Fürst der Finsternis von aprileagle (Zweiter Platz Herbst-Winter-FF Wettbewerb 2003) ================================================================================ Kapitel 2: Aster - 2: Schwarzer Drache -------------------------------------- Kapitel 2: Schwarzer Drache "Ich hab fünf Karten bestellt, aber wir sollten sie schon vor dem Beginn der Vorstellung abholen." Erklärte Manta und klappte entschieden seinen Laptop zusammen, um ihn zurück in seinen Rucksack zu schieben. Drängend schaute er zur Uhr im Wohnzimmer hinüber. Wenn sie sich beeilten, war es noch zu schaffen. Aber nur, wenn sie gleich aufbrachen. "Wir warten nur noch auf Yoh-kun." Horo Horo lehnte gegen einen Holzbalken und zupfte an dem Halstuch, das Anna ihm gegeben hatte, um seine blauen Flecke zu verbergen. Recht wohl fühlte sich der Ainu darin nicht, ihm war das helle Blau eindeutig zu weiblich, egal, wie oft Manta auch bestätigte, dass es toll zu seinen Haaren passen würde. "Manchmal frag ich mich, was der so ewig braucht. Der ist schlimmer als ein Mädchen!" Manta sah erneut auf die Uhr, vermied es aber zu erwähnen, dass er mit dem Mädchen niemand anderen als Anna meinte, die noch nach ihrer Handtasche suchte. "Wann kommt noch mal Ryu-kun? Er hatte doch heute früh angerufen, oder?" Horo Horo ließ letztendlich von seinem Halstuch ab und rückte ein wenig näher an Manta, der zwischen ihm und Ren stand. Der junge Chinese hatte den ganzen Tag kaum ein Wort gesagt. Horo Horo war sehr froh darüber. "So richtig hab ich das auch nicht verstanden, sein Handy hatte eine schlechte Verbindung. Aber er sagte etwas von morgen früh. Das wäre toll." Manta schnallte seinen Rucksack um und blickte erwartungsvoll die Treppe hinauf. Aber niemand kam heruntergepoltert. Nicht einmal Amadiumaru erschien. "Ja, mit Ryu-kun kann es nur spaßig werden." Bekräftige Horo Horo, der insgeheim auf einen Verbündeten gegen den jungen Chinesen hoffte, der wieder nichts von sich gab, sondern nur den Kragen seines Mantels hochschlug und ausdruckslos auf seine Stiefel starrte. "Yoh noch immer nicht unten?" Anna band ihre Haare zusammen und stellte eine weiße Handtasche auf den Flur, bevor sie sich bückte und ihre Schuhe ergriff. "Nein." Es war so ziemlich das erste Wort, das Ren an diesem Tag sprach. Horo Horo sprang erschrocken zwei Schritte von ihm fort, während Manta sich fragte, ob dies die ganzen Ferien so weiter gehen sollte. Er hätte den jungen Chinesen ja nach Hause geschickt, aber Yoh hatte sich anders entschieden. Yohs Entscheidungen waren Gesetz, schließlich war dies hier sein und Annas Haus. "Gut, dann hol ich ihn." Ohne auf einen weiteren Kommentar der anderen Schamanen zu warten, lief Anna rasch die Treppe hinauf. Sie brauchte nicht lange suchen. Yoh saß in seinem Zimmer am offenen Fenster und starrte hinaus. Offensichtlich hatte er nicht nur seine Gäste, sondern auch die Zeit vollkommen um sich herum vergessen. Oh nein... Anna wusste sofort bescheid, als sie das kleine Gerät in Yohs Schoß liegen sah. Er hatte es während des Shaman Fights getragen und es, anders als die anderen seines Teams, nach dem katastrophalen Ende nicht weggeworfen. Nicht, nachdem er noch eine Nachricht erhalten hatte. Seine letzte Nachricht. "Yoh?" Langsam trat sie zu ihm hinüber, aber er reagierte nicht. Seine Augen waren starr auf den großen Kirschbaum vor seinem Fenster gerichtet. Leichter Wind bewegte die Äste, Yohs Pupillen jedoch blieben starr. Wie so oft in den letzten Wochen hatte sich Yoh in seine Traumwelt zurückgezogen, von der nur Anna erahnte, wie sie aussah. "Das Kino fängt gleich an, die anderen warten." Das Mädchen trat hinter ihren Verlobten und streichelte sanft durch braune Haare. Die Kopfhörer lagen auf dem Fensterbrett, Yoh hörte nicht einmal seine geliebte Musik. "Komm, Yoh." Sie beugte sich vor und umarmte ihn vorsichtig, drückte ihn tröstend an sich. Der junge Japaner drehte leicht seinen Kopf und schloss seine Augen für einen Moment, als er Annas wohlbekannte Wärme spürte. "Hab ich mich damals falsch entschieden?" fragte Yoh mit so zittriger Stimme, die nur seine Verlobte und sein Geist von ihm kannten. Jegliches Grinsen war aus seinem blassen Gesicht verschwunden. Er wirkte einfach nur müde. "Oder mach ich jetzt einen Fehler?" Anna küsste ihn zärtlich auf die Stirn, dann ließ sie ihn los und ging zurück zur Tür. "Wir haben es eilig, Yoh, oder willst du den Film verpassen, den du mit Horo Horo unter größter Geheimhaltung herausgesucht hast?" Sie korrigierte ihr Kopftuch and stemmte ihre Hände in die Hüften. Yoh nickte und ergriff seine Kopfhörer. Mitten in der Bewegung verharrte er und starrte erneut auf das kleine Gerät in seinen Händen. "Du solltest es wegschmeißen, Yoh, es wird keinen Shaman Fight mehr geben." Sie schauten einander kurz in die Augen, bevor Yoh es vorsichtig in eine Schublade schob und diese abschloss. Dann setzte er sein übliches Lächeln auf und folge seiner Verlobten. Ja, er wollte es so gerne fort werfen. Beide wussten sie jedoch, dass er das nicht konnte. *** Ren konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal im Kino gewesen war. Es musste irgendwann in seiner Kindheit gelegen haben, denn er konnte sich noch schemenhaft an eine böse Hexe erinnern, die er als einzige als halbwegs passable empfunden, den Rest des Filmes als dummen Kinderquatsch abgestempelt hatte. Da war ich bestimmt mit Jun gewesen... Der junge Chinese rutschte tiefer in seinen Sitz und wünschte sich abermals, unsichtbar sein zu können. Mittlerweile würde er diese Fertigkeit sogar gegen seine Schamanenkräfte eintauschen. Besonders, wenn Bason mit Amidamaru in der ersten Reihe saß und sich angeregt mit diesem unterhielt. Über was zum Teufel redeten die zwei überhaupt die ganze Zeit? Über Kampftechniken? Nein, seine Erinnerungen an seinen letzten Kinobesuch waren sehr schemenhaft, aber er glaubte nicht, dass er so fürchterlich gewesen war. Zumindest nicht so grauenvoll, wie sich dieser Kinobesuch entwickelte. Während Yoh schnurstracks zum Popcornstand marschierte, hatten Anna und die anderen sich Plätze herausgesucht. In einer Reihe, in der nur noch vier Plätze frei gewesen waren. Egal, was Yoh auch gesagt hat, ich bin hier unerwünscht! Eigentlich hätte er sich ja auf den freien Platz setzen und alles andere ignorieren können, aber Ren ahnte, dass er schon genug Ärger gestiftet hatte und froh sein sollte, dass sie ihn nicht nur in dem Haus duldeten, sondern ihn sogar mit ins Kino genommen hatten. Also setzte er sich eine Reihe darüber und fühlte sich völlig allein. Nun, eigentlich wäre das kein Problem gewesen. Nicht für ihn, der mit dem Wissen erzogen wurde, dass es auf seinem Thron nur Einsamkeit und Kälte gab. Dass er dieses Alleinsein lieben sollte. Je älter er jedoch wurde, desto schwerer fiel es ihm, an die strengen Worte seines Vaters zu glauben. Seit er Yoh kannte, war es ihm sogar unmöglich geworden. Haben die hier nicht einmal eine Heizung? Fröstelnd fuhr er zusammen und versuchte, noch tiefer in seinen Mantel zu kriechen. Wenigstens hatte er seine alte Kleidung wieder, die am Morgen, als er aufwachte, neben seinem Futon gelegen hatte. In ihr sollte er sich wohler fühlen als in dem fremden Trainingsanzug. Er tat es jedoch nicht. Die anderen lachten vor ihm über einen Scherz, den er nicht verstanden hatte. Sie schienen sein Fehlen überhaupt nicht mitzubekommen. Oder aber sie waren einfach nur froh, dass er woanders saß und nicht die Dunkelheit des Saales ausnutzte, um sie mitten im Film anzufallen und zu würgen. Du hast es nicht anders verdient! Es war ganz allein deine Schuld! Yoh hatte ihm seine Sense nicht wieder gegeben. Ren war froh darüber. Er würde diese verdammte Waffe erst am Ende der Herbstferien wieder in Empfang nehmen, um sie im Jangtse für immer zu versenken. Die Lichter gingen aus und die erste Werbung flimmerte über die große Leinwand. Horo Horo und Manta lachten laut auf, als ein Mann sich selbst ausschloss und über den Balkon versuchte, zurück in seine Wohnung zu kommen. Dabei schnitt er die merkwürdigsten Grimassen. Rens Aufmerksamkeit wurde aber von der Werbung für Schlüsseldienste abgelenkt, als Yoh durch die Finsternis huschte. Er trug ein Tablett vor sich, das mit mehreren Tüten bedeckt war, sicherlich Popcorn. Ohne auch nur einmal suchend umher zu schauen, setzte sich der junge Japaner auf den einzigen noch freien Platz und drehte sich auch nicht nach ihm um. Was zum Geier hast du erwartet? Er kann sich nicht ständig für dich einsetzen! Ren verschränkte seine Arme vor der Brust und kniff seine Augen zusammen, entschlossen, die Welt um sich herum auszugrenzen. Weit entfernt hörte er das Gemisch aus Werbung, Lachen und geisterhaften Stimmen, presste seine Lider noch kräftiger aufeinander, als das Licht für einen kurzen Moment noch einmal erhellt wurde und schließlich für die kommenden Stunden erlosch. Unheimliche Musik begann, Rens Welt der Finsternis zu füllen, und mit einem Mal wusste er, dass es nur eine Sorte von Film gab, die Horo Horo und Yoh auswählen würden: Einen Geisterfilm. Bestimmt wird das für die anderen ein Supernachmittag, während ich mich hier zu Tode langweile! Zu Tode... Ren zuckte leicht zusammen, als eine ältere Dame in dem Film laut zu schreiben begann. Sicherlich hatte sie gerade einen Geist gesehen. Als ob man sich vor einem Geist zu fürchten brauchte! Ren musste an Amidamaru und Bason denken. Nein, vor den beiden brauchte man wirklich keine Angst zu haben, wenn man auf ihrer Seite stand. Ren hatte sich selbst als kleines Kind nie vor dem Untoten seiner Schwester geekelt oder wäre gar vor einem Diener seines Vaters davon gerannt. Nein, es gab auf der Welt schrecklichere Dinge als einen einfachen Geist oder einen Zombie. Viel schrecklichere... "Willst du auch Popcorn? Ist sogar noch warm." Der junge Chinese fuhr aus seinen düsteren Gedanken und blinzelte in das grelle Licht der Leinwand. Dort ging soeben die Sonne über New York auf, von einem Geist konnte er nichts mehr sehen. Aber wenn es sich hierbei wirklich um einen Gruselfilm handelte, so konnte der nächste Untote nicht weit weg sein. Wieso lachen Horo Horo und Manta so? Ren runzelte die Stirn, denn die restlichen Zuschauer waren mucksmäuschenstill, so als müssten sie das gerade Gesehene noch verarbeiten. Für die Schamanen schien der Anfang des Filmes jedoch unglaublich lustig gewesen zu sein. Eine Tüte Popcorn, das nach Zucker und Honig roch, wurde ihm vor die Nase gehalten und der junge Chinese drehte seinen Kopf, als er spürte, wie sich jemand in den freien Platz neben ihn setzte. Yoh? Was macht er hier? Ren schaute zurück auf die Reihe vor ihm. Tatsächlich, Asakura Yohs Sitz war leer. Anna trank genüsslich einen Becher, vermutlich voll Cola, während Horo Horo und Manta einen weiteren Lachanfall erlitten. Gut, der Typ auf der Leinwand sah mit der blonden Locke auch dämlich aus, aber für Rens Nerven übertrieben sie es langsam. "Ich hoffe, Zucker ist in Ordnung. Ich mag diese Mischungen mit Salz nicht." Yoh lehnte sich in dem Sitz zurück und nahm sich eine weitere Hand aus der Tüte, die nun auf dem Schoß des bewegungslosen Chinesen stand. Gemütlich mampfte er das Popcorn, während die Hauptdarsteller auf der Leinwand noch immer nach Geistern suchten, jedoch keine fanden. Das soll ein Gruselfilm sein? "Warum sitzt du allein hier hinten, Ren?" Und wieso fragt Yoh immer die richtigen Fragen? "Vorne war nichts mehr frei." Rens Stimme klang mürrischer, als er das beabsichtigt hatte. Um nicht noch mehr zu sagen, nahm er sich auch etwas Popcorn. Es schmeckte ganz und gar nicht, es war viel zu süß. Aber irgendwie passte das ganz genau zu diesem grauenhaften Kinobesuch. Der Film entpuppte sich ebenfalls als Stimmungstöter, bis jetzt hatte Ren keinen einzigen Geist gesehen, auch blieb ihm die Handlung irgendwie verborgen. "Ach ja, das war Horo Horos Schuld. Er dachte, dass der Platz neben ihm noch frei wäre." Plauderte Yoh und griff erneut nach dem Popcorn. Ren