? Hannah aus dem Weg gehen?   Wahrscheinlich allen dreien. Auch wenn ich es mir bei Letzterem nicht eingestehen wollte. Sie hatte mir schließlich nichts getan. Obwohl irgendwie doch… Auf der anderen Seite meinte Alan, dass Hannah es nicht war mit meiner Nummer. Also irgendwie doch nicht…   Es schien zu mindestens nicht, dass Hannah mir die Antworten auf meine offenen Fragen geben konnte. Auch da lag der Fehler ganz Simple bei mir. Ich war doch diejenige dich nicht wusste, wie sie mit Hannah umgehen sollte. Und zudem stellte ich mich so furchtbar an und ertrank in meinem Selbstmitleid. Dabei hatte Hannah doch so ein schweres Schicksal… Sie war das Opfer einer Entführung gewesen Hannah hätte das Recht, sich so zu verhalten, wie ich es tat.   Ich war einfach falsch… Ein Fehler…   Warum wollten Jessy und die anderen mich überhaupt hier haben?   ***   „Warum können deine Freunde nicht alle so sein, wie [MC] sein?“, Phil zog aggressiv seiner Zigarette. Glücklicherweise hatte der junge Barkeeper seine Zigarettenschachtel im letzten Moment doch noch in die Hosentasche gesteckt. So war er in den Genuss gekommen, sich nach wenigen Sekunden eine weitere anzustecken.   Jessy wiederum zuckte nur mit den Schultern. Nicht nur, weil sie keine Antwort auf die rhetorische Frage ihres Bruders hatte. Sondern auch aus der Hinsicht, da er sie so plötzlich ansprach, nachdem er sie bei seiner ersten Zigarette mit Schweigen strafte.   „Na ja. Du warst auch nicht gerade fair zu Cleo. Wir wollten-“, sprach Jessy vorsichtig und wurde zugleich harsch von Phil unterbrochen. „Wegen eurer kleinen Spielchen kann ich meinen Laden bald wohl dichtmachen!“ „Das ist unfair Phil.“ „Nein, Jessy.“, seine Stimme war sanfter, jedoch noch aggressiv. „Du weißt genau, wie schnell man hier seinen Ruf weghat.“   Zustimmend und beschämt sah Jessy auf den Boden. Bevor Phil weitersprach, zog er noch mal an seiner Zigarette. „Ich habe hier sowieso schon meinen Ruf weg. Und -“ „Na ja, daran bist du auch selbst schuld.“, dieses Mal war es Jessy die ihren großen Bruder unterbrach. „Bin ich?“, zu ihrer Verwunderung war seine Stimme gelassen. „Ich kann mich nicht daran, so viele One-Night-Stand gehabt zu haben, wie man mir nachsagt.“ Seine Aussage wurde mit einem verdutzten Blick ihrerseits beantwortet.   „Danke.“, lachte Phil auf. „Selbst meine Schwester hält mich für einen Playboy.“ „Na ja, man kann jetzt nicht sagen, dass du wirklich langfristige Beziehungen hattest.“, grummelte Jessy. Sie war überrascht, als er auf ihre Worte mit einem traurigen Blick antwortete. Phil wiederum merkte ihren stutzigen Blick, weswegen er hinterher schob: „Es gab da mal jemanden.“ „Echt?“   ***   „Phil ist unmöglich.“, beschwerte sich Cleo, als sie sich zu Dan, Lilly, Thomas und Hannah an den Tisch setzte. „Nichts Neues.“, lachte Dan auf. „Schade, dass wir hier keine große andere Wahl als die Aurora haben.“ „Na ja, [MC] scheint es ja weniger zu stören.“, spielte Thomas auf ihren Umgang mit Phil an. Es war zwar nicht sie, die direkt mit dem Barkeeper flirtete. Jedoch konnte man selbst als ausstehender nicht leugnen, dass ihr seine Anmachversuche gefiel.   Thomas Aussage wurde seitens Lilly mit einem Grummeln kommentiert. Irritiert sah Hannah zu ihrer jüngeren Schwester. „Scheint ja so, als hätte sie Jake schon wieder vergessen.“ „Komm jetzt nicht schon wieder mit Hackerboy, Lilly.“, kam es genervt von Dan. Lilly plusterte ihre Wangen auf und wollte ihm etwas entgegenbringen. Doch Dan war schneller: „Der, hat doch kalte Füße bekommen und ist längst über alle Berge!“ „Ist er nicht!“, keifte Lilly zurück. „Na ja, würde ihm ähnlichsehen.“, bestätigte wiederum Hannah. „Wenigstens ist hier eine auf meiner Seite.“, grinste Dan. „Hey!“, warf Cleo ein, um damit auszudrücken, dass auch sie nicht gerade auf Jakes Seite war. Jedoch musste man ihr wenigstens fairerweise zugutehalten, dass sie nur wenig Berührungspunkte mit dem Halbbruder der Donfort Schwestern hatte.   „Nein, er würde nicht einfach wieder verschwinden.“, kam es trotzig Lilly. „Seit wann bist du denn die Vorsitzende des Hackerboy-Fanclubs?“, fragte Dan in seinem üblichen Sarkasmus. „Seitdem er geholfen hat, Hannah zu finden!“, erinnerte Lilly die anderen daran, welche Mühe sich der junge Mann gemacht hatte, bei den Ermittlungen zu helfen. Dann fügte sie kleinlaut hinzu: „Außerdem würde er das [MC] niemals antun. Er liebt sie.“   „Wie kannst du dir da so sicher sein?“, es war Thomas, der diese Frage in den Raum stellte. Lilly zuckte nur mit den Schultern. Wie sollte sie ihren Freunden verklickern, dass es ihr Bauchgefühl verriet. Sie hatte nun mal keine Anhaltspunkte über seinen Verbleib. Auch sie hatte Angst, dass ihm etwas passiert war. Er war als ihr Bruder gerade erst in ihr Leben getreten und durfte nicht so einfach wieder verschwinden.   Eigentlich hatte Lilly sich erhofft, dass sie mit [MC] reden könnte. Wenigstens mit ihr... Jakes Verschwinden macht sein Geheimnis zu hüten nur unerträglich schwer. Die Gruppe hatte ihn nie wirklich als Teil akzeptiert. Und vor allem an Dans Misstrauen gegenüber des Hackers hatte sich trotz der Wahrheit hinter Maske nicht geändert.   Am schlimmsten jedoch war, dass auch [MC] ihren Freund zu vergessen schien. Oder es zu mindestens vorhatte... Anders konnte Lilly sich sonst das Verhalten ihrer Freundin nicht erklären. Kaum war sie in Duskwood hatte sie Jake aus der Gruppe entfernt und wahrscheinlich auch blockiert. Auch schien sie nicht gerade desinteressiert an Phil...   Doch dann war da [MC] seltsames Verhalten vom Mittag, die Art und Weise, wie sie Jessys Wohnung betreten hatte. Wenn man sagen würde, man hätte gemerkt, dass sie Angst hatte, war dies noch untertrieben gewesen. Die Panik war ihr ins Gesicht geschrieben. Doch warum?   ***   „Warum habe ich sie nie kennengelernt?”, hakte Jessy neugierig ein zweites Mal nach. Doch Phils Reaktion blieb gleich. Er zog erneut an seine Zigarette und wich bewusst dem flehenden Blick seiner Schwester aus.   „Phil!”, bestand Jessy auf eine Antwort. „Will nicht drüber reden!”, äußerte er sich abwehrend. In Jessy verwunderten Stirnrunzeln war auch eine Spur von Enttäuschung. „Wer weiß, vielleicht wird auf mir und [MC] ja was“, lenkte Phil bewusst das Thema.   Jessy Blick verriet ihm, dass sein Vorhaben Erfolg hatte. „Aber nutz sie nicht aus.“, sie legte einen leicht zornigen Blick auf Phil hustete. Die Aussage seiner Schwester hatte ihn so erschrocken, dass ich sich an seinem Zigarettenrauch verschluckt hatte. Schweren Herzens musste er feststellen, dass auch seine Schwester ihm mehr flüchtige Affären als ernsthaftes Interesse nachsagte.   „Ich habe schon ernsthaftes Interesse.“, sagte er unbeabsichtigt mit schnippischer Stimme. „Wirklich?“, quickte Jessy freudig auf. Phil nickte.   Nervös durch die Stille zog er erneut an seiner Zigarette, bevor er sich entschied, doch zu sprechen. „Wir haben uns heute schon geküsst.“ Seine Stimme war ruhig und gelassen, doch die Reaktion seiner jüngsten Schwester spiegelte seine innere Gefühlswelt wider. „Waaaaaasss?“, freudig hüpfte sie auf und ab, dabei klatschte dabei in die Hände.   Phil nickte bestätigend. Darauf folgte ein erneuter Zug an seiner Zigarette, um sich nicht mit Jessys Euphorie anzustecken. „Sie hat das gar nicht erzählt.“, stellte sie nun empört fest.   ***   „Warum verteidigst du Hackerboy so?“, hakte Dan nach, als Lilly noch mal betont hatte, wie wichtig die Rolle des Hackers bei der Auflösung des Falles war. „Tu ich doch gar nicht!“, piepste die Angesprochene in einer ungewöhnlich hohen Fistelstimme. Dan zog eine Augenbraue hoch. “Was ist mit diesem Kerl? Erst [MC], jetzt du?” „Ich weiß nicht, was du meinst.”, Lillys Stimme war mittlerweile so hoch, dass wohl Menschen mit einer Hochtonschwerhörigkeit sie nicht mehr hören konnten.   Nicht nur Dan, sondern auch ihre große Schwester erschlugen Lilly fast mit ihren skeptischen Blicken. Verzweifelt überlegte sie, wie sie das Thema in eine komplett andere Richtung lenken konnte. Zu groß war die Gefahr, dass die Wahrheit doch noch aus ihr heraussprudelte. Lilly hatte schon so oft ihre Fingerkuppen in die Handinnenflächen gepresst und sich damit selbst den Impuls zum Schweigen zu geben. In der aktuellen Situation durfte nicht einmal Hannah wissen, dass es noch ein drittes Donfort-Geschwisterkind gab.   „Wo bleibt eigentlich Phil?”, stöhnte Cleo genervt auf und starrte in ihr leeres Glas. Lilly ließ ein kaum hörbares erleichtertste Seufzen aus ihrer Kehle entweichen. Kurz überlegte sie ihrer Freundin eine Geste der Dankbarkeit entgegenzubringen sollte. Doch der Fakt das Cleo sie wohl nur aus reinem Zufall aus ihrer Misslingen Lage befreit hatte, hielt sie davon ab.   „Ja, mein Glas ist auch schon fast leer.”, somit nahm Lilly schließlich doch, die unbeabsichtigt Hilfe an. “Na ja, meinetwegen können wir auch langsam fahren.”, sagte Thomas dessen frustrierte Augen auf sein zu dreiviertel gefülltem Wasserglas starrten. Automatisch, mit einem verwirrten Blick, wandte Lilly sich zu ihrem Schwager in spe. Langsam dämmerte es der jungen blonden Frau, dass Cleo Beschwerde nicht ganz ohne hinter Gedanken getätigt wurde.   Sie und Thomas hatte stark demonstriert, als Jessys das abendliche Ausflugsziel bekannt geben hatte. Doch konnten sie dem Totschlagargument, dass [MC]’s Wunsch war, keine plausible Ablehnung entgegenbringen. Zugegebenermaßen hatte Lilly sich zuerst gewundert, doch der Umgang zwischen Phil und ihrer Freundin erklärte so einiges. Und Lilly gefiel es ganz und gar nicht.   “Ich geh mal zur Toilette.”, riss die Stimme ihrer großen Schwester sie aus den Gedanken. “Thomas, das schaffe ich schon alleine.”, Lilly war erst jetzt aufgefallen, dass Hannah den ganzen Abend in einen genervten Ton mit ihren Freund kommunizierte. Verständlich, wenn man die Gegebenheiten aus Hannahs Sicht betrachtete. Thomas hatte ein besonders beschützendes Augenmerk auf seine Freundin geworfen. Weswegen er gleich mit aufgestanden war, als Hannah ihr Vorhaben verkündigte.   Doch wenn man die ganze Situation aus Hannahs Augen betrachtete, war es eher freiheitsberaubend. Auf Schritt und Tritt folgte er ihr. Vielleicht hätte sie damit leben können, wenn Thomas sich mit dem Grund ihrer Entführung auseinandergesetzt hätte.   Doch das tat er nicht.   Schlimmer als alles andere, er verleugnete ihren Mord an Jennifer. So wie alle anderen auch… Eigentlich wunderte es Hannah, dass ihre Freunde dieses fremde Mädchen in den Freundeskreis aufgenommen hatte. Ein freiwilliger Beweis, dass ihre Entführung tatsächlich stattgefunden hatte.   Hannahs Erklärung war, dass dies nur eine Methode ihrer Freunde war, um Richys Abstinenz zu kaschieren. Deswegen erwarteten alle auch, dass sie diese Fremde behandelte, wie ihre engste Freundin aus Kindheitstagen.   Die Gesamtsituation ließ Hannahs Gemüt innerlich kochen. „Ich schaffe, dass schon noch allein.“, für diesen schnippischen Satz hatte sie die Kontrolle über ihre Emotionen verloren. Zugleich erntete Hannah die verdutzten Blicke ihrer Freunde. „Ich wollte doch nur…“, murmelte Thomas reumütig wie ein geschlagener Hund. „Mir passiert schon nichts.“, da war sie wieder: Hannahs Maske der Freundlich- und Heiterkeit. Eine Maskerade, die wieder alle besänftigte und sie die vergangenen Ereignisse leugnen ließ. Es war zum Kotzen!   ***   Meine trockenen Augen brannten von den Blicken auf mein Handydisplay. Immer noch waren die Nachrichten ungelesen. Es war nicht mehr nur mein gebrochenes Herz, dass in dieser Realität schmerzte. Ein Leid, dass nun seinen Höhepunkt erreicht hatte. Es ließ mich langsam wieder meine Realität wahrnehmen.   Ich schalte das Handy aus.   Der erste Schritt gegen meine selbst auferlegte Tortur. Wieder auf meinen Füßen schloss ich die Kabinentür auf. Das Knarren meiner Kabinentür übertünchte, dass der Eingangstür zu den sanitären Räumlichkeiten.   Erschrocken starrte ich in Hannahs grüngraue Augen, nachdem ich gedankenverloren aus meiner Toilettenkabine trat. Ihrem ebenso erschrockenen Gesichtsausdruck verriet, dass auch sie nicht mit meiner Anwesenheit gerechnet hatte.   Für einige Sekunden starrten wir uns nur regungslos an. Hannah war die Erste, die sich bewegte. Zögerlich schritt sie zum Waschbecken. Aus meinem Augenwinkel beobachtete ich, wie sie den Wasserhahn öffnete. Aufgrund unseres Schweigen hallte das Rauschen des Wasserhahns durch den Raum. So unerträglich laut… Meine Gedanken wanderten zum Grimrock-Wasserfalles, während ich einfach nur angewurzelt dastand. Unschlüssig, was mein nächster Schritt sein sollte. Wollte ich nicht eigentlich Jake am Grimrock suchen? Oder zumindest ein Zeichen von ihm? Warum hatte ich den Plan verworfen? Warum war ich überhaupt nach Duskwood gekommen? Und wusch sich Hannah nicht irrational lange die Hände?   Sicherlich wartete sie nur auf den richtigen Moment, um ihren emotionalen Ballast bei mir abzuladen. So wie alle anderen es doch auch taten…   [MC] – unfreiwillige Therapeutin und Detektivin.   Überfordert mit der Situation und getrieben von meinen Fluchtgedanken nuschelte ich: „Bye.“ Zu meiner Verwunderung hörte ich ihr erleichtertes Aufatmen.   Kapitel 10: Kapitel 10: Brüder ------------------------------ Kapitel 10: Brüder   Jessy sprang immer noch begeistert auf und ab, weil ihr Bruder von dem romantischen Kuss zwischen ihm und ihrer besten Freundin erzählt hatte. Innerlich feiert sie sich umso mehr Phil gebeten zu haben, [MC] zu beschäftigen in dem Zeitraum der Partyvorbereitung. Irgendwie hatte sie schon den Hintergedanken gepflegt. Doch besonders viele Hoffnungen hatte sie sich nicht gemacht. Phil war nun mal nicht gerade für seine lange und intensiven Beziehungen bekannt. Und [MC] hing so sehr an diesem unheimlichen Kerl.   Jake…   Immer noch war sich Jessy unschlüssig, was sie von ihm halten sollte. So wie die meisten aus der Gruppe…. Unvergessen blieb wie er Ihnen gedroht hatte. Lilly war die Erste, die es wohl vergessen hatte. Und [MC] hatte es nie gekümmert…. So versessen wie sie immer auf ihn gewesen war… Klar, dieser Jake hatte geholfen Hannah zu finden. Zugebenermaßen hatte er auch einen sehr großen Teil dazu beigetragen. Doch die Frage bleib: Warum?   Das Klicken des Feuerzeugs riss sie aus ihren Gedanken. Vielleicht würde es ja [MC] schaffen ihm diese ungesunde Angewohnheit auszutreiben. „Die wievielte war das jetzt?“, fragte sie argwöhnisch nach. „Die dritte.“, erwiderte Phil genervt. „In zwei Minuten.“, kicherte Jessy unbeschwert. Ihre Strategie ein unbehagliches Thema anzusprechen ohne jedoch einen Streit zu provozieren. In der Regel funktionierte es. Doch immer seltener bei Phil. Dieses Mal schien sie Glück gehabt zu haben. Ihr ältere Bruder zog nur an seiner Zigarette und amtete den Rauch aus. Nicht einmal provozierend absichtlich in ihr Gesicht, wie er es sonst in dieser Situation tat.   ***   Ich stolperte aus der Frauentoilette. Ignorierte die Worte meiner Freunde. Kurz blickte ich zum Bartresen, ohne zu wissen, warum ich das tat. In meinem Kopf war immer noch das Rauschen des Wasserhahns. Grimrock… Jake…   Ich öffnete die schwere Eingangstür. Eine kalte Brise umschloss mich. Die Sinne musste schon vor einer Weile untergegangen sein. Jedoch konnte der Mond durch die dicken dunklen Wolken auch nur wenig Licht spenden. Dazu kam noch, dass ich als Großstadtkind eine größeren Rahmen an Lichtverschmutzung gewöhnt war. Mit mehreren Blinzeln versuchte sich meine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen.   „[MC]?“, hörte ich Phils verwunderte Stimme von der rechten Seite. Automatisch drehte ich mich zu ihm. Dabei kam ich nicht umher in Jessy breitgrinsendes Gesicht zusehen. Irgendwie auf eine Unbeschreibbare Weise machte es mir Angst. „Hast du nach meinem Bruder gesucht?“, sagte sie in einem Ton, der meine Furcht bestätigte. Verwirrt sah ich erst zu ihr und dann zu Phil. „Phil hat mir von eurem Kuss erzählt.“, erklärte sie, mit einem freundlichen Ellenbogenhieb in meine Seite, weswegen sie so im Verkupplungsmodus sprach.   Phils Augenrollen deutete mir, dass er auch nicht besonders begeistert schien. „Ich wollte nur kurz frische Luft schnappen.“, meine Stimme war emotionslos. Ein Wunder, wenn man bedachte, welches Gefühlschaos die Erinnerungen an den Kuss in mir auslöste. Mein Alkoholpegel, der sich zudem verdeutlichte durch den Wechsel von warm zu kalt, tat den Rest.   Mir wurde innerlich plötzlich so warm, fast schon brennend heiß. Dies spiegelte sich in der verräterischen Röte auf meinen Wangen wieder. Und dann war da noch Phils verschmitztes Lächeln. Gerade mit meinem Herz stand ich auf Kriegsfuß. Warum musste es nur so verräterisch schlagen?  Mein Gehirn wollte wenigstens noch versuchen, dass ich mich auf das wesentliche konzentrieren. Wasserrauschen… Wasserfall… Grimrock… Jake… Ich wollte ihn suchen… Ich musste ihn suchen….   Doch der Rest meines verriet mich. Mir war schwindelig Verdammter Alkohol… „Alles gut?“, hauchte Phil mir in mein Ohr und über meinen ganzen Körper legte sich eine Gänsehaut. „Ich hab nur etwas zu viel getrunken.“, erklärte ich meinen wankenden Gang. Doch meine puterroten Wangen erklärte es nicht. „Du hattest auch einen ordentliche Zug drauf.