Agents: Next Generation von Hibiki ================================================================================ Kapitel 9: Familie ------------------ Kapitel 9 Familie New Yorks ansonsten zu dieser Jahreszeit mehr graue Wolkendecke hatte nach einem weiteren Schneefall langsam eine klare und unwirklich erscheinende Sicht auf den Nachthimmel und mehrere Sternbilder freigegeben. Leichte Schneeüberreste vermischten sich in Regenpfützen zu einer tristen Masse aus Matsch und hinterließen seltsame Geräusche als Autos unterschiedlicher Größenordnung über sie fuhren, den Dreck zur Seite spritzen ließen und man die Fahrbahn immer mehr als Aquaplaning-Gefahr bezeichnen konnte. Menschen warteten in den U-Bahnstationen auf die getreu fahrenden Reisegelegenheiten in die anderen Stadtteile New Yorks, auf dem Weg zur Arbeit oder zurück nach Hause zu ihren Familien. An ewig lang roten Ampeln ließen die verärgerten Autofahrer Konzerte mit ihren Hupen spielen, die aber dann aufhörten als endlich auf Grün gewechselt wurde und der Vordermann losfuhr. Und um halb acht Uhr morgens war dies ein völlig normaler Anblick dieser großen Stadt an der Ostküste der Vereinigten Staaten. In seinem Büro saß ein gelangweilter Agent Lancte und schaltete den Fernseher von Programm zu Programm, in der Hoffnung etwas interessantes zu finden. Inspektor Columbo lief einen Hotelflur entlang. "Ich hätte da noch eine Frage, Sir", sagte er, während er sich mit der rechten Hand, welche eine Zigarre hielt, über die Stirn fuhr. Lancte schaltete ein weiteres Mal das Programm um und erwischte eine Nachrichtensendung. "Stürme haben in Puerto Rico schwere Schäden in Wohngebieten angerichtet. Offizielle Stellen haben bekanntgegeben, dass die Zahl der Verletzten auf über dreihundert angestiegen ist. Tote sind bisher noch nicht zu beklagen." Wie lange war es jetzt her, seit er das letzte Mal eine Nachrichtensendung gesehen hatte? Es musste schon einige Jahre her sein, denn genau konnte er sich nicht mehr daran erinnern. Doch wenn er es sich genau überlegte, wollte er nie wieder eine Nachrichtensendung sehen. Nicht deswegen, weil einige der Informationen komplett falsch waren die verbreitet wurden, sondern aus einem ganz banalen Grund. Es war die Tatsache, dass die Sprecher Nachrichten von Tod und Verwüstungen immer mit demselben aufdringlichen Lächeln herüberbrachten mit dem sie auch den Wetterbericht bekanntgaben. Soeben erreichte unsere Nachrichtenredaktion die Mitteilung, dass Samuel Johnson, Mitarbeiter des Bostoner Police Departments - Beinahe hätte Agent Lancte ein weiteres Mal die Umschaltfunktion der Fernbedienung gedrückt, als der Name ein bestimmtes Detail in seiner Erinnerung wachrief. Dieser Samuel Johnson war der Vater seiner Rekrutin! - vor zwei Stunden tot auf dem Parkplatz des 32. Polizeireviers aufgefunden wurde. Der Mord wurde von dem mit dem Fall betrauten Beamten als ,grauenhaft und erschreckend' bezeichnet. Anscheinend wurde mehrere Male auf den 54-jährigen eingestochen, bevor man ihn in sein Auto verfrachtete - Kurzzeitiger Schock verwandelte sich augenblicklich in hektische Betriebsamkeit. Im Moment fiel ihm nur einer ein, der ihm Antworten auf seine Fragen geben konnte. "Agent Jones hier", hörte er durch den Kommunikator. "Jones, ich bin's, Lancte. Hast du gerade einen Fernseher oder irgendwas anderes zur Verfügung? Wenn ja, dann schalte sofort auf CNN um und sag mir, was du denkst." Nun blieb es einige Augenblicke stumm, doch dann konnte Lancte ein schlecht unterdrücktes "Scheiße" hören. "Genau das habe ich auch gedacht, als ich den Bericht gesehen habe. Hör zu Jones, ich brauche den kompletten Polizeibericht über die Sache und wie es jetzt aussieht. Vermutungen, Hinweise, einfach alles was du finden kannst. Ich möchte wissen ob die Sache mit meiner Rekrutin zusammenhängt, oder es ein ganz gewöhnlicher Irrer gewesen ist. Danach werde ich mit meiner Rekrutin Angelin Johnson dort hingehen und mir die Sache ansehen." "Okay, Jake. Den Ermittlungsstand kann ich dir in ein paar Minuten per Mail rüberschicken." "Gut. Verdammt, sie wird um Punkt acht Uhr durch meine Tür spazieren und ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll." "Sag ihr einfach die Wahrheit. Das ist wahrscheinlich am besten." "Leichter gesagt, als getan. Na schön, mal sehen wie es läuft." Der Bericht traf fünf Minuten später ein und umfasste ein kurzes medizinisches Gutachten über die Wunden, einige Randbemerkungen des Polizisten welcher die Untersuchungen leitete, laut der Eintragung ein Mann namens Randolph Orton. Aber wie schon erwartet stand in dem Bericht nichts genaues, dass eine Einmischung der Rebellen bewiesen oder geleugnet hätte. Genaugenommen war er wieder am Anfang angekommen. Doch das einzige was seine Aufmerksamkeit ansprach war eine kleine Randnotiz die wahrscheinlich Randolph Orton geschrieben hatte. Vielleicht lediglich zur genaueren Untersuchung, aber es war etwas an dem man die Spur ansetzen konnte. Das was auf den ersten Blick wie irgendein weiterer Polizistenmord, wie es ihn in Banden- und Drogendelikten immer wieder vorkam, scheint, erweist