Leid, leiden, leid tun von Chimi-mimi ================================================================================ Kapitel 1: I ------------ „Es tut mir leid… >_<“ Wieder und wieder las Davis die Nachricht von seinem eigentlich besten Freund. Seit Wochen versuchte er, Ken auf ein Abendessen einzuladen, sich mal wieder zu treffen, und jedes einzelne Mal kam eine solche Nachricht. Es tat Ken leid, eins der Kinder war krank, Yolei war krank, Yolei war nicht da, Ken musste auf die Kinder aufpassen, ein Date mit Yolei, seine Arbeitskollegen hatte ihn schon eingeladen, eine Schulveranstaltung der Kinder. Aber es tat Ken leid. Nur nicht so leid, dass er sich mal bei Davis melden würde. „Schon gut. Ein anderes Mal dann“, antwortete er schließlich auf die Nachricht. Es würde kein anderes Mal geben. Er hatte es so oft versucht, er konnte einfach nicht mehr. „Ja, ein anderes Mal“, flüsterte er leise vor sich her. Es war nicht so, dass Davis sonst keine Freunde hatte, aber Ken… Ken war einfach Ken. Seit ihren Abenteuern in der Digiwelt, seit sie die Welt gerettet hatte, seit er Kens Herzschlag zum ersten Mal gespürt hatte, seitdem war es klar, dass Ken nicht zu ersetzen war. Er hatte einen besonderen Platz in Davis‘ Leben. Doch scheinbar war es umgekehrt nicht das gleiche. Sie waren auseinandergedriftet, sie alle, die Digiritter der zweiten Generation. Früher waren sie unzertrennlich, doch heute… heute war alles anders. Jeder lebte in seiner eigenen Welt. Na ja, außer TK und Kari. Oder Kari und Tai, TK und Matt, Yolei und Ken, Mimi und Joey, Yolei und Kari, Tai und Matt. Die Paare und Geschwister ihrer Gruppe trafen sich auch noch auf gemeinsame Dates. Aber der Rest hatte sich verloren. Ein paar vereinzelte Nachrichten hier und da und dort, oberflächlicher Smalltalk, Glückwünsche. Die Freunde, die ihm immer noch so wichtig waren, gab es so nicht mehr. Seufzend ließ Davis sich auf sein schmales Einzelbett fallen. Ein Einzelbett, eine kleine Wohnung, jede Menge Zeit für sich. Er war erfolgreich in seinem Job. Alle liebten seine Nudelsuppe. Er hätte sich mehr leisten können, doch wofür? Ob er in diesem winzigen Apartment oder einer größeren Wohnung allein lebte, machte keine großen Unterschied. „Davis?“ „Veemon?“, erwiderte er und sah auf die Konstante in seinem Leben, das Einzige, was ihm noch wichtiger war als Ken… und die anderen. „Geht es dir nicht gut?“ Das blaue Digimon betrachtete ihn prüfend. „Ich…weiß es nicht, Veemon.“ Das war die Wahrheit, die ungewollt seinen Mund verließ. Dabei war Aufrichtigkeit doch die Sache von Mimi und Yolei. „Heißt das, wir sehen Wormmon und Ken nicht?“ Manchmal war sein Freund erschreckend hellsichtig. „Genau das heißt es. Ken hat abgesagt.“ „Oh.“ Nicht nur Davis hatte sich auf ein Treffen gefreut, auch Veemon vermisste seinen Freund. Vielleicht sogar noch mehr als Davis Ken, immerhin waren die zwei Digimon auf einer Ebene verbunden, die so intensiv war, dass er es sich nicht mehr vorstellen konnte. „Es tut mir leid.“ Ein schwacher Trost, aber Davis war zu müde, um seinem Freund mehr bieten zu können. Die Matratze senkte sich leicht ab, als Veemon sich neben ihm hochzog. „Mir auch“, erwiderte sein Digimon ungewohnt leise. Sie hatten sich in den letzten Jahren beide verändert. „Was machen wir jetzt?“ Das war eine gute Frage, auf die Davis keine Antwort hatte. Weitermachen wie bisher? Arbeiten bis zum Umfallen, in die leere Wohnung kommen und dann einfach schlafen, bis es wieder Zeit zum Arbeiten war? Bei Ken aufkreuzen und ihn zur Rede stellen? Allen Digirittern eine Nachricht schreiben und fragen, was mit ihnen passiert war? Stattdessen holte Davis sein Handy raus und hob es so, dass auch Veemon einen Blick darauf werfen konnte. Doomscrolling auf Instagram war angesagt. Zumindest da blieb er auf dem Laufenden, was mit seinen alten Freunden passierte. Da war Mimi, mal wieder in einem angesagten Outfit irgendwo unterwegs, wahrscheinlich in einem Club. Sie liebte Instagram und Instagram liebte sie. Manchmal konnte Davis so auch etwas von Joey sehen. Kari postete liebend gerne ihre Bilder, Natur, Essen und natürlich ihr Ehemann, TK. Heute hatten die beiden wohl ein Date gehabt, wenn er die Kerzen auf dem Tisch richtig deutete. Jepp, definitiv, da war ein Selfie von dem grinsenden Tai mit einem schlafenden Matt und jeder Menge Kinderspielzeug im Hintergrund. Dann hatten die zwei wohl die Kids gehütet. Als Nächstes ein Bild von Yolei mit… war das ein Ultraschallbilld? Und ein Bauch? Oh. Ja. Yolei war definitiv sehr schwanger. „Davis?