“ Phil war mein schneller Alkoholkonsum aufgefallen. Kein Wunder… Er war ein guter Barkeeper und immer darauf bedacht mich mit Nachschub zu versorgen.   „Was soll ich machen bei gratis Drinks.“, versuchte ich meine Schwäche mit einem Scherz zu überspielen. Phil schnipste seine Zigarette auf den Boden. „Dann mach ich dir am besten ein Glas Wasser.“, sagte er mit sanfter liebevoller Stimme. „Und im Zweifelsfall kannst du oben in meiner Wohnung ausnüchtern.“ Jedoch wollte ich sein Angebot mit einem freundlichen Lächeln ablehnen. Nur kam Jessy mir zuvor. „Oh Phil, dass ist ja lieb. [MC] nimmt das Angebot an.“   Verdammt, ich war zu betrunken um Jessy zu erwürgen.   „Jessy?!“, vernahm ich Phils genervte Stimme. Im nächsten Moment erspähte ich schon, wie er sie sanft in Richtung Eingangstür schubste. So fand ich mich allein mit Phil vor der Aurora wieder.   ***   Jessy konnte nicht viel zufriedener mit sich sein. Das lief alles besser als sich das vorstellen konnte. Ihre neue beste Freundin war regelrecht aus der Bar auf der Suche nach ihrem Bruder aus der Bar gestürmt. Zielstrebig steuerte sie auf den einzigen Tisch mit Besuchern zu. „Phil will wohl gleich die Bar schließen.“, sagte die breitgrinsend zu ihren Freunden. „Soll mir recht sein.“, kommentierte Cleo schnippisch.   ***   „Hör‘ nicht auf Jessy.“, sagte er während er in der Hosentasche nach seiner Zigarettenschachtel kramte. „Es war nur ein Angebot ohne Hintergedanken.“, und im nächsten Moment zündete er sich schon eine Zigarette an. „Ohne Hintergedanken.“, wiederholte ich in erste Linie verwundert, warum er dies so besonders betont hatte. „Ich weiß ja, wie deine Freunde über mich reden.“, grummelte er.   Ich senkte den Blick, während ich mich stützend an die Wand lehnte. „Dabei sind Frauen nur die einfachsten Kunden.“.   Verwirrt sah ich ihn an.   „Ich will nicht alle über einen Kamm scheren, aber mein männliches Klientel wird mit zunehmenden Alkoholkonsum aggressiver und aufdringlicher.“   Ich kicherte mit meiner süßten Stimme über seine gewählte Ausdrucksweise.   „Und kaum lässt man mal ein Mädel, dass zu tief ins Glas geschaut hat auf der Couch pennen, damit ihr auf dem Heimweg nichts passiert, ist man ein Womanizer.“   Ich sah ihn mit großen Augen an. Kurz schwieg ich. „Aber du sagtest, du dachstest, Hannah wollte sich deswegen…“, je mehr Worte meinen Mund verließen desto mehr stammelte ich.   „Ich habe auch nie gesagt, dass ich ein heiliger bin.“, seine Stimme war trocken. „Und gegen einen einvernehmlichen One-Night-Stand spricht nichts.“   Ich nickte stumm. Peinlich berührt senkte ich meine Blick. Von wegen ich wäre unvoreingenommen. Trotz meines doch positiven ersten Eindruck, hatte ich mich blenden lassen. Von all den Kommentaren der Anderen. Von Jakes Eifersucht…   „Sorry, dass ich das mit dem Kuss erzählt hatte.“, nicht nur seiner Stimme sondern auch seiner angespannten Körperhaltung konnte man entnehmen, dass er nervös war. Und schlagartig wurde mir klar, dass Phils Annährungsversuche keine hohlen Phrasen waren. Er schien wirkliches Interesse an mir zu haben.   Dieser Blick…   Mein Herz raste in meiner Brust. Wieder flogen einzelne Gedankenfetzen kreuz und quer durch meinen Kopf. Was wenn Jake doch nur kalte Füße bekommen? Nachdem ich diesen Gedanken geschnappt hatte, setzte sich ein Puzzle zusammen. Das Falsche…   Wenn er nicht einmal auf meine Hilferufe reagierte, weil er mich bewusst ignorierte oder um es in Jugendsprache auszudrücken: Mich ghosted… Und ich würde den Mann wegstoßen, der wirklich an mir interessiert ist war. Der da war…   „Schon okay.“, murmelte ich eigentlich viel zu spät. Dennoch zauberte meine Worte ein Lächeln auf seine verführerischen Lippen. Ich wollte nicht mehr allein sein… Er schnipste seine Zigarette auf den Boden. Ich wollte doch nur etwas Nähe spüren… Mit einen Ruck löste ich mich von der Stützenden Wand. Der Alkohol benebelte nicht nur meinen Sinne, sondern beeinflusste auch unbemerkt mein Denkweise.   Nur etwas körperliche Nähe spüren…   „Vorsichtig.“, meinte Phil liebevoll und stützte mich. Ich wiederum lächelte ihn schüchtern an. „Ich hoffe du bist mir nicht böse wegen dem Kuss…“, seine Stimme war nur noch ein Flüstern. Ein erotisches Flüstern… Zu mindestens in meiner Wahrnehmung. Phil und der Alkohol schafften es alle meine Schalter auf den Flirtmodus umzulegen.   Warum sollte ich bis zum Sankt Nimmerleinstag auf Jake warten?   Und wenn Jake sich doch noch erbarmen würde mich mit seiner Anwesenheit zu beglücken, dann doch erst recht wenn ich seinem verhassten Barkeeper näherkommen würde….   Also wenn ich ihn endlich einmal sehen wollte, dann musste ich…   „Vielleicht sollte ich dein Angebot annehmen.“, sagte ich mit besonders zuckersüßen Stimme. Um meine Absicht zu unterstreichen schmiegte ich mich näher an ihn. Und dann sah ich ihn, den rot Schimmer auf seinen Wangen. Der Ausdruck für seine Verlegenheit…   Wo war den seine selbstbewusste Art geblieben?   Er schluckte nervös und öffnete dann kurz seinen Mund. Doch hatte er wohl nichts mit meinem Gehirn im Hochfunktionsmodus gerechnet. Innerhalb von Millisekunden waren folgende Gedankengänge von mir bearbeitet worden. Zuerst hatte ich festgestellt, dass der Alkohol mich selbstbewusster wirken ließ. Mich mutiger machten… Dann waren da die Cocktails Sex on the Beach… Phil hatte mir doch bewusst das Getränk mit dem anzüglichen Namen geben… Sex… Er wollte es… Ich wollte es…? Ich würde es bekommen…!   Wenn Jake mein heißes Bettabenteuer mit Mr. Aurora verhindern wollte, sollte er jetzt auftauchen!   ***   Die Gruppe, gerade angetrieben von Cleo und Thomas, hatte zügig die Bar aufgeräumt. Außer Dan, der mit seinen Sitzplatz im Rollstuhl nun endliche eine perfekte Ausrede gefunden sich nicht an sämtlichen Reinigungstätigkeiten zu beteiligen. Auch nicht die, die er mit Leichtigkeit hätte erledigen können.   Für Lilly war Dan immer wie ein großer beschützender Bruder. Und vielleicht war dies auch der Grund, weswegen seine Faulheit sie nie gestört hatte. Männer sind halt so… Dan ist halt so… Doch jetzt hatte sie es nervös gemacht. Immer wieder war ihr Blick zur Eingangstür gewandert. Was machte [MC] solange mit Phil? Allein…   „Ich sag [MC] bescheid.“, überspielte sie ihre Nervosität, als der Rest der Gruppe in den letzten Züge war, sich Abfahrtbereit zu machen.   „Ach lass mal.“, flötete Jessy fröhlich. Dans verächtliches Schnauben war die erste Reaktion auf diese Worte. Doch ließ Jessy sich nicht davon beirren. Sie flötete weiterhin fröhlich: „Wir sollten den beiden etwas Zeit zu zweit gönnen.“ Dieses Mal fügte Dan seinem verächtlichen Schnauben noch ein Augenrollen hinzu.   Mit einen Schlucken holte Lilly sich den benötigen Mut: „Aber [MC] ist doch mit Jake zusammen.“ Doch das ängstliche Zittern in ihrer Stimme konnte sie doch nicht verbergen. Nur schien die anderen ihre Sorge nicht wirklich zuteilen. Wie befürchtet…   „Ach, ist das so?“, in diesen sarkastischen Worten lag auch die Wunde der jüngeren Hannah. „Ja, wo ist Hackerboy, dann?“, Dan wiederum wollte einfach nur provozieren. „Jake hatte seine Gründe.“, es war schon fast wie ein Mantra, dass Lilly immer wieder bei ihrer Schwester runterbetete. Eine Routine, die sie dieses Mal das Wort bestimmt vergessen ließ.   Ein Fehler der von ihrer älteren Schwester mit einen skeptischen Blick beantwortete. Die Nervosität in Lillys Körper ließ nur noch einen Schluss zu: Die Flucht nach draußen. Die junge Frau musste jetzt mit [MC] reden, bevor ihr die anderen doch noch Jakes Geheimnis entlocken konnten.   ***   Ich konnte es nicht sagen, doch ich fand mich in einem leidenschaftlichen Zungenspiel mit Phil. Irgendwie… Nicht nur meine Gedanken fühlte sich leer an. Alles, gerade Phils Berührungen und Küsse fühlten sich so surreal an. So als würde all dies gerade nicht passieren. Als wäre ich nicht anwesend… Und irgendwie war das gerade ein schönes Gefühl. Endlich hatte sich dieser unerträgliche Schmerz aufgelöst. Dagegen war das einbüßen der schöneren Gefühle nur ein geringer Preis. All dies waren doch nur noch der erbringenden Beweis dass ich schon viel zu lange die Hoffnung auf mein Happy End verloren hatte. Und eine Ende zusammen Phil war immer noch besser, als der Fakt dass ich für auf ewig mit mir klarkommen müsste.   Phil drückte mich näher an die Wand. Sein Lippen an meinen Ohr flüsterten : „Kondome habe ich oben.“ Schon wieder küssten wir uns, seine Hand glitt die Innenseite meines Oberschenkels weiter hoch.   Wo zum Teufel blieb Jake?   Ein schriller Schrei, welcher dieselben Silben wie mein Name hatte, unterbrach Phils und meine Tätigkeit. Um es genauer zu erläutern, ließ Phil von mir ab und ich stand orientierungslos und wankend da. Irgendwie im Nichts…   Ich bekam nicht einmal mit, wie Jessy auf Grund Lillys entsetzten Schrei aus der Aurora gestürmt war. Auch hörte ich Lillys Vorwurfe nicht, dass ich gerade dabei war meinen Freund zu betrügen. „Du hast einen Freund?!“, holte mich Phils verletzte Stimme langsam wieder in die Realität. Sein gekränkt Gesichtsausdruck war das Erste, was ich wieder wahrnahm. Und diese Bild brannte sich mit einem unerträglichen Schmerz in mein Gedächtnis. Was war passiert? Was hatte ich getan?   Im nächsten Moment hörte ich wie die Tür zu Aurora zu fiel.   „[MC]?! Was hast du die dabei gedacht?“, prasselten nun auch Lillys Vorwürfe auf mich ein. „Lass sie doch!“, keifte Jessy zurück. „Bedeutet dir Jake gar nichts mehr?!“, kam es wieder von Lilly. „Jake scheint ja kein Interesse zu haben! Meinem Bruder schon!“   Die beiden nahmen die Rolle von Engelchen und Teufelchen auf meinen Schultern ein. Diese moralische Dilemma von ihnen ausgesprochen, waren wie Messerstichen. Und der Schmerz, der noch vor wenigen Sekunden verschwunden war, brach über mich in so einer massiven Stärke über mich ein.   „Hört auf mich mit euren Brüdern verkuppeln zu wollen.“, brüllte ich meine Verzweiflung heraus. Mit zügigen Schritten lief ich an meine beiden Freundinnen vorbei. Ich musste weg. Einfach weg. Irgendwo hin. Ich konnte einfach nicht mehr hierbleiben.   Also lief ich genauso unbedacht, wie meine Worte zuvor, in die Nacht von Duskwood hinein.   ***   Sein Blick richtete sich auf den wolkenbehagenden Nachthimmel. Ein tiefer Seufzer entwich seiner trockenen Kehle. Ein Bein lag auf dem staubigen Waldboden. Das andere hatte er angewinkelt. Der Rücken sowie sein Hinterkopf waren an dem dicken Baumstamm gelehnt. Trotz der Sommermonate waren die Nächte dennoch kalt. Doch zeigte sich sein Optimismus, darin dass er sehr erleichtert war, dass es wenigsten die letzten Tage trocken geblieben war. Doch so wie er die Wolken betrachtete wusste er, dass dies nicht mehr solange bleiben würde. Wenigstens etwas Trinkwasser…   Das Knurren seines Magen brachte ihn dazu in seinen Rucksack nach etwas Essbarem gesucht. Schnell war er fündig geworden. Ein Apfel… Das letzte Überbleibsel seines kleinen Diebstahls. Er wusste, dass es falsch war. Das es riskant gewesen war. Doch als er dem großen Apfelbaum vorbei geschlendert war hatte sein leerer Magen das Kommando übernommen. Und im nächsten Moment hatte er sich schon über den Gartenzaun klettern gesehen.   Dabei hätte es alles gefährden können. Alles, was er gerade für sie tat… Zugeben sonst hätte er auch nicht geschafft. Es gab nichts und niemanden der ihm so viel bedeutete, dass ihm das alles gar nichts ausmachte. Eher im Gegenteil, er tat es nur zu gerne. Allein nur für die Chance sie eines Tages, wenn auch nur für wenige Minuten, sehen zu können. Das würde ihm schon reichen.   Nicht das er auch von anderen Sachen träumte. Einmal Blickkontakt haben… Sie einmal lächeln sehen… Sie einmal in seinen Armen nehmen können… Vielleicht sie wirklich ein einziges Mal küssen zu können…   Doch diese Vorstellung erlaubte er sich nicht… Das war zu viel der Hoffnung. Sie wenigstens einmal sehen zu können, würde ihm schon reichen. Es wäre mehr als nur genug.   Und dafür war all‘ das, was er gerade durchmacht, im Vergleich ein kleiner Preis der zuzahlen war.   Kapitel 11: Kapitel 11: Jennifer -------------------------------- Kapitel 11: Jennifer Da war ich nun, mitten in der Nacht, irgendwo in Duskwood. Barfuß… Und um die Misere perfekt zu machen, hatte der abgebrochene Absatz meines linken Schuhs mir noch eine Schürfwunde am Knie beschert. Der positive Nebeneffekt meiner Orientierungslosigkeit war die geringe Chance, dass die anderen mich finden würden. Wie sollten sie auch, wenn ich nicht einmal wusste, wo ich war? Aber ich wünschte, ich hätte einfach ein richtiges Ziel gehabt, einen Ort, an dem ich mich endlich angekommen fühlte. Mein Herz kannte diesen Ort. Nur konnte man Jake nicht einfach bei Google Maps eingeben und im nächsten Wimpernschlag wäre ich bei ihm. Nicht, dass ich es nicht versucht hätte. Wenn auch nicht an diesem Abend. Mein Handy hatte ich dummerweise in der Aurora liegen lassen. Sonst wäre ich bestimmt schon am Grimrock-Wasserfall angekommen. Mein einziger Hinweis auf Jakes Aufenthaltsort und der einzige Grund, warum ich mich überhaupt auf die Reise nach Duskwood eingelassen hatte. Unfair von mir... Das wusste ich, und deshalb hasste ich mich in diesem Moment umso mehr. Die anderen waren meine Freunde. Und sie waren mir wirklich wichtig geworden. Und ich wollte sie nicht mehr missen. Doch so sehr uns die Aufklärung von Hannahs Entführung auch zusammengeschweißt hatte, so sehr war das Band, das mich mit Jake verband, einfach noch viel stärker geworden. Und umso mehr schmerzte es mich, dass die anderen mich immer mehr an Jake erinnerten. Vor allem Lilly. Dabei war ich mir nicht einmal sicher, ob es der Tatsache geschuldet war, dass sie seine Halbschwester war oder dass Jakes Rätsel einfach nur die Freundschaft zwischen mir und ihr möglich gemacht hatte. Ebenso fragte ich mich, ob ich dem kleinen blonden Wirbelwind dankbar sein sollte, dass er mich in dieser Brutalität wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt hatte. Oder im Gegenteil, weil sie mir die Chance genommen hatte, meinen Schmerz wenigstens für eine Nacht zu vergessen. Fakt war, dass ich mich gerade im Scherbenmeer meiner Fehler befand. Und wenn ich tief in mich ging, wusste ich, dass dieser Fehler nicht heute Abend, nicht mit der Antwort auf Thomas' Nachricht, sondern schlicht und einfach in meiner Geburt lag. Ein Fehler, der sich nicht einmal traute, sich selbst zu beseitigen…. Ganz im Gegensatz ein Fehler, der immer noch auf ein Happy End hoffte. Doch seit wann bekamen die Schurken ein Happy End? Und nichts anderes war ich… Ich hatte meine Freunde wissentlich in Gefahr gebracht, während ich sicher in meiner Wohnung saß. Ich hatte die Liebe meines Lebens dem FBI ausgeliefert… Ich hatte zugelassen, dass Richy einen Selbstmordversuch startet. Ich hatte seinen und Jakes Tod einfach so in Kauf genommen. Das taten keine Helden… Es war ohnehin absurd zu glauben, ich würde auf der Seite der Guten stehen. War es nicht schon Beweis genug, dass ich mit meiner Geburt die Liebe meiner Eltern zerstört hatte? Warum versuchte ich immer noch so verzweifelt, diese Tatsache zu verbergen? Ich war und würde immer ein Monster in Menschengestalt sein… Viel zu viele Tränen flossen über meine Wangen. Ich bekam kaum noch Luft in meine Lungen. Ich ertrank in meiner Verzweiflung... Leider wusste ich, dass dies nicht das Ende sein würde. Ich war schon zu oft in ähnlichen Situationen gewesen. Und ich war immer noch hier... Mit all meinem Schmerz... Ein nie endender Schmerz. Doch wie hatte mein Vater einmal gesagt… „Du bist auch echt zu blöd, um dich umzubringen!“ Selbst die Krankenschwester war von seiner Rage nicht verschont geblieben. Töricht von ihr… Und dann war sie auch noch so stur, nicht verstehen zu wollen, welches Problem ich meinen Eltern mit meinem jugendlichen Leichtsinn beschert hatte. Meine Ohren vernahmen die Geräusche eines motorisierten Fahrzeugs. War das vielleicht die Gelegenheit? Ich hatte nicht das Gefühl, dass meine Füße den Schritt wagten, aber ich hörte das Quietschen bremsender Reifen. Nahm ich meine Umgebung schon so extrem nicht mehr wahr, dass ich sogar meinen eigenen Tod nicht mehr spürte? „[MC], Gott sei Dank! Ich habe dich gefunden.“, sprach eine erleichterte Männerstimme, als sich die Autotür öffnete. Ich schloss kurz die Augen, nur ein merkliches Blinzeln, aber es fühlte sich an, als würden Milliarden von Jahren an mir vorbeiziehen. „Warte, ich habe noch Verbandszeug im Auto.“, sagte er in einem liebevollen Ton. „Für dein Knie.“ Das Erste, was ich wahrnahm, waren die orangefarbenen Warnlichter des weißen Lieferwagens mit dem schwarzen Logo. „Phil.…“, murmelte ich, als er mich auf die Parkbank setzte. Er umfasste meine linke Wade. „Sorry, das wird jetzt ein bisschen wehtun“, sagte er leise und im nächsten Moment hörte ich schon das Klicken des Desinfektionssprays. Reflexartig verzog sich mein Gesicht zu einem schmerzverzerrten Ausdruck, aber ich spürte es nicht wirklich. Und seltsamerweise sah er mich an, als wüsste er, dass ich ihn nur aufgesetzt hatte. Skeptisch beobachtete ich ihn, als er vorsichtig den Schmutz von meiner Wunde entfernte und sie mit einem Pflaster versorgte. Auch als er zu seinem Wagen zurückging, um eine kleine Flasche Wasser zu holen, verfolgte ich jeden seiner Schritte mit meinen Augen. Doch mein Blick war mehr als irritiert, als er mir die Flasche mit dem liebevollen Hinweis reichte, dass ich wegen meines Alkoholkonsums meine Wasserzufuhr deutlich erhöhen sollte. „Warum bist du hier?