sich meiner Ansicht nach als nicht zutreffend. Zum ersten die Anordnung der Messerstiche, welche mit einer Waffe zugefügt sein mussten, deren Klinge zumindest fünfzehn Zentimeter betragen musste. Zusätzlich dazu ist dies nicht das erste Mal das Leute mit denselben Wunden gefunden wurden, zumeist unbescholtene Bürger, denen man keinerlei Verbindung zu Gangstersyndikaten oder sonstigem nachsagen konnte. Aufgrund dessen erscheint mir dies alles mehr wie eine Art Hinrichtung und Warnung an bestimmte Leute zu sein. Damit hatte die Notiz geendet und keinerlei Anhaltspunkte auf den Täter waren zu finden. ... nicht das erste Mal ... Diese eine Bemerkung reichte aber dennoch aus, Lancte nachdenklich zu machen. Das bedeutet, es gab also schon mehrere solcher Delikte, fasste er das gelesene zusammen. Mit einem Klick auf ein Browserfenster welches vom Computerbildschirm angezeigt wurde, konnte er direkt darauf zugreifen was an Verbrechen in den letzten zwanzig Jahren geschehen war. Nachdem er die Suchfunktion aktiviert hatte, erhielt er innerhalb der ersten fünf Minuten drei Ausschläge und immer weiter. Insgesamt hatten sich in den letzten zwanzig Jahren bis zu einhundertsiebenundachtzig Fälle dieser Art gesammelt, bei denen der Mörder mit derselben Methode vorgegangen ist. "Anscheinend haben die Rebellen tatsächlich etwas damit zu tun", murmelte er vor sich hin, während er sich überlegte wen er um die Bestätigung seines Verdachtes bitten könnte. Und er wusste sofort, wen er um eine Antwort bitten konnte. Lancte loggte sich daraufhin in einen unter Hackern stark benutzten Informationsdienst ein. Und er musste nur wenige Augenblicke suchen, bis er gefunden hatte, wen er suchte. Anubis eingeloggt Gaia: Hallo Anubis Anubis: Hi, Schwesterchen Hoppspring: Warst ja schon lange nicht mehr da Anubis: Weiß ich. Hey Hopsy, kannst du dich mal kurz ausloggen? Hab was wichtiges mit Gaia zu besprechen. Hoppspring: Oookkaayy. Aber nenn mich nie wieder Hopsy! Hoppspring ausgeloggt Gaia: Also, was ist? Anubis: Ich brauche Hintergrundinfos über eine mögliche Racheaktion von Rebellen. Gaia: Na schön, ich kann mal sehen was ich rausbekomme. Um was geht's? Anubis: Um den Mord an einem Bostoner Polizisten namens Samuel Johnson. Am besten wäre es, wenn ich den Namen seines Mörders wüsste. Gaia: Du verlangst ja 'ne ganze Menge, aber gut. Bin gespannt was diesmal da rauskommt. Anubis: Danke. Gaia: Kein Problem. Ich schicke das Zeug dann an deine E-Mail Adresse. Gaia ausgeloggt Anubis ausgeloggt Und nun konnte er nicht mehr tun als sich zurückzulehnen und abwarten was als nächstes geschah. Was er seiner Rekrutin sagen würde, wusste er nicht. Aber seine Worte würden sich aus ihren Reaktionen zusammensetzen. Das war das einzige, was dem Meisterstrategen nun noch einfiel. Agent Lancte steuerte den schwarzlackierten Ford GT über die mit Vormittagsverkehr gefüllten Straßen Bostons, und während sein Körper für das Fahren zuständig war, arbeitete sein Geist fieberhaft wieder und immer wieder das Gespräch durch, welches er und Angelin Johnson kurz nach acht Uhr gehabt hatten. Pünktlichkeit wird überall in der Welt groß geschrieben, denn viele Dinge richten sich danach. Und obwohl die Agency zu dem ganzen keinen Unterschied machte, entstand dieses Wort hier in einer völlig neuen Dimension, denn hier wurde sie gelebt. Zwei Minuten vor acht Uhr hatte sich die Tür seines Büros geöffnet und im Türrahmen eine nicht gerade ausgeruhte Angelin Johnson enthüllt. Mit einer auffordernden Handbewegung deutete er auf den Stuhl gegenüber seines Schreibtisches. Das Gespräch hatte damit geendet, dass ein Agent des Systems, der früher ein Mensch mit allen Zugaben gewesen war, eine Rekrutin in den Armen hielt welche völlig, die einen bedauernswerten Eindruck auf ihn hinterließ. Und wenn er so darüber nachdachte, fiel ihm auf das er nach dem Tod seines Vaters, wahrscheinlich einen genauso jämmerlichen Eindruck gemacht hatte. Während außerhalb des Wagens andere Autos vorbeifuhren, konzentrierte sich Agent Lancte auf die Straßenschilder um ja nicht die Abzweigung zur Polizeistation zu verpassen. Fünfzehn Minuten später hatten sie die Polizeistation erreicht und auf dem Parkplatz tummelten sich Cops, Reporter und sonstige Schaulustige die immer dort zu finden waren, wo etwas passiert war. Lancte fuhr die Einfahrt hinauf und stellte den Wagen auf einem der Besucherparkplätze ab und zusammen mit seiner Rekrutin ging er hinüber zu den Cops. Randolph Orton besaß eine stattliche Größe von ein Meter fünfundachtzig. Er war schon fünfundfünfzig Jahre alt und hatte in seiner Beamtenlaufbahn einiges gesehen. Und die Tatsache, dass seine Hautfarbe noch dazu schwarz war, machte ihm so manchen Tag schwerer als er schon war, vor allem wenn junge weiße in das Revier gebracht wurden, wegen irgendwelcher Schlägereien in Bars oder Autodiebstahl und ihn deswegen mit Ausdrücken wie ,Nigger' oder sonstigem belegten, weil sie dachten sie wären etwas besseres weil ihre Haut heller war als die seine. Er hatte die beiden erst bemerkt, als sie noch fünf Meter von ihm entfernt waren und hob die