glaubte ihm kein Wort, oder besser, glaubte Horo Horo kein Wort. Selbstverständlich war der Platz neben dem jungen Ainu nicht frei gewesen, schließlich hatte dort eine große Tasche gestanden, deren Besitzer pünktlich zur Werbung erschien. Horo Horo hatte einfach Ren nicht um sich haben wollen, so einfach war das, auch wenn Yoh das vielleicht anders sah. Ich kann's Horo Horo nicht einmal verübeln... Endlich tauchte ein Geist auf, aber dieser sah überhaupt nicht geistig aus. Grün war er und wabbelig. Er wirkte vielmehr wie eine fliegende Schleimmasse. Kein normaler Geist zeigte sich derartig deformiert vor den Menschen! Amidamaru drehte sich in der ersten Reihe um und grinste Yoh an, der in Lachen ausbrach und beinahe das Popcorn verschütte, als er Ren freundschaftlich in die Seite knuffte. "Ich liebe diesen Film, der ist so ungemein komisch!" japste Yoh und kicherte weiter. Er schob seine Kopfhörer in den Nacken und ignorierte die verwirrten Blicke der restlichen Besucher. Auch Horo Horo und Manta amüsierten sich weiterhin köstlich, während Anna einfach nur lächelte, ab und an an ihrem Getränk nippte. "Mittlerweile hab ich ihn wohl schon an die zehn Mal gesehen und er wird immer besser." Yoh nahm sich erneut Popcorn und runzelte seine Stirn. "Schmeckt's dir nicht?" "Äh... doch..." Warum belüg ich ihn? Ren stopfte sich das ekelige Zeug in seinen Mund und würgte es hinunter. Vermutlich log er, weil das einfacher war und ihm immer eine Menge unangenehme Fragen ersparte. Heute wie damals. Jahrelang hatte er seine Schwester belogen, ihr immer wieder ins Gesicht geschrieen, dass er sie hasse. Nur, weil er nicht gewollt hatte, dass sein Vater seine Gefühle gegen ihn verwendete. Jun... Rens Herz zog sich schmerzlich zusammen bei dem Gedanken an seine Schwester. Wie sehr er sie vermisste! Aber er konnte nicht vorzeitig nach China zurück kehren. Sie würde ihn fragen, warum er nicht seine gesamten Herbstferien bei Yoh und seinen Freunden verbrachte, und dann müsste er ihr von dem Vorfall vom gestrigen Abend erzählen. Jun würde so enttäuscht sein, das könnte er nicht ertragen. Also blieb er hier, nicht nur, weil Yoh ihn darum gebeten hatte. Jun... "Stell dir mal vor, unser Shaman Fight hätte so ausgesehen." Yoh nahm die Popcorntüte, sehr zur Rens Erleichterung, wieder an sich und deutete vor zur Leinwand. Dort kämpften gerade vier seltsam anmutende Gestalten gegen einen überdimensional großen Marshmallow. "Ich weiß nicht, ob ich gegen so was Niedliches hätte kämpfen können." "Dann hätten wir in der Wüste keinen Hunger leiden brauchen." Horo Horo hatte sich in seinem Sitz umgedreht und grinste Yoh offen an. "Stell dir mal vor, ein offenes Feuer und dann kommt unser Abendbrot einfach so anmarschiert. Besser hätte es doch gar nicht laufen können." "Da ist wieder der grüne Schleimer!" quietschte Manta dazwischen und alle drei mussten erneut laut los lachen, als Bason und Amidamaru quer vor der Leinwand flogen und so taten, als würden sie in dem Film mitspielen - als gefürchtete Monster. Die anderen Zuchauer, die sie nicht sehen konnte, verstanden die Lachattacken der Junge nicht, aber niemand beschwerte sich, immerhin waren ja einige Witze des braunhaarigen Hauptdarstellers komisch - oder sollten es zumindest sein. "Vielleicht können wir mit Silver reden, damit die Regeln für den nächsten Shaman Fight geändert werden." Horo Horo beugte sich vor und schnappte sich die Popcorntüte, die Yoh bei seinem nächsten Lachanfall fallen ließ. Dabei streifte er unbeabsichtigt Rens rechtes Knie und zuckte blitzschnell zurück. Der junge Chinese reagierte jedoch nicht, wie Horo Horo das erwartet hatte. Kurz sah er ihn mit gelben Augen an, die gar nicht mehr so kalt wirkten wie noch vor knapp vierundzwanzig Stunden, dann konzentrierte er sich wieder auf die Leinwand. "Genau! Jedes Team muss mindestens einen Marshmallow in Hochhausgröße besitzen, sonst wird man nicht zugelassen! Und wir brauchen natürlich einen Schlüsselmeister, dann verlier ich nie mehr meinen Haustürschlüssel." Yoh bog sich vor Lachen und Horo Horo verschluckte sich beinahe an seinem Popcorn, als doch tatsächlich ein dünnes Lächeln auf dem bleichen Gesicht des jungen Chinesen erschien. "Vergiss nicht den Torwächter." Erinnerte ihn Manta kichernd und alle schauten hinüber zu Anna, die seelenruhig ihre Cola trank. Alle hatten sie denselben Gedanken: Anna, die um Mitternacht zu Hause im Wohnzimmer saß und vor Wut tobte, weil sie sich wieder einmal verspätet hatten - unerwarteter Kampf gegen einen anderen Schamanen hin oder her. Wenn jemand bei ihnen die Rolle des Torwächters einnehmen müsste, Anna wäre geradezu perfekt. Die Augenbrauen des Mädchens zuckten leicht, als die Jungs um sie herum noch lauter lachten, aber sie ließ sich nicht beirren. Yoh zahlte den Eintritt, das Popcorn und danach auch das Abendbrot, sollte er doch seinen Spaß haben. Dafür kriegt er nach den Ferien zwanzig Kilo zum Training. Bei diesen Gedanken lächelte sie zufrieden. Horo Horo und Manta drehten sich während des restlichen Filmes immer wieder zu Yoh und Ren um und auch die Geister schwirrten quer durch das Kino, sie alle schienen einen Riesenspaß zu haben. Auch wenn Horo Horo Rens Blick konsequent auswich, so fühlte sich der junge Chinese auf einmal nicht mehr ausgeschlossen. Manta und Yoh zogen ihnen beharrlich in ihre Witze mit ein und an einigen Stellen musste er sogar kichern. Seine schlechte Laune verschwand und ein wohliges Gefühl trat an dessen Stelle, das ein wenig dem Gefühl ähnelte, dass er empfunden hatte, als Yoh und Anna ihn so herzlich willkommen geheißen hatten. Das Gefühl, kein Außenseiter zu sein, sondern dazu zu gehören. Als Freund... Ren ahnte, dass er das Yoh zu verdanken hatte. *** "There's something strange in the neighbourhood." Yoh fuchtelte mit einem unsichtbaren Schwert in der Luft herum. Sein Katana lag zu Hause. Seitdem der Shaman Fight vorbei war, sah er nicht ein, warum er das kostbare Schwert immer mit sich herumtragen sollte, besonders nicht, wenn er mit seinen Freunden ins Kino ging. Also musste jetzt eine unsichtbare Version herhalten. "We gonna call?" Horo Horo hüpfte hinter dem jungen Japaner her und machte dieselben Bewegungen. Manta lachte, fiel dann aber in das Abspannlied des Filmes, den die drei Jungen anscheinend schon auswendig kannten, mit ein. Alle drei blieben sie stehen und reckten ihre rechte Hand gen Himmel, während die Geister über ihnen schwebten und versuchten, wenigstens ein wenig ängstlich auszusehen. "Ghostbusters!" In ihre Stimmen mischte sich Lachen und der weitere Text des Liedes war für Außenstehende kaum mehr erkennbar. "Eigentlich hätte ich wissen müssen, dass sie in diesen Film gehen. Ich war mit Yoh schon drei Mal da drin." Anna trank den Rest ihrer Cola und warf den Becher in einen Papierkorb. Ren, der seine Gesangeskünste lieber nicht unter Beweis stellen und außerdem nicht zugeben wollte, dass er das Lied überhaupt nicht kannte, blieb kurz stehen und wartete auf sie. "Aber na ja, es hätte auch schlimmer kommen könne. Mit meiner Schulklasse war ich auch mal im Kino. Es war eine fürchterlich schnulzige Romanze, und meine Klassenkameraden redeten noch zwei Wochen später drüber." Erzählte Anna, während sie den singenden Jungen folgten. Yoh kannte den Weg zu dem neueröffneten Fast-Food-Restaurant besser als sie, vergaß er doch mehrfach in der Woche sein Bento auf dem Küchentisch. Wenn er eher aufstehen würde, hätte er es früh nicht so eilig! "Es ging über irgend so einen Buchhändler. Total unreal, Ren. Einfach nur unglaubwürdig!" Der junge Chinese nickte bei ihren Worten und wunderte sich, warum sie so offen mit ihm sprach. Sollte sie ihn denn nicht hassen? Warum also war sie dann so freundlich zu ihm und redete innerhalb einer halben Stunde mehr, als was er in dem letzten Jahr von ihr gehört hatte? Tat sie das wirklich nur Yoh zu liebe? Weil ihr Verlobter ihm vertraute? "... frag ich mich wirklich, warum die so was drehen und..." Ren sah sie von der Seite an. Nein, Anna würde nie etwas vorgeben, dafür war sie zu intelligent und zu selbstbewusst. Wenn ihr etwas nicht passte, so sagte sie das offen heraus, ohne Rücksicht auf Verluste. Sie schien diese Unterhaltung aus freien Stücken mit ihm zu halten, ansonsten hätte sie sich überhaupt nicht mehr um ihn gekümmert, hätte ihn vollkommen ignoriert. Dass sie dazu durchaus in der Lage war, hatte Ren gemerkt, als Yoh vor einigen Monaten Mist baute und sie verärgerte. Und damals hatte es sich nur um eine Verabredung zum Abendessen bei ihrer Großmutter gehandelt, die Yoh vergaß. Ich hätte gestern beinahe einen ihrer Freunde erwürgt... "If you're all alone, pick up the phone." "And call...." ":.. Ghostbusters!" Ren lauschte dem Lied, das die drei Jungen immer und immer wiederholten, ohne dass sie des Refrains müde wurden, noch einige Momente, bevor er sich räusperte und seine Hände tief in die Taschen seines Mantels schob. "Anna-san?" unterbrach er ihre Erzählung, als sie kurz innehielt, um ein Taschentuch aus ihrer Handtasche zu zaubern. Er wartete, bis sie sich die Nase geputzt hatte und fragte sich, warum sein Herz so wild klopfte. Schließlich hatte er weitaus größeren Gefahren ins Gesicht sehen müssen, allen voran seinem Vater, der bereit gewesen war, seinen Erben zu töten, sollte ihm dieser nicht auf dem Pfad der Urahnen folgen. "Hai?" Als sie sich umdrehte, lag ein erwartungsvolles Lächeln auf ihren Lippen. Plötzlich wusste Ren, dass Yohs Anwesenheit nicht nur auf seine Freunde, sondern auch auf seine Verlobte abfärbte. Dieses Lächeln hatte er bei dem jungen Japaner schon sehr oft gesehen, sogar während des letzten, des schwersten Kampfes während des Shaman Fights. Als Yoh gegen Hao hatte kämpfen müssen. "Ich..." Ren holte tief Luft. Warum fiel ihm das nur so schwer? Schließlich war es nicht das erste Mal in seinem Leben, dass er sich für den Mist, den er anstellte, entschuldigte. Vor einem Jahr wäre dies natürlich noch undenkbar gewesen, aber er hatte sich über die letzten Monate geändert. Sicher? Nun ja, zumindest hatte er sich bei seiner Schwester für sein gemeines Verhalten ihr gegenüber entschuldigen können. Jun hatte ihm verziehen, so wie sie ihm die vergangenen zehn Jahre immer wieder vergeben hatte, in denen sie sich kannten. Ren blickte in Annas abwartendes Gesicht. Dass sie beide stehen geblieben waren, wurde ihm gar nicht bewusst, so sehr konzentrierte er sich auf die Worte, die ihm auf der Seele brannten. Warum sollte Anna ihm nicht auch verzeihen? Immerhin hatte Yoh das auch gekonnt. Horo Horo wird mich auf immer hassen... "Ich wollte mich für..." erneut holte er tief Luft. Weshalb konnte ihm diese ganze Sache nicht leichter fallen? Es war doch immerhin seine alleinige Schuld gewesen, dass er Horo Horo angriff und dabei Annas Wohnzimmer verwüstete! Also musste er jetzt auch mit den Konsequenzen leben! Sei kein feiges Hühnchen! ".. für mein unmögliches Verhalten von gestern entschuldigen. Ich werde natürlich den Schaden ersetzen und..." Ren kam sich plötzlich wie ein kleiner Junge vor. Wie der kleine Junge, den er in seiner Kindheit nie hatte sein dürfen. Was immer er getan hatte, es war richtig gewesen, denn es hatte seinem Willen entsprochen, seinem dunklen Herzen, das von den falschen Worten seines Vaters über das ewig Böse der Tao Ahnen genährt worden war. "... und ich will's nie wieder tun..." Nein, er wollte nie mehr jemanden töten, erst recht nicht einen Freund. Egal, wie Horo Horo das auch einschätzte, sie hatten die weite Reise nach Amerika gemeinsam überlebt, hatten Seite an Seite gekämpft, hatten sich gegenseitig mehr als einmal aus der Klemme geholfen. Der junge Ainu war mehr als nur ein bloßer Bekannter, wie die Lily Five oder Silver, er war ein Freund geworden. Ein Freund, dem ich weh getan habe. Die Erkenntnis traf hart. Genauso wie das Wissen, dass er niemanden mehr töten wollte, jedoch keinerlei Kontrolle über seine Killerinstinkte hatte. Ich bin Tao