“, flüsterte ich und nahm die geöffnete Wasserflasche entgegen. „Du bist einfach weggelaufen. Wir haben uns Sorgen gemacht“, antwortete er sanft und ruhig und setzte sich neben mich auf die Parkbank. Daraufhin zuckte ich erschrocken zusammen, was mir einen irritierten Blick von Phil einbrachte. Ich wandte den Blick ab und flüsterte: „Warum bist du hier?“ „Es ist mitten in der Nacht, du bist betrunken in einer Stadt, in der du dich nicht auskennst. Natürlich haben wir uns Sorgen gemacht, dass dir etwas zustoßen könnte.“ „Aber du musst mich doch hassen“, mitten in meinen Worten überkam mich die Verzweiflung und ein Schwall von Tränen lief mir über die Wangen. „Nein“, lächelte er sanft und legte seine Hand auf meinen Rücken, um mich zu trösten. „Aber warum?“, weinte ich bitterlich. „Warum sollte ich?“, seine Stimme war so sanft und liebevoll wie die Berührung mit der er mich an sich drückte. „Weil-“, schluchzte ich, ohne eine wirkliche Erklärung zu haben. Wahrscheinlich, weil es einfach zu viele Gründe gab, den Hass und die Verachtung auf mich zu rechtfertigen. Ich vernahm, wie Phil scharf einatmete. „Lilly hat mir das mit deinem Freund erzählt”, die Worte kamen nur mühsam aus seinem Mund. „So in etwa.” Ich konnte nicht anders, als ihn mit großen Augen anzustarren. Zum Glück hatte er den Blick von mir abgewandt. „Es tut mir leid”, murmelte ich entschlossen. Nach einem kurzen Moment des Schweigens sprach ich ruhig weiter: „Das mit uns... Ich hätte nicht ... Es war nur ...” „Verdammt einsam”, unterbrach er mich abwesend. Wieder Stille. Doch obwohl es sich wie eine Ewigkeit anfühlte, dauerte es nicht lange, bis Phil die Stille wieder unterbrach: „Ich weiß, wie sich das anfühlt”, und obwohl seine Stimme leer war, spürte man den Schmerz in jeder Silbe. Gerade dieser Umstand weckte mein Interesse. Es war fast instinktiv, so schnell wie meine weit aufgerissenen Augen ihn anstarrten. Genauso instinktiv, wie ich sofort wusste, dass diese Information wichtig sein würde. Ich wusste auch, dass ich ihn mit meinem eindringlichen Blick geradezu zwang, es mir zu sagen. Umso verrückter machte es mich, dass Phil nichts sagte. „Ich glaube nicht, dass du das auch nur im Ansatz verstehst”, spiegelte ich genau meine Gedanken wider. Dennoch war es ein Schachzug , um Phil zum Reden zu bringen. Sein Seufzen verriet, dass meine Taktik von Erfolg gekrönt war. „Meine Freundin Jennifer Han-”, begann er. „Hanson”, piepste ich erschrocken. Für eine Millisekunde war Phil irritiert. Im Funken des Augenblicks wurde mir klar, dass Phil nicht zwangsläufig wusste, was Hannah getan hatte. „Es tut mir so leid, Phil.” Er nickte stumm, bevor er sprach: „Sie war nur meinetwegen auf den Pine Glade” Phil machte eine Sprechpause, nur um sich eine Zigarette anzuzünden. Bei seinem derzeitigen Konsum waren die Zigaretten wohl mehr ein emotionaler Support als alles andere. Ich musste diesen Gedanken in meinem Blick nach außen getragen haben, den er sagte: „Weißt du, ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen.” Er atmete aus. „Auch nicht mit Jessy?” „Schon gar nicht mit Jessy”, seine Mundwinkel verzogen sich zu einem leichten Lächeln. „Damals standen wir uns noch weniger näher als heute.” „Verstehe.” „Ich glaube, meine Schwestern wussten nicht einmal, dass ich eine Freundin hatte.” Jessy hatte mir zwar erzählt, dass das Verhältnis zwischen ihr und Phil damals schwierig gewesen sei, aber dass sie nicht einmal gemerkt haben soll, dass ihr Bruder eine Beziehung zu dem verschwundenen Mädchen hatte, erschien mir mehr als surreal. Besonders, wenn es sich dabei um eine romantische Beziehung handelte. „Aber ich glaube, Michael, also Jennifers Vater, hat etwas geahnt.” Ich hob eine Augenbraue. „Also wusste niemand etwas von euch”, unterstrich ich mit dieser Aussage mein Misstrauen. Zu meiner Verblüffung lachte Phil auf. „Du bist in der Stadt aufgewachsen, nicht wahr?” Ich grummelte zur Bestätigung und ärgerte mich, dass er mich als verwöhntes Stadtkind hinstellen wollte. „In Duskwood kennt jeder jeden. Und man redet schnell. Das ist einer der Gründe, warum Jennifer es hier so gehasst hat”, sagte er wehmütig und nahm einen Zug von seiner Zigarette. Wieder kam mir in den Sinn, wie attraktiv er doch war. Ich schluckte nervös. „Du erinnerst mich an sie, weißt du”, lächelte Phil sanft und ließ mein Herz für einen kurzen Moment schneller schlagen. Doch dann spürte ich wieder den Schmerz, der in letzter Zeit mein einziger Antrieb war. Einzelne Tränen liefen mir über die Wangen. „Es ist meine Schuld, weißt du”, meine Stimme war nur noch ein Hauch. Als würde mich etwas in mir daran hindern, es laut auszusprechen. Aber Phil musste jedes Wort verstanden haben, denn er antwortete mit Bestimmtheit: „Nein!” „Er wollte mich beschützen. Deshalb ist er zum Grimrock gegangen. Ich sollte gehen. Richy wollte, dass ich komme. Aber wir dachten, es wäre Michael. Und dass er mich töten wollte. Aber es war nur Richy. Er hätte mir nie etwas getan. Ich habe irgendwas übersehen. Wenn ich nur besser aufgepasst hätte, wäre das alles nicht passiert. Dann hätte Jake nie gehen müssen und wäre noch...”, ich wusste nicht, wie ich den Satz beenden sollte. Noch am Leben? Es gab immer noch die Möglichkeit, dass er im Gefängnis saß. Aber war das wirklich besser? Jedenfalls durfte ich Phil kein Sterbenswörtchen über das FBI sagen. Es reichte schon, dass ich Jakes Vornamen verraten hatte. Und mehr oder weniger Jessy, dass er der Bruder der Danfort Schwestern war. „[MC], es ist nicht deine schuld! Es war seine Entscheidung! Nicht deine!” Phil zog an seiner Zigarette, um seinen durchdringenden Blick nicht von mir abwenden zu müssen. „Es ist wichtig, dass du das verstehst. Es ist nicht deine Schuld. Das war es nie. Du bist nicht für die Entscheidung andere verantwortlich.” Seine tröstenden Worte taten so weh. Ich wollte es nicht hören. Jemand musste schuld sein! Wenn nicht ich, wer dann? Meine Einmischung hatte doch erst zum Showdown in Grimrock geführt. Hätte ich Thomas Nachricht einfach ignoriert... Hannah war nie ernsthaft in Gefahr gewesen. „Nein”, widersprach automatisch mit lauter Stimme. So laut, dass nicht nur Phil zusammenzuckte. „Es ist nicht einfacher, ich weiß”, antwortete er wieder in diesem melancholischen Ton. „Es ist besser, sich selbst zu hassen und zu denken, dass man es verdient hat”, er machte eine kurze Pause. „Oder besser, dass man das Glück nicht verdient hat.” Ich wandte den Blick ab. Als ich diese Wahrheit hörte, zog sich alles in mir schmerzhaft zusammen. Ich hatte das alles verdient. Doch im nächsten Augenblick fand ich mich in Phils Armen wieder. Gefangen in diesem Moment der unfertigen Gedanken und der schützenden Umarmung, konnte ich das Meer der Tränen nicht mehr zurückhalten. „Dabei ist das Gegenteil der Fall.“ ,sprach er sanft. „Jemand, wie du, der so selbstlos gehandelt hat, hat eigentlich das größte Glück verdient.“ Phil strich weiterhin sanft über meinen Rücken und blieb stumm bis ich mich wieder beruhigt hatte. „Weißt du was das Schlimmste daran ist?“, sprach ich leise als ich mich aus der Umarmung gelöst hatte. „Die Ungewissheit“, antwortete er, während ich mir die letzten Tränen von der Wange wischte. Mit meinem Versuch zu lächeln, nickte ich. Phil holte wieder seine Zigarettenschachtel hervor. Diesmal reichte er sie mir. Diese Verruchtheit in diesem Lächeln mit der Zigarette auf den Lippen. Nicht nur mein schneller schlagendes Herz reagierte darauf. Sondern auch meine weibliche Region fiel wieder ein, dass sie sich eigentlich auf eine spaßige Nacht mit Mr. Aurora vorbereitet hatten. Phil so einfühlsam war, machte es meinem Gehirn nur noch schwerer, alles unter Kontrolle zu halten. „Nimm schon.“, sprach er ruhig. Doch ein kleiner Hauch Verführung lag auch darin. Oder ich bildete es mir nur ein. Jedenfalls zog ich eine Zigarette aus seiner Schachtel. Kaum hatte ich sie im Mund, zündete Phil sie an. Noch bevor er es mit seiner tat. Den ekligen Geschmack meiner ersten Zigarette konnte ich kaum wahrnehmen, weil mich ein schrecklicher Hustenreiz überkam. Sehr zur Freude von Phil. Er lächelte mich breit an und sagte: „So ging es mir bei meiner ersten Zigarette auch.“ „Warum hast du dann überhaupt angefangen?“, meine Stimme klang schnippischer als beabsichtigt. Aber als nach dem zweiten Zug die beruhigende Wirkung des Nikotins meinen Körper durchströmte, verstand ich die Vorteile des Rauchens. Phil muss es an meinem Gesichtsausdruck gesehen haben. Er lächelte mich an und sagte: „Darum!“ Auch er zog noch einmal an seiner Zigarette. „Naja und weil ich als Teenager auf Teufel komm raus rebellieren wollte.“ Er wirkte für einen kurzen Moment heiter, doch dann betrübte sich sein Gesichtsausdruck wieder. „Bis ich Jennifer kennen gelernt habe.“ Phil unterbrach sich selbst und blickte melancholisch gen Himmel. „Es klingt sich richtig kitschig. Aber mit ihr war meine Welt nicht mehr düster und grau. Natürlich war ich immer noch wütend auf meine Mutter, weil sie mich und meine Schwestern hier zurückgelassen hatte, genervt von den altmodischen Ansichten meiner Oma und ich weiß nicht, was sonst noch.“ Er atmete einmal tief ein. „Mit Jennifer war es alles nur leichter zu ertragen.“ Mein Blick wanderte zu Phil. So vieles ging mir durch den Kopf, was ich ihm hätte sagen können. Aber ich blieb stumm. Das Gefühl, das er beschrieben hatte, war genau das, was ich mit Jake hatte. Alles, was in meinem Leben schieflief, war noch da, aber das Wissen, dass Jake da war, machte es erträglich. Und das erklärte die Leere, die ich seit seinem Verschwinden fühlte. Obwohl ich zugeben muss, dass Phil dazu beitrug, dass ich mich etwas besser fühlte. Wahrscheinlich war es das Wissen, dass es doch jemanden gab, der meine Gefühlswelt einigermaßen nachvollziehen konnte. Dieselbe Ungewissheit, die ich jetzt fühlte. Nur mit dem Unterschied, dass er das erlebte, wovor ich am meisten Angst hatte. Wenn Jake, wie Jennifer irgendwann tot aufgefunden werden würde. Aber jetzt, zehn Jahre später, schien Phil mit ihrem Tod abgeschlossen zu haben. Ob ich das jemals schaffen würde? Irgendwann nach vorne schauen zu können? Aber dazu müsste ich... Dieser Gedanke hatte sich in meinem Kopf festgesetzt. Hastig rauchte ich die Zigarette zu Ende. Dann warf ich sie auf den Boden. „Phil, kannst du mir einen Gefallen tun?“ Er sah mich kurz verwirrt an, bevor er antwortete: „Ja, sicher...“ „Bring mich zu Grimrock!“ Kapitel 12: Kapitel 12: Das Smaragd-Armband ------------------------------------------- Kapitel 12: Das Smaragd-Armband   "Bring mich zum Grimrock"   Wenn Phil mich auch nur im Ansatz verstand, wie er behauptete, dann musste er mir diesen Gefallen tun. Deshalb irritierte mich sein schweres Seufzen. "Phil, bitte!", flehte ich und starrte ihn durchdringend an. Doch er wich meinem Blick aus. Stattdessen blickte er nachdenklich in die Leere der Nacht.   "Bitte, ich muss da hin", war mein nächster Versuch, ihn zu überzeugen.   "Das verstehe ich!", sagte er in einem merkwürdig ruhigen Ton.   "Na dann, auf geht's! Lass uns fahren.", schnell war meine Euphorie geweckt.   "Nein", mit diesem harten Wort wurde ich auf den harten Boden der Realität zurückgeholt.   "Warum?!", wieder hatte ich Tränen in den Augen.   "Es ist mitten in der Nacht. Du bist alkoholisiert.", während Phil sprach, warf er einen Blick auf meine Füße. "Und du hast nicht mal mehr Schuhe an."   "Das ist mir egal"   "Mir, aber nicht!"   "Phil", sagte ich vorwurfsvoll, "Ich dachte, du würdest mich verstehen."   "Das, tue ich auch!"   "Warum willst du mir dann nicht helfen?!"   Phil schnaubte. "Es ist viel zu gefährlich!"   "Weil es dunkel ist?", meine Euphorie war wieder da." Dann lass uns morgen fahren!"   "[MC]...", Phil atmete betrübt aus.   "Bitte!"   "Auch bei Tageslicht ist es zu gefährlich..."   "Das Risiko muss ich einfach ein gehen." Mein Gegenüber blieb jedoch stumm.   "Phil", flehte ich.   Ich hörte sein schweres Seufzen: "Die Minen sind stark einsturzgefährdet."   "Es recht, wenn du mich da absetzt. Ich gehe schon allein rein."   "Darum geht es nicht!" Phils Stimmlage hatte sich in einen ernsteren Ton gewandelt.   Ich schnaubte wütend. Doch an Phils Meinung änderte sich nichts: "Dir könnte etwas passieren! Und so sehr ich deine Beweggründe nachvollziehen kann, kann ich dir diesen Gefallen nicht tun. Es tut mir leid."   "Was mit mir wird, kann dir doch egal sein!", schrie ich ihm meine Verzweiflung entgegen.   "Nein, ist es eben nicht.", sprach er ruhig. "Sieh das ganze Mal aus meiner Sicht. Ich habe schon einen, eigentlich zwei, Menschen verloren, die mir wichtig waren. Da soll ich dann einfach zusehen, wie du in dein Verderben rennst?"   Er machte eine kurze Sprechpause. Jedoch hatte ich keine Chance, etwas entgegenzubringen. "Und dann wofür? Um dir ein Trauma zu verpassen und du im schlimmsten Fall diejenige bist, die die Leiche deines Freundes findet?"   "Vielleicht...", war das einzige Wort, das ich noch unter meinen Tränen hervorbringen konnte.   Phil lächelte sanft. "Ohne Nahrung wird er dort unten sicherlich keine zwei Monate überlebt haben können." Seine Worte schnürten mir die Luft ab.   "Es tut mir leid. Ich verstehe, dass du ihn suchen möchtest. Dennoch am Grimrock, und vor allen in den Minen, ist es zu gefährlich. Und dass nur für eine Antwort, die du eigentlich gar nicht haben willst." Meine Tränen flossen unaufhörlich. Sanft tätschelt Phil mir über den Rücken.   "Es ist ja nicht so, dass ich dir nicht helfen möchte. Aber ich kann es nicht unterstützen, dass du dich sinnlos in Gefahr bringst. Dein Freund würde mir da sicherlich zustimmen."   Einer meiner Mundwinkel verzog sich zu einem leichten Lächeln. Jake würde dem zustimmen. Schließlich war er immer darauf bedacht, mich zu beschützen. Doch dass er gerade Phil bei einer Aussage zustimmen musst, würde Jake nur mit einem Grummeln erdulden können.   "Kann ich noch eine Zigarette haben?" Phil sah mich nach dieser Frage meinerseits erst irritiert an.   "Ja, klar", sagte er schlussendlich und reichte mir die Schachtel. Ich nahm mir eine Zigarette und ließ mir auch diese von Phil anzünden. Dieses Mal schmeckte es auch gar nicht mehr so schrecklich.   "Jake würde dir zustimmen.", sprach ich ruhig und atmete den Zigarettenrauch aus. "Nur um mich zu beschützen, ist er überhaupt erst in diese dämliche Mine gegangen." Ich machte eine kurze Sprechpause, um einen erneuten Zug meiner Zigarette zunehmen. "Ich bin so wütend auf ihn!"   Ein leichtes, liebevolles Glucksen war Phils Reaktion. "Ich habe Jennifer damals wütende Nachrichten geschrieben, weil ich dachte, sie hat mich versetzt.", sprach er, während er nach seinen Zigaretten kramte. "Selbst als klar war, dass sie wirklich verschwunden war. Ich wollte es nicht wahrhaben. Also habe ich mir eingeredet, sie ist nur nicht bei ihrem Vater aufgetaucht, weil sie sich schämte, mich versetzt zuhaben. Je mehr Zeit verstrich, gab ich ihr die Schuld, dass ich sie nicht abholen durfte."   Phil zündete sich eine Zigarette an. "Nur weil ich mir nicht eingestehen wollte, wie wütend ich auf mich war." Er zog an seiner Zigarette. "Also [MC], warum bist du wütend auf dich selbst?"   "Weil mir die ganze Zeit bewusst war, dass ihm etwas passieren wird." Ich zog scharf die Luft ein. "Ich hätte mehr darauf bestehen müssen, dass er nicht geht."   Phil lächelte mich sanft an. "Das hast du mir schon gesagt." Verwirrt runzelte ich die Stirn. "Ich weiß nicht, auf was du hinauswillst."   "Ich will auf nichts Bestimmtes hinaus. Eigentlich möchte ich nur, dass du dich mit deinen Gefühlen auseinandersetzt."   Ich blickte auf den Boden. "Hm...? Vielleicht, weil ich die letzten zwei Monate wie Häufchen Elend in meiner Wohnung gelegen habe, anstatt etwas zu unternehmen. Ich hätte viel früher nach Duskwood fahren müssen."   "Du musst das nicht jetzt eine Antwort finden. Obwohl das schon mal ein guter Anfang ist. Dennoch darf ich fragen, warum du meintest, du hättest früher fahren müssen?" Phil seufzte, bevor er fortfuhr: "Versteh mich nicht falsch, aber glücklich wirkst du nicht gerade."   Ich zuckte mit den Schultern. "Ich hätte viel früher für die Anderen da sein müssen!" "Obwohl es dir offensichtlich so schlecht geht?", hakte Phil besorgt nach.   Erneut zuckte ich mit den Schultern.   Waren meine Gefühle nicht eigentlich total egal?   "Und jetzt sag' nicht, dass deine Gefühle egal sind", sprach Phil, als hätte er meine Gedanken gelesen. "Es ist löblich, dass du versuchen willst, für die anderen da zu sein. Aber da es dir offensichtlich so schlecht geht, hätte deine Antwort eher lauten sollen, dass du Ablenkung mit deinen Freunden brauchst." Gedankenverloren zog ich an meiner Zigarette und sah ihn mit leeren Augen an.   