Hand, während er langsam auf die beiden zuschritt. "Es tut mir leid", brachte er höflich hervor, "aber ich muss sie bitten, weiterzugehen. Wir untersuchen hier ein Verbrechen und haben mit den anderen Schaulustigen schon genug zu tun." Der Mann und die Frau blieben kurz vor ihm stehen. Sie trug einen Schleier von Traurigkeit um sich herum, vereinzelte Tränen konnte er in ihren Augenwinkeln ausmachen, die sich dort eingenistet hatten. Er hingegen war von völlig anderer Statur. Den Kopf erhoben und die Schultern gespannt, schien es als würde er sich auf einen Angriff vorbereiten um ihn gnadenlos abzuwehren. Randolph Orton erinnerte die Haltung des Mannes an die eines Raubtieres, jemandem der in einer Sekunde Trost spenden und in der nächsten brutal und unberechenbar zuschlagen konnte. Orton hatte schon einmal so jemanden gesehen und obwohl es bereits nun schon zehn Jahre sein mussten, hatte sich dieses Gesicht in sein Gedächtnis eingebrannt. Er erinnerte sich an den Terror-Anschlag auf eine Poststelle Bostons. Und dieser Mann hatte wie ein Besessener gegen die Terroristen gekämpft, hatte einen nach dem anderen zu Fall gebracht, so lange bis ein Schuss aus einem großkalibrigen Gewehr ihn gestoppt hatte. Thomas Lancte, der fünfzigjährige Rekrut wusste nicht wie er aus dieser Situation herauskommen sollte. Er hatte den größten Fehler in seinem Leben gemacht. Eine Regel für die Rekruten innerhalb der Agency war, Rekruten niemals alleine Jagd auf Rebellen machen zu lassen, vor allem nicht Frauen. Und nun hatte er diese Regel missachtet und befand sich im Kreuzfeuer zwischen Agenten und Rebellen. Den Kommunikator war im Faustkampf mit einem Rebellen zu Bruch gegangen und nicht mehr einsatzfähig, seine Munition ging zu Ende und er konnte mit keiner der beiden Seiten Kontakt aufnehmen. Er dachte an seine Familie die zu Hause im New Yorker Vorort Princeton lebten und auf seine Rückkehr warteten. Und tief in seinem Bewusstsein wusste er, dass er sie nie mehr wiedersehen würde. Aber noch nicht jetzt, nicht solange er noch Luft in den Lungen hatte und sein Herz schlug. Zum letzten Mal lud er die Pistole und öffnete die Sicherung. Thomas Lancte erhob sich aus seiner Deckung, den Arm ausgestreckt und immer wieder zog er den Abzug zurück, hörte das Aufpeitschen seiner Waffe und sah das Mündungsfeuer. Jeder Schuss traf mit seinem vorherbestimmten Ziel und dezimierte die Zahl der Rebellen ständig. Irgendwie schien es, als würde eine übergeordnete Macht seine Hand über ihn halten, die verhinderte das feindliche Salven ihn trafen. Schlussendlich waren nur noch zwei Rebellen übrig und sein Magazin war leergeschossen. Thomas ließ die Waffe zu Boden fallen und rannte auf sie zu, die Kugeln trafen ihn immer noch nicht. Innerhalb von ein paar Sekunden hatte er sie erreicht und ließ seine Faust in den ungeschützten Hals eines Rebellen krachen, tötete ihn damit in einem Sekundenbruchteil. Seine Hand packte die Pistole die sein Opfer gehalten hatte und richtete diese auf den letzten seiner Gegner und in einem letzten Blitz wich aus dem Leben aus diesem. Thomas war der letzte Mensch in der Halle der noch stand, soweit er es beurteilen konnte. Das Schießen hatte aufgehört und er stand da, nicht in der Lage zu glauben was geschehen war. Doch dann spürte er, wie etwas in seine Brust einschlug und als er nach unten sah, erblickte er die zerfetzte Haut und das Blut, welches wie wild aus der Wunde floss. Erst jetzt drang der Laut des Schusses bis an sein Gehirn vor und er starb noch an Ort und Stelle, ohne erfahren zu haben, von woher der Schuss gekommen war und wer ihn abgefeuert hatte. Randolph Orton hatte das alles beobachtet und nun stand eine um einiges jüngere Version dieses Mannes vor ihm. War das etwa sein Sohn ...? Er schob den Gedanken zur Seite als sein Gegenüber zu sprechen begann. "Ich fürchte sie verwechseln uns", sprach dieser. "Ich bin Agent Jake Lancte, dies hier ist meine Partnerin Angelin Johnson. Wir sind im Auftrag der Regierung tätig und untersuchen die Vorfälle die in Zusammenhang mit Terrorismus zu tun haben." "Wie kommen sie darauf, dass der Mord an einem Polizisten mit Terrorismus zu tun hat?", hakte Orton nach. "Meine Partnerin erhielt vor nicht allzulanger Zeit ein Angebot von Terroristen, doch schloss sie sich uns an. Wir vermuten nun, dass dies als Racheakt gemeint ist." "Racheakt ... Sie meinen doch nicht etwa, dass dies ..." "Doch. Das Opfer war der Vater meiner Partnerin." Orton blickte nun verlegen und traurig zu ihr hinüber. "Tut mir leid ... Das mit ihrem Vater und so ...", er wandte sich nun wieder zu Lancte. "Wollen sie bei den Ermittlungen mithelfen?" "Ja. Ich kann ihnen aber nicht versprechen, dass wir den Mistkerl kriegen." "Der Mord geschah kurz nach Feierabend, also wenige Minuten nach sechs Uhr heute morgen. Bei dem ganzen ging der Mörder weitgehend brutal vor. Nachdem er sich seinem Opfer genähert hatte schien es zu einem kurzen Kampf gekommen zu sein. Sehr wahrscheinlich ist, dass Samuel Johnson es noch geschafft hatte seine Dienstwaffe zu ziehen, da wir sie auf dem Boden gefunden haben und über