“ Veemon schmiegte sich an ihn. „Bekommt Yolei wieder ein Baby?“ „Ja, scheint so.“ Die Kommentare darunter waren alle von seinen Freunden. „Verratet ihr jetzt endlich, was es wird?“. Der Post kam von Mimi. „Yolei, du strahlst einfach wunderschön.“ Kari. „Die Schwangerschaft steht dir ;).“ Tai. „Tai! Aber ja, du hast recht. Wir freuen uns für euch.“ Matts Antwort. „Ich freue mich schon auf die Babyparty“, kam es von Sora. Izzy hatte einen Daumen hoch gesendet. „Was steht da?“ Davis las seinem Partner alle Kommentare vor. Die anderen Digiritter wussten scheinbar schon bescheid, oder? Konnte es sein, dass Yolei und Ken es den anderen erzählt hatten? Die einzigen, die nichts gepostet hatten, waren Cody und Joey, aber beide hatten kein Instagram. Joey wusste es garantiert von Mimi. Aber dass Ken es ihm nicht erzählt hatte… das tat weh. Fast so sehr wie… Es tat weh. „Was machen wir jetzt, Veemon? Sie haben uns scheinbar vergessen, oder?“ Achtlos ließ Davis das Handy neben dem Bett auf den Boden fallen. Er schloss die Augen, doch konnte er das Bild von der lächelnden Yolei und dem Ultraschallbild nicht vergessen. Schweigend lagen Veemon und er nebeneinander. „Davis! Wir müssen etwas tun! Wir müssen alle zu uns ins das Restaurant einladen.“ Veemon richtete sich auf und schlug ihm unsanft auf den Oberarm. „Wir stehen doch für Mut und Freundschaft. Wir können nicht einfach so dasitzen. Lass uns das tun.“ Durch ein leicht geöffnetes Augenlid sah Davis müde, wie entschlossen Veemon war. Das Digimon hatte seinen kämpferischen Blick aufgesetzt und sah ihn herausfordernd an. Freundschaft, Mut, das waren damals die beiden Digi-Eier gewesen, die Davis bekommen hat. Aber war er heute noch so wie damals? „Komm schon, Davis, steh auf, schreibe an alle und lade sie ein.“ Noch ein Schlag gegen den Arm. Widerwillig öffnete der junge Mann seine Augen. „Jetzt!“ „Ist ja schon gut“, murmelte er, als Veemon ein weiteres Mal zu einem Schlag ansetzte. Zwar stand er nicht auf, aber tastete auf dem Boden nach seinem Smartphone. Ah, da war es ja, schon halb unter seinem Bett, aber noch greifbar. Er öffnete ihre Chatgruppe und musst feststellen, dass die letzte Nachricht darin von ihm war. Schon fünf Monate alt. Was sollte er schreiben? Schlicht und kurz, so wurde es dann: „Hey Leute, wenn ihr Lust habt, könnten wir uns mal wieder treffen. Ich lade euch ein, nächsten Donnerstag bei mir im Restaurant, gegen 20 Uhr. Würde mich freuen.“ Bevor er es sich anders überlegte, klickt er auf Senden. Erledigt. Was für ein Unterschied zu dem alten Davis das war. Früher hätte er alle angerufen und sie lautstark eingeladen, sie bedrängt. Aber die Jahre hatten ihn gemäßigt, zu oft war er enttäuscht worden. Die anderen waren alle ohne ihn weitergegangen, nur er stand noch hier und dachte an die Vergangenheit, so erschien es ihm zumindest. Kapitel 2: II ------------- Auf der Arbeit verging die Zeit so schnell, dass Davis kaum merkte, dass der Donnerstag gekommen war. Nur die Reservierung für den großen Tisch erinnerte ihn daran. Die Reservierung für einen sehr leeren Tisch. Auf seine Nachricht hatten nur Tai mit einem Daumen nach oben, Matt mit einem Smiley und TK mit einem „Coole Sache“ reagiert. Teilweise war die Nachricht noch ungelesen. Nun war 20 Uhr verstrichen und… ja, der Tisch war immer noch leer. Immerhin Mimi hatte für sich und Joey noch kurz vorher abgesagt. „Tja“, wandte Davis sich an seinen treuen Digimonpartner. „Es war einen Versuch wert, oder?“ „Ja.“ Veemon sah halb traurig, halb hoffnungsvoll immer noch auf die Tür. Davis hingegen drehte ihr den Rücken zu und wusch Geschirr ab. Das war schon lange nicht mehr seine Aufgabe, doch in diesem Moment hatte es etwas Beruhigendes, die alten und vertrauten Handgriffe auszuführen. Er musste nicht nachdenken, seine Hände wussten, was zu tun war. Eine Schüssel, die nächste Schüssel – erst leeren, dann abspülen, dann die Spülmaschine. Stück für Stück. „…lo… llo…. Hallo, Davis?“ Eine vertraute Stimme riss ihn schließlich aus seiner Trance und die Schüssel fiel mitsamt ihrem Inhalt in den Eimer. „Tai?“ „Da bist du ja, ich habe gefühlt ewig nach dir gerufen. Deine Angestellte meinte, du bist hier hinten.“ Mit einem breiten Grinsen stand Tai ihm gegenüber und da tauchten auch noch die zwei bekannten Blondschöpfe auf. Sie waren tatsächlich gekommen. Matt, TK und Tai waren gekommen. „Davis, hi, wie geht’s dir? Sorry, wir sind zu spät, aber die Dramaqueen hier…“, TK warf einen vielsagenden Blick auf seinen älteren Bruder, „… wusste nicht, was er anziehen soll. Da ist er halbwegs bekannt und prompt ist das Aussehen super wichtig. Er könnte ja Fans begegnen.