Lucia von ChiaraAyumi ================================================================================ Kapitel 1: Lucia ---------------- Die Nachmittagssonne schien durch das Fenster herein und ließ einen fast vergessen, wie kalt es geworden war und das nun der Winter endgültig hereingebrochen war. Historia genoss die sanften Strahlen, schloss für einen Augenblick, während sie ihre kleine Tochter in den Armen wiegte. Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass dieses kleine Wunder ihres war. Dass sie Mutter geworden war. Von Anfang an hatte sie sich geschworen, nie wie ihre eigene Mutter zu sein, sondern dem Kind jedes Quäntchen Liebe zu schenken. Es im Arm zu halten, ihr vorzulesen, in jedem besonderen Moment an ihrer Seite zu sein. Sie wollte nichts verpassen. Wollte alles aufsaugen und ihrer Tochter sollte es nie an etwas mangeln. Wenn sie nur nicht Königin wäre. Wenn sie sich nicht so hilflos und alleine in der Welt fühlen würde. Sie hatte ihren Mann, den sie trotz aller Umstände liebte, der aber nie verstehen würde, was sie erlebt hatte, bevor sie zu diesem Punkt gekommen war. Er hatte nie gegen Titanen oder Menschen kämpfen müssen. Er hatte nie Verrat erlebt. Er war so schlichtweg normal, wie man nur sein konnte. Und das war gut. Das war das Beste für ihre Tochter, die so normal aufwachsen sollte, wie man das als künftige Thronerbin nur konnte. Doch in ruhigen Stunden wie in diesen, wo Historia ganz alleine mit ihren Gedanken und ihren Sorgen war, wünschte sie sich andere Menschen an ihre Seite. Alle ihre Kameraden und Freunde waren entweder tot oder verbannt. Sie wünschte sich, dass sie zumindest die Verbannten zurückholen konnte, doch das neue eldische Königreich würde ihr das niemals verzeihen. Ihre Freunde musste sie als Verräter verbannen, dabei wusste sie genau, warum sie sich gegen Eren gewendet und ihn getötet hatten, wusste, dass es Erens eigener Wunsch gewesen war und war ihnen in jeder Sekunde dankbar, dass ihre Tochter niemals gezwungen werden würde, ihre eigene Mutter zu essen, unzählige Kinder gebären zu müssen, um dann selbst gegessen zu werden. Eren hatte diese Zirkel mit seinem Tod durchbrochen. Dank ihm wurden die Kinder der neuen Nation in Freiheit aufwachsen. Wie sehr sie wünschte, dass er hier sein konnte, um seinen Traum zu sehen. Historia dachte aber vor allem an Ymir in diesen stillen Momenten. Wie es gewesen wäre, mit ihr eine Familie zu gründen. Wie sie zusammen auf der Farm gearbeitet hätten, die Waisenkinder umsorgt hätten, sich geneckt hätten und immer füreinander da gewesen wären. „Ich wünschte, du könntest meine Erinnerungen an Ymir sehen“, flüsterte sie ihrer Tochter leise zu. „Ich wünschte, ich könnte dich berühren und du würdest sehen, was ich gesehen habe. Ymirs Lachen, ihr versteckter weicher Kern, ihre Selbstlosigkeit. Wie sie mich im Arm gehalten hat, wenn mich nachts die Alpträume heimgesucht haben. Wie sie mich immer motiviert hat, nicht aufzugeben und weiterzukämpfen. All diese kleinen Momente.“ Mit dem Ende der Titanen waren auch die Pfade, die sie alle verband, erloschen. Historia empfand das als traurig, dass sie nicht mehr mit allen verbunden war, dass sie ihre Erinnerungen nicht mehr teilen konnte, wie sie Ymirs Erinnerungen gesehen hatte, als sie ihren letzten Brief berührt hatte. Wie Ymir die Pfade erblickt hatte, als sie wieder ein Mensch geworden war. Wie wunderschön dieser Augenblick für sie gewesen war. Es fühlte sich an, als wäre das Licht, das sie alle miteinander verbunden hatte, völlig verschwunden. „Vielleicht ist es das, was uns gerade fehlt“, murmelte sie gedankenverloren, während in ihrem Kopf sich ein Gedanke zu formen begann. Historia zupfte nervös an ihrem weißen Kleid herum. Weiß war seit ihrer Krönung ihr Markenzeichen, als die unschuldige, rechtmäßige Thronerbin, doch in letzter Zeit hatte sie vor allem ihre militärische Uniform getragen, da der Aufbau des Militärs im Zentrum aller politischen Pläne stand. Für den Augenblick würde es keinen weiteren Angriff auf Paradis geben, aber sie mussten schnell sein, wenn sie mit den anderen Ländern mithalten wollten. Also drehte sich alles nur um schneller, weiter, besser und sie hatte das Gefühl alles andere wurde davon verdrängt. Aber nicht heute. Heute hatte sie andere Pläne für ihr Volk. Deswegen hatte sie nur das schlichte, weiße Kleid an, das sie bei ihrer Krönung getragen hatte. Auf den royalen Umhang hatte sie verzichtet, denn sie wollte ihrem Volk als einfache Frau gegenüber treten. In ihren Händen hielt sie eine weiße Kerze. Historia