Ren, Erbe der Tao Dynastie, und bin nicht einmal Herr meines eigenen Willens. Es ist erbärmlich... "Das weiß ich." Annas Hand berührte vorsichtig Rens rechten Arm, ihr Lächeln wurde eine Spur intensiver. "Yoh hat mir alles erzählt." "I ain't afraid of no ghost!!!" Kühler Herbstwind wehte durch die belebte Fußgängerzone, einige Blätter wirbelten um die zwei Jugendlichen, die sich schweigend ansahen, verstehend. Dann trat Anna zurück und der Bann schien gebrochen. "I ain't afraid of no ghost!!!" "Ich weiß auch schon, welches Geschirr ich mir heraussuche. Es ist mit dunkelblauen Schriftzeichen versehen und sündig teuer." Anna schulterte ihre Handtasche und beeilte sich, die Jungen einzuholen, die gerade in ihren Lachattacken an dem Fast-Food-Restaurant vorbeizumarschieren drohten. "Yoh sollte sich besser in Acht nehmen. Wenn er auch nur einen Teller zerbricht, gibt's extra Trainingsstunden." "I ain't afraid of no ghost!!!" Ren strich sich eine Strähne seines pechschwarzen Haares hinter seine Ohren und musste gegen seinen Willen lächeln. Ja, das war wieder die Anna, die er kennen gelernt hatte, und dennoch war sie anders. Sie hatte ihm vergeben. Ganz einfach so. Nein, sie hat mir nicht nur vergeben. Sie hat mich verstanden. "Ist nun genug, ihr drei. Wir wissen alle, dass ihr keine Angst vor Geistern habt. Also kommt jetzt mit, ich habe Hunger!" Horo Horo, Yoh und Manta brachen ihr Lied ab und beeilten sich, Anna in das Restaurant zu begleiten. Sicherlich hatten sie auch Hunger und, was noch wichtiger war, sie wussten, wie streng Anna sein konnte, wenn ihr Magen knurrte. Ren schüttelte amüsiert seinen Kopf, bevor er ihnen folgte, leise vor sich hin summend. "Ghostbusters..." *** "Lecker! Hamburger und Fritten!" Glücklich grinste Yoh auf sein Tablett, während er sich an den Tisch setzte, den sie sich in einer ruhigeren Ecke herausgesucht hatten. Durch die Fensterscheiben konnte man hinaus auf die noch immer recht belebte Passage schauen, einige Topfpflanzen versperrten die Sicht auf die Kasse - und damit auch auf sie. Anna mochte es einfach nicht, wenn ihr wildfremde Menschen auf den Teller starrten. "Es ist zwar kein traditionell japanisches Essen, aber es ist trotzdem köstlich!" stimmte ihm Horo Horo zu und machte sich daran, sein Ketchuptütchen aufzureißen. Wie immer riss er die dazu vorgesehene Lasche ab, ohne dass großartig etwas passierte. Kurz verdrehte er die Augen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, bevor er sich seiner Zähne bediente und verzweifelt auf der Plastik herum biss. Das soll köstlich sein? Ren beobachtete den jungen Ainu kurz, widerstand dann aber dem Drang, ihm den Ketchup wegzunehmen und selbst zu öffnen. Horo Horo hätte es sicherlich missverstanden. Es sind schließlich seine Zähne. Der junge Chinese wickelte sein Brötchen, das Yoh Hamburger genannt hatte, aus und betrachtete es skeptisch. Es schien mit Fleisch und irgendeiner seltsamen Soße gefüllt zu sein. Unauffällig sah er sich um, konnte aber keine Stäbchen erkennen. Auch wusste er nicht, wie er das Brötchen zerteilen sollte. Gut, diese gelben Dinger gingen noch, aber das hier? Als Yoh seinen Hamburger in beide Hände nahm und herzhaft hinein biss, tat Ren es ihm nach. Besser, nicht laut nachfragen und erneut verständnislose Blicke ernten. Die anderen würden ihn ja doch nur für verrückt erklären, wenn er ihn erzählte, dass er dieses Fastfood noch nie probiert hatte. Bei ihm zu Hause hatte es immer nur Traditionsküche gegeben und auch in Amerika versuchte er, so chinesisch wie möglich zu speisen, was oftmals zu Konflikten zwischen ihm und dem Koch geführt hatte, da die Amerikaner seltsame Gewürze verwendeten und irgendwie überall Ketchup hinein schmierten. Nun ja, es ist besser als das Popcorn. Ren kaute langsam und schluckte den Brötchen-Fleisch-Verschnitt hinunter. Zumindest war es nicht süß. Wenn es doch nur besser zusammen halten würde! Mehrmals musste er das Brötchen absetzen und wieder ordnen, weil das Fleisch heraus zu rutschen drohte. "Was hattest du drin, Manta?" Neugierig begutachtete Yoh eine braune Tüte, die vor Mantas Platz stand. Daraus zauberte er ein kleines Spielzeugauto hervor. Der kleine Japaner errötete ein wenig, biss dann aber in seinen eigenen Hamburger. "Cool, den hab iff noch niff." Brachte er kauend hervor und hielt sein Essen mit einer Hand, um mit der anderen das Auto zu betrachten. "Ich beneide dich, Manta. Mir verkaufen sie nie eine Kindertüte." Manta sah für einen Moment gar nicht so glücklich aus, denn diese Kindertüten durften wirklich nur Kinder kaufen. Die Verkäufer hielten ihn ob seiner Größe vermutlich für noch sehr jung. Dann aber hellte sich sein Gesicht auf. Schließlich sprach er hier mit Yoh, seinem besten Freund, der meinte es nicht böse, sondern genau so, wie er es sagte. "Soll ich das nächste Mal zwei bestellen?" fragte er deshalb großzügig und durchbrach mit seinem Strohhalm den Deckel seines Getränkes. Ren beobachtete ihn genau und tat es ihm, wenn auch ein wenig zögernd, nach. Yoh schielte kurz zu Anna, die von dem Gedanken, dass er sich in seiner Freizeit nun auch noch mit Spielzeugautos beschäftigte, ganz und gar nicht angetan war. "Vielleicht lieber nicht." Der junge Japaner grinste schief, dann schob er ein paar von dem Kartoffelstreifen an das andere Ende des Tisches, wo Amidamaru saß. Natürlich konnte der Geist die ihm angebotenen Speisen nicht essen, aber die Geste zählte. Ren überlegte nachdenklich, dann nahm auch er ein paar von den Streifen und legte sie vor Bason auf eine weiße Servierte. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er etwas mit seinem Geist teilte und der chinesische Krieger sah ihn mit erstaunten Augen groß an, bevor er sich anschickte, Ren zu umarmen. Der junge Chinese duckte sich und hielt den Hamburger schützend vor seinen Oberkörper, dabei errötete er heftig. Das ging ihm jetzt doch ein wenig zu weit! Bason, der die Reaktion seines Herrn verstand, nickte nur und ergriff eine Geisterpommes, die er Amidamaru zuprostete. "Ich liebe dieses Essen!" Yoh lächelte zufrieden auf die beiden Geister, bevor er sich zwei Kartoffelstreifen in den Mund schob und unheimlich zu heulen begann. "Iff bin oin Vompir!" krächzte er und Manta kicherte wieder. Entgegen ihrer normalen Verhaltensweise verdrehte Anna, die neben ihrem Verlobten saß, nicht die Augen, sondern steckte sich ebenfalls zwei Streifen in den Mund und sah Yoh unverwandt an. Das war zu viel für Manta, er brach erneut in schallendes Gelächter aus. Ren, der schwer gegen den Drang, ebenfalls zu den Streifen zu greifen und mitzumachen, ankämpfte, musste grinsen. Da traf ihn plötzlich etwas Nasses unerwartet im Gesicht. Er zuckte zurück und tastete im Reflex nach seiner Sense, die natürlich nicht da war. Yoh hatte sie wohlweislich in seinem Zimmer verstaut. Daher folgte Ren seinem zweiten Instinkt: Er sprang auf, um sich gegen den unsichtbaren Angreifer zur Wehr zur setzen, der ihn soeben beworfen hatte. Wer war das? Der junge Chinese blickte herum - und sah genau in die schreckgeweiteten Augen Horo Horos, der ihm gegenüber saß und noch immer den Ketchup zwischen seinen Zähnen hatte. Sein Mund war rot, aber nicht vom Blut. Vermutlich war es ihm endlich gelungen, den eingeschweißten Ketchup zu befreien. Das Lachen erstarb an dem Tisch, als die anderen die plötzliche Spannung spürten. Sie sahen zu dem jungen Chinesen, dessen Gesicht ebenfalls mit roter Flüssigkeit verschmiert war, die langsam auf seinen pechschwarzen Mantel tropfte. Was... Ren hob langsam seine Hand und befühlte seine feuchte Wange. Als er sie wieder zurück zog, sah er die rote Flüssigkeit. Da ihm jedoch nichts weh tat, konnte es sich nicht um sein eigenes Blut handeln. Vorsichtig leckte er an seinem Finger. Es war süßlich, ekelig süßlich. Ketchup! Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Horo Horo hatte so heftig auf seiner Tüte umhergebissen, bis sie schließlich platzte und all ihren Ketchup verteilte - zum größten Teil auf ihn selbst und seinen Tischnachbarn. Und wer saß dem jungen Ainu genau gegenüber? Er, Ren. Horo Horo wagte nicht, sich zu bewegen. Wie in Trance betrachtete er die gelben Augen, die ihn schweigend musterten. Dass er noch immer die leere Tüte in seinen Zähnen hielt, bemerkte er nicht einmal. Er spürte nur, wie sein Hals wieder zu schmerzen begann. Was war, wenn Ren erneut seine Kontrolle verlor und Yoh dieses Mal nicht rechtzeitig eingreifen würde? Verdammt, er hatte sich von dieser Killermaschine doch fernhalten wollen, statt dessen bewarf er ihn mit Ketchup, provozierte geradezu Rens Wut. Er wird mich umbringen... Yoh wollte sich erheben, aber Anna ergriff seinen Arm, schüttelte leicht ihren Kopf. Beide sahen einander stumm in die Augen, dann blickten sie wieder zu den beiden ketchupverschmierten Schamanen hinüber. Ren blinzelte und bevor er wusste, was er tat, stützte er mit beiden Händen auf dem Tisch und lachte lauthals. Er lachte, bis er Tränen in seinen Augen spürte und hörte, wie Manta und Yoh ihm einstimmten. Horo Horo blickte natürlich noch verständnisloser drein. Eine Killermaschine kann lachen? "Macht ein Photo von ihm!" japste Ren und wischte sich ein paar Lachtränen aus den Augenwinkeln, wobei er sein Gesicht noch mehr mit roter Kriegsbemalung verzierte. Der junge Ainu starrte ihn nur mit seinen großen Augen an, während die Tüte weiterhin aus seinem Mund baumelte. Er sieht zum Schießen aus! Tatsächlich angelte Manta aus den tiefen seines Rucksacks eine Kamera hervor und ein wahres Gewitter aus Blitzlichtern brach über Horo Horo herein, der sich die ganze Zeit über nicht gerührt hatte. Nachdem sich Ren halbwegs beruhigt hatte, ergriff er seinen eigenen Ketchup und lehnte sich vor. Horo Horo zuckte heftig vor ihm zurück und entblößte damit das Halstuch, das er unter seinem hellen Pullover trug, der ebenfalls ein paar roter Spritzer abbekommen hatte. Diese Geste ernüchterte Ren wieder. Er hat nur so dämlich dreigeschaut, weil er Angst vor mir hatte... Vorsichtig, um kein zweites Ketchupbad anzurichten, öffnete er seine eigene Tüte und presste den Inhalt auf Horo Horos Tablett, wie er das vor einigen Minuten bei Manta gesehen hatte. Dann setzte er sich auf seinen Platz und nahm seinen Hamburger wieder in beide Hände. Der junge Ainu stieß die Luft, von der er nicht einmal wusste, dass er sie angehalten hatte, aus. Er wirkte mit einem Mal sehr erleichtert. Hat er wirklich geglaubt, ich würde ihm etwas antun? Ren umfasste seinen Hamburger stärker, merkte nicht, wie das Fleisch erneut entkam und dieses Mal auf seine Kartoffelstreifen fiel. Nach dem gestrigen Abend fragst du das noch? "Das hätte ich nicht besser machen können, Horo-kun." Kicherte Manta, dem normalerweise solche Missgeschicke vorbehalten waren, und reichte dem jungen Ainu eine Servierte. Wohlweislich hatte er die Kamera bereits wieder außer Reichweite verstaut, denn er hatte nicht nur den verständnislos dreinblickenden Ainu, sondern auch einen kichernden Chinesen photographiert, der seiner Meinung nach viel zu selten lachte. Anna ihrerseits suchte ihre Tücher zusammen und legte sie auf Rens Tablett. "Na, mit euch geh ich bestimmt in kein vornehmes Restaurant, da würde ich mich ja unendlich schämen." Aber ihre blitzenden Augen verrieten, dass auch sie Horo Horos Gesicht ungemein komisch gefunden hatte. Er hat mich nicht umgebracht? Jetzt erst bemerkte Horo Horo das Tütchen zwischen seinen Zähnen und spuckte es aus. Verwundert betrachtete er Ren, dessen Miene nichts mehr von seinem Lachanfall verriet, wie sich dieser das Gesicht säuberte und ein wenig unbeholfen den Ketchup von seinem dunklen Mantel wischte. Er hat mich nicht angegriffen und erwürgt? Horo Horo senkte seinen Blick und starrte erst auf die Servierte in seinen Händen, dann auf den Ketchup, der fein säuberlich ausgedrückt neben seinen Pommes lag. Er hat mir seinen Ketchup gegeben? Die Killermaschine hat mich nicht nur verschont, sondern auch mir auch einen Teil