sein Handgelenk ein tiefer Schnitt geführt war. Danach wurde das Messer in den linken Lungenflügel gestoßen und anschließend noch in den Bauch, wo das Messer dann nach oben gerissen wurde und den Brustbereich völlig offenlegte. Anschließend wurde das - wahrscheinlich noch lebende - Opfer, in den Sitz seines Wagens gelegt und angeschnallt um zu verhindern, dass er mit dem Kopf auf der Hupe zu liegen kam. Ein Aktenkoffer, den das Opfer nach Aussage von zwei weiteren Polizisten dabei gehabt haben solle, wurde bei der Leiche nicht mehr gefunden, der Mörder musste ihn mitgenommen haben. Um viertel nach sechs Uhr wurde Samuel Johnson, Chief Detective des 32 Polizeireviers in Boston, von einem Parkwächter tot aufgefunden." Randolph Orton hatte den bisherigen Ermittlungsstand an die beiden weitergegeben und jetzt herrschte eine bedrohliche Stille in den die drei sich zurückgezogen haben und angestrengt über das erfahrene nachdachten. Die Uhr war nun knapp an der Zwölf-Uhr-Marke angelangt und sie hatten sich etwas zu essen kommen lassen, wobei durch Abstimmung man in einem China-Restaurant angerufen hatte. Nun lagen Essensschachteln über den Tisch verteilt. "Ist hier irgendwo ein Computer mit Internet-Zugang?", fragte Lancte offen heraus Randolph Orton. "Ja. Aus dem Raum raus nach links, zweite Türe rechts." "Danke." Und zwei Minuten später kam er mit dem zurück, um was er seine Schwester am Morgen noch gebeten hatte. "Der Mann den wir suchen, heißt Alfred Maier, stammt aus Deutschland und läuft unter dem Hacker-Alias ,Torrent'. Besonders aufgefallen ist er unter anderem durch seine meist übertriebene Neigung zu Gewalttätigkeiten. Wir haben Hinweise auf Tätigkeiten in Berlin, New York, Washington und Oregon, wo er oft in Aktion trat, meist im Zusammenhang mit Angehörigen unserer Sicherheitsorganisation." Das Bild welches gezeigt wurde, ließ einen Mann um die vierzig zu erkennen. Das Haar war straff nach hinten gekämmt und eine langgezogene Narbe zierte seine rechte Wange. Hellbraune Haare und tiefbraune Augen blickten von dem Bild zu ihnen. "Er ist ein Mörder", zischte Angelin zu den beiden Männern hin. "Und ein Sadist", warf Lancte daraufhin ein. "Er liebt es anderen Schmerzen zuzufügen. Vor allem den Frauen in unserer Organisation." Diesmal dauerte es einige Augenblicke, bis die beiden verstanden was er soeben gesagt hatte. "Oh Gott", stieß Orton hervor. Die Erkenntnis hatte ihm den Atem geraubt. "Genau. Vergewaltigung. Wir fanden eines seiner Opfer nachdem es vier Tage in seiner Gewalt hatte zubringen müssen. Sie war vollkommen verängstigt, nahezu bis auf die Knochen abgemagert, hatte Bluterüsse über den ganzen Körper verstreut." Nachdem sie sich voneinander getrennt und den Polizisten seiner restlichen Arbeit überlassen hatten, sagte Angelin Johnson zu sich selbst: "Dafür wird er büßen. Ja, das wird er." Das Haus der Familie Johnson in Boston konnte keineswegs größentechnisch mit dem der Lanctes im New Yorker Vorort Princeton verglichen werden, gehörte aber trotz allem nicht in die Kategorie ,Sozialabsteige'. Ein blühender Garten mit verschiedensten Blumen zierte die Umzäunung des Hauses in einem angenehmen Farbton und eröffnete einen anderen Blick auf den Oktober, der hellgelbe Anstrich des Hauses verlor sich im stark blendenden Sonnenlicht und ließ es in einem seltsamen Unterton von Weiß scheinen. Estefania Johnson, ehemalige Roselli, bedachte ihre Tochter und ihren Begleiter mit einem erwartungsvollem Blick, während sie das Tablett mit verschiedenen Keksen zu ihnen hinüberschob. Aus reiner Höflichkeit heraus und um die nahezu peinliche Stille zu durchbrechen griff Jake nach einem Mandelkeks und steckte ihn sich in den Mund. "Mrs. Johnson", begann er nachdem er den Keks heruntergeschluckt hatte. "Sie verstehen sicherlich, aus welchem Grund ich mich momentan hier aufhalte und in welcher Situation meine Organisation sich befindet, vor allem nach dem Mord an dem Vater meiner Partnerin, der ihr Mann war. Aufgrund verschiedener Geschehnisse in den letzten Monaten, habe ich mich entschlossen sie unter unseren Schutz zu stellen. Sicherheitsleute werden sie und dieses Anwesen nicht unbewacht lassen und sollte ich es für notwendig erachten, werde ich den Bewacherstab verdoppeln - sogar vervierfachen - lassen." "Wenn ich es mir so überlege", antwortete sie mit spitzbübischem Grinsen, "kommt mir ihr Vorschlag aus ihrer Sicht begründet aber aus der meinen nichtsdestotrotz recht lächerlich vor. Ich sehe keinen Grund warum sie so sehr davon ausgehen, dass ich das nächste ,Opfer' sein sollte." Jake Lancte musste die Sache nun überdenken. Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass sie ihn, sobald er seine Fakten aufgezählt hatte - was er ja auch schon getan hatte - um Schutz bitten würde. Doch nun musste er herausfinden, dass diese über fünfzigjährige Frau ihn in eine schwierige Situation verfrachtet hatte. Diese Frau wollte, dass er irgendetwas sagte, aber leider wusste er nicht, was dies sein sollte. Seine Ratlosigkeit wurde aber durch das beherzte Eingreifen seiner Rekrutin überspielt. "Bitte Mom. Es kann doch nichts schaden. Jedenfalls für eine kleine Weile, bis wir sichersein können, dass keine weitere Gefahr droht." "Ich verstehe, dass du besorgt bist, Engelchen. Aber was ist mit ihnen, Mr. Lancte. Was sind ihre Beweggründe, dies alles zu veranlassen?" Nun konnte Lancte seinen Trumpf ausspielen und es war seine letzte Chance, denn ein weiteres Scheitern und sie würde seine Hilfe offen ablehnen. Und dann gab es nichts mehr, was ein Schutzteam rechtfertigen würde, wenn der oder die Beschützte dies ablehnte. "Die Leute die hinter dem Mord an ihrem Mann stehen, Mrs. Johnson, stellen eine große Gefahr für die Vereinten Nationen dar. Sie sind für Terroranschläge rund um die Welt verantwortlich, sie bilden überall Terror-Zellen und finanzieren diese aus Erpressungen von Firmen und wohlhabenden Leuten. Diese Leute schrecken vor nichts zurück, auch nicht vor Mord und Vergewaltigung. Diese ganze Sache trägt den obersten Geheim-Stempel den es zu vergeben gibt. Regierungen in der ganzen Welt haben dem Terror den Kampf angesagt und deswegen sind wir hier. Um weitere Opfer zu verhindern. Es liegt an ihnen ob sie meine Hilfe annehmen oder sie rundheraus ablehnen, aber um eines möchte ich sie bitten: Diese Angelegenheit bedarf der absoluten Geheimhaltung, denn wir können es uns nicht leisten wenn diese Leute auf unsere Organisation aufmerksam werden. Aber sollten sie annehmen, verspreche ich ihnen, dass wir alles zu ihrem Schutz und der ihrer Tochter unternehmen werden." Damit lehnte er sich in der beigefarbenen Couch zurück und sah zu der Fünfzigjährigen hinüber. "Sie haben eine gute Argumentation vorgelegt. Sie haben es sich also zur Aufgabe gemacht, uns zu beschützen, auch ohne die Zustimmung ihrer Arbeitgeber?" Das war eine heikle Frage, aber Lancte erlaubte sich ein Nicken. "Es sind also rein persönliche Interessen die sie in diesem Fall bewegen?" Wieder ein Nicken. "Na schön. Ich werde ihr Angebot annehmen. Bis eine Woche nach der Beerdigung meines Mannes, danach glaube ich, dürfte es unnötig zu sein weiter beobachtet zu werden. Schließlich möchte ich auch meine Privatsphäre haben." Es war nun bereits mehr als eine halbe Stunde vergangen, seit Jake Lancte seine Rekrutin mit ihrer Mutter alleingelassen hatte, mit dem Vorwand er hätte in der Stadt noch etwas zu erledigen. Angelin dachte im Moment über ihre Mutter nach, die vor dem Kamin in einem Stuhl saß und über etwas nachzudenken schien. Normalerweise war dieses Haus, soweit sich Angelin zurückerinnern konnte, immer mit Geräuschen und Eindrücken vollgestopft gewesen. Jemand würde auf dem alten Klavier im Wohnzimmer spielen und die Umgebung mit angenehmen Klängen erfüllen, Lachen drang aus den verschiedenen Räumen während man alles mögliche tat. Und genau die Stille welche nun herrschte hatte etwas unheimliches an sich. "An was denkst du Mum?", fragte Angelin und wartete auf eine Antwort. "An diesen Mr. Lancte. Er hat irgendetwas seltsames an sich, etwas schwer zu beschreibendes." "Ja, ich weiß. Ich habe es auch schon bemerkt. Und zumeist denke ich, dass man immer nur die Spitze eines Eisberges sieht, wenn man ihn anblickt." "Na schön. Nur mal so um die Stille aufzuheben, kannst du mir ja mal den Gefallen tun und mir erzählen, was du über ihn weißt. Dann werde ich sagen, was mir an ihm noch aufgefallen ist." Angelin war nun neugierig. Was war ihrer Mutter aufgefallen, was sie übersehen hatte oder nicht hatte sehen wollen? "Nun ja", gab sie zögerlich Antwort. "Soviel über ihn weiß ich noch nicht einmal, da wir uns erst seit ein paar Tagen kennen. Jedenfalls habe ich etwas über ihn hier und da aufgeschnappt ... Ach, ich beginne am besten an der Stelle wo ich ihn das erstemal traf. Es war vor zwei Tagen im Gramercy Park als ich dort auf jemanden wartete, der sich mit mir treffen wollte. War alles total geheimes Zeug, keine Namen und so ... Jedenfalls stellte sich heraus, dass mein sogenannter Verhandlungspartner teil dieser Terroristengruppe war die immer wieder in den Nachrichten genannt werden. Ich lehnte ab und bevor ein Handgemenge entstehen konnte, griff er in das ein und prügelte mich wortwörtlich dort heraus ..." Angelin schilderte ihrer Mutter alles, was danach geschehen war, doch den Teil mit dem Kampftraining nach ihrem ersten Einsatz ließ sie aus, einfach nur aus der Tatsache heraus, weil es ihr irgendwie peinlich und falsch vorkam. "Okay, ich habe dir alles erzählt was geschehen ist. Nun, was ist dir an ihm aufgefallen, Mum?" Estefania Johnson blickte ihre Tochter mit einem Lächeln, hinter dem die Weisheit des Alters zu stecken schien. "Oh ganz einfach, Kind", sagte sie. "Er ist in dich verliebt." Angelin war sprachlos, ihr Herz begann zu rasen und ohne etwas dagegen tun zu können wurde sie rot. Doch die Erleichterung die sie dazu noch spürte, war das was ihr am meisten Angst bereitete. "Also, das ist doch ... Wie kommst du denn da drauf ... Er würde nie, könnte nie ...", mehr als diese abgehackten Satzteile brachte sie nicht heraus. "Aber es ist so", sagte die ältere Dame in einem Tonfall, der bewies das sie sich absolut sicher war was ihre Beobachtung