“ „Hey! Bloß, weil du immer dieselben drei Sachen anziehst, muss das jeder tun. Aber ja, es war meine Schuld. Tut mir leid.“ Matt schaute mit einem halben Lächeln über Tais Schulter. „Allerdings war mein Hemd schlicht und einfach fleckig. Von wegen Dramaqueen, unser Autor hier muss ja immer alles ausschmücken und die Tatsachen verdrehen.“ „Oh, um, kein Problem. Ihr seid sowieso die Ersten“, erwiderte Davis, während er in Gedanken ein ‚und wahrscheinlich die letzten‘ hinzufügte. „Schön, dass ihr da seid. Er war Gastgeber, das war sein Job, das war vielleicht auch seine Leidenschaft, zumindest war sie es mal. In der letzten Zeit wusste er nicht mehr, was er fühlen sollte. Doch eines war sicher, er war ein Gastgeber, das konnte ihm niemand nehmen. Also, durchatmen, Lächeln aufsetzen und den alten, charmanten Restaurantbesitzer herausholen. Das konnte doch gar nicht so schwer sein. „Kommt mit, ich habe uns natürlich den besten Tisch im Restaurant reserviert.“ Mit drei Speisekarten führte er sie zu ihrem Platz. Veemon machte es ihm nach und führte, eine Serviette über den blauen Arm gelegt, seine Digimonfreunde ebenfalls durch den kleinen Gastraum. „Setzt euch, sucht euch was aus, der Abend geht auf mich.“ Geschäftig legte er seinen alten Freunden die Karten hin, winkte seiner treuen Kellnerin Kami zu, die auch prompt die Getränkebestellung aufnahm. „Kari lässt sich übrigens entschuldigen, sie hatte schon irgendeinen Frauenabend mit Yolei und Sora und noch ein paar ihrer Freundinnen geplant.“ „Alles okay, war ja auch sehr spontan“, erwiderte Davis knapp, während er sich, mit einigem Abstand zu den anderen, schließlich auch hinsetzte. „Weiß einer von euch etwas vom Rest?“, fragte Tai in die Runde. „Mimi und Joey sind ja auch schon verplant. Izzy übrigens auch, er hat irgendeine wichtige Präsentation. Ich verstehe da immer nur Bahnhof.“ „Cody ist da auch dabei. Er und Izzy saßen da wohl zusammen dran und jetzt will er natürlich das Ergebnis wissen.“ Natürlich wusste TK, was bei seinem alten DNA-Digitationspartner los war, er hatte scheinbar noch Kontakt. „Weißt du was von Ken, Davis?“ Innerlich zuckte er zusammen, aber sein Gastgeber-Ich lächelte weiterhin freundlich und zuckte nur mit den Schultern. „Er hütet die Kinder“, warf Matt ein, „dass Yolei den Frauenabend genießen kann.“ So langsam fühlte sich Davis‘ Lächeln etwas eingefroren an und er war froh, dass Kami genau in diesem Moment mit ihren Getränken an den Tisch kam. Veemon half ihr beim Verteilen der Getränke, während er selbst sich zurückhielt. Ken. Yolei. Immer wieder das gleiche. Vielleicht war dieser Abend keine so gute Idee. Während seine Freunde gleich auch bei Kami das Essen für sich und ihre Digimon bestellten, winkte Davis dankend ab. Er hatte keinen Hunger. „Was ist los mit dir, Davis? So kennen wir dich ja gar nicht.“ „Ah, du weißt doch, als Koch muss ich immer wieder neue Gerichte probieren, heute waren es ein paar zu viel.“ Zum Glück hatte er immer eine Notlüge parat, obwohl Tais Blick kritisch blieb und Veemon ihn vielsagend ansah. Ein paar Klopfer auf seinen nicht wirklich vollen Bauch und eines seiner alten Grinsen und sie widmeten sich neuen Themen. Seine Freunde hatten viel zu erzählen, von sich, von den anderen, von so vielen Dingen, dass Davis ganz schwindlig wurde. Wann immer einer von ihnen Fragen an ihn stellte, gab er eine nichtssagende Antwort und lenkte mit einer Gegenfrage schnell wieder von sich ab. Die Zeit verging überraschend schnell und ein paar Mal erwischte Davis sich dabei, dass er bei den kleinen Anekdoten der anderen sogar lachen musste. Es war fast schon ein schöner Abend für ihn, doch die Wehmut überwog. Nach einem kurzen Toilettengang kam er mit seinem Gastgeberlächeln an den Tisch zurück, fest aufgesetzt, als er sah, dass Matt und TK sich schon anzogen. „Davis, danke für den tollen Abend“, lächelte Matt ihn an. „Wir müssen das wiederholen und sollten nicht wieder so lange warten.“ „Ja“, schloss TK sich ihm direkt an. „Ich habe das Gefühl, wir haben uns schon ewig nicht mehr gesehen!“ Davis nickte nur zustimmend, während Tai gelassen und entspannt am Tisch sitzen blieb: „Die beiden Brüder müssen los, aber du wirst mich nicht so schnell los.“ „Danke, Mann. Lass uns wirklich nicht wieder so lange warten“, verabschiedete TK sich mit einem Klaps auf Davis‘ Schulter. Matt hingegen nahm ihn kurz in den Arm. „Aber nächstes Mal laden wir dich ein.