hoffte, dass ihre Idee Wirkung haben würde und die Leute begeistern würde. Sie hatte so viele Leute wie möglich in der Hauptstadt dazu aufgerufen sich in einer der verbliebenen Kirchen des Mauerkultes zu versammeln. Der Mauerkult hatte seit dem Verschwinden der Mauern den Kern ihrer Anbetung auf Eren verschoben, den sie als Erlöser predigten, der die Titanen in den Mauern ihrem Zweck zugeführt hatte. Daneben war Ymir neben ihren Töchtern Maria, Rose und Sina in den Vordergrund gerückt. Aber vor allem die Angst vor Vergeltung ließ die das Volk von Eldia zusammenkommen. Deswegen vereinten sie sich unter den Bannern der Jaegeristen, nicht aus Glaube, sondern aus Angst davor, wie hoch der Preis für Erens Taten sein würde. Doch Historia wollte ihnen heute noch etwas anderes geben, an das die Menschen denken und ihnen das Gefühl von Einheit geben sollte. Licht und Hoffnung. Sie hatte darum gebeten, den Raum abzudunkeln und so betrat sie nur mit der hellleuchtenden Kerze in ihrer Hand und weitere Mädchen und Frauen folgten ihr mit den ihren entzündeten Kerzen. Historia stimmte leise ein Lied an. Ein altes Lied über Liebe, Verlust und Trauer. Die anderen Frauen stimmte mit ihr ein und so schritten sie als Prozession durch die Kirche. Sie war unglaublich nervös gewesen, als sie den Plan entwickelt hatte. Sie hatte noch nie in der Öffentlichkeit gesungen, aber irgendwie war es ihr richtig erschienen der Prozession noch etwas Überirdisches zu verleihen. Die vielen Stimmen vereint in einem Chor hatte einfach etwas Magisches. Sie sah Tränen in den Augen mancher Menschen, während andere verwirrt den Kopf schüttelten. Die Menschen hatten sicher etwas anderes erwartet. Die Prozession sammelte sich in der Mitte der Kirche, das Lied erreichte seinen Höhepunkt und klang aus. Ein Augenblick der Stille brach herein, bis die ersten Leuten zu tuscheln begannen und offen die Frage stellte, was das hier alles sollte. Historia räusperte sich. Sie hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt vor all diesen Leuten sprechen zu müssen. „Heute gedenken wir nicht nur den Gefallenen, die wir im Krieg verloren haben, sondern wollen uns auch daran erinnern, was uns seit jeher verbunden hat. Es ist nicht nur das Blut von Ymir, das durch unsere Adern fließt, sondern auch ihr Licht. Die Pfade haben uns vereint, jeder einzelne von uns war mit allen anderen verbunden und nie ganz alleine. Die Pfade mögen mit dem Ende der Titanen erloschen sein, doch noch immer sind unsere Herzen eins. Was einmal getrennt war, wird immer wieder zueinander finden. Niemand von uns steht alleine da. Reicht einander die Hand, hört zu und helft einander, damit das Licht zwischen uns weiter leuchten kann. Lasst uns die Pfade, die unsere Herzen und Gedanken miteinander verknüpft haben, weiter erstrahlen. Lasst uns der Welt da draußen zeigen, dass wir nicht nur ein Volk sind, das mit Unheil und Leid verknüpft wird, sondern dass wir für Licht und Wärme stehen. Lasst uns zusammen kommen und zusammen erglühen. Nicht nur für den Kampf, sondern für das Leben und die Freiheit, die uns geschenkt wurden.“ „Opfert eure Herzen“, brüllte eine Stimme und der Ruf wurde von vielen Leuten aufgegriffen. Historia kämpfte mit den Tränen, bedeutete dieser Ruf ihr doch noch so viel mehr, als nur eine Parole, sondern steckte voller Geschichten und Erinnerungen an ihre Zeit beim Aufklärungstrupp. Sie salutierte mit der Hand auf ihrem Herzen und die Menge folgte ihrem Beispiel. „Kämpft“, riefen mehrere Leute nun. „Wenn wir gewinnen, leben wir. Wenn wir verlieren, sterben wir. Wenn wir nicht kämpfen, können wir nicht gewinnen. Also kämpft! Opfert eure Herzen!“ Historia hatte sich erhofft, dass die Menschen mehr auf ihren Wunsch nach Frieden und Licht ansprachen, doch vielleicht war es zu früh dafür und immerhin vereinten dieser Ruf sie alle. Möglicherweise hatte ihre Botschaft die Herzen der Menschen erreicht und zumindest einen Saat des Lichtes war ausgebracht worden. Sie würde es nächstes Jahr wieder versuchen. Sie würde solange ein Tag der Pfade und des Lichts veranstalten, bis sie auch das letzte Herz erwärmt hatte. Historia musste lächeln, weil sie fast spüren konnte, wie Ymir auf sie hinabblickte und den Kopf schüttelte, weil sie sich wieder als diese Lichtgestalt präsentierte, doch Historia glaubte, dass sie sich verändert hatte und sie nicht mehr nur so gesehen wollte, sondern auch wirklich so sein wollte. Für ihre Tochter und eine bessere Zukunft wollte sie das Licht in Person sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)