Womit sollte ich nur im Ansatz verdient haben, eine glückliche Zeit zu erleben?   Nach all dem Drama, welches ich in den letzten Tagen verursacht hatte!   Welches ich mein ganzes Leben schon verursacht hatte...   Und vor allem, welches Leid ich über meine angeblichen Freunde gebracht hatte!!! Nur durch mein Einmischen in Hannahs Vermisstenfall. Es war ein Wunder, dass sie mich nicht hassten. Sie sollten... Sie müssten!   Ich war doch diejenige, die an allem überhaupt die Schuld trug!   "Ich kann das nicht ignorieren!", riss Phil mich mit einem strengen Ton aus meinen Gedanken. "Bei Michael habe ich es getan, bis ich eines Tages sein Testament in der Aurora gefunden habe."   Ich sah die Schuldgefühle in seinen braunen Augen.   "Er war die ganze Zeit für mich da, obwohl ihn seine Schuldgefühle von innen aufgefressen hatten. Mittlerweile denke ich, dass er deswegen so bedacht, darauf war, dass ich wieder auf die Beine komme."   "Also ist Michael wirklich tot...", wisperte ich zur mir selbst.   "Ja.", antwortete Phil knapp. Doch ich spürte seinen skeptischen Blick auf mir ruhen. Mein Herz raste vor Nervosität. Nur dieses Mal lag es nicht an der sexuellen Spannung zwischen uns. Diese hatte sich fairerweise gesagt, gänzlich in Luft aufgelöst.   "Darf ich dich etwas fragen?" Ich nickte, auch wenn Phil Frage rein rhetorisch gemeint war.   "Den Michael, den du statt Richy am Grimrock erwartet hast, war aber nicht etwa Michael Hanson?" Auch hier nickte ich kurz zur Bestätigung.   "Darf ich fragen, warum du ihn verdächtig hast?" Auch diese Frage war von Phil nur rhetorisch gemeint. Dennoch, oder gerade, weil ich diese Frage nicht beantworten wollte, schüttelte ich vehement den Kopf. "Bei meiner Verhaftung hatte man mir gesagt, dass es wegen meiner Verbindung zu Michael Hanson dringend tatverdächtig wäre."   "Ich habe damit nichts zu tun.", fiepste ich erschrocken. "Es war nur weil- ", begann ich, aber ich brachte es einfach nicht übers Herz, ihm die Wahrheit zusagen.   "Weil Amy an Jennifers Gedenkstein gefunden wurde?", hakte Phil nach.   "Ja?", unbeabsichtigt war meine Stimme mehr fragend als wie geplant bestimmend.   "Da ist noch mehr, nicht wahr?", sagte Phil ruhig. Ich nickte. "Und du willst es mir nicht sagen?", schlussfolgerte Phil aufgrund meiner Reaktionen.   Daraufhin schüttelte ich den Kopf: "So ist es nicht."   Plötzlich fiel mir das Atmen schwer. Aus heiterem Himmel tauchten die Bilder von dem nächtlichen Angriff auf Jessy vor meinem inneren Auge auf.   Es war alles meine Schuld!   Ich hatte alles nur noch schlimmer gemacht.   "Ich bin einfach nicht die richtige Person, die dir die ganze Wahrheit erzählen sollte.", belog ich mehr mich als Phil. Er sah mich an. Allerdings spülte mein Gehirn immer und immer wieder die Bilder ab; wie der Mann ohne Gesicht, also Richy, Jessy hinterrücks angriff.   Ich japste nach Luft. "Es ist alles meine Schuld!" Mit dieser Aussage fing ich mir einen irritierten Blick von Phil ein. "Deine Schwester wurde meinetwegen angegriffen! Nur um mich davon abzuhalten, weiter zu ermitteln! Ich hätte es spätestens da nicht mehr ignorieren dürfen! Dann hätte Richy auch nie den Verdacht auf dich lenken müssen. Und du wärst nie ins Gefängnis gekommen!", sprudelte es auch mir heraus.   "Warte! Warte!", unterbrach Phil mich. "Jetzt mal ganz langsam, [MC]. Davon ist doch nichts deine Schuld!"   "Doch!", schluchzte ich. "Mein Einmischen hat doch das Ganze nur provoziert."   "Du wolltest doch nur helfen...", versuchte Phil mich zu trösten.   "Das wollte Richy doch auch nur!"   "Indem er Hannah entführt?!", hakte Phil skeptisch nach.   "Ja!", brachte ich noch hervor, bevor meine Tränen meine Stimme erstickten. Phil, dessen meine Worte nur noch mehr verwirrten, tätschelte sanft über meinen Rücken. Als ich mich ansatzweise wieder beruhigt hatte, fragte Phil liebevoll: "Du bist zwar wunderschön und klug, dennoch kann ich dir ohne die Zusammenhänge nicht folgen. Möchtest du sie mir vielleicht erklären?" Als Antwort schniefte ich die Nase. Phil wiederum lächelte mich genauso liebevoll an, wie er mit mir gesprochen hatte.   Ich wischte mir die Tränen weg. Zugebenermaßen war dies eine überflüssige Tätigkeit, da sich meine Augen sofort wieder mit der salzigen Flüssigkeit füllten.   "Es tut mir so leid, Phil.", begann ich. Er hatte die Wahrheit verdient. Auch wenn ich nicht die richtige Person war, die ihm Tatsachen offenbaren sollte. Nur hatte ich berechtigte Zweifel, ob er sonst jemals die ganze Geschichte zum Unfalltod seiner Freundin erfahren würde.   Ein Vorteil war zudem, dass seitdem ich diesen Entschluss gefasst hatte, die Bilder von Jessy Angriff vor meinem inneren Auge verschwunden waren.   Ich holte noch einmal tief Luft, um ich zu beruhigen. Dann brabbelte ich hektisch los: " Richy wollte, dass er, Hannah und Amy sich stellen. Er hatte Hannah vor zehn Jahren den AMC Gremlin gegeben. Und Hannah hat...Sie hat..."   Panisch japste ich nach Luft.   "Hannah hat Jennifer überfahren?", ergänzte Phil fragend in einem ungewöhnlich ruhigen Ton. Ich nickte zur Bestätigung. "Danke, dass du es mir gesagt hast.", der Ton in Phils Stimme blieb unverändert ruhig. Wir schwiegen. Durch diese unangenehme Stille hörte ich meinen zu schnellen Atemzügen.   "Und deswegen dachtet ihr, Michael steckt hinter alle dem.", schlussfolgerte Phil schließlich und unterbrach somit das Schweigen.   Auch hier nickte ich zur Bestätigung. Zu meiner Überraschung schmunzelte er. "Wenn du Michael gekannt hättest, wüsstest du, wie absurd dieser Gedanke ist." Ich zuckte mit den Schultern.   "Du bist nicht wütend auf mich?", fragte ich nach einigen Sekunden des Schweigens. "Ich sehe keinen Grund, wütend auf dich zu sein. Bei gar nichts, was du mir heute Nacht erzählt hast."   "Aber...", begann ich schluchzend.   "Ich bin dir dankbar, dass du mir die Wahrheit gesagt hast. Obwohl es dir so offensichtlich schwergefallen ist.", er kramte wieder nach seinen Zigaretten. Doch dieses Mal reichte er mir automatisch auch eine. "Sonst hätte ich es wohl nie erfahren."   Er zündet meine Zigarette an, danach erst seine.   "Vielleicht wollte es Hannah dir sagen, als sie dich auf das Armband ansprechen wollte.", überlegte ich laut.   "Welches Armband?", kam es von Phil verdutzt. "Hannah hat auf jeden Fall nie mit mir über Jennifer gesprochen." Ich schluckte nervös. "Hannah hatte herausgefunden, dass du Jennifers Armband bei Pfandleiher abgegeben hast. Deswegen wollte sie sich auch mit dir treffen."   Ich schweig für einige Sekunden. "Warum hast du es den überhaupt bei dem Pfandleiher abgegeben?"   "Ich dachte, es wäre langsam Zeit mit ihrem Tod abzuschließen." Phil machte eine kurze Pause. "Dennoch habe ich mir ja irgendwie ein Hintertürchen offengehalten, indem ich es nur bei Mr. Oakley abgegeben habe." Gedanken versunken zog ich an meiner Zigarette. "Du hast noch nicht damit abgeschlossen, nicht wahr?!"   Phil lächelte mich mit traurigen Augen an.   "Tut man das überhaupt irgendwann?", seine Stimme war melancholisch.   "Ich denke nicht.", antworte ich in demselben Ton.   Wir schwiegen uns bis zum Ende der Zigarette an. Ich war dankbar für Phils Ehrlichkeit. Auch wenn wohl nie über Jakes Verschwinden, seinen vermeintlichen Tod, hinwegkommen würde, so war es doch ein tröstender Gedanke, dass es irgendwann etwas erträglich werden würde.   Irgendwann, in ferner Zukunft...   Aber auf der anderen Seite war es erleichternd zu wissen, dass ich nie wirklich darüber hinwegkommen würde. Ich wollte mir niemals nie erlauben, Jake zu vergessen. Oder auch nur meine Gefühle für ihn. "Danke, Phil.", sagte ich, als ich den Zigarettenstummel auf den Boden warf. "Für alles, meine ich."   Er lächelte mich an. "Dafür hat man doch Freunde."   Ich nickte.   "Aber ich sollte dich langsam zu den Anderen bringen.", sagte Phil, als er aufgestanden war.   "Ja, das stimmt wohl.", seufzte ich.   "Du kannst auch bei mir übernachten...Und keine Sorge, ich schlaf auch auf der Couch und überlass dir, gentlemanlike, mein Bett."   Mein Gesichtsausdruck musste sich unbemerkt von mir verzogen haben. Phil grinste mich breit an. "Du hast Angst, dass er morgen früh zufällig bei meiner Wohnung vorbeilaufen könnte und die falschen Schlüsse zieht, stimmt's?!" Beschämt blickte ich zu Boden.   "Im Leben kann es schon die verrücktesten Zufälle geben." Phil reichte mir seine Hand, um mir beim Aufstehen behilflich zu sein. "Dann bring ich dich besser in die Hütte zu deinem Freunde." Wir stiegen in Phil's Van. Er ließ es sich jedoch nicht nehmen, mir die Beifahrertür zu öffnen. Bevor wir losfuhren, rief er Jessy über seine Freisprechanlage an.   "Oh mein Gott, Phil! Sag mir bitte, du hast sie gefunden.", schrie seine kleine Schwester regelrecht ins Telefon.   "Ja, keine Sorge. Es geht ihr auch gut. "   "Danke, Phil.", hörte ich Jessy schluchzen.   Das schlechte Gewissen durchflutete meinen Körper, sodass ich mir ein erneutes Weinen nicht mehr unterdrücken könnte.   Was war ich für ein furchtbarer Mensch, dass ich meinen Freunden solche Sorgen bereitet hatte...   "[MC]!!!", schrie Jessy meinen Namen, während Phil seine Hand, zu meiner Beruhigung, auf meine Oberschenkel legte.   "Ich fahr jetzt zur Hütte. Wir sehen uns da." Ohne auf eine Antwort zu warten, legte er auf.   "Geht's wieder?", fragte er, als er einige Minuten später den Motor startete.   "Ja.", meinte ich knapp.   "Es ist okay, dass es dir zurzeit nicht gut geht, eigentlich auch verständlich. Und ich weiß aus eigenen Erfahrungen, dass ein Gespräch die Welt nicht in Ordnung bringt. Doch lieber werde ich im Zweifelsfall von deinem Anruf geweckt, als dass dich deine Probleme überhandnehmen. Bevor ich nachher noch auf deiner Beerdigung stehe."   "So schlecht geht es mir auch nicht.", versuchte ich seine Aussage zu beschwichtigen.   "So wirkst du aber überhaupt nicht.", meinte Phil streng. "So schnell, wie du immer wieder aufgewühlt wirst."   "Ist doch egal.", entgegnete ich.   "Nein, ist es nicht! Du gibst dir an allem, was passiert ist die Schuld. Auch wenn du sie überhaupt gar nicht trägst.   Das hat Michael auch getan und er konnte es irgendwann nicht mehr ertragen... Versprich mir einfach, dass du dich meldest, wenn du jemanden zu reden brauchst."   "Versprochen", murmelte ich und senkte meinen Blick. "Aber du meldest dich auch, wenn du jemanden zum Reden brauchst. Egal wie es mir geht…Ich meine...Auch wegen Jennifer und die Sache mit Hannah."   "Mach dir darüber keinen Kopf.", lächelte Phil. "Aber ja, wenn ich das Bedürfnis darüber zu reden, melde ich mich bei dir." Kapitel 13: Kapitel 13: Schuld! ------------------------------- Kapitel 13: Schuld! Ich stand mitten auf einer Straße. Panisch sah ich mich um. Nur einige Laternen spendeten spärlich Licht.   Wo zum Teufel war ich?   Das Vibrieren meines Handys ließ mich aufschrecken. Schnell zog ich es aus der Gesäßtasche meiner Jeans.   Ein Anruf von Jessy...   "Hey Jessy.", nahm ich den Anruf freundlich entgegen.   "Hey... Danke, dass ich dich jetzt anrufen durfte.", plapperte sie sofort los. "Ich wollte eigentlich schon zu Hause sein, bevor es dunkel wird..."   Ihre Wortwahl kam mir so unglaublich bekannt vor....   Und hatte ich überhaupt geschrieben, dass sie mich anrufen kann?   "Man...Einfach unfassbar, dass Cleo und Thomas echt in den Keller eingebrochen sind."   Plötzlich war das Handy in meiner Hand verschwunden. Irritiert blickte ich auf.   "Ich meine... Was haben sie gedacht, was sie da finden werden. Darin ist nichts. Rein gar nichts.", sprach sie weiter in ihr Telefon. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in meinem Körper breit. Diese Situation kam mir so bekannt vor.   "Huh? Was, wenn ich sie jetzt nicht erreichen kann? Was dann? Phil will echt die Polizei rufen?"   Das war der Moment, in dem Jessy angegriffen wurde. Ich wollte zu ihr rennen. Doch mein Körper gehorchte mir nicht. Ich konnte nicht mal ihren Namen rufen. Im nächsten Moment richtete sie sich schon wieder auf. Erst war ich erleichtert, nur um im dann ihr blutüberströmtes Gesicht zu sehen.   "Es ist deine Schuld!", sagte sie mechanisch und schritt auf mich zu. Panik stieg in mir auf.   "Es ist deine Schuld!", wiederholte sie ihre Worte, als sie ihren nächsten Schritt tätigte.   "Es ist deine Schuld!", immer mehr Blut floss über ihr Gesicht. "Es ist deine Schuld!"   "Es tut mir leid...", wisperte ich.   "Es ist deine Schuld! Nur deine!", sagte eine verzerrte männliche Stimme. Automatisch drehte ich mich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Direkt neben mir stand er.   Der Mann ohne Gesicht!   "Ganz alleine deine Schuld!", sagte er in seiner düsteren Stimme. Erschrocken drehte ich mich weg.   Vor mir war ein verunfalltes Fahrzeug, dass wohl mit überhöhter Geschwindigkeit gegen einen Baum gefahren war. Aus der Motorhaube stieg Rauch auf. Ich schritt langsam darauf zu. Die Fahrertür öffnete sich automatisch. Ein schwer verletzter Dan sah mich mit leeren Augen an.   "Es ist deine Schuld!", sagte er genauso mechanisch, wie Jessy es getan hatte.   "Es ist deine Schuld!", sagten Dan und Jessy, die plötzlich neben Dans Auto stand, synchron. Immer noch flossen Unmengen an Blut über ihr Gesicht.   "Es ist deine Schuld! Ganz allein deine Schuld.", sagte der Mann ohne Gesicht neben mir in einem höhnischen Singsang. Ich blickte in meiner Verzweiflung in den wolkenbehangenen Nachthimmel.     "Es ist deine Schuld!", sagten nun Dan, Jessy und der Mann ohne Gesicht synchron.   Ich wollte die drei ansehen, doch ich blickte in Richy Gesicht. Er grinste mich an. In der einen Hand hielt er die Maske und in der anderen ein Feuerzeug. Ich konnte nicht erklären, warum mein Blick für einige Sekunden auf den Boden glitt. Über all um uns herum war eine schimmernde Flüssigkeit.   Benzin?!   Mein Blick wanderte durch die Umgebung.   Ich war in der Mine!   Ein Klicken richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Richy!   "Das hier ist deine Schuld!", meinte er breitgrinsend, als er das Feuerzeug fallen ließ.   "Nur deine Schuld!", sagte er, als er im Flammenmeer verschwand. Das Feuer um mich herum vernichtete alles, bis ich in einer schwarzen Leere stand.   "Es ist deine Schuld!", hallten die Stimme von Jessy, Dan, Richy, Thomas, Cleo und Lilly in einer unerträglichen Dauerschleife. Bis eine Gestalt in einem schwarzen Hoodie einige Meter vor mir auftauchte. Die Kapuze weit über sein Gesicht gezogen.   "Jake?!", sprach ich erleichtert und streckte ihm meine Hand entgegen.   "Nur du allein bist Schuld!", sagte Jakes verzerrte Stimme. "Es ist alles nur deine Schuld!"   Neben ihm tauchten zwei FBI-Agenten auf. Ich rannte zu ihm. Das war meine Chance, ihn zu retten. Doch bevor ich sie erreichen konnte, gingen die drei in Flammen auf.   "Nur du bist Schuld!", seine verzerrte Stimme war hasserfüllt.   "Es tut mir leid.", in meiner Verzweiflung war ich auf die Knie gesackt. Mein Gesicht war in meinen Händen vergraben und die Tränen flossen über meine Wangen.   "Es ist deine Schuld!", spotteten die Stimmen meiner Freunde.   Ich blickte hoch. Sie standen alle um mich herum.   Thomas...   Dan...   Jessy...   Lilly...   Cleo...   Und Richy...   "Es ist deine Schuld.", sagten sie synchron. Genauso hoben sie ihren Zeigefinger.   "Es ist deine Schuld! Es ist deine Schuld! Es ist deine Schuld! Es ist deine Schuld!"   Ihre Stimmen wurden immer lauter. Ich drückte meine Hände gegen meine Ohren.   "Ja.", wimmerte ich. Jemand zog die Hände von meinen Ohren. Ich blickte hoch. Direkt vor mir war der Mann ohne Gesicht.   "Siehst du? Sie wissen es alle! Sie wissen, dass es deine Schuld ist. Sie hassen dich dafür, dass du sie ständig in Gefahr bringst.", sprach er gehässig.   Ich sah ihn nur an.   Sollte ich etwa widersprechen?   Obwohl ich wusste, dass er recht hatte!   "Du hast sie alle in den Wald geschickt...Zu mir geschickt!... Und was hast du in der Zwischenzeit gemacht...Ich sag es dir...Gemütlich auf deiner Couch gesessen!... Da frage ich mich doch, wer hier das wahre Monster ist?!" Das gehässige Grinsen konnte er trotz Maske nicht verbergen. Ich wollte wegsehen, doch er packte mein Gesicht.   Seine Finger bohrten sich in meine Haut.   "Es ist deine Schuld!", sagte der Mann ohne Gesicht mit Richys Stimme. "Nur wegen dir sind deine Freunde doch überhaupt erst angegriffen. Ich habe dir gesagt, dass du dich raushalten solltest.", mit jedem Wort verzerrte sich seine Stimme.   "Ich wollte doch nur helfen...", wimmerte ich.   "Lüge!!!", brüllte er mich an.   "Warum lügst du uns an, [MC]", flüsterte Jessy in mein linkes Ohr. Da der Mann ohne Gesicht immer noch mit festem Griff seine Finger in meinen Unterkiefer gebohrt hatte, blieb mir nichts anders übrig, als meine Augen nach links zu bewegen.   Ich atmete schwer. Jessy stand neben mir. Das Blut in ihrem Gesicht war getrocknet. Ihre Haut war leichenblass.   Aus ihren Augen war sämtliches Leben entwichen.   Die Panik ließ mein Herz rasen.   "Nach allem, was du uns angetan hast, haben wir da nicht wenigstens die Wahrheit verdient?!", wisperte Thomas in mein rechtes Ohr. Ängstlich wanderten meine Augen nach rechts. Auch Thomas Haut war leichenblass, auch aus seinen Augen war sämtliches Leben gewichen.   "Ich...", begann ich. Doch meine Stimme versagte. Aus der unrealen Hoffnung, dieser Situation zu entkommen, schloss ich meine Augen. Ich spürte, wie sich der Griff vom Mann ohne Gesicht löse. Hoffnungsvoll öffnete ich meine Augen. Nur um mich im nächsten Moment mitten im dunklen Wald wieder zu finden. Umringt von meterhohen Bäumen.   Mutterseelenallein... Meine Atmung war beschleunigt. Meine Füße trugen mich automatisch tiefer in den Wald. Orientierungslos tätigte ich Schritt für Schritt. Immer mehr Panik stieg in mir auf. Doch meine Füße wollte mich nicht länger tragen.   Bis mich etwas am Bauch berührte...   Meine Augen erblickten einen Arm gekleidet im schwarzen Hoodie. Die Quelle dessen, was mich zurückgezogen hatte.   "Jake?", hauchte ich hoffnungsvoll.   "Nein.", hallte die verzerrte Stimme vom Mannes ohne Gesicht durch die Nacht. "Du hast ihn in sein Verderben rennen lassen!", hörte ich seine Stimme in meinem rechten Ohr.   "Du bist Schuld an seinem Tod.", vernahm ich seine Stimme in meinem linken Ohr. "Nein.", wimmerte ich.   "Du kannst dich deiner Schuld nicht ewig entziehen.", hallte die Stimme durch den Wald. Dann erblickte ich den Galgenstrick am Ast der einsamen Trauerweide.   Ich schluckte.   "Mein Geschenk an dich!", flüsterte der Mann ohne Gesicht mit Richys Stimme. Ich trat einen Schritt darauf zu.   "Es wird Zeit, dass du den Preis deiner Sünden bezahlst." Wie angewurzelt blieb ich stehen.   "Du bist zu mir in den Wald gekommen."   Ein Schauer durch meinen Körper.   "Du bist gekommen, weil du dir deiner Schuld bewusst bist.", flüsterte Richy. Ich schaffte es immer noch nicht, mich zu rühren.   "Ich kann dich von all deiner Schuld bereifen."   Einzelne Tränen flossen über meine Wange.   "Es wird Zeit, den Preis für deiner Sünden zu bezahlen.", die Stimme war wieder verzerrt, jedoch liebevoll.   "Ich weiß...", hauchte ich.   Im nächsten Moment stand ich unter dem Ast der Trauerweide und ließ mir vom Mann ohne Gesicht den Strick um den Hals legen.   "Deine Schuld! ...Deine Schuld! ... Deine Schuld.", klagten die Stimme meiner Freunde mich an. Ich spürte, wie der Mann ohne Gesicht die Schlinge um einen Hals immer enger zog. Somit fiel mir das Atmen immer schwere. Endlich erhielt ich die gerechte Strafe für meiner Schuld.   Für all das Leid, das ich über alle gebracht hatte!   Ich schloss meine Augen.   ***   Mit einem Schlag saß ich aufrecht im Bett. Es dauerte einige Sekunden, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Erleichtert atmete ich aus. Jessy schlief friedlich neben mir.   Es war nur ein Traum!   Wie jede Nacht...   Doch mein schnellschlagendes Herz wollte das nicht verstehen. Mit wackligen Beinen stand ich auf.   Ich brauchte frische Luft.   Dingend...   Vom Nachtisch griff ich mein Handy. Vorsichtig tapste ich zur Tür und öffnete ich diese so leise wie möglich. Daraufhin schloss ich sie wieder bedacht darauf Jessy nicht zu wecken.   Ich entsperrte meinen Bildschirm und öffnete die Taschenlampe-App. Leise schlich ich durch das Haus in den Wohnraum. Auf dem großen Tisch standen noch die Alkoholreste des abendlichen Trinkens. Ich leuchtete die Flaschen an.  Mit zittriger Hand griff nach der dreiviertel vollen Jack Daniels Flasche.   Eigentlich mochte ich keinen Whiskey.   Jedoch ging es mir nicht um den Geschmack, sondern um die beruhigende Wirkung des Alkohols.   Ich wollte Phil nicht schon wieder total verheult, mitten in der Nacht anrufen. Auch wenn er mir, dass vor drei Tagen bei unserem Gespräch angeboten hatte. Es war auch nicht so, dass er genervt reagiert hatte, als ich ihn vorletzte Nacht verheult angerufen hatte.   Ganz im Gegenteil...   Phil hatte do verständnisvoll regiert, wie ein Mensch es nur konnte. Dennoch fühlte ich mich als Last. Dieses Gefühl verstärkte sich nur noch mehr, wenn ich mich jemanden anvertraute.   Ich war stolz auf mich, dass ich es in den letzten drei Tagen geschafft hatte, die bestmögliche Version meiner selbst zu sein. Die [MC], die meine Freunde verdient hatten. Und ich schaffte es auch in einigen Momenten meine negativen Gedanken gänzlich auszublenden.   In diesen Momenten war ich wirklich glücklich.   Doch dann kamen wieder Momente wie dieser, in denen ich komplett den Halt verlor.   Auf meinem Weg in die Küche blieb ich stehen. Mein ursprünglicher Plan, mir ein Glas für den Whiskey zu holen, schien mir plötzlich so unnötig. Mit der Whiskeyflasche in meiner Hand schlich ich immer noch zittrig zur Terrassentür. Blöderweise, aufgrund der Dunkelheit übersah ich die leeren, ordentlich zusammengestellten Falschen und berührte diese mit meinem Fuß.   In einem Dominoeffekt fielen einige mit einem lauten Klirren um. Panisch sah ich mich um. Hoffentlich hatte ich niemanden geweckt. Vorsichtig und darauf bedacht, nicht noch mehr Lärm zu verursachen, setzte ich meinem Weg fort.   Langsam öffnete ich die glasende Schiebetür. Beim Schließen ließ ich bewusst einen Spalt offen. Nicht nur, weil ich befürchtete, wieder unnötigen Lärm zu verursachen, sondern auch irgendwann problemlos ins Haus zurückzugelangen.   Ich schloss kurz meine Augen und zog durch die Nase die frische Nachtluft. Das Gefühl, welches mich durchströmte, konnte ich nicht richtig definieren. Wohltuend würde es wohl am ehesten beschreiben, wenn ich wirklich glücklich wäre.   Mit meiner Smartphone-Taschenlampe suchte ich den Weg zu den Sitzgelegenheiten. Erschöpft ließ ich mich auf einen der Stühle nieder. Ich stelle die Jack-Daniels-Flasche neben mich und schaltete das Licht der Taschenlampe aus. Meine Augen brauchten nicht lange, um sich an den Verlust der Lichtquelle zu gewöhnen. Der Wald, der unser Ferienhaus umgab, wirkte in der Nacht noch unheimlicher.   Dennoch...   Ich griff nach der Flasche, öffnete diese und nahm einen großen Schluck der gold-braunen Flüssigkeit. Angewidert verzog ich mein Gesicht. Durch den ekeligen Geschmack musste ich wohl durch. Ich konnte es als Strafe betrachten, dass ich mir wieder versuchte Hoffnung zumachen. Jake würde irgendwo in diesem Wald sein und auf mich warten.   Ich trank einen erneuten Schluck.   Denn rein rational gesehen machte das keinen Sinn. Wenn Jake wirklich unverletzt aus der Mine dem FBI entkommen war, warum sollte er dann im Wald sein.   Wieder führte ich die Flasche zu meinem Mund.   Da machte es mehr Sinn, dass er im Motel in Duskwood untergekommen war. Mit meinem nächsten Schluck spürte ich endlich die Wirkung des Alkohols. Lilly hatte das schon geprüft. Außerdem hatte sie sowohl Mrs. Walter als auch den alten Gray darum gebeten, ihr Bescheid zugeben, wenn jemand, der auf Jakes Beschreibung passte, in dem Motel eincheckte.   Irgendwie war ich neidisch, dass sowohl Lilly als auch Hannah wussten, wie er aussah. Auch wenn sie nur sein jüngeres-ich kannten. Obwohl ich nicht wusste, ob Jake wie bei dem Videotelefonat mit mir auch sein Gesicht verborgen hielt, als er mit Hannah während ihrer Entführung telefoniert hatte.   Ich trank nach einem Schluck, dann entsperrte ich meinen Bildschirm. Ein weiterer Schluck, bevor ich den Chat öffnete.   Jakes und meinen Chat...   Seine Worte...   "Wer ist da?!", hörte ich Dans energische Stimme. Erschrocken fuhr ich zusammen.   "Ich bin's", fiepste ich und stand auf. Vorsichtig machte ich die Terrassentür auf.   "Mensch! Hast du mich erschreckt.", raunzte Dan mich an. "Und was machst du überhaupt hier?! Es ist mitten in der Nacht."   "Ich konnte nicht mehr schlafen.", flüsterte ich und deutete ihm, dass er auch seine Stimmlage senken sollte, um die anderen nicht zu wecken.   "Dann poltere hier nicht so rum. Ich dachte, hier wäre einen Einbrecher oder so."   "Sorry! War ein Versehen.", nuschelte ich verlegen.   Ich merkte, dass Dans Blick auf der Jack-Daniels-Flasche in meiner Hand seit mehreren Sekunden rührte.   "Ich wollte auch was abhaben, bevor du alles wegsäufst.", scherzte ich meine Ausrede.   "Aha.", meinte Dan in einem Ton, der mir zu verstehen gab, dass er mir nicht glaubte.   Doch ich ignorierte diese Tatsache und holte zwei Gläser aus der Küche. Ich reichte ihm diese und schob seinen Rollstuhl auf die Terrasse.   "Es ist aber schon wieder wegen Hackerboy, oder?!", fragte Dan, als wir draußen waren.   "Jake!", raunte ich ihn an, während ich uns den Whiskey einschenkte.   "Vergiss den Typen doch endlich. Der ist eh über alle Berge. "; meinte er, als ich ihm sein Glas reichte.   "Dan..", ermahnte ich ihn.   "Ich meine es ernst! Das ist der Typ nicht wert."   "Warum ist er immer noch so ein rotes Tuck für dich?!", fragte ich genervt und genehmigt mir einen großen Schluck aus meinem Glas. Unter den skeptischen Augen von Dan. "Schon mal darüber nachgedacht, dass er doch ausgenutzt hat?"   Ich schüttelte den Kopf.   "Siehste!"   "Nein, Dan. Ich meinte, so war es definitiv nicht."   "Mal ehrlich, [MC], wie willst du dir da so sicher sein. Fakt ist, der Typ hat ordentlich Dreck am Stecken. Du hättest mal das FBI-Aufgebot sehen müssen. Die haben den mit Hubschraubern und so gesucht. So einer kann es nicht gut mit dir meinen. ", erläuterte mir seinen Dan-mäßigen Schlussfolgerungen.   Ich rollte genervt mit den Augen.   "Außerdem, wenn Hackerman es wirklich ernst mit dir meinen würde, hätte er sich schon längst bei dir gemeldet."   Das hatte gesessen. Ich starrte Dan an.   "Du weißt also, das ich recht habe.", meinte Dan mit einer Mischung aus Triumph und Mitleid. Ich senkte den Blick. "Du solltest echt deinen Männergeschmack überdenken."   Statt zu antworten, trank ich einen großen Schluck des Whiskeys.   "Barkeeper-Boy ist auch kein richtiger Umgang für dich.", setzte Dan weiter fort. Ich schnaubte genervt.   "Ist ja nicht so, dass wir nicht mitbekommen, dass ihr beide euch die ganz Zeit zutextet."   Auch diese Aussage ignorierte ich zuerst und leerte mein Glas in einem Zug. Es stimmt zwar, dass Phil und ich die letzten Tage einen regen Nachrichtenaustausch vollzogen haben. Aber dieser diente nicht für den Aufbau von romantischen Gefühlen. Auch wenn Phil zugeben hatte, dass seinerseits schon Interesse bestehen würde. Dennoch hatte er problemlos akzeptiert, dass mein Herz schon an jemanden anders vergeben war. Eine Freundschaft war besser als nichts. Das hatte er mir zu mindestens so gesagt. Vor allem zeigte er mir, dass mit jeder Nachricht, in der er nach meinem Befinden erkundigte. Oder mit jedem Versuch, mir Mut zuzusprechen, dass ich die Hoffnung nicht aufgeben sollte. Schließlich würde laut Phil kein Mann eine Frau wie mich einfach so im Stich lassen.   "Der hat nämlich definitiv nicht nur eine am Start.", setzte Dan seinen Vortrag fort. "Ich weiß zwar nicht, was dich mein Liebesleben angeht, aber...", sprach ich genervt, während ich mir erneut Whiskey einschenkte. "Phil und ich sind nur Freunde."   Ich trank einen Schluck. "Und was Jake angeht. Hast du schon mal daran gedacht, dass es mir einfach egal ist, dass er vom FBI gesucht wird?!" Ich setzte bei erneutem Trinken so an, das ich das Glas in einen Zug leeren konnte. Langsam setzte die betäubende Wirkung des Alkohols ein.   Endlich dämpfte es die Wut und Trauer, die seit dem Gespräch mit Dan nur noch mehr aufkochte. Jetzt musste ich es nur noch schaffen, den Schmerz zu unterdrücken, den mein Albtraum wieder aufgeweckt hatte.   "Das ist nicht dein Ernst?!", mahnte Dan ungläubig. "Der Kerl kann sonst was angestellt haben!".   Statt zu antworten füllte ich wieder mein Glas.   "[MC], was wenn der sich nur umgarnt hat, um dir sonst was anzutun?"   "Dan, das ist lächerlich!"   "Ist es das? Ich erinnere dich nur zu gerne daran, Hackerboy wird vom fucking FBI gesucht. Auf deren Liste kommst du nicht, weil du ne Packung Kaugummi geklaut hast."   Ich zuckte nur mit den Schultern.   "Und für so einen ertränkst du deinen Kummer in Alkohol."   "Wenigstens setzte ich dabei nicht mein Auto vor einen Baum.", keifte ich ihn angriffslustig an.   Ich würde nicht sagen, dass Dan unrecht hatte, doch lag er einfach falsch, dass es nur an Jake lag. Seit dem Gespräch mit Phil war mir klar geworden, dass ich alle negativen Erfahrungen nur wegen Jake und den anderen ertragen konnte. Und mit Jakes Verschwinden war nun mal ein großer stützender Pfeiler eingebrochen. Dafür kamen jedoch die Erdbeben an Schuldgefühlen mit der Erkenntnis, welche Wellen meine Ermittlungen ausgelöst hatte.   Und wer wusste schon, ob Jake mich davor schützen könnte....   Phil hatte es mir klar gemacht. Zudem mir nahegelegt, mir professionelle Hilfe zu suchen. Er hatte auch erst Ruhe, als ich ihm versichert hatte, darüber nachzudenken. Doch ich sah die Notwendigkeit nicht. Jemand wie Hannah, die tatsächlich eine traumatische Erfahrung durchgemacht hatte, benötigte psychotherapeutische Hilfe.   Aber doch nicht ich...   Schließlich hatte ich mir doch alles selbst zuzuschreiben.   Hatte ich dann überhaupt irgendeine Form von Hilfe verdient?   Mein Blick war gedankenversunken auf den Boden gerichtet. Ich nippte an meinem Glas und bemerkte dabei nicht, dass diese bereits schon leer war. Genauso wenig bekam ich mit, dass Dan den Inhalt der Jack-Daniels-Flasche im Blumenbeet entleerte hatte. Damit ich keine Gelegenheit mehr hatten, mir erneut einzuschenken.   "Gott, vergebe mir meine Sünden", hatte er während dessen genuschelt. Ich hatte seine Worte nicht verstand, jedoch mitbekommen, dass er etwas gesagt hatte.   "Huh?", meinte ich und griff nach der mittlerweile leeren Whiskeyflasche. Was ich enttäuscht feststellte.   "Ich meine es wirklich nur gut mit dir.", meinte Dan sanft.   "Das weiß ich doch.", sagte ich "Es ist nur..."   "Das du ihn liebst, schon klar!"   "Nein, also ja, ich liebe ihn. Mehr alles jemals jemand anders zuvor. Aber ich meinte eigentlich nur, dass Jake immer für mich da war.  Jedes Mal, wenn diese ganzen schlimmen Dinge während unserer Ermittlung passiert sind, war er für mich da. Und ich würde ihn gerne suchen. Doch weiß ich nicht, wie ich das anstellen soll. Taktisch wie emotional. Obwohl er doch nur meinetwegen in Schwierigkeiten steckt.“   Dan atmete tief ein. "Ich verstehe."   Ich nickte, auch wenn ich nicht wirklich daran glaubte, dass wirklich verstanden hatte. "Dennoch kann Hackerboy sich warm anziehen, wenn er hier auftaucht. Den prüfe ich erst mal auf Herz und Nieren."   Ich kicherte: "Es würde mich auch wundern, wenn gerade du das nicht tust."   "Aber so langsam sollten wir wieder schlafen gehen. Schließlich wollen wir morgen zum Schwarzwasser See."   "Ja. Ich werde ehrlich gesagt mittlerweile auch wieder müde.", bestätigte ich wahrheitsgemäß.   Kapitel 14: Kapitel 14: Telefongespräch --------------------------------------- Kapitel 14: Telefongespräch   Das Wetter war in den letzten drei Tage verregnet gewesen. Teilweise tobten sogar Gewitter über die kleine Stadt Duskwood. Eine Tatsache, die ihm die Übernachtung im Wald unmöglich machte. Es war nicht so, dass er ein richtiges Bett nicht bevorzugte.   Doch jede Übernachtung in einem Motel barg ein gewisses Sicherheitsrisiko. Deswegen war er bemüht, so spät wie möglich einzuchecken und so früh wie möglich auszuchecken. Auch gehörte es zu seiner Taktik nicht länger als eine Nacht im selben Motel zu verbringen.   Seine Verfolger duften ihn nicht finden!   Vor allem nicht, bevor er sein Versprechen wahr gemacht hatte und sich mit ihr getroffen hatte. Er hoffte, dass seine Maßnahmen ausreichend und seiner Verfolger seine Spur nicht wieder aufnehmen konnten. Prüfen, wie weit sie ihm auf den Fersen waren, konnte er zurzeit nicht. Auch selbst wenn es ihm gewisse Vorteile verschaffen würde, war ihm das Risiko zu groß. Schließlich hätten seine Verfolger auch dann wieder eine weitere Möglichkeit, eine Spur von ihm aufzunehmen.   Und noch mal Untertauchen, vor allem, ohne sie wenigstens einmal gesehen zu haben, würde er nicht schaffen. Einen Vorteil hatte das schlechte Wetter jedoch gehabt. Er war mit seiner weit ins Gesicht gezogenen Kapuze weniger ausgefallen. So konnte er unbemerkt durch Duskwood laufen und Gesprächsfetzen von Passanten aufschnappen.   Gestern war es so weit. Ein Mann sprach davon, dass das Mädchen, das geholfen hatte, Hannah zu finden, in Duskwood war. Er war froh, dass dieser Mann sein Vater war. Sonst hätte er wohl in seiner Euphorie versucht, mehr Informationen zubekommen. Somit seine Deckung aufgeben.   Aber bei seinem Vater...   Es war schon merkwürdig genug, ihn so auf offner Straße zu begegnen. Auch konnte er nicht sagen, was er diesem Mann gegenüber empfand. Zugegebenermaßen war dies herauszufinden, auch keineswegs seine Priorität. Doch irgendwie fand er den Umstand amüsant, dass die Information, nach der er sich so sehr sehnte, von seinem Vater kam.   Er atmete tief ein.   Jetzt musste ihm nur noch einfallen, wie er es anstellte, sie zu finden. Schließlich würde sie nicht einfach hier im Wald auftauchen. Dafür gab es keinen Anlass für sie. Und selbst wenn sie aus irgendwelchen Gründen einen kleinen Waldspaziergang machte, so war doch relativ unwahrscheinlich, dass sie plötzlich vor ihm auftauchte. Dafür waren die Wälder zu riesig.   ***   Ich gähnte.   