ihres Essens geschenkt? Nun verstand der junge Ainu überhaupt nichts mehr. Bevor er jedoch seine umherschwirrenden Gedanken ordnen konnte, musste er tatenlos zusehen, wie eine Hand aus den Topfpflanzen schnellte und ihm einige Pommes stahl. "Nani?" Dieses Mal war er es, der auf seine Beine sprang und sofort einen Eisball in seinen Händen hielt. "Wer wagt es, mir mein wohlverdientes Mahl zu stehlen?!" Besonders, da er jetzt erst mit dem Essen begann, nachdem er sich die letzten fünf Minuten im Zweikampf mit einer Plastiktüte gemessen hatte. "Na, wer wohl?" Die Stimme war voller Schalk. Eine Stimme, die sie überall wieder erkannt hätten. "Ryu-kun! Das ist aber eine freudige Überraschung!" Manta rutschte sofort ein wenig nach, damit Horo Horo dem Ankömmling einen Platz neben sich anbieten konnte. Der junge Mann grinste fröhlich, als er sich hin setzte und sein Tablett vor sich abstellte. Ren hoffte insgeheim, dass wenigstens Ryu in der Lage war, seinen Ketchup ordentlich zu öffnen. Sonst müsste er Anna bitten, seinen Mantel erneut zu waschen. Tokageroh, Ryus Geist, gesellte sich zugleich zu den anderen Geistern und gemeinsam prosteten sie sich Geisterpommes zu. Ren betrachtete sie für einen Moment und wusste, dass er vor einem Jahr noch unglaublich entsetzt gewesen wäre, diese toten Krieger, Samurai und Diebe für Schwächlinge erklärt und Bason sofort verbannt hätte. Heute war er froh, dass sie sich so gut verstanden und ihr Nachleben neben den Kämpfen ebenfalls genießen konnten. Ja, Jun hatte Recht, ich habe mich verändert. "Na, wie geht's uns allen denn so?" Ryu schwenkte seinen Hamburger durch die Luft und sah seine Freunde erwartungsvoll an. Horo Horo nestelte an seinem Pullover und Ren konnte sehen, dass er versuchte, sein Halstuch zu verbergen. Ich habe mich aber nicht genug verändert... "Phantastisch, Ryu-kun. Immerhin sind Schulferien." Verkündete Manta fröhlich und fuhr sein Spielzeugauto in seinen Pommesstapel hinein, bevor er sich einen Streifen nahm und genüsslich darauf herum kaute. "Wolltest du nicht erst morgen kommen?" Yoh grinste über das ganze Gesicht, während er heimlich von Anna ein paar Pommes stahl. Seine eigenen waren schon längst alle aufgegessen. "Du sagtest doch, dass dein Motorrad kaputt wäre?" "Ach, ich hab da jemanden getroffen, der hat mir geholfen." Ryu nahm einen großen Schluck von seiner Cola und lehnte sich entspannt zurück. "War mal wieder der Vergaser, aber gemeinsam hatten wir es im Handumdrehen repariert. Jetzt bin ich wieder hier." Yoh nickte und machte ein bettelndes Gesicht, als Anna seine diebische Hand fortschob. Ja, das klang genau nach Bokutou no Ryu. Selbst in Amerika in der einsamsten Wüste hatte er immer wieder jemanden gefunden, der ihnen half - meist mit einem entsprechenden Truck im Schlepptau. Ryu war einst ein Wüstling gewesen, seinen Freunden gegenüber jedoch immer loyal. So gewann er auch auf der endlosen Landstrasse, wie er seinen Weg immer beschrieb, mühelos Bekannte, denen er im Notfall immer bereit war zu helfen, und die auch für ihn da waren, sollte er in Not geraten. "Das Kino hast du leider schon verpasst." Anna schlug erneut Yohs Hand beiseite, verdrehte ihre Augen und gab ihm schließlich die Hälfte ihrer Pommes. "Es ist schön, Euch wieder zu sehen, Anna-san." Ryu verbeugte sich leicht. Dies war ein Verhalten, das er dem Mädchen gegenüber immer an dem Tag legte. Als er sie das erste Mal sah, hatte er sich in sie verliebt und eine Welt stürzte für ihn zusammen, als er erfahren musste, dass sie bereits Yohs Verlobte war. Über die Monate hinweg hatte er sich damit abgefunden, schien sie aber immer noch sehr zu mögen. Also behandelte er sie wie eine Königin und Anna, der dies zu schmeicheln schien, ließ ihn gewähren. "Was gab's denn? Wieder >GhostbustersWir-hassen-Killermaschine<- Fraktion zu haben, dann aber fiel sein Blick auf den Ketchup auf seinem Tablett und er erinnerte sich an einen lachenden Ren, der ihn dieses Mal nicht gewürgt, sondern ihm sogar geholfen hatte. Ich werde ihn nie verstehen! Horo Horo ergriff einen Kartoffelstreifen und biss hinein. Schließlich entschied er sich. Ohne Ren anzusehen, zwang er sich zu seinem beschämten Grinsen, das er dem neugierigen jungen Mann neben sich schenkte. "Ich war ein wenig ungeschickt und hab mich selbst verletzt." Erklärte er und deute auf eine kleine Wunde über Ryus rechter Augenbraue. "Aber ich sehe, dass es dir nicht anders ergangen ist." Das Ablenkungsmanöver funktionierte und sofort erzählte ihnen Bokutou no Ryu von seiner erlebnisreichen Reise quer durch Japan, selbstverständlich allein mit seinem heißgeliebten Motorrad. Danke. Horo Horo und Rens Blicke kreuzten sich während des Essens noch einmal kurz, bevor der junge Ainu bewusst wegschaute, erneut mit seinen Freunden das Ghostbusters-Lied sang. Ich hasse dich trotzdem! *** Am nächsten Tag begann es schon in den frühen Morgenstunden zu regnen. Schwarze Wolken verdunkelten den Himmel und es schien gar nicht mehr aufhören zu wollen. Die Menschen verkrochen sich in ihre warmen Häuser und in der Fußgängerzone war kaum mehr ein Einheimischer, geschweige denn ein Tourist zu sehen. Nasses Laub fiel von den Bäumen, die Welt wirkte farblos und grau. "Am besten wir gehen zu Rumiko-kuns Vater. Er führt einen Schreibwarenladen und hat auch Ahnung davon. Rumiko-kuns Drache letzten Herbst war phänomenal." Manta hob den Regenschirm ein wenig, um zu Yoh aufblicken zu können. Die beiden trabten Seite an Seite über das nasse Kopfsteinpflaster. Im Gegensatz zu Anna, die die Gewitterwolken feindselig anstarrt hatte, schien Yoh der Regen nicht sonderlich auszumachen. Er trug nicht einmal einen Schirm und der Regen rann über seine Schläfe. "Das ist eine gute Idee. Die Wunschliste hast du doch eingesteckt, oder?" Yoh verschränkte seine Arme hinter seinem Kopf und grinste verlegen. Eigentlich war es ja seine Aufgabe gewesen, sich um den Zettel zu kümmern, auf denen jeder die Farbe aufgeschrieben hatte, die das Papier haben sollte, aber wie immer hatte Yoh ihn liegen gelassen. Nun hoffte er auf seinen besten Freund Manta, dass dieser daran gedacht hatte. Mantas entsetzter Blick belehrte ihn jedoch eines Besseren. Zwar sagte der junge Japaner nichts, aber es war ihm anzusehen, dass er keine sonderliche Lust verspürte, noch einmal den ganzen Weg in dem kalten Regen zurück zu laufen, um den Zettel zu holen. Viel eher würde er sich blamieren und Anna anrufen. Schließlich war er derjenige gewesen, der während der ersten Zeit des Shaman Fights so lange genervt hatte, bis sich die junge Japanerin wirklich ein Telefon zugelegt hatte - mit dem Ergebnis, dass Manta meist die Gebühren aus eigener Tasche bezahlte, weil sie in die neue Technik kein Vertrauen hatte und ansonsten innerhalb kürzester Zeit das Telefon wieder abmelden würde. "Ich hab dran gedacht." Ren zog den heißbegehrten Zettel aus seiner Manteltasche und gab ihn Manta, der ihn dankbar anblickte. Als Yoh und er erklärten, dass sie das Papier für die Drachen kaufen wollten, hatte sich Ren ihnen ohne viele Worte angeschlossen. Die anderen blieben zu Hause und halfen Anna bei der Hausarbeit. Nicht unbedingt freiwillig, aber die junge Japanerin wusste immer, wie sie andere Leute überzeugen konnte. Die Aussicht auf einen leckeren Kirschkuchen nach getaner Arbeit spielte dabei eine nicht unwesentliche Rolle. "Dank dir." Yoh wirkte ebenfalls erleichtert. Mit der Wunschliste der anderen bewaffnet betraten sie also den Schreibwarenladen. Sie brauchten auch nicht lange, um die Objekte ihrer Suche zu finden: Papierstreifen verschiedenster Größe und Länge hingen säuberlich aufgereiht an der Wand. Geradezu perfekt, um daraus starke Papierdrachen zu basteln, die sie am nächsten Wochenende im Park ausprobieren wollten. Der Wetterdienst hatte bis dahin auch ein Ende des kalten Regens gemeldet. Alle hofften sie auf Sonnenschein und, was noch wichtiger war, auf eine kräftige Briese frischen Wind. "Ok. Also, Horo-kun möchte gerne ein helles Blau und Anna-san... was soll das heißen?" Manta hob den Zettel zu Yoh, damit dieser ihn unter Augenschein nehmen konnte. "Dunkles Rot. Was denn sonst?" Der junge Japaner grinste und machte sich daran, mit einem Meterband die Stücken auszumessen und vorsichtig von der Rolle zu trennen. "Ryu meinte, ihm wäre es egal." Manta zuckte mit den Schultern, stimmte dann aber seinem besten Freund zu, der sich für ein Muster aus Motorrädern entschied. Das passte eindeutig zu Bokutou no Ryu. "Was möchtest du haben, Ren-kun?" Der kleine Japaner strich gerade diverse Namen auf der Liste durch und bemerkte, dass einer zu wenig notiert war. Irgendwo in seinem Gedächtnis glaubte er, sich erinnern zu können, den jungen Chinesen schon einmal gefragt zu haben, aber er hatte wohl keine Antwort erhalten und dies in der Hektik des Gefechts übersehen. "Das Übliche." Ren, der nicht wirklich Lust hatte, einen Papierdrachen steigen zu lassen, seinen Freunden aber nicht auch noch diesen Spaß verderben wollte, griff nach einer bereits abgetrennten Rolle und warf sie in den Einkaufskorb, den Yoh von der Kasse bis hier in die hinterste Ecke des Ladens geschleppt hatte. Zwei Augenpaare schauten zuerst auf die Rolle, dann zu dem jungen Chinesen. Im ersten Impuls hätte sie Ren beinahe angekläfft, was sie denn so blöd glotzten, dann biss er sich jedoch auf seine Lippen und drehte sich rasch um. "Ich warte draußen. Lasst euch Zeit." Manta seufzte tief, als die Ladentür mit einem leisen Klingeln ins Schloss fiel. Dann nahm er die Rolle des jungen Chinesen in die Hand. Sie war pechschwarz. "Was wäre so falsch an Grün gewesen? Oder Rot? Chinesische Drachen sind doch traditionell rot, oder? Aber Schwarz..." Yoh, der sich gerade an einer braunen Rolle zu schaffen machte, setzte sein typisches Grinsen auf. Er hatte nicht wirklich eine andere Farbwohl von seinem Freund erwartet, nicht nach nur einem Jahr. Es stimmte, Ren hatte seinen Vater besiegt und dem Fluch seiner Urahnen entsagt, aber lange Jahre einer strengen Erziehung konnten nicht so einfach ausgelöscht werden. Das brauchte Zeit. Zeit, die Yoh ihm gerne geben wollte. "Ich bin mir sicher, dass das Drachensteigen Spaß machen wird!" kicherte er, bevor er sich wieder seiner Arbeit widmete. *** Sie sollen mich nicht so anschauen! Ren ging langsam die Strasse entlang, missachtete den Regen, der noch immer erbarmungslos auf ihn niederprasselte. Pfützenwasser spritzte unter seinen schweren Stiefeln, als er seinen Weg fortsetzte. Die anderen würden bestimmt noch eine ganze Weile brauchen, da schadete es nicht, wenn er einmal ums Eck lief, um sich ein wenig abzureagieren. Yoh soll mich nicht so anschauen! Früher hatte er diese Blicke genossen: Die Blicke der Überraschung, Unsicherheit und Bestürzung. Heute jedoch machten sie ihn einfach nur noch krank. Dabei wollte er kein Fürst mehr sein, versuchte doch so verzweifelt, der dunklen Seite in sich zu entkommen. Yoh glaubte an ihn! Warum konnte er es dann nicht selbst? Ren hob seinen Kopf und schluckte, als er durch den Regen hindurch seine schwarze Gestalt im nächsten Schaufenster sah. Wem willst du etwas vormachen, du Idiot? Wütend schlug er den Kragen seines Mantels hoch, obwohl es keinen rechten Sinn mehr machte. Seine Haare klebten bereits nass an seinem Kopf, ganz allmählich durchweichte der Regen auch die Enden seines Pullovers. Jun hatte ihn einst für ihn gestrickt, das einzige Kleidungsstück, das nicht schwarz war, es war violett. Yoh trug es immer, wenn es ihn fror. Oder aber, wenn er sich einsam fühlte. Jun... Yoh gab sich zwar alle Mühe, aber er spürte immer die Blicke der anderen auf sich, wenn er etwas Unerwartetes tat oder sich nach einer längeren Zeit des Schweigens und Zuhörens plötzlich zu Wort meldete. Es war fast so, als erwarteten sie einen erneuten Ausbruch von ihm und müssten Horo Horo - und vielleicht sogar sich selbst - die ganze Zeit beschützen. Der einzige, der von all dem keine Notiz nehmen schien, war Ryu. Den