“ Noch ein „Bis bald“ und dann war er mit Tai alleine. Gut, alleine war relativ. Agumon und Veemon unterhielten sich in einem Eck und Kami machte mit seinen anderen Angestellten die Arbeiten, die abends nach einem langen Tag in einem Restaurant anfiele. Der ältere saß immer noch sehr gelassen da, doch sein Blick war sehr durchdringend. Davis blieb nichts anderes übrig, er musste Tai zu sich in die Wohnung einladen, damit der Gastraum gereinigt werden konnte: „Kommst du noch auf ein Bier mit nach oben?“ „Klar, gerne“, erwiderte Tai mit einem milden Lächeln. Es war, als ob er genau wüsste, was durch Davis‘ Kopf ging. „Okay, gib mir eine Minute, dann können wir hochgehen. Ich sag Kami kurz Bescheid, dass sie heute den Laden abschließt.“ „Klar“, wiederholte Tai sich, stand dabei aber so geschmeidig wie eine Raubkatze auf, um seine Jacke und die Digimon zu holen. Eine Raubkatze, dachte Davis bei sich, die auf Beutezug war, nur dass die Beute er war. „Kami!“ Er eilte zu seiner Lieblingsangestellten und informierte sie kurz, woraufhin sie ihn wegscheuchte: „Geh schon, du bist immer hier, jetzt bin ich mal dran mit Abschließen.“ Das war es dann, keine Ausreden mehr, es war Zeit, seinem alten Mentor entgegenzutreten und Davis wusste, Tai war hartnäckig und Tai hatte eine Spur. So hatte er sich das Ende dieses Abends nicht vorgestellt. Kapitel 3: III -------------- „Also…“, fing Tai an, „jetzt lass uns mal reden, Davis. Das haben wir viel zu lange nicht mehr.“ „Ich dachte, das haben wir vor fünf Minuten erst getan, unten. Du weißt schon, in meinem Restaurant“, erwiderte Davis, während er seinen Kopf in den Kühlschrank steckte, um das Bier zu holen. Der kurze Weg über die Hintertreppe des Restaurants in seine kleine Wohnung hatte ihm keinen wirklichen Aufschub gegeben. „Wir haben geredet. Du hast… ich würde es mal moderieren nennen.“ Mit einem Zischen öffnete er erst die eine, dann die andere Flasche und schob eine davon Tai hin. „Außerdem hast du gelogen.“ Erschrocken sah Davis Tai direkt in die Augen. Was meinte er damit? „Äh… was?!“ „Du hast kein großes Probekochen gemacht und du hast nichts gegessen.“ „Tai…“ „Nein, Davis“, unterbrach sein Freund ihn direkt. „Ich kenne dich. Auch wenn ich zugeben muss, dass wir uns wirklich viel zu lange nicht mehr gesehen haben. Trotzdem kenne ich dich und weiß, dass du nichts gegessen hast.“ „Okay, okay,“ Davis hob abwehrend die Hände, „du hast recht. Ich habe nichts gekocht, aber ich hatte wirklich keinen Hunger, okay?“ „Das glaube ich dir auch. Aber Davis, es tut mir leid.“ „Ich wiederhole mich, aber… was?!“ Ungläubig sah er Tai an. Wofür entschuldigte dieser sich? „Ich war dir ein schlechter Freund.“ Zum ersten Mal senkte Tai den Blick und betrachtete ausgiebig seine Bierflasche. „Was für ein Freund meldet sich nicht und ist nur mit sich selbst beschäftigt? Das tut mir wirklich leid.“ „Tai“, Davis musste sich räuspern, der Kloß im Hals war groß geworden. „Ich habe wirklich keine Ahnung, was du meinst. Du bist ein guter Freund, du warst heute hier, du bist jetzt hier.“ „Nein. Das stimmt nicht. Als ich dich vorhin gesehen habe, Davis… ich habe zwar nach dir gerufen, aber ich war im ersten Moment, ich war geschockt, okay? Ich stand da und habe dich kaum erkannt.“ Unruhig zupfte Tai am Etikett der Flasche, während Davis einfach still und stocksteif an seiner Küchenzeile lehnte, die eigene Flasche vergessen neben ihm. „Das stimmt“, mischte sich jetzt auch Veemon ein. „Tai stand nur da und hat dich angestarrt. Das war echt seltsam.“ Agumon nickte heftig und zustimmend. „Da hast du recht, Veemon, ich war seltsam, aber Davis hat sich so verändert.“ Tai lächelte die Digimon schwach an. „Du fragst dich jetzt sicher, was ich meine, aber… wir haben uns so lange nicht mehr gesehen, Davis. Ich sehe den Unterschied. Du nicht.“ „Er ist richtig dünn geworden, oder Tai?“ „Nicht nur das, Agumon. Sieh ihn dir genau an. Davis, früher warst du so… anstrengend mit deinem Enthusiasmus und deiner schier grenzenlosen Energie. Das meine ich nicht böse, aber es war nicht leicht, mit dir mitzuhalten, Kumpel. Du warst so groß und strahlend und einfach immer da. Heute habe ich dich gesehen und du warst blass, klein, in dich zusammengesunken. Aber Agumon hat recht, du bist auch unglaublich dünn geworden. Was ist nur passiert? Davis, ich bitte dich als dein Freund, bitte, bitte, sag mir, was los ist. Bitte lüg mich nicht an, bitte keine Ausreden. Ich will dir helfen, ich will dir zuhören. Ich will wieder gut machen, was ich alles falsch gemacht habe. Also bitte, Davis, bitte sprich mit mir.