Nicht nur der Schlafmangel machte mir zu schaffen. Auch bereute ich meinen übermäßigen Alkoholkonsum. Mein Kopf schmerzte. Cleo hatte mir eine Aspirin gegeben, aber sie hatte ihre noch nicht entfaltet.   Jessy, die neben mir auf der Picknickdecke saß, bastelte gerade eine Kette aus Gänseblümchen. Lilly, die auf der anderen Seite saß, pflückte fleißig Material für Jessys Kette. Sie ließ es sich aber nicht nehmen, mich mit einem der Gänseblümchen an der Nase zu kitzeln. Ich gab einen gequälten Laut von mir.   "Trinken will gelernt sein", neckte mich Dan wegen meines Katers vom gestrigen Alkoholexzess.   "Kann man den irgendwie abschalten?!", jaulte ich.   "Ich fürchte nicht. Zumindest habe ich noch nie einen Ausschalter gefunden", sagte Hannah und reichte mir eine Dose Cola. Ich setzte mich auf und nahm diese entgegen. "Danke"   "Wir könnten ihn auch einfach hierlassen.", scherzte ich.   "Hey!", protestierte Dan.   "Ach komm. Du hast zwei gesunde Räder, du kommst schon klar.", meinte ich trocken.   "Wie wär's, wenn wir dich hierlassen.", entgegnete Dan beleidigt.   "Das geht nicht.", warf Jessy ein. "Dann müsste ich nämlich auch hierbleiben."   "Und ich auch.", fügte Lilly sofort hinzu.   "Dito!", rief uns Cleo zu, die gerade etwas im Kofferraum ihres Autos suchte.   "Aww! Leute!", sagte ich gerührt.   "Ich würde auch bleiben.", grinste Hannah. "Und wenn ich bleibe, bleibt Thomas auch." Ein leicht genervter Unterton schwang in ihrem letzten Satz mit.   "Natürlich, mein Schatz.", säuselte Thomas, der immer noch nicht begriffen hatte, dass seine Überfürsorglichkeit Hannah gewaltig auf die Nerven ging. Sie verdrehte, unbemerkt von Thomas, ihre Augen.   Ich lächelte darauf hin verlegen. In den letzten drei Tagen hatten Hannah und ich uns angenähert. Auch wenn es immer noch seltsam war, wenn wir allein waren. Jedoch würde dich das mit der Zeit auch regeln.   Ich mochte sie eigentlich....   "Tja Dan 5:0 für mich, würde ich sagen.", grinste ich breit.   Worauf er nur grummelte.   "Ach Dan.", kicherte ich.   "Ja, ja.", kam es trotzig von ihm.   Kurz darauf zeigte mein Körper die Müdigkeit in Form eines weiteren Gähnens.   "So schlimm?", fragte Jessy mitfühlend.   "Ich glaube, ich geh mir mal eben die Beine vertreten, bevor ich nachher noch einschlafe. ",. sagte ich und stand auf.   "Alles in Ordnung?", fragte Lilly besorgt.   "Ja, klar. Ich bin nur verkatert. ",lächelte ich. "Ein kleiner Spaziergang wird mir eher guttun."   "Soll ich mitkommen?", fragte Jessy besorgt.   "Ach, brauchst du nicht."   "Aber, geh bitte nicht zu weit weg."   "Ja.", antworte ich. "Ich werde mich schon nicht verlaufen. Und falls doch, habe ich ja mein Handy dabei."   "Okay...", man hörte in Jessys Stimme, dass sich nicht von meiner Idee begeistert war.   Es war nicht so, dass es mir egal war. Doch war ich auch nicht abgeneigt, ein paar Minuten für mich zu haben. Meine soziale Batterie war fast aufgebraucht und ein kleiner Waldspaziergang würde sie sicherlich wieder aufladen.   Es kostete mich schon genug Kraft, meine gute Laune dauerhaft aufrecht zu halten.   Und dann auch noch verkatert...   Ich tapste den Trampelpfad entlang. Die großen Bäume warfen riesige Schatten auf den Waldboden. Auch wenn ich ein mulmiges Gefühl hatte, wirkte der Wald wunderschön statt angsteinflößend. Neugierig schaute ich mich um. Ich folgte dem Pfad weiter in den Wald. Endlich schaffte ich es meinen Kopf frei zubekommen.   Auch das Knacken, das ich hörte, beunruhigte mich nicht. Ich hatte mich zwar instinktiv kurz umgesehen. Doch da ich niemanden sah, schloss ich darauf, dass es wohl ein Tier gewesen musste.   Wer sollte auch sonst hier sein?   Selbst am Schwarzwassersee war außer unsere Gruppe niemand.   ***   Er erschreckte, als er hörte, dass sich das Geräusch, welches er gerade vernommen hatte, sich zu nähern schien.   Seine Verfolger...   Es war das Erste, was ihm in den Sinn kam. Schnell hatte er sich hinter einem der Bäume versteckt. Auch wenn ihm das wohl in diesem Fall wenig nutzen würde. Vorsichtig lugte er jedoch in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.   Erleichtert atmete er aus. Es war nur eine Spaziergängerin.   Schnell erhaschte er noch einen Blick, der seine Vermutung bestätigte.   Es war nicht nur irgendeine Frau...   Sie war es!   Sein Herzschlag beschleunigte sich vor Freude. Endlich hatte er sie gefunden. Die Schmetterlinge in seinem Bauch tobten. Ohne wirklich darüber nach zudenken trat er einen Schritt nach vorne.   Blöderweise hatte er dabei den kleinen Ast übersehen. Schnell schritt er zurück in seine Ursprungsposition.   Dennoch hatte er gesehen, wie sie sich erschrocken umblickte.   Frustriert atmete er leise aus.   Es würde ihr nur unnötig Angst machen, wenn ein fremder Mann sie allein im Wald ansprechen würde. Sie wusste nicht einmal, wie er aussah. Die einzige Information, die sie hatte, war, dass er schwarze Haare hatte. Es war einer dieser Momente, in denen er sich wünschte, die Ausgangslage wäre eine andere. Doch konnte er sich immer noch nicht beantworten, ob er seine Entscheidung von vor 4 Jahren bereute.   Ob er mit dem Wissen untätig hätte bleiben können…   Die letzten 4 Jahre hatte er es eigentlich nie bereut. Aber als sie auf diese schicksalhafte Weise seinen Weg gekreuzt hatte, war alles irgendwie anders. Er hatte sich so sehr gewünscht, bei ihr sein zu können. Sie beschützen zu können.   Nur war er ihr größtes Sicherheitsrisiko….   Irgendwie hoffte er, dass sie ihn nun doch nicht mehr treffen wollte. Es wäre einfacher für ihn, wenn sie ihn zurückweisen würde. Statt derjenige zu sein, der sie nachher noch in Gefahr bringen würde. Er fühlte sich schuldig, dass seine Gefühle für sie so Besitz von ihm ergriffen hatten, dass er in seiner Zurückweisung nicht standhaft bleiben konnte und ihr schlussendlich komplett verfallen war.   Er war nicht gut für sie…   Eine Tatsache, die er sich schmerzlich bewusst war. Dennoch wandelte er, als liebeskranker Trottel, wochenlange von Versteck zu Versteck. Nur um wenigstens einmal die Chance zu haben, Sie zu treffen.   Wenigstens einmal….   „Hi Phil.“, hörte er ihre Stimme und es versetzte ihm ein Stich in sein Herz.   ***   Das Handy in meiner Hosentasche vibrierte. Leicht genervt über die Störung holte ich es hervor. „Hi Phil.“, nahm ich den Anruf freudig entgegen. Ich konnte es nicht leugnen, dass mir sein Name auf dem Display ein leichtes Lächeln auf die Lippen gezaubert hatte.   „Was gibts“   „Ist alles in Ordnung bei dir?“, fraget er direkt.   „Ja, klar! Sollt es nicht?“, ich blieb fröhlich.   „Meine Schwester hatte mich gerade angerufen, damit ich dich anrufe.“, begann Phil. „Du bist alleine in den Wald gegangen, nachdem du wieder so abwesend warst.“   „Ich wollte mir nur die Beine vertreten.“   „[MC], was ist los?!“   „Es ist nichts. Wirklich! Ich war einfach nur müde.“   „Hattest du wieder einen Albtraum?“, hakte Phil in einen strengen Ton nach.   Ich seufzte und antworte knapp: „Ja…“   Es machte keinen Sinn, ihn diesem Punkt zu belügen. Phils Ton änderte sich in Sorge: „Warum hast du mich nicht angerufen?“   „So schlimm war es dieses Mal nicht.“   „[MC]“, mahnte er.   „Nein, wirklich. Ich bin gestern nur kurz frische Luft schnappen und bin dann wieder schlafen gegangen.“, erklärte ich in der Hoffnung, Dan hatte meine Whiskey-Eskapade weiterhin geheim gehalten hatte.   Ich hörte ihn schwer einatmen. Er glaubte mir nicht, konnte aber auch nicht das Gegenteil beweisen.   Zu meinem Glück…   „Und warum bist du in den Wald gegangen?“, wollte Phil nun wissen.   „Ich hab doch gesagt, dass ich mir nur die Beine vertreten wollte.“ , mit jedem Wort fiel die Maske meiner Fröhlichkeit. Ich seufzte frustriert. Dabei war ich doch gerade so gut darin gewesen, mich selbst zu belügen.   „Hattest du mir nicht versprochen, nichts Dummes zu tun.“, hörte ich Phils sanfte Stimme durch mein Smartphone.   „Ja…“,meinte ich genervt. Doch dann grinste ich schelmisch. „Aber mein Freund könnte nichts dagegen haben. Schließlich bringe ich mich nicht in Gefahr.“   „Glaubst du denn wirklich, dass dein Freund dir einfach so bei einem Waldspaziergang über den Weg läuft?“, entlarvte Phil meine wahre Intention.   „Nein…“, antwortete ich knapp.   „Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.“, schob ich etwas unsicher hinterher.   „[MC]“, seufzte Phil meinen Namen.   „Was soll ich denn sonst machen? Mir bleiben doch nur noch solche absurden Hoffnungen. Ich habe keinen einzigen Anhaltspunkt. Und ich habe dir versprochen, keine dummen Aktionen zu starten.“   „Dann gehts du alleine in den Wald?“, entgegnete Phil skeptisch.   „Es ist mitten am Tag!“, antwortete ich genervt. „Außerdem sich die anderen nicht weit weg am Schwarzwasser See. Und ich habe mein Handy dabei. Was soll also passieren?!“ Phil sagte daraufhin erst mal nichts.   „Bevor du sagst, ich soll mir keine falschen Hoffnungen machen.“, nutzte ich Phils Schweigen. „Mir ist klar, dass mein Freund nicht einfach fröhlich und heiter hier durch den Wald spaziert. Und wir uns hier ganz zufällig treffen werden. Aber ich bin einfach noch nicht bereit, die Hoffnung beiseitezulegen, dass es doch noch passieren könnte. Irgendwie muss ich die ganzen negativen Szenarien in meinem Kopf verdrängen können.“ Mit jedem Wort verwandelte sich meine wütende Stimme in Melancholie.   „Wenn es dir hilft, ist das auch vollkommen in Ordnung. Nur versteh meine Sorge, dass du nachher zu sehr enttäuscht wirst und es dir wieder schlechter geht.“   „Enttäuscht…“, wiederholte ich abweisend. „Das fühle ich schon lange nicht mehr.“ Meine Stimmung verdüsterte sich rapide. Das erkannte ich zum Glück dieses Mal rechtzeitig.   „Phil können wir über etwas anderes reden?“   „Klar.“, Phil verstand sofort, woher mein Wunsch nach Ablenkung kam. „Hatte ich dir eigentlich schon mal die Band Bad Omens empfohlen? Wenn nicht, schicke ich dir gleich meine persönliche Songempfehlung."   „Ja, mach das mal.“, kicherte ich und machte mich auf den Weg zurück.   ***   Sein Herz hämmerte gegen seine Brust. Er durchlebte gerade die wildeste Achterbahn der Gefühle. In erster Linie, weil er seinem Ziel gerade so nah war.   Sein Ziel…   Das klang irgendwie falsch. So als wäre er auf der Jagd und sie ein wehrloses Reh.   Als wäre sie sein Opfer…   Ihm war bewusst, dass dies nicht so war. Er wollte nur sein Versprechen ihr gegenüber einlösen. Dennoch konnte er den Gedanken nicht ganz verdrängen, dass es irgendwie falsch war.   Zudem wurmte ihm nicht nur die Tatsache, dass sie ausgerechnet mit Phil telefonieren musste, sondern auch das ihm der Kontext dieses Gespräches fehlte. Schließlich hatte er nur ihren Teil hören können.   Doch was seiner Gefühlsachterbahn einen extra Geschwindigkeit verpasst hatte, war, dass sie ihren Freund erwähnt hatte. Mit den Tatsachen, die sie erwähnt hatte, konnte sie doch nur ihn meinen.   Oder war es nur Wunschdenken seinerseits.   Schließlich wandelte er schon seit einiger Zeit durch die Wälder Duskwoods. Es müssten mittlerweile um die zwei Monate sein. Genau konnte er es nicht sagen. Doch was ihm schmerzlich bewusst war, dass sei der Nacht in der Mine der Kontakt abgebrochen war.   Ich liebe dich auch, Jake   Ihre letzte Nachricht hatte ihm die nötige Kraft gegeben, die gezwungene Funkstille zu überstehen.   Doch sie?   Sie kannte den Grund nicht, warum er sich nicht bei ihr melden konnte. Er konnte und würde es ihr nicht verübeln, wenn sie ihr Leben weitergelebt hätte. Und vielleicht auch jemand anders kennengelernt hätte.   Für sie definitiv besser…   Er konnte ihr nichts bieten. Nicht einmal das Grundbedürfnis nach Sicherheit. Es war ihm immer bewusst. Trotzdem hatte er seinen Kampf gegen seine Gefühle verloren. So sehr, dass er nicht mehr in der Lage war, seine Sehnsucht nach ihr zu verbergen.   Er seufzte.   Doch…   Er wusste nicht, ob es nur sein eigenes Wunschdenken aus ihm sprach.   Aber…   Wenn sie wirklich ihn gemeint hatte, als sie von ihrem Freud sprach, dann hieß es, das ihre Gefühle für ihn sich nicht geändert hatte. Sie immer noch daran festhielt, dass er sein Versprechen einlöste.   Sein Herz klopfte nur noch wilder.   Dann musste er doch erst recht zu gehen. Vor allem, da ihre Worte doch danach klangen, als wäre sie auch auf der Suche nach ihm. Er konnte doch nicht untätig bleiben. Sonst würde er die Wahrheit auch nie erfahren. Er hatte endlich die Chance, sie zu sehen.   Sein Versprechen endlich einzuhalten…   Außerdem war es doch ein gutes Zeichen., dass sie gerade bei Phil erwähnt hatte, dass sie in festen Händen war. Es bedeutete doch, dass sie ihn nicht als potenziellen Partner in Betracht zuzog. Damit standen die Chancen wiederum wirklich gut, dass sie ihn gemeint hatte.   Wen hätte sie auch sonst noch kennenlernen sollen?   Auf jeden Fall bedeutete es, das Phil keine Konkurrenz war.   Wenn man das überhaupt so bezeichnen konnte….   Schließlich war Liebe kein Wettbewerb!   Dennoch konnte er nicht leugnen, dass er dies bezüglich Erleichterung verspürte. Vielleicht stand einem Happy End nichts mehr im Wege. Zu mindestens in der Form, wie es seine Lebensumstände erlaubten. Und wenn sie wirklich bereit war, sich auf eine Beziehung mit ihm einzulassen, war es doch nur ein Happy End für ihn.   War das der Grund, warum er zögerte…?   Nur weil er sie nun doch nicht in seine Probleme mit reinziehen wollte?   Da bekam er die Chance auf einem Silbertablett serviert und schaffte es nicht nur einen Schritt zu tätigen!   Dabei durfte er doch diese Chance nicht verstreichen lassen…   Hatte sie nicht auch verzweifelt geklungen, als sie davon sprach, dass sie die Hoffnung nicht aufgeben wollte.   Wollte er sich wirklich weiter einreden, dass sie doch nicht ihn gemeint hatte?   Obwohl alle ihre Worte etwas anderes sagten?   Sein Körper musste ihm gehorchen. Denn wer wusste schon, ob er sonst jemals wieder die Chance bekommen würde. Und all die Zweifel, die ihn quälten, konnten nur mit einem Treffen bestätigt oder beseitigt werden.   Im Idealfall wirklich beseitigt werden…   Sonst würde für immer die Ungewissheit bleiben. Dieser Tatsache war er sich bewusst.   Dennoch…   Irgendetwas hielt ihn davon ab.   Kapitel 15: Kapitel 15: Richy ----------------------------- Ich hatte den Waldrand erreicht. Erleichtert atmete ich aus. Dieser Wald war seltsam. Zwischenzeitlich hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Mit ein Grund, warum ich froh war, mit Phil zu telefonieren. Da ich es jedoch nicht für realistisch hielt, tatsächlich beobachtet zu werden, hatte ich Phil nicht davon gesagt. Schließlich sollte er sich nicht unnötig Sorgen machen.   Vor allem, da er sowieso nicht so begeistert von meinem kleinen Spaziergang war. „Ein Barkeeper ist auch nur ein schlecht bezahlter Therapeut.“, scherzte er, als ich mich abermals für seine Fürsorge bedankte.   „Aber wenigstens gibt es Trinkgeld.“, hörte ich sein Lachen durch das Telefon. „Manchmal“ „Dann sollte ich dir wirklich mal ein ordentliches Trinkgeld zahlen.“ „Dafür müsstest du aber wieder in die Aurora kommen.“ „Bevor ich Duskwood wieder verlasse, werde ich das definitiv machen.“ Mir war bewusst, dass ich wieder ein wenig mit Phil flirtete. Auch wenn das nicht gleich hieß, dass ich über Jake hinweg war.   Bei weitem noch nicht…   Vielleicht wollte ich mir Phil nur warmhalten? Wenn es so war, war es egoistisch von mir. Die Tatsache, dass Phil meine Situation bezüglich meines vermissten Freundes aus eigen Erfahrungen mehr als nachvollziehen konnte, machte es nicht besser. Vor allem nicht, nachdem er sich so sehr bemühte, dass es mir wieder besser ging. Ich sollte keine meiner Spielchen mit ihm spielen. Das hatte er nicht verdient!   Gedankenversunken hatte ich das Gespräch ausgeblendet und hörte nicht, wie er antwortete: „Ich wäre auch beleidigt, wenn du nicht noch mal vorbeikommen würdest.“ Da ich nicht antwortete, fragte er besorgt nach: „[MC] ist alles in Ordnung?“ „Ja, klar?“, beschwichtigte ich.   Doch Phil erkannte mal wieder, dass ich ihn belog: „Wirklich?“ „Ja“, kam es genervter von meinen Lippen als beabsichtigt. „Tut mir leid, Phil“ „Was bedrückt dich?“, fragte er in einem liebevollen Ton. Als Antwort seufzte ich.   „Du magst es mir nicht sagen, nicht wahr.“, stellte Phil fest, ohne dabei urteilend oder verletzt zu klingen. „Ja. Tut mir leid, Phil“, wiederholte ich, doch dieses Mal konnte man meiner Stimme entnehmen, dass ich es ernst meinte. „Es ist nur so, dass ich im Moment nicht mal wirklich weiß, was los ist. Ich kann es echt schwer erklären.“ „Ich versteh schon“, kam es einfühlsam von ihm. „Ich müsste lügen, wenn ich damals nicht ähnliches gefühlt hätte. Deswegen anderes Thema?“ „Wir können auch auflegen.“, unterbrach ich ihn. „Ich bin nämlich schon so gut wie wieder zurück bei den anderen.“ „Dann schreiben wir aber später noch mal.“ „Natürlich.“, lächelte ich. „Bis später [MC]“ „Bis später Phil“   Es dauerte nicht lange, nachdem ich aufgelegt hatte, dass Jessy mich entdeckte. „[MC]!“, schrie sie freudig. Diese freundliche Begrüßung zauberte mir ein Lächeln auf die Lippen „Ach, du bequemst dich auch wieder hier hin?“, scherzte Dan, als ich die Gruppe wieder erreicht hatte. „Ach, hast du mich so vermisst?