ganzen Morgen hatte er seine Witze gerissen und Ren hatte in seiner typischen Art und Weise griesgrämig geantwortet, die den jungen Mann zum Lachen brachte. Eigentlich hätte er darüber froh sein sollen, aber er war es nicht. Horo Horos scheckgeweitete Augen nach jedem erneuten Scherz Ryus verdarben Ren auch noch den kleinsten Funken Spaß. Ich habe mich bei ihm entschuldigt! Aber Ren wusste, dass es mehr brauchte, als eine einfache Entschuldigung, selbst wenn diese vom Herzen kam. Viel mehr... Oh, Jun... Ren blinzelte einige Regentropfen aus seinen Augen und trat ein wenig näher an das Geschäft heran, betrachtete sein Spiegelbild genauer. Wie immer konnte er jedoch keine Spur von seiner Schwester darin finden. Er sah genauso aus wie ihr gemeinsamer Vater, während sie mehr nach ihrer Mutter kam. Wir sehen uns nicht einmal ähnlich... Ren schluckte und zwang sich, an sich selbst auf die ausgestellte Ware zu schauen. Der Laden verkaufte Blumen. Tropische Gewächse aus fernen Ländern, die vermutlich im Gewächshaus großgezogen worden waren, wie auch einheimische Herbstpflanzen. Der junge Chinese brauchte gar nicht lange zu suchen, er fand die Lieblingsblume seiner Schwester sofort. Rot strahlte sie, gegen sie wirkten all die anderen Blumen blass, leblos. Jun... Ren schluckte und legte, ohne dies überhaupt zu bemerken, seine Hände gegen die nasse Glasscheibe. Ich vermisse dich. *** "Ja, Pirika, ich bin sicher angekommen. Wir waren sogar schon im Kino." Horo Horos Stimme begrüßte sie, als sie in Anna und Yohs Haus ankamen. Ren fiel auf, dass der junge Ainu so fröhlich und gelöst wie seit zwei Tagen nicht mehr klang. Als sie in das Wohnzimmer traten, kannte er auch den Grund: Horo Horo benutzt gerade Annas Telefon und sprach mit seiner kleinen Schwester. "Ja, Ghostbusters... woher weißt du das? Genau. Und hinterher..." Vergnügt plapperte weiter, schien die Neuankömmlinge gar nicht zu bemerken. "Na, Erfolg gehabt?" Anna blickte von der anderen Seite des Tisches auf, wo sie gerade mit Ryu ein paar Photos betrachtete. Die meisten Aufnahmen zeigten Motorräder, also konnten es sich nur um Bilder des jungen Mannes halten. "Herausragenden Erfolg." Yoh grinste glücklich, als ihm der Geruch von frischem Kirschkuchen in die Nase stieg. Also hatte Anna Wort gehalten. Dies versprach ein lustiger und vor allen Dingen köstlicher Nachmittag zu werden. Vorsichtig wickelte er die Papierrollen aus der nassen Plastetüte, die der Ladenbesitzer ihnen freundlicherweise gegeben hatte, und breitete sie auf dem Tisch aus. "Ich hoffe, ich habe nichts vergessen." "In dem Fall bekommst du eben nur einen ganz kleinen Drachen." Anna erhob sich und scheuchte die Geister fort, die sich neugierig die Muster betrachteten. Kurz verließ sie den Raum und kehrte mit drei Handtüchern zurück, die sie den drei Jungen um die Schultern schlang. "Passt auf, dass ihr mir hier nichts nass macht. Wir haben den ganzen Vormittag geschrubbt." "Und wie." Ryus Stimme klang leidend, aber er lächelte vor sich hin, als er Annas blitzende Augen sah. "... natürlich bring ich dir etwas mit, wenn ich wiederkomme..." Kororo, die auf der Schulter des jungen Ainu saß und mithören konnte, was Horo Horo mit seiner kleinen Schwester beredete, kicherte leise, als der Junge heftig errötete. "Ja... ich ruf dich wieder an. Natürlich. Ja... ich dich auch..." Damit legte er auf und holte tief Luft. Natürlich liebte er seine Schwester, sie war seine einzige Verwandte und immer für ihn da gewesen, besonders während des Shaman Fights, der nicht sich nicht immer als einfach erwiesen hatte. Dennoch war es ihm peinlich, wenn er seine Gefühle so offen zeigen musste. Schließlich war er ein dreizehnjähriger Junge, viel zu alt für solche Dusseleien! "Danke, Anna-san." Kurz verbeugte er sich, legte dann den Hörer wieder auf die Gabel. "Sonst hätte sie sich nur Sorgen gemacht." "Verständlich." Das Mädchen sortierte die Papierrollen, ihr Blick blieb für einen Moment an der schwarzen hängen, die so gar nicht in das bunte Durcheinander passen wollte. "Willst du Jun auch anrufen, Ren?" meinte sie, da sie an Horo Horos Gesichtsausdruck erkannte, dass ihm genau diese Frage auf der Seele brannte, er sich aber zu unsicher war, ob er sie wirklich aussprechen sollte. So sehr er den jungen Chinesen auch verabscheute, sie beiden waren immer noch Brüder. Er wusste, wie es war, wenn man sich um eine Schwester Gedanken machte beziehungsweise diese vor Sorgen fast verging. "Nein." Ren ergriff das Handtuch und schob es sich über seine tropfenden Haare. Vorsichtig nahm er das kleine Päckchen, das er den ganzen Weg über heimlich in seiner Manteltasche getragen hatte, heraus und schickte sich zum Gehen an. Er wollte den nassen Mantel lieber ins Waschhaus hängen, bevor er von Anna noch richtigen Ärger bekam. "Aber macht sich deine Schwester da nicht Sorgen?" Mantas Laptop piepte. Vermutlich errechnete er gerade die Schnittwinkel für seinen Drachen. "Ich kann sie auch anders erreichen." Schließlich war er ein Schamane! Er war nicht auf solch primitive Dinge wie Telefone oder Internetleitungen angewiesen. "Wie bestellst du dir dann Pizza? Ich mein, muss doch grausam sein, wenn man mitten in der Nacht Hunger bekommt und sich nichts bestellen kann." Ren drehte sich um und starrte einen neugierig dreinblickenden Ryu fassungslos an. Was glaubte der junge Mann, wer er war? Immerhin lebte er in einem riesigen Palast mit über hundert Bediensteten, die ihm zu jeder Uhrzeug das Mahl zubereitet hätten, wonach ihm gerade der Sinn stand. Außerdem... Pizza gehörte nicht zu den typisch traditionellen chinesischen Speisen, er hatte sie noch nie probiert. "Oder chinesisches Takeaway?" Ryu grinste. Natürlich hielt er das alles für einen ungemein komischen Witz. Er wusste ganz genau, was der junge Chinese von diesem Takaway-Essen hielt, seit er es einmal in Amerika probiert hatte. Aber Rens Gesichtsausdruck war einfach zu köstlich, er ließ sich, wenn vielleicht nur unbewusst, immer so schön aufziehen! "Dafür..." begann Ren und griff langsam in seine Mantelinnentasche. Er sah, wie Horo Horo hinter Ryu heftig zusammen zuckte und ärgerte sich über dessen Reaktion. Aber es machte einfach zu viel Spaß, sich mit Ryu ein Wortduell zu liefern. Besonders nach den letzten achtundvierzig Stunden, da ihn wieder jemand ohne Vorurteile behandelte. "...habe ich DIES hier!" Triumphierend hielt er ein kleines schwarzes Gerät in die Luft. Horo Horo kippte nach hinten, während Manta anerkennend pfiff. Er erkannte gute Technik, wenn er sie sah. "Ein Handy?" Ryu zog eine Augenbraue in die Höhe und grinste noch breiter. "Wusste gar nicht, dass ihr alten Chinesen auch so was habt." "Stammt ja auch aus Taiwan." Ren drehte sich nun endgültig um, schlich auf nassen Socken Richtung Waschraum davon. Dabei umfasste er das Handy stärker, von dem plötzlichen Gefühl übermannt, mit seiner Schwester Kontakt aufnehmen zu müssen. Eigentlich hätte er das schon viel eher getan, aber der Vorfall ließ ihn zögern. Sie würde es merken, ja, sie war viel zu intelligent, um nicht zu fühlen, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Wie würde sie reagieren, wenn sie es heraus fand? Wenn sie erfuhr, dass er beinahe einen Freund erwürgt hätte? Würde sie ihn dafür verachten? Wie auch immer, er sehnte sich nach ihr und wollte einfach wieder ihre Stimme hören, selbst wenn erst eine halbe Woche seit seiner Abreise vergangen war. Tao Ren, der Erbe der mächtigen Tao Dynastie, benimmt sich wie ein Baby. Lange schaute er auf das Handy in seinen Händen und wunderte sich, warum ihm das mit einem Mal egal war. "Mach endlich, dass du hier raus kommst, Yoh! Du tropfst mir hier alles voll!" scholl Annas genervte Stimme im nächsten Moment durch das ganze Haus. "Und das gilt auch für dich, Manta-kun! Setzt dich hier in deinen nassen Klamotten an den Tisch und fährst in Seelenruhe deinen Rechner hoch! Ab ins Bad, sonst gibt's keinen Kirschkuchen!" Sofort kam Bewegung in das Wohnzimmer. Ren lächelte leicht, als er das Päckchen und das Handy auf die Waschmaschine stellte und sich seines nassen Mantels entledigte. Ja, er würde seine Schwester erreichen, aber nicht jetzt. Annas Wutausbrüche waren gefürchtet und amüsant zugleich, besonders, wenn man nicht in ihrer Schusslinie stand. *** Horo Horo beeilte sich mit seinem Drachen, aber so recht mochte ihm das nicht gelingen. Da Annas Haushalt nicht auf sechs bastelwütige Jugendliche ausgerichtet war, besaßen sie auch nur drei Scheren. Irgendwie war es dem jungen Ainu nicht gelungen, an eine Schere zu gelangen, bevor Ryu seinen Drachen fertig gestellt hatte. Der junge Mann hatte sich wirklich Mühe gegeben, der Drache ähnelte sogar im Aufbau ein wenig einem Motorrad. Horo Horo konnte nicht erwarten, ihn in die Lüfte steigen zu sehen. Den ganzen Nachmittag hatten sie an dem großen Tisch im Wohnzimmer gesessen und fleißig gearbeitet. Annas Kirschkuchen war eine schmackhafte Unterbrechung, in der sich Horo Horo mit Manta über die Techniken des Klebens verplappert hatte - und trotzdem alles falsch verstanden hatte. Irgendwie wollte dieser ganze Mist nicht halten! Dabei hatte er sich wirklich so viel Mühe gegeben! Das hellblaue Papier fiel erneut von dem Holzrahmen ab und Horo Horo spürte, wie sich Tränen in seinen Augen bildeten. Die anderen waren bereits in das Bad vorgegangen, während sich Anna freiwillig um das Abendbrot kümmerte. Wie gern würde Horo Horo jetzt bei ihnen sein! Aber erst musste er diesen dummen Drachen fertig stellen, sonst würde ihn Ryu nur wieder auslachen. Nein, er wollte dies allein schaffen! Kororo setzte sich wieder auf seine Schulter, als wollte sie ihn trösten. Aber sie konnte ihm auch nicht helfen, denn er hatte noch nie von einem Drachen gehört, der ohne Leim, dafür aber mit Eis und Schnee hielt. Aber Schnee ist zu schwer, den krieg ich nicht in die Luft! "Verdammt!" Horo Horo schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, wobei er den klebrigen Becher umschüttete. Hilflos musste er mit ansehen, wie sich der Leim auf seinem Drachen ausbreitete. Nein... "Horo-kun?" Die Stimme ließ ihn heftig zusammen zucken. Verschreckt sah er auf und seine Augen weiteten sich ängstlich, als er die dunkle Gestalt an der Tür stehen sah. Ren trug nun einen schwarzen Bademantel, wirkte darin aber immer noch bedrohlich. Vermutlich wollte er gerade baden gehen, hatte aber bemerkt, dass sein Opfer nicht anwesend war. Vielleicht will er mich dieses Mal ja ertränken... "Yoh-kun will wissen, wie lange du noch brauchst und ob wir dir helfen sollen." Helfen? Horo Horo starrte auf seinen verklebten Drachen und schluckte hart. Da kann mir wohl niemand mehr helfen! "Noch ein bisschen. Und jetzt hau ab!" meinte er unwirsch und beugte sich wieder über sein misslungenes Werk, um Ren nicht länger anschauen zu müssen. Hunde sahen die Angst des anderen im Blick, vielleicht konnte das diese Killermaschine auch! "Ein bisschen?" Ren, dem Horo Horos ablehnende Haltung nicht entgangen war, trat dennoch zu dem Tisch hinüber und sah sofort das unglückliche Häufchen Elend, das dort ausgebreitet lag. "Schaut mir fast so aus, als müsstest du neu anfangen." "Na und? Was geht dich das an!" fauchte Horo Horo, aber seine Stimme klang verzweifelt. Er griff unter den Tisch und zog einen von Annas Putzlappen hervor. Mit diesem wischte er hektisch über das blaue Papier, um wenigsten den Leim loszubekommen. Dabei blieb eine Ecke an dem Stoff hängen und riss. Verdammt! Horo Horo wollte gerade das ganze Gebilde nehmen und gegen die nächste Wand werfen, als er plötzlich eine kalte Hand auf der seinen spürte. Beinahe hätte er aufgeschrieen, als er in ihr Rens Hand erkannte. Was macht er jetzt? Was soll das? Wo ist Yoh-kun? "Hör auf, du machst ja alles völlig kaputt!" Ren schob Horo Horos Hand beiseite und nahm neben dem völlig verdutzten Ainu Platz. Kororo sah ihn warnend an, als würde sie ihn beißen, sollte er noch einmal Hand an ihren Herrn anlegen, Ren ignorierte