“ Tais Stimme war ganz dünn geworden, leise, er musste häufig schlucken. Seine Augen flehten Davis genauso wie seine Worte an und er konnte das nicht ertragen. Mit einem erstickten Schluchzer glitt er an der Küchenzeile entlang auf den Boden, die Knie dicht an seinen Oberkörper gezogen. „Davis!“ Drei erschrockene Ausrufe ertönten fast gleichzeitig. Veemon eilte an seine Seite, Agumon schaute unsicher auf die Szene. Da war auch Tai, der sich neben ihn setzte, eine Hand zögerlich auf Davis Knie. „Denken… denken…“ „Ja, Matt und TK geht es so wie mir.“ „Hast du das kurze Holz gezogen?“ Bitter war seine Stimme, bitter war die Frage, aber Davis musste die Antwort darauf wissen. Egal wie sie ausfiel. „Nein“, erwiderte Tai mit fester Stimme. „Nein. Ich wollte es, TK wollte mit dir reden und Matt hätte dich am liebsten direkt konfrontiert. Ich habe mich nur durchgesetzt. Ich dachte dir, mit deinem alten Rivalen redest du wohl nicht so gern über Gefühle. Und mit seinem Bruder auch nicht. Wobei ich der Bruder deiner Jugendliebe bin, also bin ich vielleicht auch nicht der richtige?!“ Ein ersticktes Lachen bahnt sich den Weg aus Davis‘ Kehle. Seine Liebe zu Kari war alles gewesen, nur keine echte Liebe. Er war eher wie ein eifersüchtiger Hund, der seinem Besitzer gefallen wollte. Kari war hübsch und sie war so, so nett gewesen. „Du weißt, dass ich nie richtig in sie verliebt war?“ „Was?“ „Ich dachte, ich wäre es, aber glaub mir, ich habe später gelernt, das war keine Liebe, kein Verliebtsein, es war nur der Wunsch danach.“ „Wow“, erwiderte Tai. „Ich… wow.“ „Du wolltest über Gefühle reden.“ „Ja, das war aber nicht das, an was ich dachte, Kumpel. Aber wow. Das kam echt unerwartet. Du warst seit Kari doch eigentlich gar nicht…“ „Ja, unerwiderte Liebe ist hart. Sowohl die eingebildete als auch die echte.“ „Kenne ich die Frau, die dir das Herz gestohlen hat?“ „Nein“, erwiderte Davis leichten Herzens. „Vielleicht kennst du den Mann, der mir… das Herz gestohlen hat.“ „Davis!“ „Tai?“ „Du bist schwul?“ „Du doch auch!“ „Ja, aber… warum hast du nicht früher was gesagt?“ Schweigend ließ Davis seine Wange auf seinem Knie ruhen. Er musste dringend mal wieder den kleinen Schrank abwischen, da hatten sich Flecken angesammelt. „Wir haben nie gefragt“, beantwortete Tai nach einigen Minuten Schweigen seine eigene Frage. „Fuck, wir waren echt beschissene Freunde.“ „Es ist okay, Tai, ihr hatte euer eigenes Leben. Es war einfach… nicht so wichtig“, tat Davis es mit einem Schulterzucken ab. Mit Tais heftiger Reaktion hatte er nicht gerechnet, doch innerhalb eines Bruchteils eines Augenblicks war dessen Gesicht nur Zentimeter von seinem eigenen entfernt und seine Schultern waren im Klammergriff von großen, warmen Händen gefangen. „Sag das nicht, Davis. Das möchte ich nie wieder hören, okay? Du bist wichtig, deine Gefühle sind wichtig. Verstehst du, ich möchte hören, wenn du dich verliebst, ich möchte es wissen, wenn du unglücklich bist, ich muss es wissen, wenn du einsam bist. Ich werde dir wieder der Freund sein, den du verdienst. Du hörst mir zu, du bist da, wenn einer von uns dich braucht. Was wir getan haben, ist unverzeihlich, okay? Du. Bist. Wichtig.“ Schwer atmend sah Tai ihn an, verzweifelt, wütend und entschlossen. Davis war gefesselt von seinem Blick und seinen Worten. Wurde nicht früher schon immer abgetan, wenn er etwas zu sagen hatte? Wie oft wurde er ignorier und ausgelacht und als kindisch bezeichnet? Jetzt sollte er doch reden und Tai würde ihm zuhören? „Davis“, Agumon umarmte ihn jetzt auch. Tai vor ihm, die beiden Digimon an seine Seiten gedrängt, er wusste nicht, ob er diese Wärme genießen sollte oder doch überfordert war. „Tai hat recht. Wir waren keine guten Freunde, auch für dich nicht, Veemon. Mir tut es auch leid.“ „Ich…“ Davis war sprachlos und er wusste nicht, was er erwidern sollte. „Ich…“ Kapitel 4: IV ------------- Nur das Ticken einer Uhr und das Atmen der vier Anwesenden war zu hören. Davis war ganz schwindlig von den Entschuldigungen und Tais Blick, der so viel sagte. Es war fast zu viel. „Wie nur kann ich dir zeigen, dass es mir wirklich leidtut?“, murmelte Tai leise. Davis hatte darauf keine Antwort, weil er es nicht verstand, doch ein schrilles und energisches Klingeln gab ihm eine Pause. „Erwartest du noch jemanden?“ „Eigentlich nicht…“ Bevor Davis sich befreien konnte, war Veemon schon mit einem „Ich geh schon!