anging. "Das ist doch der größte Blödsinn den ich je gehört habe. Mum, du musst wirklich an deinem Taktgefühl arbeiten. Dad ist kaum ein paar Stunden tot und mir wirfst du vor ich hätte eine Beziehung mit ... Ihm!" "Angelin ... Du hast ja recht, es war schon falsch ausgerechnet jetzt sowas zur Sprache zu bringen. Und außerdem habe ich ja nicht gesagt, dass du in ihn verliebt wärst, sondern das Er in Dich verliebt ist. Das meine ich absolut ernst, er konnte seine Augen nicht länger als fünf Sekunden von dir halten. Irgendwie war es sogar recht witzig gewesen." Doch wenn sie gedacht hatte, Angelin würde sich auf ein Gespräch einlassen, hatte sie sich geirrt. Ich als Begierde eines Computerprogrammes, dachte angelin. Lächerlich. Die verschmutzten Straßen Bostons verloren sich im schummrigen Gewand der Unachtsamkeit in Agent Lanctes Augen. Und die zynische Stimme Jones, der ihm Vorträge über die schlechte Kompabilität von Menschen und Programmen hielt, war kein aufmunternder Gesprächspartner. Dabei hatte er ihn doch nur um einen Rat gebeten. Wütend unterbrach er die Verbindung und lehnte sich in der alten Parkbank zurück, welche unter seinem Gewicht ein kleines Stück nachgab. Und das meiste was ihn am Vortrag Jones genervt hatte, war die Tatsache das er recht hatte und nichts anderes. Eine Frau zog ihr Kind weiter, welches unbedingt etwas aus einem Schaufenster haben wollte, Bäume wurden durch aufkommenden Wind geschüttelt und löste Blätter von den Ästen die sich langsam auf den Weg nach unten begaben. Und noch während er auf der Parkbank saß und versuchte eine Lösung zu seinem Problem zu finden, musste er sich eingestehen, dass seine langsam zu Tage tretenden Gefühle für seine Rekrutin Angelin Johnson über kurz oder lang die Oberhand gewinnen würden. Doch noch konnte er sie zurückhalten und würde es tun solange es ihm möglich war, dachte er. Es war grenzte direkt zwischen dem Gebiet der Komödie und Tragödie, das er nicht einmal wusste, dass die Schlacht bereits verloren war. Tage hatten sich in endlosen Stunden dahingezogen und verkrochen immer wieder im Umhang der Nacht, welche die strahlende Helligkeit mit einer nahezu blendender Dunkelheit abzulösen vermochte. Bäume hatten bereits einen Großteil ihrer Kronen verloren, die Blätter nun die Gehwege und Straßen zierend und Aufräumdienste mit ihren Geräten der gegnerischen Übermacht nicht Herr werdend. Man sah bereits die ersten Kinder mit Halloween-Kostümen herumrennen, Erwachsene die ihren Kleinen beim Ausschneiden von Kürbis-Gesichtern halfen und mit Süßigkeiten überfüllte Einkaufshäuser, die nun zum Endspurt auf Halloween rüsteten. Und selbst wenn dieser Feiertag nicht mit dem Weihnachtsabend verglichen werden konnte, so hatte dieses Fest doch seinen eigenen Zauber entwickelt, welcher Kinder und Erwachsene zugleich jedes Jahr darin verwickeln konnte. Und in wenigen Tagen würden Abends Kinder in allen möglichen Verkleidungen, von Gespenstern über Monster und Teufel, vor der Tür stehen und fröhlich ,Süßes oder es gibt Saures' rufen und wehe dem der es wagte, den Kleinen ihre Süßigkeiten vorzuenthalten. Und auch das Haus der Johnsons machte in dieser Hinsicht keinerlei Ausnahme von dem Rest der Stadt, obwohl die Trauer über den noch frischen Verlust über den Bewohnern wie ein schwerer Vorhang hing. So war es gekommen, dass die meiste Arbeit an den Halloweenvorbereitungen auf Jake Lancte liegengeblieben war, der sich nur zu gern dieser Aufgabe widmete um seine Gedanken von gewissen anderen Dingen freizuhalten. So schnitt er mit größten Vergnügen Kürbisse aus, verpasste ihnen unheimliche Gesichter, besorgte Süßigkeiten und vieles mehr. Es war für ihn als hätte sich ein Tor in die Vergangenheit geöffnet, in die Zeit wo er noch ein Kind gewesen war, frei von allen Sorgen des Alltags, eine Zeit wo er sich mit seiner Mutter, seinem Vater und seiner kleinen Schwester auf das bevorstehende Ereignis freuen konnte. Doch das lag nun viel zu lange zurück. Dinge hatten sich im Laufe der Jahre geändert. Sein Vater war längst tot genauso wie seine Mutter und seine Schwester arbeitete auf der anderen Seite des Zaunes, also war es für ihn eine willkommene Abwechslung die restliche Zeit bis Halloween nicht allein zubringen zu müssen. Es waren nur noch drei Tage bis Halloween und am nächsten Tag würde die Beerdigung von Samuel Johnson stattfinden. Die Nacht war sturmgepeitscht und Blitze zuckten in willkürlichen Abständen vom Himmel herunter und suchten die Erde mit ihrer gefährlichen Kraft heim. Die Vorhänge des Hauses Johnson waren zugezogen doch konnte man im Wohnzimmer Licht erkennen, welches es schaffte einen Weg nach draußen zu finden. Angelin ging die Stufen herunter, die vom Obergeschoss in den Hausgang führten, denn von Hunger getrieben hatte sie sich auf den Weg in die Küche gemacht. Sie entdeckte das fahle Licht, welches durch den Türrahmen hindurch aus dem Wohnzimmer in den Hausflur ragte und entschloss sich nachzusehen, ob jemand im Zimmer war oder einfach vergessen worden war, das Licht abzuschalten. In ihrem Blickfeld erschien eine Gestalt, welche einen zerknitterten