sie einfach. "Ein wenig mehr Geduld würde dir ganz gut stehen, Horo-kun." Der junge Chinese befasste sich nun mit dem Leim, den er Stückchen für Stückchen vom Papier wischte. "Als ob du was davon verstehen würdest!" "Ein guter Jäger ist immer sehr geduldig." Ren verdrehte seine Augen, als Horo Horo versuchte, weiter von ihm fort zu rutschen und sich dabei schützend an den Hals fasste, wo noch immer ein Tuch die hässlichen Flecke verdeckte. "Das sollte ein Scherz sein, Horo-kun. Ein Scherz!" "Toller Humor, wirklich! Hab selten nicht so gelacht!" Für einen Moment starrten sie einander feindselig in die Augen, dann richtete Ren den gesäuberten Drachen auf. Die abgerissene Ecke hing schief hinunter und der Leim hatte hässliche Flecke hinterlassen. Durch das Loch im Papier konnte Ren erkennen, wie sich Horo Horos Gesicht wieder zu einer Miene des Leidens verzog. Wenn er jetzt weint, krieg ich ne Krise! "Das bekommen wir schon hin." Meinte er statt dessen und blickte sich kurz in dem Zimmer um. Überall hingen nun prächtige Drachen in allen Farben und Formen an den Wänden. "Kram einfach all das Papier zusammen, das noch auf dem Fußboden liegt. Manta hat mit seiner komplizierten Konstruktion nur die Hälfte verwendet und auch von Yoh ist noch was übrig." "Ja, aber..." "Gib schon her!" Ren riss ihm die Fetzen förmlich aus der Hand und griff nach der Schere. Tief holte er Luft, als er sah, wie Horo Horo noch weiter von ihm fort rutschte und seine Hände zu einem Ball formte. Beim kleinsten Verdacht würde er ihn mit Schneebällen bewerfen, so viel war klar. "Ich glaube nicht, dass du Herzchen drauf haben willst, oder?" Ren schnitt in Yohs Papier, das aus verschiedenen Brauntönen bestand. In der Mitte des braunen Drachens thronte ein orangefarbenes japanisches Schriftzeichen, ein >A<. Yoh behauptete den ganzen Nachmittag über, dass es >Apfel< heißen sollte, seine Lieblingsfrucht. Natürlich glaubte ihm niemand und Anna war sogar ein klein wenig errötet. "Kannst du das denn damit wieder reparieren?" Horo Horo vergaß für einen Moment seinen geplanten Angriff und lehnte sich wieder leicht vor, als Ren ein großes Viereck vorsichtig über das Loch klebte und geschickt um die Holzverstrebungen wickelte. "Sonst würde ich das ja wohl kaum machen, oder?" Ren legte den Drachen zurück auf den Tisch und betrachtete kurz sein Werk. Immerhin würde er jetzt halten, aber dafür sah er sehr seltsam aus, wie ein angefressener Käse. Das lässt sich ändern! Entschlossen nahm er auch noch die anderen Reste und schnitt Streifen, Quadrate, Dreiecke und andere Formen aus, die ihm gerade einfielen und klebte diese bunt verstreut auf den blauen Untergrund. Ja, das sah schon viel besser aus! Horo Horo betrachtete ihn mit stummer Überraschung. Er hätte nie gedacht, dass aus diesem hässlichen Stück Papier, das er die letzten Stunden erfolglos bearbeitet hatte, doch noch ein ansehnlicher Drache werden könnte. Und das noch innerhalb kürzester Zeit! "Woher kannst du das so gut?" Die Frage rutschte ihm heraus, bevor er sie verhindern konnte. Kurz sah Ren auf, dann klebte er ein Viereck in die untere Ecke. "Meine Schwester hat mich damit jeden Herbst genervt." Gab er schließlich zu und spürte, wie ihm erneut diese grässliche Hitze ins Gesicht stieg. "Jedes Jahr mindestens drei neue Drachen, bis ich's nun fast im Schlaf beherrsche." Horo Horo blinzelte. So richtig konnte er sich nicht vorstellen, dass Ren als kleiner Junge mit etwas anderem als mit seiner Sense gespielt hatte. Seine Gedanken waren deutlich auf seinem verdutzten Gesichtsausdruck zu lesen. "Jun war die einzige, die in mir ein normales Kind gesehen hat, also hat sie auch nur normale Sachen mit mir gemacht." Ren lächelte schwach, schnitt einen Kreis aus, den er dann in der Mitte platzierte. "Anfangs hab ich sie dafür gehasst..." ... jetzt liebe ich sie dafür. Ren sprach die Worte nicht aus, statt dessen betrachtete er sein Werk noch einmal skeptisch und fügte zu den Figuren hier und da noch kleinere Schnipsel hinzu. Horo Horo konnte die stumme Botschaft dennoch hören. Eine Killermaschine, die ihre Schwester mag? Der junge Ainu betrachtete seinen Drachen, der nun doch mit den anderen in die Lüfte steigen würde, nachdenklich und holte schließlich tief Luft. "Anna-san hat mir gesagt, dass ich deine Schwester mit den Frühlingsrollen beleidigt habe. Das hätte ich nicht tun sollen." Flüsterte er schließlich. Es war keine Entschuldigung, Ren akzeptierte sie dennoch. Langsam erhob sich der junge Chinese und korrigierte seinen Bademantel. "Ich sollte mich besser unter Kontrolle haben." Meinte er tonlos, ging hinüber zur Tür. "Beeil dich, sonst sind die anderen ohne dich mit ihrer Wasserschlacht fertig." "Hai..." Horo Horo starrte noch einen Moment auf den leeren Türrahmen, dann auf seinen Drachen. Vorsichtig, um ihn nicht doch noch zu zerstören, hob er sein Schmuckstück auf und hängte es neben die anderen Drachen an die Wand. Gerade als er dem jungen Chinesen folgen wollte, fiel ihm auf, was Ren da für ihn auf den Drachen geklebt hatte: In der Mitte befand sich eine Kugel, die wohl die Sonne symbolisierte. Um sie herum befanden sich kleine Wesen, die Kororo unglaublich ähnelten. Sie flogen fröhlich über dreieckigen Bäumen, vermutlich Tannen, her und spielten mit Vögeln, die ein wenig viereckiger geworden waren als sie es in der Realität waren. Nani? Horo Horos Kinnlade klappte nach unten und für einen Augenblick stand er wie vom Donner gerührt da. Das war der beste Drache, den er jemals gehabt hatte, der genau das aussagte, was während des Shaman Fights sein größter Traum gewesen war, den er sich nun langsam mit seiner Schwester im Norden Japans verwirklichen wollte. Nani? Dieser Drache war perfekt. Und er war von Tao Ren gebaut worden, seinem ärgsten Feind. *** Behände sprang Ren auf das Dach der kleinen Gruft und atmete tief die frische Nachtluft ein. Der Regen hörte vor etwa einer Stunde auf, langsam riss die Wolkendecke auf. Vielleicht hatte er Glück und sah in dieser Nacht noch ein paar Sterne glitzern. Natürlich würden sie nicht so schön und intensiv strahlen wie in China, aber das würde er einfach akzeptieren müssen. Das hier ist Yohs Lieblingsplatz. Ren sah sich auf dem dunklen Friedhof um und verstand auch, warum. Hier gab es keine Gefahren, nur Stille und Ruhe. Selbst die Geister hatten sich in ihre Gräber zurück gezogen. Dasselbe hätte Bason vermutlich auch gern getan, aber Ren hatte die kleine Totentafel mitgebracht, heute Nacht bräuchte er Basons Kräfte, wenn auch nicht zum Kämpfen. Behutsam stellte er das kleine Päckchen neben sich auf das kalte Dach und wickelte es vorsichtig aus. Zum Vorschein kam eine kleine Pflanze, eine rote Pflanze. Gut, nun können wir beginnen. Ren lehnte sich zurück, schloss seine Augen und konzentrierte sich. Normale Menschen hätten vermutlich das Telephon oder die Post benutzt, um ihre lieben Anverwandten zu erreichen, Ren war jedoch nicht normal. Nein, seine ganze Familie war vollkommen unnormal, denn sie bestand aus Schamanen und Totenbeschwörern. Jun? Ren befreite sich von all seinen Gedanken und fokussierte seinen Blick in die Dunkelheit, die ihn immer mehr zu umgeben schien. Irgendwo hier würde er sie treffen, auch wenn sie gerade schlief und ihn dadurch womöglich nicht direkt wahr nahm. Wenn sie am nächsten Morgen aufwachte, würde sie jedoch wissen, dass er da gewesen war und dass es ihm gut ging. Hoffentlich kriegt das Ryu-kun nicht raus, sonst wird er mich für den Rest meines Lebens aufziehen, dass die Taos verhinderte Anrufbeantworter sind. Er lächelte leicht und spürte den sanften Wind, der in der Geisterwelt, wie auch in der Welt der Lebenden gleichermaßen wehte. Jun? Schon als er ganz klein gewesen war, hatte Jun ihm diese Technik gezeigt. Eigentlich war dies ein Verfahren, das nur Totenbeschwörer verwendeten, um ihre Zombies aus dem Reich der Toten zu rufen, aber es konnte auch zwischen lebenden Wesen funktionieren, wenn diese eine sehr enge Bindung hatten und zudem über übernatürliche Kräfte verfügten. Ren wusste, dass er Geister beschwor, seine Schwester hingegen Tote wieder auferstehen ließ. Niemals durfte er ihre Kräfte missbrauchen, ihre Zaubersprüche konnten ihn zerstören. Aber diese kleine Formel war harmlos, wenn er sie nur auf seine Schwester anwandte. Jun? Zu Beginn war es ihm sehr schwer gefallen, weil er seine Schwester verabscheute und diese Verbindung nur nutzte, um ihr noch gemeinere Schimpfwörter an den Kopf zu werfen. Über die Jahre wurde es jedoch immer einfacher für ihn, er brauchte lediglich ein wenig Ruhe um sich herum und einen klaren Kopf. Jun? Er glaubte, in der Dunkelheit um sich herum einen Schatten erkennen zu können und streckte seine Arme danach aus. Jun? Ich bin's, Ren. Die Gestalt drehte sich zu ihm um und die Geisterwelt explodierte um ihn herum. Heftiger Schmerz fuhr durch seinen Körper, alles verschwamm vor seinen Augen und er spürte, wie er zur Seite kippte und über das Dach rutschte. Aber das war ihm egal. Statt dessen schlang er seine Arme um seinen Oberkörper, der mit jedem Herzschlag zu zerbersten schien. Ihm wurde speiübel und glaubte, im nächsten Augenblick Annas phantastisches Abendbrot erbrechen zu müssen. Was ist das? Schweiß brach auf seiner Stirn aus und er stöhnte gequält auf, als sein Gehirn aus seinen Ohren kriechen wollte. Bason rief ihm irgendetwas zu, aber er konnte ihn nicht verstehen, konnte das Gesicht des toten Kriegers nur schemenhaft erkennen. Da packten ihn plötzlich zwei Hände, als seine Beine schon über die Dachrinne rutschten, und hielten ihn zurück. Mit einem Mal war die Verbindung zur Geisterwelt gebrochen, die unsagbaren Schmerzen verschwanden, nicht jedoch die Erinnerungen daran. Was ist passiert? >Meister?< "Ren?" Der junge Chinese hob seinen Kopf, der sich noch immer unglaublich schwer anfühlte und blickte direkt in Yohs besorgtes Gesicht. Die Haare hingen ihm wirr in seine dunklen Augen, sein Kopfhörer fehlte. "Alles in Ordnung mit dir? Ist dir nicht gut?" Yoh kramte ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und fuhr damit über Rens Gesicht, das im Licht des aufgehenden Mondes vor Schweiß glänzte. Gelbe Augen starrten ihn schreckgeweitet an und der junge Chinese zitterte am ganzen Körper, obwohl er in seinen wärmenden Mantel gehüllt war. "Bist du ok, Ren?" fragte Yoh erneut und half seinem Freund, sich aufzurichten. "Bason hat deinen Namen gerufen und da bin ich herüber gekommen." Yoh war die ganze Zeit schon auf dem Friedhof gewesen. Heute war Amidamarus Todestag und er hatte seinen Geist zu seiner Grabstätte begleitet. Gemeinsam hatten sie über die Toten gewacht und Ren kommen gehört. Da Yoh glaubte, dass der Junge in Ruhe hatte nachdenken wollen, blieb er unbemerkt im Schatten sitzen und leistete Amidamaru Gesellschaft in dessen nachdenklichem Schweigen. Als Bason jedoch mit Panik in der Stimme den Namen seines Herrn gerufen hatte, reagierte Yoh blitzschnell. Er wusste, dass die Geister ihre Menschen immer beschützten, aber auch Geister waren nur Geister, sie konnten einen menschlichen Körper nicht vor dem Fall bewahren. "Ich..." Ren atmete tief durch und verbarg sein Gesicht in seinen zitternden Händen. Er wollte nicht, dass ihn jemand so sah, besonders nicht Yoh. "Ich habe versucht, mit meiner Schwester Kontakt aufzunehmen, aber..." Er schluckte hart. "Aber es hat nicht funktioniert. Vielleicht... vielleicht hab ich mich nicht richtig konzentriert." Oder war diese Formel der Totenbeschwörer für ihn als Schamane doch gefährlicher, als er bisher geglaubt hatte? Jun hatte ihn doch immer wieder davor gewarnt, ihre Zaubersprüche nachzuahmen, da diese im schlimmsten Fall seinen Körper zerstören konnten. Bisher hat das doch immer funktioniert! Ren gab ein frustriertes Geräusch von sich und ließ sich wieder nach hinten auf das Dach fallen. "Vermutlich hat Ryu-kun Recht und ich sollte es mit dem Telefon versuchen, so wie andere Leute auch." Yoh lächelte bei seinen Worten