“ an der Wohnungstür. Von seiner Position am Boden in der Küche konnte er nicht sehen, wer so ausdauernd geklingelt hatte und die Stimmen waren leise, so dass er sie nicht erkannte. Ganz im Gegensatz zu Tai, der immer noch seine Knie umklammerte, aber dabei „Das kann doch nicht wahr sein“ murmelte. „Davis, es tut mir sehr, sehr, sehr leid.“ „Davis, Tai?“ Das war Matt. Jetzt erkannte Davis die Stimme und dieses Mal konnte er Tais Entschuldigung nachvollziehen. „Ich weiß, Tai, wir hatten etwas anderes abgemacht, aber…“ „…aber du musstest trotzdem kommen“, beendete Tai den angefangenen Satz. „Ich habe auch etwas mitgebracht!“ Matt raschelte mit einer Tüte, ehe er bei ihnen in der kleinen Küche stand. „Oh… alles okay bei euch? Vergesst es, dass war die falsche Frage.“ Davis ließ seinen Blick wandern, von der Tüte hoch zu Matts entschlossenem Gesichtsausdruck bis hin zu Tai, der einfach nur mit den Augen rollte. So langsam wurde dieser Abend wirklich skurril und eigentlich war er schon bei Tais kleinem Überfall an seine Grenzen geraten. Jetzt stand auch noch Matt hier. Nach Monaten, in denen sie kaum Kontakt hatten. „Hör zu, Davis, ich weiß nicht, was Tai dir gesagt hat, aber ich will mich entschuldigen. Wir waren echt miese Freunde – und ich war mal Digiritter der Freundschaft. Ich schäme mich für mein Verhalten.“ Jetzt fing auch noch Matt an, sich zu entschuldigen. Doch bevor Davis etwas erwidern konnte, hielt Tai ihm blitzschnell den Mund zu: „Hmpf!“ „Sag jetzt nicht, es ist schon okay oder dass alles gut ist und wir ja unser eigenes Leben haben und du nicht so wichtig wärst. Das will ich nicht noch einmal hören!“ „Was? Das kannst du nicht sagen, Davis!“, rief Matt entsetzt aus. „Hat er aber.“ „Hmpf.“ „Nein. Davis. Ich…“, für einen Moment suchte Matt nach den richtigen Worten, dann sank er neben Tai auf die Knie und warf Davis einen genauso intensiven Blick zu. „Ich habe eine Frage an dich. Nur eine einzige Frage, ja?“ „Hm?“ „Wenn Tai oder ich zu dir sagen würden, dass es okay ist, weil es wichtigeres als uns gibt, wie würdest du reagieren?“ „Natürlich seid ihr wichtig!“, erwiderte Davis empört, nachdem Tai endlich seine Hand weggezogen hatte. „Ah. Dann habe ich noch eine Frage an dich. Warum sind wir wichtig, du aber nicht?“ „Ich… also… oh.“ „Ja, oh.“ Matt nickte wissend. „Glaub mir, ich kenne das. Aber jetzt, während du das verdaust, ich habe dir etwas zu essen mitgebracht.“ „Oh…“, wiederholte Davis sich. „Ich sagte doch, wir haben dich durchschaut, Kumpel.“ „Hast du dich mal angesehen? Du bist viel zu dünn. Du bist dünner als Mimi und du weißt, wie sehr sie auf so was achtet!“ Matt hatte sich mittlerweile im Schneidersitz zu ihnen gesetzt und wühlte in der Tüte. „Deshalb gibt es jetzt erstmal etwas zu essen.“ Davis drehte sich schier der Magen um, beim Gedanken, was Matt da alles zum Essen mitgebracht haben könnte. Noch schlimmer war nur, dass er es essen musste. Hoffentlich nichts zu Fettiges. „Hier, Tai, für dich ein Sandwich. Ich kenne doch deinen Dauerhunger.“ „Ah, super, danke!“ „Für euch Digimon habe ich auch Sandwiches. Für mich nur ein bisschen von dieser Matcha-Rolle. Ich bin eigentlich noch satt von deinem leckeren Essen, aber zusammen schmeckt es besser, oder? Und für dich gibt es ein Jogurt und etwas Obst.“ Erstaunt sah Davis auf das angebotene Essen und dann zu Matt, der ihm ein verschmitztes Lächeln schenkte. „Nicht alle essen so viel wie Tai…“ „Hey!“ „…und dazu kommt, dass ich nicht wusste, wann du das letzte Mal gegessen hast. Also habe ich dir lieber etwas leichtes mitgenommen. Wenn du willst, kannst du aber Tais Sandwich oder meine süße Kleinigkeit haben.“ „Hey!“ „Ruhe, Tai. Also, Davis, was soll es sein?“ Matt hielt ihm den Jogurt und das Obst hin und stumm griff Davis danach. Schweigend aßen sie dann ihr jeweiliges Essen. Es war eine angenehme Stille, sie wirkte nicht angestrengt und Davis hatte nicht das Bedürfnis, sie füllen zu müssen. Der kühle Jogurt und das frische Obst rutschten auch erstaunlich gut runter und mit jedem Bissen merkte Davis, dass er wohl doch Hunger hatte, auch wenn er am Ende satt war. „Danke“, wisperte er. „Danke fürs Essen“, erwiderte Matt. „Können wir jetzt reden?“ „Um…“ „Wow, sensibel, Matt, sehr sensibel“, mischte Tai sich ein und wischte sich die letzten Krümel aus den Mundwinkeln. Bevor du gekommen bist, hatten Davis und ich tatsächlich ein sehr gutes Gespräch.“ „Super, dann können wir jetzt zu dritt weiterreden, weil, Davis, ich mache mir ehrlich gesagt wirklich Sorgen um dich.“ „Es tut mir l…“ „Nope!“ Wieder hielt Tai ihm blitzschnell den Mund zu. „Keine Entschuldigungen von dir.