Anzug trug und sich über etwas beugte. Was es war, blieb ihrem Blick verborgen. Angelin tat einen Schritt nach vorne, doch sie hatte die knarrende Stelle des Fußbodens vergessen, der sich nun meldete und die Person veranlasste sich zu ihr herumzudrehen. Innerhalb von Sekunden blickte Angelin dann in das müde Gesicht Lanctes, welcher sie entschuldigend anlächelte. "Tut mir leid falls ich sie geweckt haben sollte", sprach er entschuldigend. "Aber ich konnte nicht einschlafen und wie es scheint, habe ich den Brandy gefunden." Er hob sein Glas etwas, sodass sie es sehen konnte. "Nein, sie haben mich nicht geweckt. Ich bin eigentlich heruntergekommen um mir etwas zu Essen zu holen, aber dann habe ich das Licht gesehen. Würden Sie mir etwas von meinem Brandy anbieten?" "Aber sicher." Lancte schenkte ihr ein Glas ein, während sie sich in der Küche etwas zu Essen machte. Als sie wieder zurückgekommen war, sagte Lancte: "Interessantes Gemälde. Haben Sie es gemalt?" Zuerst wusste Angelin gar nicht, was Lancte damit meinte. Doch er ging zu dem Tisch hinüber und richtete das handgemalte Bild vorsichtig auf, sodass Angelin es sehen konnte. "Mein Vater hat es gemalt. Er war ein guter Maler. Normalerweise hat er uns die Arbeiten immer erst dann gezeigt, wenn sie fertig waren." "Aha, die Eitelkeit des wahren Künstlers", sprach Lancte bedächtig und bedeutete ihr, zu ihm zu kommen. "Na kommen Sie schon. Sehen Sie es sich an. Ich glaube nicht, dass er etwas dagegen haben würde. Es ist sogar sehr gut." Und als Angelin es betrachtete, musste sie ihrem Begleiter sogar recht geben. Ihr Vater hatte schon immer einen Hang zu Bildern mit kirchlichen Motiven gehabt, doch waren es nicht die üblichen Bilder von Jesus oder Maria die ihn so sehr beeindruckt hatten. Es waren mehr Bilder von Schlachten gewesen, die im Auftrag der Kirche geschehen waren und in seinem letzten Werk hatte ihr Vater sich selbst übertroffen. Das Bild zeigte eine Geschichte aus der früh-christlichen Welt, eine welche die komplette Welt verändert hatte. "Kennen Sie die Geschichte, die dieses Bild zeigt?", fragte Lancte sie. "Nicht ganz", gab sie unumwunden zu und musterte ihn eindringlich. "Hätten sie vielleicht Interesse daran, meine Wissenslücken auszufüllen." "Aber sicher doch." Und Lancte erzählte ihr aus einem der blutigen Kapitel in der Kirchengeschichte, eine Erzählung, welche das Christentum für immer von der abendländischen Gemeinschaft trennen würde. "Bis zum Jahre dreihundertzwölf nach der Geburt unseres Herrn Jesus Christus wusste jeder Mensch der sich zum christlichen Glauben bekannte, was ihm blühte würde er von Soldaten gefasst werden. Einige wurden den Löwen zum Fraß vorgeworfen, andere starben unter schrecklichsten Qualen, bei denen sich die Kerkermeister immer neue sadistische Spielarten einfallen ließen. Manchen wurde die Haut mit dem Messer abgezogen und Salz in die Wunden gestreut die man dann von einer Ziege herauslecken ließ. Galgen standen auf jedem öffentlichen Platz und zumeist standen die Henker schon daneben um den nächsten daran aufzuknüpfen. Es war eine grausame und schreckliche Zeit gewesen in der man den Fehler gemacht hatte zu leben. Aber egal wie man es auch immer sah, es waren immer Menschen gewesen, die diese schrecklichen Dinge getan haben. Doch bereits in dieser Zeit hatten sich die Tugenden des früh-christlichen Lebens bereits herausgebildet. Ein Leben in Armut und Bescheidenheit, das Glauben an die Heilsbotschaft und das Vertrauen in Gott waren die Anzeichen für ein gutes christliches Leben, während Reichtum, Müßiggang und Macht das Böse verkörperten." Angelin musste zugeben, dass das was Agent Lancte für ein anregendes Gespräch zu halten schien, nicht sonderlich ihren Geschmack traf, doch die Art in der er ihr die damalige Zeit schilderte war etwas, dass sie in einen gewissen Bann schlug. "Doch der siebenundzwanzigste Oktober des Jahres dreihundertzwölf sollte all dies ändern und ein völlig neues Leben aufzeigen." 27. Oktober 312 Konstantin, einunddreißig Jahre alt, der sechs Sprachen fließend beherrschte wie überliefert ist, ein heidnischer Kriegerkönig, der das Weströmische Reich von Schottland bis zum Schwarzen Meer regierte, bereitete sich auf die entscheidende Schlacht gegen Maxentius vor, der Rom besetzt hielt - die Schlacht an der Milvischen Brücke. Bei Einbruch der Dunkelheit, wohl wissend, dass der nächste Morgen Blut und Tod und Greuel bringen würde, hatte Konstantin eine Vision ... und die Welt war fortan ein anderer Ort. Am Himmel sah er das Kreuz Jesu und er hörte eine Stimme wie einst Paulus auf der Straße nach Damaskus. ,In hoc signo vinces - In diesem Zeichen wirst du siegen.' Als er am Morgen zur Schlacht antrat, war auf den Schilden seiner Soldaten und den Stirnen seiner Pferde das Kreuz gemalt. Und er siegte, wie es ihm in der Vision prophezeit worden war. Rom gehörte Konstantin; nun war er endgültig Beherrscher des Weströmischen Reiches. Und er wusste: Die Macht Jesus hatte ihm zum Sieg verholfen. 