und streckte sich ebenfalls neben ihm auf dem Dach aus. Die Wolken rissen tatsächlich auf und er genoss den Anblick eines jeden Sternes, der in der Nacht zu leuchten begann. "Ist das eine Aster?" fragte er nach einem Seitenblick auf die Pflanze, die am anderen Ende des Daches stand. "Ja." Ren schloss seine Augen und fühlte, wie sich sein Körper allmählich wieder erholte. Noch immer schlug sein Herz wie wild in seiner Brust, aber das unkontrollierte Zittern hörte langsam auf. Tief atmete er ein und aus. Bestimmt hatte er sich nicht richtig konzentriert oder die falsche Formel angesagt. Wäre ja kein Wunder nach all dem, was die letzten Tage geschehen war. "Das ist die Lieblingsblume meiner Schwester." "Sie ist schön." Für die nächste halbe Stunde blieben sie einfach so auf dem Dach liegen, Seite an Seite, und betrachteten im angenehmen Schweigen die Sterne. "Danke, Ren." Durchbrach Yoh schließlich die Stille und lächelte Amidamaru zu, der sich zu ihnen gesellte und ebenfalls zum klaren Firmament empor schaute. "Wofür?" Der junge Chinese konnte sich nicht daran erinnern, dass er in den vergangen Tagen auch nur eine Tat vollbracht hatte, die ihm ein Lob einbringen könnte. "Horo-kun hat den ganzen Abend so stolz ausgesehen, wie sein fertiger Drache neben den anderen hing." Ren bedeckte sein Gesicht mit seinem Arm, als er erneut die verräterische Wärme spürte. "Ach das." Murmelte er gedämpft unter dem dichten Stoff. "War doch nur eine Kleinigkeit." Yoh grinste wissend. *** "Yoh? Ren? Manta-kun? Kommt ihr?" Annas Stimme war nicht zu überhören und diverse Gestalten huschten eilig durch die Korridore des alten Hauses. Papiertüren wurden vorgeschoben und wieder geschlossen. Manta hackte noch rasch ein paar Daten in seinen Computer, während Yoh seinen Schal nicht finden konnte. Der Tag hatte mit strahlendem Sonnenschein begonnen und es wehte ein gerade zu perfekte Drachensteigenwind. Aber gerade diese frische Brise konnte ganz schön kalt werden und Yoh mochte es nicht sonderlich zu frieren. "Yoh? Ren? Manta-kun? Wir wollen los!" Ren stellte die Blume liebevoll auf seinen Futon, lehnte seinen alten Teddy dagegen. Behutsam fuhr er mit seiner Hand drei Mal darüber und ein silbriges Leuchten umgab die Aster für den Hauch einer Sekunde. Geschafft. "Yoh? Ren? Jetzt schlaft nicht ein!" Yoh polterte laut die Treppe hinunter, seinen Schal triumphierend über seinen Kopf haltend. "Bin ja schon da." *** Es war perfektes Herbstwetter. Der frische Wind wirbelte das Laub umher, während sie durch den Park liefen, um auf der großen Wiese ihre Geschicklichkeit zu erproben und den Elementen der Natur zu strotzen. Einige Wolken zogen am Himmel vorbei, aber sie waren nicht mächtig genug, um ihre nasse Ladung auf sie zu werfen. Laut Wetterbericht würden sie bis in die späten Abendstunden mit Regen verschont bleiben. Es waren die perfekten Drachen. Jeder trug stolz sein Meisterwerk vor sich her, an dem hier und da der Wind schon ein wenig zerrte. Sie würden sie aber erst steigen lassen, wenn sie die große Wiese erreicht hatten. Es wäre zu schade, wenn sich einer der Drachen in den hohen Bäumen verfing und zerbrach. Sie alle hatten immerhin stundenlang an ihren Lieblingen gearbeitet. Ja, alles war perfekt. Yoh grinste und kaum, dass sie die Wiese erreicht hatten, wickelte er ein wenig Schnurr von der Rolle und ließ seinen Drachen steigen. Einen Meter, zwei Meter... Bruchlandung. "Muss wohl noch ein wenig üben." Kicherte er und ignorierte Annas strengen Blick. Dem >A-Drachen< sollte ja nichts geschehen, das hatte sie ihm gestern Abend schon gesagt. Ryu verlor erst gar nicht viele Worte, sondern lief quer über die Wiese, obwohl sein Drachen wohl eher von der Geschwindigkeit, als vom Wind hinter ihm exakt fünfzig Zentimeter über dem Boden flog. "Anfänger." Murmelte Ren und breitete seinen Drachen fachmännisch aus. Bald darauf stieg eine >schwarze Gewitterwolke<, die Ryu den dunklen Drachen spöttisch genannt hatte, hoch in den Himmel hinauf. Mehrere Augenpaare richteten sich verwundert auf ihn, bevor die anderen ihre Bemühungen umso mehr verstärkten. "Wie machst du das?" Horo Horo kämpfte sichtlich mit seinem Drachen, der wohl doch ein wenig zu groß geraten war. Ein Windstoß riss den Jungen fast von den Füßen und er strauchelte über das Gras, bis der Drachen wieder zu Boden stürzte. Der junge Ainu sank auf seine Knie und verdrehte seine Augen, als ein kleines Eichhörnchen angesprungen kam und ihn und seinen Drachen skeptisch betrachtete. "Einfach den Wind fühlen." Erwiderte Ren, der das Eichhörnchen interessiert betrachtete. Solche Geschöpfe gab es bei ihm in China nicht. Gegen seinen Willen musste er zugeben, dass es niedlich aussah. "Den Wind fühlen!" schnaufte Horo Horo und warf dem Eichhörnchen eine kleine Nuss zu. Ren fragte nicht weiter, vermutlich gehörte so etwas zu der Grundausstattung eines Ainu. Das kleine Tier ergriff die ihm dargebotene Frucht vorsichtig, knabberte prüfend daran und verschwand so schnell wieder im Dickicht der Bäume wie es gekommen war. "Ja. Du musst immer mit ihm arbeiten, sonst fällt dein Drache immer wieder zu Boden und geht kaputt, wenn du nicht aufpasst." "Sprichst du aus Erfahrung?" "Ja, aus fünfzehn zerstörten Drachen." Horo Horo hob erstaunt seine Augenbrauen, als Ren sich umdrehte und die schwarze Gewitterwolke noch höher stieg. Bald hatte der junge Chinese das Ende seiner Rolle erreicht und sein Drache thronte weit über den Baumwipfeln. "Deine Schwester war ja ungemein geduldig." "Nein, nur dickköpfig." Muss wohl in der Familie liegen. Horo Horo wagte jedoch nicht, die Worte auszusprechen. Er wollte Ren nicht wieder verärgern, besonders nicht, nachdem er ihm einen so schönen Drachen gebaut hatte. Also nahm er das Kunstwerk mit den Pokkurus wieder auf und tat es Ryu nach, ein wenig über die Wiese zu laufen. Yoh und Anna stritten gerade, offensichtlich hatten sich die Schnüre ihrer Drachen verheddert. Ryu freute sich für einige Momente, bis sein Drachen wieder abstürzte und Manta zog seinen Computer zu Rate. Ja, es war ein perfekter Tag. Wenn er doch nur besser das Drachensteigen beherrschen würde! Horo Horo zerrte an der Leine und tatsächlich! Sein Drache wurde wie von unsichtbaren Händen nach oben gezogen! Freudig blickte er über seine Schulter - und sah, dass Kororo sich redlich abmühte, um das schwere Holzgestell in der Luft zu halten. "Lass das!" murmelte Horo Horo beschämt. Er wusste zwar, dass seine kleine Pokkuru es gut meinte, aber die anderen ließen sich auch nicht von übernatürlichen Wesen helfen. Er musste es allein schaffen. Kororo gab einen beleidigten Laut von sich, bevor sie den Drachen los ließ und zu Amidamaru hinüber flog, der sich gerade Ryus Bemühen ansah und den jungen Mann gemeinsam mit Tokageroh kräftig anfeuerte. Gegen Horo Horos Erwarten krachte sein Drache dieses Mal nicht zur Erde, sondern ein Windstoß ergriff ihn und nahm ihn mit sich. Dem jungen Ainu wurde beinahe die Schnurr aus den Händen gerissen. Fest stemmte er seine Füße in den Boden, wild entschlossen, sich dieses Mal nicht besiegen zu lassen. Hah, ich kann das auch! Da riss die Schnurr und der Drache, sein wunderschöner Drache, segelte herrenlos davon. Nein... Horo Horo formte einen Schneeball in seinen Händen, ließ es dann aber bleiben. Was brachten ihm Schnee und Eis, wenn er damit nur das Papier zerstörte? Und er wollte seinen Drachen nicht kaputt machen, war es doch so schwer gewesen, ihn zu bauen! "Was gibt's?" Ren blickte kurz von seinem Drachen, der seit nunmehr zehn Minuten ohne Unterlass in der Luft thronte zu dem jungen Ainu, der an ihm vorbei hechtete. "Scher dich um deinem eigenen Kram!" zischte dieser und fluchte, als der Drache die Bäume erreichte -und prompt im Geäst hängen blieb. Kurz sah sich Horo Horo um, aber Kororo wandte ihm entschieden den Rücken zu. Sie war beleidigt, weil er sie so grob fortgeschickt hatte. Also sollte er auch selbst mit seinen Problemen fertig werden! "Von mir aus!" knirschte er zwischen zusammen gebissenen Zähnen und machte sich daran, auf den Baum zu klettern. Für einen Moment überlegte er, ob es nicht einfacher war sich eine Treppe aus Eis zu erschaffen, entschied sich dann aber dagegen. Seine Freunde hätten das bemerkt und er wollte nicht, dass Ryu für den Rest des Tages Witze darüber riss, dass er keine Kontrolle über seinen Drachen hatte. Gut, gerade stürzte Ryus Motorrad-Drache ebenfalls wieder auf die Wiese, aber wenigstens hatte er sich nicht in den Bäumen verfangen. Horo Horo griff nach dem nächsten Ast und schwang sich nach oben. Ein wenig kam er sich wie ein Affe vor, verwarf den Gedanken jedoch, als seine Hand abrutschte und er für eine Schrecksekunde in der Luft hing. Dann fand seine andere Hand einen festeren Griff und er klammerte sich daran. Der Baum zitterte leicht und bunte Blätter segelten an Horo Horos Gesicht vorbei. Nicht unterkriegen lassen! Der junge Ainu kaute entschlossen auf seiner Lippe herum, während er sich auf den Ast zog und vorsichtig darauf seine Schuhe platzierte. Kurz wippte er, um festzustellen, ob das Holz sein Gewicht trug, dann streckte er seine Arme aus, konnte mit den Fingerspitzen seinen Drachen bereits erreichen. Nur noch einen Zentimeter! Weit beugte er sich vor, glaubte, dass seine Hände zu wachsen schienen. Nur noch einen Millimeter! Der Ast unter ihm knackte und brach. Horo Horo schrie erschrocken auf, als er plötzlich jeglichen Halt verlor und kopfüber nach vorn stürzte, direkt in seinen Drachen hinein. Er hörte, wie Papier riss und wusste mit schmerzlicher Gewissheit, dass er es soeben geschafft hatte. Sein wunderschöner Pokkurus-Drache war zerstört. Nein! Sein Fall wurde abrupt gestoppt, Schmerz furch durch seine Arme und seinen Hals. Nani? Horo Horo pustete sich einen Papierfetzen, der einst eine Tanne dargestellt hatte, aus dem Gesicht und drehte den Kopf. Sofort verstärkte sich der Schmerz in seinem Hals, schnürte ihm die Luft ab. Der junge Ainu brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, was seinen Fall abgefangen hatte: Die Schnüre, mit denen der Drache in der Luft gelenkt werden sollte. Sie hatten sich um seine Arme gewickelt, schnitten tief in seine weiße Jacke, durchbrachen den Stoff zum Glück nicht. Sobald er sich aus dieser misslichen Lage befreit hatte, würden nur noch ein paar blaue Flecke an diese Schrecksekunden erinnern. Nun, auf die paar Flecken mehr kam es ja nun auch nicht mehr an... Horo Horo ballte seine rechte Hand und erzeugte in ihr eine Eisstange. Mit ihr würde er die Fesseln schon durchschneiden und sicher zur Erde springen können. Und wenn das nicht funktionieren sollte, dann fror er eben die Schnur ein, bis diese brach und ihn frei gab. Das klang doch gar nicht so schwer. Schließlich hatte er während des Shaman Fights schon weitaus gefährlichere Situationen überlebt. Aber bestimmt keine weitaus peinlicheren Situationen... Horo Horo schluckte schwer und der Schmerz in seinem Hals verschlimmerte sich. Gewiss würde er gleich weinen, hatte er doch den stolzen Drachen mit seiner Ungeschicklichkeit vernichtet! Mein schöner Drache... Horo Horo nestelte mit dem Eiszapfen an der Schnur und ein Teil riss. Er wurde wieder ein paar Zentimeter nach unten befördert, blieb aber erneut hängen. Natürlich, sein anderer Arm war ja noch gefangen! Gerade wollte er sich in seinem Spinnennetz drehen, als es ihm mit einem Mal unmöglich war zu atmen. Für einen Moment blinzelte er verwirrt, bevor seine freie Hand den Zapfen fallen ließ und an seinen Hals schnellte. Über dem Halstuch konnte er deutlich die Schnurr spüren, die sich um seine Kehle schlängelte, ihm die Luft abdrehte. Nani? Heftig zerrte er daran, versuchte, seinen anderen Arm zu befreien, es war jedoch sinnlos. Wild erschuf er einen Eiszapfen nach dem anderen, konnte aber keinen Angriffspunkt entdecken. Zu tief hatte sich die Schnur bereits in das Tuch eingearbeitet, das bald durchnässt war. Allein würde er wohl nicht mehr frei kommen. Yoh-kun! Horo