“ „Davis“, Matts Stimme wurde ganz sanft, „du hast keine Schuld, also hast du auch keinen Grund, dass es dir leidtun muss. Du leidest ganz offensichtlich und es tut uns leid, dass wir das nicht früher gesehen haben.“ Obwohl Tai seinen Mund wieder freigegeben hatte, konnte Davis nur stumm nicken. „Also, erzähl uns, was ist los mit dir?“ „Ich…“ Wo sollte er nur anfangen? Sollte er wirklich darüber reden? Was sollte er den beiden erzählen? „Weißt du was, wir stellen dir Fragen, ja?“ Tai grinste ihn an. „Ich fange an. Geht es dir so schlecht, weil du unglücklich verliebt bist?“ Matts Augenbrauen schossen in die Höhe, aber er schwieg und Davis war dankbar, dass er nicht darauf einging, sondern nur zuhörte. „Etwas?“ „Okay. Hast du Probleme mit deinem Restaurant?“ „Nein!“ Hier konnte er Matts Frage zumindest schnell und mit voller Überzeugung antworten. „Dann können wir das ja von der Liste streichen. Ich wieder. Was machst du so in deiner Freizeit?“ „Ich…“ „Wir machen nichts“, kam es von Veemon, das im Hintergrund zusammen Agu- und Gabumon gespannt zuschaute. „Wir arbeiten, essen und schlafen.“ „Veemon!“ „Na, stimmt doch.“ „Danke, Veemon. Sag uns immer bescheid, wenn du glaubst, dass Davis uns nicht ganz die Wahrheit sagt, okay?“, bat Tai das kleine Digimon mit einem Zwinkern. „Okay!“ „Verräter…“ „Nächste Frage: Wann hast du dich zum letzten Mal mit Freunden getroffen?“ „Heute“, hierbei warf Davis Matt einen ausdruckslosen Blick zu. „Und vor uns?“ „… Ähm…“, war Davis‘ kleinlaute Antwort, „Ich weiß es nicht?“ „Das war wenigstens ehrlich. Wann hast du das letzte Mal versucht, dich mit einem Freund zu treffen?“ Tais Fragen trafen ins Schwarze. Davis versuchte, sich noch etwas kleiner zu machen, während er beharrlich schwieg. „Veemon?“ Das war unfair, aber sein Digimonpartner war mehr als bereit, ihn zu verraten: „Letzte Woche hat ihm Ken abgesagt. Mal wieder.“ Vielsagende Blicke gingen zwischen Tai und Matt hin und her. „Vermisst du Ken?“ Natürlich vermisste Davis seinen besten Freund. Was war das für eine Frage? Dennoch verlor er kein Wort dazu und betrachtete intensiv seine Knie. „Das interpretiere ich mal als ein Ja“, seufzte Matt. „Ich habe noch eine Frage. Hast du das Gefühl, wir und insbesondere Ken haben dich im Stich gelassen?“ „Nein“, kam es wie aus der Pistole geschossen. „Haben wir dich zurückgelassen?“ „Um… nein…“, dieses Mal war Davis‘ Antwort deutlich unsicherer. „Denkst du manchmal, dass wir ohne dich weitergehen? Vielleicht… in eine Zukunft, in der du keinen Platz mehr hast?“ „Was? Nein? Vielleicht… ich…“ Nachdem Matt die letzten Fragen gestellt hatte, hatte Tai nun noch eine letzte Frage: „In wen bist du verliebt? Ist es Ken?“ Kapitel 5: V ------------ Absolute Stille breitete sich in der Wohnung aus. Alles, was Davis noch hören konnte, war sein eigener Herzschlag. Selbst die Digimon gaben keinen Mucks mehr von sich. „…vis…“ Tais Frage war… es konnte nicht sein. Darauf konnte er nicht antworten. Er würde sich verraten. Nein. Nein, nein, nein. „…vis!“ Sein Herz schlug immer lauter und schneller, lauter, schneller, lauter, schneller. Alles verschwamm vor seinen Augen, da war nur noch sein Herz, sein explodierendes Herz. Er spürte seine Finger, spürte wie sie sich um seine Knie klammerten. Er spürte den harten Boden, auf dem er saß. E spürte seine Füße, die trotz der Socken eiskalt waren. Er spürte… Wärme. Auf seiner Schulter, an seinem Arm. Wärme, Stärke, Kraft. Da war noch mehr Wärme. Sie hielt seine Hand. Nein, sie führte seine Hand sanft weg von seinem Knie. Jetzt lag seine Hand unter der Wärme auf noch mehr Wärme. Die Wärme bewegte sich, auf und nieder, auf und nieder. Davis konzentrierte sich auf diese beruhigende Bewegung und sein Herzschlag wurde leiser. Immer leiser. „Gut so, Davis, sehr gut“, drang schließlich eine Stimme zu ihm durch. „Ein und aus, ein und aus.“ Unwillkürlich atmete er so, wie es ihm gesagt wurde. Ein und aus. Auf und nieder. Ein und aus, auf und nieder. Dann öffnete er seine Augen. Wann hatte er seine Augen geschlossen? „Hey, willkommen zurück“, lächelte Tai ihn an. Tai war die Wärme, auf der seine Hand lag. Moment… seine Hand lag auf Tais Brust? „Was?“ „Ich war zu direkt, es tut mir leid. Ja, schon wieder.“ Zerknirscht blinzelte Tai ihn an. „Du hattest eine Panikattacke“, mischte Matt sich ein. Ah, die Wärme an seiner Schulter, auf seinem Arm, das war Matt. „Panikattacke?“ „Denken wir jedenfalls“, erwiderte Matt. „Bist du jetzt wieder bei uns?“ „Ich…“ Worte waren schwer. Seine Augenlider fühlten sich wie Blei an und Davis wusste nicht, was er antworten sollte. „Noch nicht so ganz.