“, ging ich auf seinen Scherz ein. „Nein, eigentlich habe ich nur Hunger! Und die anderen wollten mit dem Grillen warten, bis du wieder da bist“ „Ich zünde ja schon den Grill an.“, kam es etwas genervt von Thomas. „Dan ist noch unerträglicher, wenn er Hunger hat“, neckte Hannah, als ich mich zu der Mädels-Gruppe auf die Picknickdecke setzte.   Doch bevor ich etwas erwidern konnte, hatte Jessy meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. „Ich bin übrigens fertig“, sagte sie, als sie mir die Kette aus Gänseblümchen auf den Kopf legte. „Für eine Kette hat es leider nicht gereicht.“   „Eine Krone ist doch viel besser.“, grinste ich. „Die passt zu meiner königlichen Ausstrahlung.“ „Oh große Königin [MC]“, ging Jessy auf meinen Spaß ein. „Ja, huldigt eurer Königin“, sagte ich in einer übertrieben schauspielerischen Arroganz. „Ach von welchem Land bist du denn Königin? Vom Idiotenland?“, neckte Dan mich. „Natürlich! Deswegen bist ja gerade du mein Untertan.“, lachte ich. „Touché“, gab Dan sich geschlagen.   Dennoch oder gerade deswegen brachen die anderen in schallendes Gelächter aus. In welches ich nur zu gerne einstieg. Nicht nur meine Freunde, sondern auch der klar blaue Himmel halfen dabei meine Stimmung wiederaufzuhellen.   „Kannst du mir meine Krone in die Haare flechten? Nicht, dass ich sie noch verliere.“, bat ich Jessy. „Natürlich!“, entgegnete sie und fing zugleich an, meine Haare zu flechten. Es musste schon recht amüsant aussehen, wie ich hier mit meinen schwarzen Konverse, der schwarzen Hotpants und meinem roten Oversized-T-Shirt mit Sternchen-Aufdruck und der dezent platzierten schwarzer Schattierung und der Blumenkrone dasaß. Irgendwie eine Mischung aus der erwachsenen Variante meiner Teenager-Emo-Phase und dem Schmuck, den ich als Kind getragen hatte. „Wir habengerade eine Spotify-Playlist für heute erstellt. Du kannst gerne auch Songs hinzufügen, wenn du möchtest.“, informierte Lilly mich. „Klar.“, entgegnet ich.   „Warte, ich schick dir den Link“, sagte Lilly freudig. „Aber nur gute Laune Songs.“, verwies Jessy mich auf die Regeln, während sie meine immer noch dabei war, meine Haare zu flechten.   „Lässt sich einrichten.“, sagte ich und öffnete Lilly Link. Chillen, Grillen, Kasten killen Ich schmunzelte und scrollte durch die Playlist. Jessy Vorgabe war wohl nur mehr eine Empfehlung. Face Down ⁓ The Red Jumpsuit Apparatus Es war das erste Lied, welches mir in die Augen sprang. Dan hatte diesen Song ausgewählt. Es überrascht mich keineswegs. Nicht nur die rockigen Beats passten zu Dan. Auch das Thema der häuslichen Gewalt gehörte irgendwie zu seiner Lebensgeschichte. Zu mindestens hatte er als Kind mitbekommen, wie sein Vater seine Mutter behandelt hatte. Doch als ich seine nächste Songauswahl betrachtete, verdrehte ich nur noch die Augen. Megamix ⁓ Vengaboys The Ding Dong Song ⁓ Günther & Sunshine Girls Cotton Eye Joe ⁓ Rednex You’re my Mate ⁓ Right said Fred „Dein Ernst?”, fragte ich zu Dan gewandt. „Was?“, fragte er verdutzt. „Vengaboys, Günther & Sunshine Girls, Rednex und Right Said Fred?”, ich hob zwar skeptisch meine Augenbraue, doch konnte ich mein Grinsen nicht ganz verstecken. „Das ist die übelste Trash-Music“ „Kleines, du kannst auch einfach zugeben, dass das deine absoluten Lieblinge sind“, zwinkert er mir zu. „Wir ignorieren so was einfach.“, wandte sich Cleo an mich. „Hey! Jessy hat gesagt, es soll gut Laune Songs sein“, verteidigte sich Dan. “Ja, weil ich hier gute Stimmung haben wollte.“, sagte Jessy. In ihrer Stimme war eine gewisse Verärgerung darüber zu hören, dass die Gestaltung der Playlist nicht so verlief, wie sie es sich erhofft hatte.  Ich scrollte weiter durch die Playlist. Ich seufzte, als ich die Auswahl von Thomas Liedern sah. There's Nothing Holding Me back ⁓ Shawn Mendes You and me ⁓ Lifehouse Hanging by a Moment ⁓ Lifehouse Romantische Musik war gerade das letzte, nach dem mir war. Auch wenn es irgendwie zu Thomas Persönlichkeit passte. Wonderwall ⁓ Oasis Selbst die Oberschnulze Wonderwall hatte er hinzugefügt. Mein Musikgeschmack war es nicht. Dennoch hätte ich es unter normalen Umständen einfach ignorieren können. Nur jetzt, wo meine Liebesgeschichte geendet hatte, bevor sie überhaupt beginnen konnte, zerriss mir alleine der Gedanke an romantischen Schnulzen das Herz. „Alles okay?“, fragte Jessy und hörte so gleich auf, mir die Haare zu flechten. „Ja, sorry. Ich schaue nur gerade, was ihr sonst noch so reingepackt habt.“, lächelte ich die Halbwahrheit.   How Bizzare ⁓ New Zealand Singers Girls just want to have fun ⁓ Cyndi Lauper Maria ⁓ Blondi Heaven is a Place on Earth ⁓ Belinda Carlise Bitch ⁓ Meredith Brooks Cleo hatte sehr unterschiedliche Songs reingepackt. Aber viele davon konnte man schon als alte Klassiker bezeichnen.  End of Beginning ⁓Djo Kiss you ⁓ One Direction Uptown Girl ⁓ Billy Joel Wannabe ⁓Spice Girls Weak ⁓ AJR Wenigstens war Jessy ihren Vorsatz treugeblieben und hatte nur Lieder der Playlist hinzugefügt, die gute Laune verbreiten. Pre-Teen ⁓ Chrissa Sparkles Auch wenn ich diesen Song nicht kannte, so war ich mir doch ziemlich sicher, dass dieser Jessys Popmusikgeschmack zugehörig war. Sweather Weather ⁓ The Neigbourhood Would you be so kind ⁓ Dodie When the Suns Hits ⁓ Slowdive All to Myself ⁓ Marianas Trench Die meisten von Lilly ausgewählten Songs kannte ich nicht. Vielleicht lag es daran, dass sie doch noch ein paar Jahre jünger war als der Rest der Gruppe. Dies musste jedoch nicht zwangsläufig  bedeuten, dass diese schlecht waren. Somebody that I Used To know ⁓ Mayday Parade Den dieses Cover, das sie der Playlist hinzugefügte hatte, mochte ich mehr als das Original.  Beating Hearts Baby  ⁓ Head Automatic Mr. Brightside ⁓  The Killers Vindicated ⁓  Dashboard Confessional Hannah und ich schienen denselben Musikgeschmack zu haben. Zumindest wirkte es so, als ich ihre Songauswahl betrachtete. Es waren alles Lieder, die auch mochte. „Du hast einen guten Musikgeschmack.“, wandte ich mich zu Hannah. Sie antwortete etwas verdutzt: „Danke.“ Danach machte ich mich daran, meine eigene Songauswahl zu treffen. Kurz überlegte ich, ob ich auch einen weiteren Song von The Killers einfügen sollte. When you were young ⁓ The Killers Doch hielt ich inne. Spätestens die Textzeile Talks like a Gentleman würde mich nur unnötiger Weise an Jake erinnern. Frustriert scrollte ich durch meine Lieblingssongs. Es musste doch etwas geben, dass mich nicht an diese verfluchten Hacker erinnern würde. War es den zu viel verlangt, diese gesamte Situation mit ihm nur für ein paar Stunden aus dem Kopf zubekommen? Nicht durch jede Kleinigkeit an ihn erinnern werden zu müssen. Mama ⁓ My Chemical Romance Das Thema Krieg sollte wohl kaum mein Gedanken auf Jake lenken können. Welcome to Black Parade ⁓ My Chemical Romance Wenn ich schon mal dabei war, durfte das bekannteste Lied meiner Lieblingsband nicht fehlen. Der G-Note Trend auf den bekannten Social-Media-Kanälen war oft genug n meiner Timeline gewesen. Selbst eine Legende wie Andrew Lloyd Webber hatte diese mit einen eigenen TikTok gewürdigt. Indem er sich zu erst an die die ganzen Musical-Theater-Fans wandte mit der Frage an was sie bei den Noten, die erspielt denken würde. Daraufhin folgte die ersten Riffs der Ouvertüre von Phantom der Oper. Kurz darauf fragte, was alle anderen in den Sinn kam und spielte die G-Note auf seinem Keyboard. Und ich hörte sofort die ersten Zeilen des Liedes in meinem inneren Ohr. Irgendwie hatte es mich für die Band gefreut, dass sie so eine große Ehre erhalten hatten. Verdient war es alle Male. Still into you ⁓ Paramore Mein Herz setzte einen Schlag aus bei diesem Vorschlag von Spotify. Ich mochte dieses Lied und sicherlich würde es für bessere Stimmung sorgen als meine bisherige Auswahl über Krieg und das Sterben. Doch war es gerade genau diese Musik, die ich nicht hören wollte. Wie schön das Gefühl der Liebe war…   Als Teenager bin ich so oft zu diesem Song auf meinem Bett herumgesprungen, hatte die Textzeilen in mein Mikrophone, der Haarbürste, gegrölt. Zum Leidwesen meiner Familie. Sollte ich nun wirklich zulassen, dass meine Gedanken um Jake meine glücklichen Kindheitserinnerungen nahmen? Zugeben, so viele besaß ich davon auch nicht. Dafür hatte ich als Kind zu sehr unter den ständigen Streits meiner Eltern gelitten. Zu oft war ich Ziel der verbalen Wutausbrüche meines Vaters gewesen. Viel zu oft war ich mit Bauchschmerzen in die Schule gegangen, weil ich das Mobbing kaum ertragen hatte. Doch dann war die Momente mit meinen Jugendfreunden, in denen wir unsere ersten Experimente mit Alkohol gestartet hatten. Und dieses Lied hatte so gut wie immer unsere Feierlaune unterstützt.    Ich durfte doch nicht zulassen, dass meine Trauer um Jake mir alles nahm. Mit diesem Gedanken hatte ich das Lied auch schon in die Playlist hinzugefügt und bereute es so gleich wieder. Natürlich wäre es ein leichtes gewesen, diesen Song wieder zu entfernen. Doch der Part in mir, der beschlossen hatte Still into you hinzuzufügen, sträubte sich vehement dagegen.   Vielleicht lag es sogar daran, dass mittlerweile ein Teil von mir dabei war zu verarbeiten und endlich nach vorne zusehen konnte. In eine Zukunft, in der ich akzeptieren konnte, dass ich die Vergangenheit nicht ändern konnte. Eine Zukunft, in der das wohltuende Kribbeln wieder da war, wenn ich mich an Jake erinnerte. Nicht mehr dieser unerträgliche Schmerz. Phil hatte es bezogen auf Jennifer auch geschafft. Warum sollte ich das dann nicht auch schaffen? Chop suey ⁓ System of a Down Ein weiterer Vorschlag seitens Spotify. Mit einem Lächeln fügte ich diesen Song auch der Playlist hinzu. Es war das perfekte Ventil, um meinen Frust rauszuschreien. „Chop Suey? Kleines, ich wusste nicht, dass du so einen guten Musikgeschmack hast.“, man hörte in Dans Stimme, dass er wirklich beeindruckt war. Ich grinste: „Natürlich! Ich bitte dich! Du solltest doch mittlerweile wissen, dass ich rund um perfekt bin.“ In mein Lachen stieg nicht nur Dan mit ein. Auch Jessy konnte ihr Glucksen nicht unterdrücken. „Kleines, was sagst du zu Snuff von Slipknot?“ „Genialer Song“ „Okay ich pack in die Playlist.“ „Boah, nee Dan! Nicht so ein Depri-Scheiß ‘“,mischt sich Jessy ein.    „Ist kein Depri-Scheiß. Das ist ein Klassiker! Außerdem gibts kein besser Lied, um sich besoffen in den Armen zu liegen“, warf Dan ein. „Ich sag nur ungern.“, begann ich. „Aber wo Dan recht, hat er recht.“ „Ich hab immer recht“ „Na ja…“, lachte ich. „Kleines, eine Sache hast du nicht bedacht. Ohne Bier wird, das nichts mit dem besoffen sein.“ „Bittest du mich gerade, dir ein Bier zu holen?“ „Jow!“ „Wenn das so ist.“, lachte ich. „Kann ich schlecht nein sagen!“   Ich wandte meinen Blick kurz zu Jessy, um abzuklären, ob sie mit meiner Frisur fertig war und ich aufstehen konnte. Doch da warf Cleo ein: „Echt Dan? Wir haben nicht mal gegessen!“ „Kein Bier vor vier! Und vier Uhr ist schon längst vorbei.“, grinste er. „Wir haben nicht mal 12 Uhr mittags!“, genervt verdrehte Cleo die Augen. „Jow. Sag ich ja. Vier Uhr in der Früh ist schon längst rum!“   Ich ließ die beiden in ihrer Diskussion und war aufgestanden. Zwar hatte Cleo recht, dass es noch viel zu früh für Alkohol war. Zudem würde sämtlicher Argumentation meinerseits damit zu Nichte gemacht werden, dass ich noch vor knapp einer Stunde wegen meines Katers rumgejammert hatte. Doch war der Gedanke verführerisch, Alkohol als Unterstützung für meine positive Stimmung zu nutzen.       Schnell hatte ich zwei Dosen aus eine der Kühlboxen geholt und überreicht eine davon Dan. Doch bevor ich meinen Weg zurück zur Picknickdecke machen konnte, wurde ich zurückgezogen. Im nächsten Moment fand ich mich auf Dans Schoss wieder.   „Kleines, wir müssen noch anstoßen.“, grinste er mich an. „Und außerdem: Wir beide müssen uns jetzt hier um die gute Musik kümmern.“   Ich öffnete das meine Dose und hielt ihm diese zum Anstoßen hin. „Natürlich, wenn nicht wir, wer dann!“, lächelte ich.  „Prost.“, sagte Dan, als seine Bierdose, die meine berührte. „Vorschläge?“ „Last Resort vor Papa Roach?“, überlegte ich. „Ich mag die Weise, wie du denkst.“, grinste er. „Und wir dürfen es jetzt ausbaden“, kommentierte Hannah lachend. Doch dann verzog sich ihr Lachen ein wenig. „So was in der Art hätte Richy jetzt gesagt.“ Stille…   Die entsetzten Blicke, meine Freunde waren nun auf sie gerichtet. Auch mir stockte der Atem. Es war das erste Mal, dass sein Name auch nur erwähnt wurde. Und dann gerade von Hannah?!   Dennoch konnte ich den Gedanken nicht verdrängen, dass sich recht hatte. Richy hätte meinen und Dans unheiligen Zusammenschluss der guten Musik sicherlich mit einem seiner flapsigen Sprüche kommentiert. „Oder wollen wir weiter so tun, als hätte es ihn nie geben?“, sagte Hannah und stand von der Decke auf.   „Was soll der Scheiß, Hannah?“, Dan war der erste, der es zustande brachte, irgendwas zusagen. Kurz darauf war ich von seinem Schoss aufgesprungen. Verdattert stand ich da und wusste nicht, was ich als Nächste tun sollte. Mein erster Impuls ihr zu folgen. Doch sie war an der Kühlbox stehen geblieben. „Keine Ahnung. Irgendwie kam es mir halt in den Sinn.“, sagte sie teilnahmslos, während auch sie sich eine Bierdose nahm.   „Er hat dich entführt, Schatz“, erinnerte Thomas mit entsetzter Stimme.   Hannah öffnete ihre Dose und sagte: „Ja, daran kann ich mich noch erinnern. Aber genauso auch an die ganzen Jahre unserer Freundschaft.“ Ihr Blick war melancholisch auf die geöffnete Dose gerichtet. Kurz schloss sie ihre Augen nur für eine Sekunde. Dann trank sie einen Schluck.   Hannah öffnete ihren Mund, um etwas zu sagen. Doch Jessy kam ihr zuvor. „Für mich ist Richy gestorben! “, ihre Stimme war kühl, doch ihre gläsernen Augen zeigten ihrer wahre Emotion.   Du würdest mir niemals wehtun…   Ihre Worte von dem letzten Telefonat mit Richy klangen immer noch in meinen Ohren. Immer noch riss es mir ein genauso so großes Loch ins Herz wie Jakes Verschwinden. „Jessy…“, hauchte ich. „Das kannst du unmöglich ernst meinen.“ „Und wie!“, keifte sie mich an. „Und warum verteidigst du den Richy überhaupt noch?“ Die Flüssigkeit in ihren Augen sammelte sich, bis dicke Tränen ihre Wange runter kullerten. Doch auch ohne ihren offensichtlichen Gefühlsausbruch konnte ich ihren Schmerz spüren. Es zerbrach mir buchstäblich das Herz. Und das lag nicht nur an der Tatsache, dass ich in den letzten Tagen blind für ihren Verlust war.   Egal wie sehr sie immer versucht hatte, es zu leugnen, dass sie Gefühle für den langweiligen Autoschrauber, wie sie ihn immer genannt hatte, hegte, war mehr als nur offensichtlich. Nur sie konnte ihren Verlust besser überspielen, als ich den meinen. So waren unsere beide Liebesgeschichten in dieser einen Nacht auf die unvorstellbarste, dramatischste Weise geendete.   „Richy ist der Grund, warum du Jake verloren hast!“ Jessys kalte Aussage ließ alle Gefühle aus meinen Körper weichen. So als wäre es ein Schutzmechanismus, der meine Gefühlsfestplatte vor Überhitzung bewahren wollte. „Und mitunter seinetwegen ist [MC] überhaupt hier.“, holten mich Hannahs ruhige Worte wieder in die Realität. „Aber da kann sie doch nichts für.“, mischte sich nun Lilly empörte Stimme in die Diskussion ein. „Sie gehört jetzt doch auch zu uns. Du kannst sie deswegen doch nicht wegschicken!“   „Das hat Hannah doch gar nicht gemeint.“, sagte ich ruhig. Ich hatte sehr wohl erkannt, dass der Vorwurf in ihren Worten nicht mir galt. „Eben.“ Mit einem erleichterten Lächeln wandte sie sich zu mir. „Wir können halt einfach nicht so tun, als wäre das alles nicht passiert.“   Ich nickte zustimmend. Hannahs Worte fühlten sich auf eine Art so befreiend an. Ich merkte erst jetzt, wie hoch die Last des Totschweigens der ganzen Thematik war. „Ich habe keine Kraft mehr, die ganze Zeit den Elefanten im Raum auszublendenden.“, mit dieser Metapher gab Hannah verstehen, dass auch sie es Leid war, immer und immer wieder eine Maskerade der guten Laune aufrechterhalten zu müssen.   Ich öffnete meinen Mund. Ich wollte so vieles sagen, wie dass auch mir Richy fehlte und sich unsere Gruppe nie komplett angefühlt hatte. Am liebsten hätte ich auch von den Albträumen erzählt, die mich seit Wochen jede Nacht heimsuchten. Mein Unbehagen gegen Hannah, auch wenn ich sie mittlerweile ins Herz geschlossen hatte. Nur blieb halt nicht aus, dass ich sie in erste Linie kennengelernt hatte, indem ich mir Zugriff zu ihren privatesten Daten verschafft hatte. Das ein Teil von mir am liebsten nicht nach Duskwood gekommen wäre, obwohl ich meine neuen Freunde definitiv nicht mehr missen wollte. Ich hätte ihnen gerne versucht, die Komplexität meiner Gefühlswelt zu erläutern. Doch ich brachte nur ein: „Sehe ich auch so“ heraus. Hannah lächelte mich an.   „Lasst uns einfach aufhören, so zutun, als wäre nie etwas gewesen.“ Ich nickte zustimmend.     