28. Oktober 312 Immer noch mit dem Schmutz der Schlacht behaftet, befahl der Kaiser nach Trastevere geleitet zu werden, einem Stadtteil Roms, wo ihm ein von schrecklicher Angst erfüllter, kleiner brauner Mann vorgeführt wurde, ein Afrikaner: Miltiades, der Papst. Dieser hatte sein Leben im Verborgenen verbracht in ständiger Furcht vor seiner Festnahme und seiner unausweichlichen Hinrichtung und nun rechnete er mit dem Schlimmsten. Er war so ungebildet, dass er bat einen Dolmetscher kommen zu lassen, denn er verstand kein Wort von Konstantins höfischem Latein. Doch die Botschaft Konstantins war unmissverständlich, und sie änderte den Lauf der Weltgeschichte. Von nun war alles anders, neu, besser. Rom wurde christlich. Der Kaiser ließ einen Nagel aus dem Kreuz Jesu in seine Krone einarbeiten, ein anderer kam ins Zaumzeug seines Pferdes, so dass er ihn in jede Schlacht begleitete. Am folgenden Tag ritten Konstantin, Miltiades und dessen Nachfolger Silvester an der Caligula und den Tempeln des Apoll und der Cybele vorüber zum Friedhof auf dem Vatikanhügel wo Konstantin über den Gebeinen des Petrus und des Paulus kniete, betend. Daraufhin legte Konstantin seinen Begleitern seine Pläne vor. Über den sterblichen Überresten Petri, sollte eine Basilika errichtet werden, die den Namen des Apostels trug und Pauli Gebeine sollten an die Stelle überführt werden, wo er den Märtyrertod gestorben war und dort sollte auch eine Basilika erbaut werden. Doch das war längst nicht alles, denn Konstantin war ein Mann geworden, der eine Mission zu erfüllen hatte. Und Konstantin legte auch fest, dass sich auf dem Lateranhügel von nun an das Heim des Miltiades und jedes Nachfolgers des Apostels Petrus sein sollte. Fünfzehn Monate später war Miltiades verstorben und Silvester war Papst, von Konstantin gekrönt. Silvester begriff mit einer geistigen Schärfe welche die des Miltiades übertraf, in welche Richtung die Kirche sich zu wenden hatte. Silvester war es auch, der das Band zwischen Kirche und Kaisertum knüpfte und eine weltumspannende Kirche schuf. Jesus Christus konnte sein Reich nun mit Hilfe der Macht Roms über die ganze damals bekannte Welt ausbreiten, ein Reich, das von den Nachfolgern auf dem Thron des heiligen Petrus regiert wurde. Das geistliche hatte sich mit Reichtum und militärischer Macht vereint und zusammen mit Konstantin konnte Silvester auf das zurückgreifen, was Jesus einst auf dem Berge Hermon zu Petrus gesagt hatte." Lancte hielt hier inne und blickte sie an, als erwartete er von ihr, dass sie die entsprechende Bibelstelle aus den Tiefen ihres Gedächtnisses kramte. Sie suchte und fand sie auch. "Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben", zitierte sie. "Alles was du auf Erden binden wirst, wird auch im Himmel gebunden sein. Und alles, was du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein." "Exakt. Das erste Mal in der kirchlichen Geschichte hatten die Kirche sich weltliche Macht angeeignet und mit dieser Macht kamen auch die Machtgierigen und Neidischen, militärische Gegner die diese Macht haben wollten und noch viele andere. Die Kirche hatte sich in die weltliche Politik eingemischt und musste nun auch den weltlichen Preis dafür bezahlen." Lancte nahm einem Schluck aus seinem Glas und blickte sie noch einmal an. "Gewalt in der Kirche ist nichts Neues, deswegen interessiere ich mich so sehr für ihre Vergangenheit. Denn was Gewalt angeht, hat sie mich noch nie enttäuscht." Er hob das Glas ein weiteres Mal und stieß es gegen das Ihrige. "Tod unseren Feinden", sagte er leise, während er den Rest austrank. "Und ob. Und ob", antwortete sie ihm und tat es ihm gleich. Denn, wenn Familie nicht so etwas wert war, was war es dann? Von außerhalb betrachtete Agent Lancte das Geschehen auf dem Friedhof mit wachsendem Unbehagen. Nirgendwo hatten sich Rebellen blicken lassen und genau diese eine Sache machte ihn nervös. Seit dem Mord war keine einzige Aktivität auf ihrer Seite zu erkennen gewesen und deswegen vermutete er nun ein konzentriertes Zuschlagen. Das war auch der Grund, warum er mit einem Team aus zwei weiteren Agenten und vier Rekruten auf der Lauer lag und das Geschehen nicht aus den Augen ließ. Der Sarg wurde nun in das Grab gesenkt und während die Trauergäste davorstanden, warfen sie Erde auf den Sarg, einige weinend, andere wiederum mit sichtlicher Beherrschtheit an sich haltend. Langsam zerstreuten sich die Menschen wieder und kündigten damit das Ende der Trauerzeremonie an. Estefania Johnson wurde von einigen Kollegen ihres Mannes nach Hause geleitet, während Angelin direkt zu Lancte hinüberlief. "Können wir wieder nach New York zurück", fragte sie hinter Tränen. "Möchten sie sich noch von jemandem verabschieden?", fragte Lancte. "Ich habe meiner Mutter bereits gesagt, dass ich zurückgehe. Sie wird hier schon zurechtkommen, mit all den Bekannten die sie hier hat." Und Jake Lancte nickte mit dem Kopf und führte sie behutsam zu dem Wagen, welcher sie vor wenigen Tagen nach Boston gebracht hatte. Zwanzig Minuten später waren sie außerhalb der Stadt, auf dem Weg zurück nach New York in eine für ihn vertraute Umgebung. Ende Kapitel 9 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)