“ Immerhin klang Matt nun leicht amüsiert und schien ihm nicht böse zu sein. „Komm, Tai, hilf mir mal.“ Gefühlt hatte Davis nur einmal geblinzelt, als er plötzlich zwischen den beiden älteren Digirittern stand. Eigentlich hing er mehr an ihren Armen, seine Füße hatten wohl noch nicht die Information bekommen, dass sie stehen sollten. Doch weder Tai noch Matt ließen sich davon groß beeindrucken und trugen ihn schließlich zusammen in sein kleines Schlafzimmer. Zumindest vermutete er das, als er plötzlich auf seinem Bett saß. „Sorry, Kumpel, du musst heute mal in der Kleidung schlafen gehen.“ Was? Schlafen? Aber er hatte doch Besuch? Nichtsdestotrotz fand Davis sich plötzlich liegend wieder, sein Kopf auf dem Kopfkissen. Da war auch seine Decke. „Schlaf, Davis, erhol dich. Wir reden morgen weiter.“ Eigentlich klang Schlafen doch gar nicht so schlecht. Er wusste nicht, warum er plötzlich so müde war, aber er war es. Also schloss er die Augen und fiel in einen Zustand, der zwischen wach und schlafen lag. „Was machen wir jetzt, Matt?“ „Wenn ich das nur wüsste.“ „Wir haben da echt Mist gebaut.“ „Du musstest ja so direkt fragen und ihn überfallen.“ „Du weißt, dass ich das nicht meine.“ Davis wusste nicht, wovon hier gesprochen wurde, aber vereinzelte Sätze durchdrangen seinen Halbschlaf. Er hätte seine Freunde gerne gefragt, ob er ihnen helfen konnte, aber sein Körper war so schwer. „Wie hast du eigentlich TK dazu gebracht, dass er wirklich heim gegangen ist?“ „Der steht morgen früh hier vor der Tür. Das war der Deal. Wir kriegen den Abend, aber morgen früh will er selbst nach Davis schauen.“ „Gerade das, was uns noch fehlt. Kannst du ihm schreiben, dass er später kommen soll? Davis braucht jetzt den Schlaf und kein neues Mitglied von unserem Überfallkommando.“ Er mochte TK. Früher war er eifersüchtig gewesen, aber das war längst vorbei. TK konnte nichts dafür, dass Davis sich wie ein Außenseiter fühlte. Aber auf seinen großen Bruder war er immer noch neidisch. Liebend gerne würde er Jun gegen Matt tauschen. „Sollen wir mit den anderen reden?“ „Und sein Vertrauen missbrauchen? Das kann doch nicht dein Ernst sein, Matt.“ Davis würde die anderen Digiritter gerne mal wieder sehen. Es war schon so lange her. Er vermisste sie. Selbst Yolei, obwohl sie Ken hatte und er ihn an sie verloren hatte. Seinen besten Freund. Das vermisste er am meisten, seinen besten Freund. Einen besten Freund. Überhaupt einen Freund. „Ich weiß gar nicht, wo wir anfangen sollen.“ „Wir fangen nirgends an. Das muss Davis selbst tun.“ „Das ist scheiße.“ „Kann ich dir nicht widersprechen.“ „Was ist deine Diagnose… Doktor Matt?“ „Nenn mich nicht so.“ „Entschuldige. Ich sollte mich nicht über deine Erfahrungen lustig machen.“ „Schon gut. Humor ist deine Art, mit so was umzugehen…“ „Stimmt. Aber im Ernst, Matt, was denkst du?“ „Gebrochenes Herz? Schau nicht so. Ich sehe es doch auch. Den Gewichtsverlust, die Panikattacke, die Appetitlosigkeit und er funktioniert nur noch für die Arbeit. Eine Depression.“ „Ich habe ein Déjà-vu. Gut, du hattest keine Panikattacken, aber das hat es nicht leichter gemacht.“ Wovon sprach Tai da? Hatte er was verpasst? War das… da war doch diese Zeit, in der Matt so blass war. War er da? Das war zu kompliziert für seinen müden Kopf, aber dennoch wusste Davis, dass er sich das merken musste. Er wollte doch für seine Freunde da sein. Wenn es Matt schlecht ging, dann wollte er einfach nur für ihn da sein. Vielleicht konnte er ja sogar helfen? Seine Suppen waren kräftig und taten gut. Genau, er würde Matt eine große Portion kochen. Gutes Essen half immer. „Ich fühle mich so schuldig.“ „Bloß weil du etwas ähnliches erlebt hast?“ „Ich hätte es sehen müssen.“ „WIR hätten es sehen müssen.“ „Aber…“ „Kein aber. Es läuft immer wieder auf das Gleiche raus, wir waren einfach nicht für ihn da.“ „…“ „Hast du mir nicht erzählt, dass man in der Gegenwart bleiben soll, weil die Vergangenheit passiert ist?“ „Ja…“ „Wir können es nicht mehr ändern. Es ist passiert. Aber wir können jetzt für ihn da sein.“ „Du hast recht.“ „Weiß ich doch. So schnell wird Davis uns nicht los.“ „Es sei denn…“ „Es sei denn, wir schaden ihm mit unserer Anwesenheit. Aber solange das nicht der Fall ist, sind wir endlich für ihn da.“ Das klang schön, fand Davis. So sprachen wahre Freunde. Er wünschte sich genau so etwas für sich. Freunde, die für ihn da waren. Es war mit diesem Gedanken, dass er schließlich endgültig in den Schlaf sank, während seine zwei Freunde über ihn wachten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)