Kapitel 16: Kapitel 16: Der Schwarzwasser See --------------------------------------------- Unserer Gruppe hatte sich gespalten in mehr als nur zwei Lager. Zu einem waren da Hannah und ich, die die ganze Thematik um Richy nicht mehr totschweigen wollten. Dann waren da Jessy und Thomas, die unser Verhalten dahingehend missinterpretieren, dass Hannah und ich beschlossen hätten, Richy bedingungslos alles zu verzeihen. Für mich gab es schon einen gewaltigen Unterschied, ihm zu glauben, dass es ihm leidtat, was er angerichtet hatte und ihm alle seine schlimmen Taten zu verzeihen. Bisher kannte ich nicht einmal die Antwort, ob ich das jemals können würde. Dass Jessy mich nun mit Schweigen strafte, hatte da Feuer meiner emotionalen Hölle erst recht entfacht. Die letzten anderthalb Stunden waren meinen Gedanken von dem Wunsch getrieben, wieder nach Hause fahren zu wollen. Keine Ahnung, wie oft in dieser Zeit den Chat mit Phil geöffnet hatte, um ihn darum zu bitten, mich zum Bahnhof zu bringen. Geschrieben hatte ich diesen Wunsch nie. Lediglich war ich in der Lage gewesen, ihm zuschreiben, dass ich am Abend gerne mit ihm telefonieren wollte. Wahrscheinlich aus der absurden Hoffnung heraus, Jake würde immer noch sein irgendwann Versprechen wahr machen. In Duskwood bleiben hieß daran festzuhalten. Nach Hause fahren bedeute loszulassen. In dieser Hinsicht war ich nicht besser Jessy. Immer noch hing ich an der Scheinwelt fest, dass wenigstens in diesem Punkt am Ende noch alles gut werden würde. Statt endlich die bittere Realität endlich ins Auge zu sehen. Der rationale Teil in meinem Gehirn hatte es aber geschafft, die Frist auf heute Abend zusetzen. Egal wie sehr der emotionale Teil meines Gehirns auch dagegen rebellieren zu vermag. Ich wusste, dass auch dieser am Ende dankbar dafür sein würde, endlich die Chance zu bekommen loszulassen. Was sollte ich noch hier, wenn meine Freundschaften gerade zerbrachen. Auch die Beziehung zwischen Thomas und Hannah bröckelte immer mehr. In den letzten Tagen wurde ich Zeuge, wie seine Überfürsorglichkeit Hannah regelrecht erstickte. Mittlerweile dadurch, dass Thomas sie buchstäblich dazu drängte, Richy Existenz weiterhin zu leugnen, war es Hannah, die Thomas komplett ignorierte. Ich hatte keine besonders positive Prognose für deren Zukunft. Da ich bei weitem nicht glaubt, dass Thomas mit alle den negativ belastenden Themen, die Hannah umgaben, umgehen konnte. Dafür war viel zu harmoniebedürftig und blind für Hannahs Bedürfnisse. Es musste schwer seinen für seinen Partner immer die heile Welt vorspielen zu müssen, weil dieser mit ihren Depressionen keineswegs umgehen konnte. Vielleicht wenn ich Duskwood verlasse und Hannah durch mich nicht jeden Tag daran erinnert werden würde, was passiert war, gab es vielleicht noch Hoffnung. Auch Cleo und Dan waren von Hannah Vorschlag nicht begeistert gewesen. Jedoch ließen sie es uns nicht so spüren, wie Jessy es bei mir tat. Natürlich ließ es Dan sich nicht nehmen, hin und wieder einen seiner sarkastischen Sprüche loszulassen. Wahrscheinlich würde er implodieren, wenn er am Tag nicht eine Mindestanzahl erreichte. Cleo hatte wiederum angefangen, so langsam unsere Sachen wieder in die Autos zu beladen. Ich vermutete eine Bewältigungsstrategie, um der unangenehmen Stille zu entkommen. Wenn der Grill schon kalt wäre, hätte sie diesen auch sicherlich im Eiltempo in ihrem Kofferraum verfrachtet und wir hätten längst die Heimreise angetreten. Bestimmt würde ich dann jetzt auch schon meinen Koffer packen. Und würde endlich nach Hause fahren… Lilly hatte sich zwar auf die Seite von mir und Hannah geschlagen. Doch glaubte ich nicht, dass sie dies tat, weil sie uns zustimmte. Sie mied das Thema Richy genauso wie die anderen. Über ihre genauen Beweggründe konnte ich nur mutmaßen. Vielleicht wollte sie keinen Streit mit Hannah und mir? Oder nur nicht mit mir? Es könnte ja sein, dass sie immer noch befürchtete, dass unsere Freundschaft auf wackeligen Beinen stand. Nur wegen dem Video, das sie damals gepostet hatte. Dabei hatte ich ihr diesen Fehler doch längst verziehen. Ehrlichweise wusste ich nicht mal, ob ich an ihrer Stelle nicht genauso gehandelt hätte. Außerdem musste man Lilly eine Sache zugutehalten, statt mich mit einer Ausredenparade zu bombardieren, stand sie für ihren Fehler gerade und versuchte Schadensbegrenzung zu erzielen. Oder Lilly hatte meine Ambition dahingehend falsch interpretiert, dass ich nun endlich bereit war, mit ihr über Jake zureden. Sonst hatte ich es immer wieder geschafft, in den letzten Tagen Ausflüchte zu finden, warum ich nicht über ihren Halbbruder reden wollte. Jetzt jedoch hatte ich mich selbst in diese Situation verfrachtet und konnte keine Ausreden mehr finden. Egal wie sehr mir allein nur bei seinem Namen mein Herz zertrümmert wurde. Auf der anderen Seite war ich es Lilly aber auch irgendwie schuldig mit ihr über dieses Thema zusprechen. Außer mit mir konnte sie mit niemanden darüber sprechen. Und auch für sie war der Verlust von Jake auch kaum zu ertragen. Schließlich wurde ihr der Halbbruder genommen, bevor sie überhaupt die Chance hatte, eine Verbindung zu ihm aufzubauen. Etwas, dass sie sich wohl sehr gewünscht hatte. „Und wenn wir die Leute in Duskwood fragen, ob sie jemanden gesehen haben, der auf seine Beschreibung passt?“, schlug Lilly in einem Anflug von Optimismus vor. „Lilly…“, mahnte Hannah. Es wirkte beinah so, als wollte sie noch weniger als ich über dieses Thema sprechen. Auch hier kote ich über ihre wahren Beweggründe nur mutmaßen. Ich wusste nicht, ob sie sich mit verantwortlich fühlte mit dem, was auch immer mit Jake passiert war. Oder ob da vielleicht doch noch verletzte Gefühle für den damaligen kalten Kontaktabbruch seinerseits bestanden. Auch wenn sie jetzt Thomas hatte und Jake damals einen sehr guten Grund hatte, sich von Hannah zu distanzieren, blieb doch, dass sie Gefühle für ihn gehabt hatte. Ohne jemals die Wahrheit zu kennen. Ich wiederum antworte auf Lilly Vorschlag nur mit einem Seufzen. „Es ist doch besser als gar nichts zu tun.“, entgegnete Lilly fast schon patzig. „Wir könnten ihn dadurch aber noch mehr in Gefahr bringen.“, meinte ich emotionslos. „Wie meinst du das?“, hakte Lilly nach. „Na, ganz einfach. Sollten wir eine Spur zu Jake haben, wird das FBI diese auch bekommen.“, meine Stimme weiterhin ohne jegliche Emotionen. In meinem Kopf war ich schon unzählige Möglichkeiten durchgegangen und alle waren aussichtslos. „Ich meine, wenn Jake nicht gefunden werden möchte, hat er Mittel und Weg dazu, dass dies nicht geschieht. Und das FBI hat deutlich besser Möglichkeiten als wir.“ „Aber irgendwas müssen wir doch tun können!“, kam es verzweifelt von Lilly. Dieses Mal war es Dan, der mit einem genervten Stöhnen Lillys Aussage kommentierte. Irgendwie erschreckte, dass er uns wohl die ganze Zeit belauschte. Obwohl, wer war ich schon, um darüber zu urteilen. Ich war jedoch froh, dass Dan sich nicht weiter in die Konversation einklinkte. Seine Missgunst gegen Jake war fast noch unerträglicher als Lillys Optimismus. „Wenn er überhaupt noch lebt…“, ich war selbst überrascht, dass meine Stimme auch bei diesen Worten noch so emotionslos blieb. Wahrscheinlich hatte ich mich wirklich schon mit diesem Gedanken abgefunden. Denn auch mein Entschluss, Duskwood heute Abend den Rücken zukehren, wurde stärker. „Sie haben aber seine Leiche nicht gefunden. Das heißt, er lebt noch! Er ist irgendwo da draußen und sucht nach dir. Ganz sicher!“, eigentlich wollte Lilly mit ihren Worten mir Hoffnung machen, doch sie erreichte das genaue Gegenteil. Schließlich wurde mir immer mehr bewusst, dass die Zeichen für Hoffnung schon zu lange erloschen waren. Ich schüttelte den Kopf: „Offiziell gibt es keine Leiche. Das FBI hat sicherlich großes Interesse daran, die Angelegenheit zu vertuschen und -“ „Aber Richy lebt auch noch! Vielleicht hat Jake ihn ja gerettet!“, unterbrach Lilly mich. „Und wurde dann direkt vom FBI festgenommen.“, entgegnete ich „Das kannst du nicht wissen! Vielleicht ist er entkommen.“, ein weiterer Versuch von Lilly, mir Hoffnung zu machen. „Dann würde er mir das nicht antun. Sich nicht zu melden und mich zwei Monate in Ungewissheit lassen.“, meine Stimme war nun nicht mehr emotionslos, sondern verzweifelt. Immer mehr wurde mir bewusst, dass jeder Hoffnungsschimmer, der aufkam, vergebens war. „Lilly, ich weiß, du meinst es gut, aber ich muss langsam versuchen loszulassen. Den egal wie wir es versuchen zu drehen und zu wenden. Jake ist weg. Warum auch immer. Aber er wird dieses Mal nicht zurückkommen.“ Lilly sah mich mit traurigen Augen an. Ich merkte, dass sie mir erneut widersprechen wollte, doch dass auch nun ihr die Argumente ausgegangen war. „Ich glaube noch daran, dass er wiederkommt.“, nuschelte sie nach einigen Minuten des Schweigens. Doch weder Hannah noch ich gingen dieses Mal darauf ein. Stattdessen hatte Hannah ihr Smartphone herausgeholt und scrollte darin. Und dann startete die Musik. „Uhh… Wer hat Taylor Swift reingepackt“, kommentierte Dan. Ich hob meinen Zeigefinger, um ihm zu signalisieren, dass er warten sollte. „It's me“, als diese Textzeile kam, begann ich mitzusingen und deutete auf mich. „Hi!“, jetzt winkte ich Dan kurz zu. „I'm the problem, it's me“, wieder deute ich auf mich, dieses Mal mit einem breiten Grinsen. „Selten hat mich ein Mensch so sehr enttäuscht.“, lacht Dan seine Anspielung auf den Bruch in meinem Musikgeschmack. Dabei wären die Lyrics von Anti-Hero mit einer rockigeren Musik genau mein Geschmack. „At teatime, Everybody agrees“, stieg Hannah nun mit ein. Ich war dankbar für diese Form von Ablenkung. Sicherlich hatte sie schon Erfahrung damit, sich von negativen Themen und Gedanken abzulenken. Hannah war aufgestanden und reichte mir ihre Hand. Etwas irritiert ließ ich mich von ihr hochziehen. Weiterhin sang sie bei dem Song mit und bewegte sich rhythmisch zur Musik. Auch ich stieg dazu ein, wenn auch zögerlich. Mit dem nächsten Lied hatte ich aber auch meine Hemmungen verloren. „Baby, is this love for real?“, grölte ich Hannah die erste Zeile von Beating Hearts Baby entgegen. „Let me in your arms to feel, oh“, sang sie die zweite Zeile. „Your beating heart, baby“, ich genoss die Unbeschwertheit des Momentes. Alles, was mich gerade belastete, der Streit mit Jessy, Jakes Verschwinden, fiel einfach von mir ab. Dank Hannah *** Er hatte den Waldrand erreicht. Die Nervosität durchströmte seine Körper. Kurz schloss er die Augen und atmete tief ein. Er hatte die kleine Gruppe schon gesehen, er hatte sie gesehen. Gesehen, wie sie mit seiner Halbschwester fröhlich tanzte. Es war schon beeindruckend, wie sie es schaffte, so schnell von jedem ins Herz geschlossen zu werden. Umso unverständlich war es für ihm, dass sie sich ausgerechnet in ihn verliebt haben sollte. Doch da war nun mal diese letzte Nachricht von ihr… Von der er doch so sehr hoffte, dass sich dieser Umstand in den letzten Wochen nicht geändert hatte. Mit seinem nächsten Atemzug nahm er all seinen Mut zusammen und schritt auf die Gruppe zu. *** Kaum hörbar näherten sich uns Schritte. Ich selbst war zu sehr in der Musik gefangen, um dies überhaupt zu bemerken. Selbst das schüchterne Hallo der unbekannten Männer Stimme nahm ich kaum wahr. Doch dann hörte ich Hannahs überraschte Stimme: „Jake?“ Es ließ mir das Blut in den Adern erfrieren. In einem Rausch von Angst und Glücksgefühlen wandte ich meinen Blick in die Richtung, in die Hannahs Worte gingen. Das stand ein Mann. Etwa in unserem Alter. Seine grauen Turnschuhe, bei denen ich mir nicht sicher war, ob dies die ursprüngliche Farbe an jeder Stelle waren, wiesen deutliche Gerbrauchspüren auf. Nicht nur, dass sich die Sohle an einigen Stellen löst, auch die Nähte waren an mehr als nur einer Stelle aufgeplatzt. Die Enden seiner Schnürsenkel verbargen nicht die matschigen Wege, an die er entlanggelaufen sein musste. Auch seine Jeans war an den unteren Hosenbeinen gesprenkelt mit kleinen feinen Matschflecken. Genauso wie seine Schuhe konnte man die Gebrauchsspuren seiner Jeans weniger ein beabsichtigter Used-Look zuschreiben. Am markantesten war dabei wohl die aufgerissene Stelle an seinem linken Knie. Genauso der schwarze Hoodie, sein Markenzeichen, hatte seine besten Tage hinter sich. Der Saum war über und über mit kleinen Rissen versehen. Kleine getrocknete Schlammreste verrieten das eigentliche Ausmaß der Verschmutzung. Seine breite und zugleich kräftige Statur konnte ich mir damals von unserem ersten telefonischen Kontakt herleiten. Doch jetzt sah ich auch, dass er fast 10 cm größer war als ich. Doch im Gegensatz zu damals war seine Kapuze nicht tief ins Gesicht gezogen. Stattdessen zeigte sich sein zerzauster schwarzer Haarschopf. Einzelne leicht gelockte Haarsträhnen hingen knapp über die Gläser seiner Brille. Der dunkle quadratische Rahmen betonte besonders seine meerblauen Augen. Sein Gesicht war zwar markant, aber hatte ähnlich weiche, liebevolle Gesichtszüge wie die seine Schwestern. Sein rechter Mundwinkel formte ein unsicheres Lächeln. Das Grübchen, das sich dabei bildete, gab ihm einen unschuldigen Eindruck. „Das ist Hackerboy?!“, Dans Stimme hörte sich meilenweit entfernt an. Alles in meinem Kopf drehte sich. Viel zu schnell versucht mein Gehirn diese Informationen zu verarbeiten. Aus Angst, er würde im nächsten Moment in Nichts verschwinden. Wahrscheinlich auch, weil es sich gerade für mich anfühlte, als wären wir beide in einer Art Paralleluniversum, einer Blase, die uns von diesem Planeten trennte. „Jake?“, hauchte ich fast tonlos und doch nickte er zustimmend. Meine Lippen kräuselten sich. Jeder Schritt, den ich auf ihn zutrat, fühlte sich an, als würde ich eine tonnenschwere Last mit mir tragen. Das voll besetzte Gedankenkarussell drehte sich auf Höchstgeschwindigkeit. Er stand da. Er lebte. Augenscheinlich. Er war unverletzt… Ihm ging es gut… Er war nicht im Gefängnis... Er war in Freiheit! Er stand einfach da und lächelte mich so süß und schüchtern an. Einfach so… Nach zwei Monaten… Doch das Gefühl in meinem Bauch waren keine Schmetterlinge. Nein… Dort brodelte die Wut in mir. Zwei Monate… Die ganze Zeit ging es ihm gut. Während sich mein Kopf sämtliche Horrorszenarien über sein Schicksal ausgemalt hatte. Tausende Mal war ich in meinem Kopf sein Ableben durchgegangen. Die Art wie… Seine Gedanken dabei… Die Schmerzen, die er währenddessen durchleiden musste.... In den ganzen zwei Monate, in denen Funkstille herrschte, bin ich es immer du immer wieder durchgegangen. Für Nichts… Ich konnte selbst nicht erklären, doch plötzlich war da sein erschrockener Gesichtsausdruck. Der Schmerz in meiner Handfläche und dessen Abdruck auf seiner Wange. Meine Sicht war zugleich auch verschwommen. Ich spürte die heißen Tränen über meine Wange laufen. Jedoch, im nächsten Moment fand ich auch schon mein Gesicht in seiner Halsbeuge wieder. „[MC]?“, flüsterte er unsicher. Wahrscheinlich wollte er noch mehr sagen, schließlich hatte ich seinen Atem an meinem Ohr gespürt. Doch mein immer intensiver werdendes Schluchzen hielt ihn wohl davon ab. In meiner Verzweiflung klammerte ich mich krampfhaft an ihn. Immer mehr drückte ich meinen Körper an seinen. Den je näher ich ihm kam, desto mehr ich von ihm spürte, wurde mir klar, was dies alles bedeutete. Jake war am Leben. Wirklich am Leben! Ich spürte, wie er vorsichtig seinen Armen um meine Taille schloss und mich sanft noch näher an ihn drückte. Immer stärker werdende Tränen fanden ihren Weg von meinen Augen in seine Halsbeuge und befreiten mich von den ganzen negativen Emotionen, die ich wegen seinem Verschwinden durchlebt hatte. „Du lebst. “, schluchzte ich. Es hatte noch eine ganze Weile, bis mir die wahre Bedeutung der Worte, Jake lebt, klar geworden war. *** Seine rechte Wange brannte. Sie hatte ordentlich Kraft in den Schlag gesetzt. Doch bei weitem war dies nicht so schlimm als die Erkenntnis, welches leid er über sie gebracht hatte. Denn ihre Tränen der Verzweiflung schmerzten so unendlich mehr. Nur zögerlich konnte er ihre Umarmung erwidern. Fast schon schämte er sich für den erleichterten Gedanken, dass er am gestrigen Abend noch die Gelegenheit hatte zu duschen. Seine Kleidung wurde in den letzten zwei Monaten zu dem beißenden metallischen Geruch von verbranntem Benzin noch der Geruch von Schweiß und dem modrigen Waldboden ergänzt. Doch war jetzt eigentlich gar nicht mehr wichtig. Alles, was zählte, war, den emotionalen Schaden seiner Abwesenheit einzugrenzen. Bei weitem konnte er nicht leugnen, dass sich eine gewisse Form von Wohlbefinden in ihm breitmachte, als er ihren Körper an seinen drückte. Bei weitem konnte er nicht leugnen, dass auch er ihre physische Nähe brauchte. Die ganzen Ausmaße seiner Sehnsucht wurden ihm erste jetzt wirklich bewusst. „Du lebst“, ihre verweinte Stimme war schwach, doch konnte er die Vehemenz ihrer Erleichterung spüren. „Ja…“, hauchte er und löste somit noch einen gewaltigen Wasserfall an Tränen bei ihr aus. Jedoch konnte auch er seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Vereinzelt liefen die feinen Tropfen über seine Wangen. „Es tut mir so leid…“, beteuerte er seine Reue und war zugleich gezwungen, ihren Körper noch fester zuhalten. Es wirkte fast schon so, als würden ihre Gefühle ihr die letzte Kraft nehmen. „So unendlich leid…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)