Horo röchelte nach Luft, bekam aber kaum mehr welche in seine Lungen, die zu brennen begannen. Anna-san! Ryu-kun! Manta-kun! Sein Blick verschwamm und er glaubte, etwas Grosses vom Himmel fallen zu sehen. Halluzinierte er schon? Der Himmel konnte doch wohl kaum einstürzen, das wusste jedes Kind! Im nächsten Moment packten ihn zwei Arme und er wurde ein wenig nach oben gehoben. Die Schlinge um seinen Hals lockerte sich um einige Millimeter, die jedoch kaum zum Atmen ausreichten. Hustend sog er nach Luft, hob seinen Blick, um zu sehen, was nun geschah. Yoh-kun? "Halt still, du Idiot!" zischte eine tiefe Stimme und Horo Horos Augen weiteten sich, als er die Klinge im fernen Tageslicht blitzen sah. Der Tao Erbe! Horo Horo strampelte panikartig mit seinen Beinen und seine freie Hand versuchte, das Messer zu ergreifen, das der junge Chinese über seinen Kopf hielt. Nein, da wollte er lieber hier an seiner eigenen Ungeschicklichkeit ersticken, als von dieser Killermaschine erstochen zu werden! "Hör auf, so zu zappeln! Wie soll ich dich sonst frei bekommen!" Ren verstärkte seinen Griff um Horo Horos Oberkörper und hoffte, dass der Ast, auf dem er stand, ihre beiden Gewichte aushielt. Erst hatte er den jungen Ainu klettern lassen, immerhin hatte ihn dieser angeschnauzt, dass er sich um seine eigenen Angelegenheiten scheren sollte. Als Horo Horo aber in seinen Drachen stürzte und anschließend von dem Baum nicht mehr herunter kam, war Ren nachschauen gegangen. Gerade noch rechtzeitig, denn dieser Tollpatsch schien es sogar zu schaffen, sich mit einem Kinderspielzeug zu erwürgen. Wie wollte der jemals Shaman King werden? Ren hatte ohne zu zögern sein Messer gezogen, um ihn zu befreien. Ja, seine Sense hatte er Yoh zur Verwahrung gegeben, aber völlig unbewaffnet lief er nicht durch die Welt. Schließlich wusste man nie, welche Situation auf einen zu kam. Wie eben diese hier. Von Zeit zu Zeit musste man wohl Freunde von den Bäumen schneiden, obwohl Horo Horo ganz anderer Meinung war. Seine Augen waren weit vor Angst und er dachte wohl eher, dass Ren ihn lieber abschlachten denn befreien würde. "Verdammt, ich will dir doch nur helfen!" zischte der junge Chinese und hielt das Messer an Horo Horos Kehle. Die Hand, die noch eben sein Handgelenk umklammert hatte, erschlaffte und der junge Ainu schloss seine Augen. Zwei Tränen rannen über seine bleichen Wangen, während seine Atmung immer flacher wurde. Entweder hatte er sich in sein Schicksal ergeben oder der Sauerstoffmangel brachte seine Abwehr zum Erliegen. Ren kümmerte sich nicht weiter drum, dafür hatten sie keine Zeit. Vorsichtig fuhr er mit der Klinge unter den blauen Stoff und spannte seinen Arm. "Keine Bewegung jetzt." Flüsterte er, denn er wollte den Jungen in seinem Arm nicht verletzten. Horo Horo reagierte nicht und seine Atmung schien auszusetzen. Ren konzentrierte sich und eine Bewegung später war Horo Horos Hals frei. Der Junge begann, hingebungsvoll nach Luft zu schnappen, verschluckte sich natürlich und hustete. Hilflos griff er sich mit seiner freien Hand an den Hals und begriff erst jetzt, wie nah er dem Erstickungstod wirklich gewesen war. Er bemerkte kaum, wie sein anderer Arm ebenfalls frei kam und er von seinem kaputten Drachen auf einen Ast gezogen wurde. Ein starker Arm hielt ihn vom Fallen ab, während jemand behutsam auf seinen Rücken klopfte, um den Husten zu lindern. Mein Gott... Horo Horo schluckte hart und ganz allmählich konnte er wieder normal atmen. Ungläubig tastete er seinen Hals ab, aber er konnte keine Schnittwunde feststellen. Nicht einmal den geringsten Kratzer. Verwundert wandte er seinen Kopf und sah in gelbe Augen, die ihn unverwandt anstarrten. "Jemand sollte dich vor deiner eigenen Tollpatschigkeit bewahren." Meinte Ren. Von dem Messer war weit und breit nichts mehr zu sehen. Horo Horo wusste nichts anderes, als zu nicken. Er wollte dem jungen Chinesen danken, hatte er ihm doch offensichtlich das Leben gerettet. Aber er brachte keinen Ton heraus. Also drehte er sich wieder um und wollte vom Baum klettern, um wenigstens die traurigen Überreste seines Drachen einzusammeln. Als er sich jedoch aufrichten wollte, gehorchte ihm sein Körper plötzlich nicht mehr, seine Beine sackten weg. "Hey, mach langsam!" Ren packte nach ihm und zog ihn vorsichtig in seine Arme. Horo Horo, der nicht noch einmal fallen wollte, wehrte sich nicht. Sein Körper hätte ihn bei der Gegenwehr sowieso nicht unterstützt. "Ein Sturz reicht dir wohl nicht?" Horo Horo schluckte nur, erwiderte nichts. Seine großen Augen blickten nun in die Tiefe und sein Körper begann, wieder zu beben. Dieses Mal war es aber bestimmt nicht die Angst, von dem jungen Chinesen aufgeschlitzt zu werden, sondern einfach die Erkenntnis, was mit ihm hätte passieren können. Tränen traten in die blauen Augen und Horo Horo biss geistesabwesend auf seine bereits blutende Lippe. Und der wollte mal Shaman King werden? Ren war gerade dabei, einen zynischen Kommentar abzugeben, als er sich an einen zwölfjährigen Jungen erinnerte, der in einem Verließ saß und bitterlich weinte, weil seine ganze Welt einzustürzen drohte, weil er erkennen musste, dass sein Vater ihn nicht liebte, sondern sein ganzes Leben lang nur für die dunklen Machenschaften der Dynastie missbraucht hatte. Ein Junge, der einsehen musste, dass er so vieles falsch gemacht hatte, was ihm niemand mehr verzeihen würde. Niemand. Außer seiner großen Schwester... und später seine Freunde... Ich wollte auch immer Shaman King werden, und ich hatte auch Angst. Genauso wie Horo Horo jetzt. Fürchterliche Angst, denn mein Vater wollte mich umbringen. Wer nicht für ihn war, war gegen ihn, und jeder Gegner verdiente in seinen Augen den sicheren Tod. Jun war für ihn da gewesen, hatte ihn getröstet und ihm neuen Mut gegeben. Den Mut, den er gebraucht hatte, um sich gegen seinen Vater weiterhin aufzubegehren - bis Yoh und seine Freunde eintrafen und ihn unterstützten. Letzten Endes war es ihm sogar möglich gewesen, gegen seinen Vater zu bestehen. Ren wusste ganz genau, dass er das nie geschafft hätte ohne die Hilfe seiner Schwester. Horo Horos Schwester ist ganz weit weg... Der junge Chinese betrachtete die zitternde Gestalt in seinen Armen schweigend, bevor er dann genau das tat, was Jun mit ihm getan hatte, um ihn zu trösten und zu beruhigen. Sanft drückte er den völlig verstörten Ainu an sich und strich besänftigend durch blaue Haare, die sich weicher anfühlten, als er das vermutet hatte. "Schon ok." Murmelte er besänftigend und ignorierte den nagenden Gedanken, der ihn verhöhnte, dass er, der große Erbe der Tao Dynastie, sich hier gerade aufführte wie eine Glucke. Horo Horos Gedanken hatten schon vor einigen Minuten ausgesetzt. Er klammerte sich einfach an die Gestalt neben sich, nahm den ihm dargebotenen Trost an. "Ach du meine Güte. Der schöne Drache." Yoh tauchte unter dem Baum auf und betrachtete die Splitter, die überall im noch feuchten Laub verstreut lagen. Dann lugte er zu den zwei Gestalten im Geäst empor. "Alles in Ordnung bei euch da oben? Braucht ihr Hilfe?" Yoh scheint zu spüren, wenn etwas los ist. Vielleicht wäre er gerade noch rechtzeitig zu Horo Horos Rettung gekommen. Ausprobiert hätte das der junge Chinese nicht. Als er den Ainu im Baum hatte baumeln gesehen, hatte er nicht einmal daran gedacht, nach den anderen zu rufen, die Zeit war zu kostbar gewesen, um lange zu zögern. "Horo-kun ist ein kleines Missgeschick passiert, Yoh-kun." Rief Ren hinunter, hörte aus der Ferne Manta und Ryus fröhliches Lachen. Ein leichter Wind fuhr durch Rens schwarze Haare und er konnte durch die bunten Baumkronen Sonnenstrahlen leuchten sehen. Nein, es war noch immer ein perfekter Tag, auch wenn sie nur noch fünf Drachen zur Verfügung hatten. "Wir kommen gleich nach, Yoh-kun." Der junge Japaner schirmte seine geblendeten Augen mit der rechten Hand ab, um besser ins Geäst hinauf schauen zu können. Ren errötete, denn ihm war sehr wohl bewusst, was Yoh sah. Der Junge grinste jedoch nur. "Ist gut, Ren." *** Horo Horos Gedanken wirbelten noch immer durcheinander, als er eine halbe Stunde später von dem Baum kletterte und automatisch die Überreste seines so schönen Drachen einsammelte. Ren half ihm. Ren, der Erbe der Tao Dynastie. Ren, die Killermaschine. Ren, der ihn gerettet hatte... Es ergab alles absolut keinen Sinn, aber Horo Horo fühlte sich momentan nicht in der Lage, die Ereignisse der letzten Stunde auszuwerten. Er würde jetzt einfach hinüber zu den anderen gehen, ihnen beim Drachensteigen zuschauen und sich erst in der kommenden Nacht den Kopf über Tao Ren zerbrechen. "Dein Drache ist kaputt gegangen?" Sofort kam Manta angerannt, einen leise piependen Computer unter seinem Arm. Vermutlich tüftelte er noch immer an der optimalen Flugbahn, denn sehr weit schien er es mit seinem Drachen noch nicht gebracht zu haben. Anna und Yoh dagegen hatten mehr Erfolg gehabt, ihre Drachen flogen Seite an Seite durch die Luft, während Ryu um sie herum jagte. Das Papiermotorrad verfolgte ihn, beharrlich einen Meter über den Boden schwebend. "Das ist aber schade." Der kleine Japaner sah wirklich niedergeschlagen aus. Prüfend betrachtete er die Splitter in Horo Horos Armen, schüttelte dann aber traurig den Kopf. "Da ist auch nix mehr zu machen, das repariert keiner mehr." Kurz sah er auf seine Uhr, vermutlich, um zu sehen, wie lange die Läden noch geöffnet hatten. "Aber wir können dir neues Papier kaufen gehen und heute Abend einen neuen Drachen basteln." Morgen ist doch wieder Regen gemeldet! Horo Horo schluckte erneut und sein Hals tat wieder weh, aber zumindest bekam er Luft. Sein Stirnband lag nun in seinem Nacken, das noch ein wenig feucht war. Ren hatte darauf bestanden, dass er es in Eis schlug und damit seinen Hals kühlte, damit dieser nicht anschwoll. Genauso, wie Anna das vor einigen Tagen getan hatte. "Wenn dir die >Gewitterwolke< nichts ausmacht, zeig ich dir, wie man einen Drachen beherrscht." Sagte Ren mit neutraler Stimme und hob sein schwarzes Ungetüm auf, das er so achtlos fallen gelassen hatte. Kurz überprüfte er die Ecken, aber bis auf eine kleine Delle hatte der Drache den Sturz unbeschadet überstanden. Er brauchte nur wenige Sekunden und schon erhob sich sein Werk über die der anderen, über alle Bäume hinweg. Fröhlich schwebte es im Wind, trotzte stark einem Regen aus bunten Blättern. "Komm schon her!" murrte der junge Chinese ungeduldig und griff nach Horo Horo, der sich ihm nur zögernd genähert hatte. Zerrissenes, blaues Papier fiel ungeachtet ins Gras, als eine Schnurr in die Hände des jungen Ainu gedrückt wurde. Sanfte Hände, die sich vor wenigen Tagen noch so brutal um seinen Hals geschlossen hatten, hielten Horo Horos Gelenke fest und führten seine Hände umher. Und tatsächlich! Der schwarze Drache flog! Unter seiner Führung! Ein Grinsen erschien auf Horo Horos Lippen und sein bleiches Gesicht gewann wieder ein wenig Farbe. "Na, siehste. So schwer ist das doch gar nicht." Brummte Ren, der nicht zeigen wollte, dass er sich darüber freute, den jungen Ainu wieder lächeln zu sehen. Ein lautes Piepen neben ihm ließ ihn aufblicken - und er sah direkt in Mantas bettelnde Augen. Der kleine Japaner hatte seinen Computer ausgeschalten und hielt ihm nun seinen Drachen entgegen, der als einziger oval gestaltet war. "Hilfst du mir auch, Ren-kun?" Jegliche Angst war aus Mantas Mimik verschwunden, hatte einem zögerlichen Vertrauen Platz gemacht. Einem Vertrauen, das Ren nicht noch einmal zerstören wollte. Ist das, was Freundschaft ausmacht? "Sicher." Ren nickte und bewahrte mit einer raschen Bewegung die schwarze Gewitterwolke vor dem Absturz. Horo Horos Wangen röteten sich noch tiefer, während er konzentriert auf seine Lippe biss, dabei immer in den Himmel blickend. Der junge Chinese war vielleicht kein so geduldiger Lehrmeister wie seine Schwester, dennoch erhoben sich die beiden Drachen den gesamten Nachmittag hoch über die Bäume hinaus. *** "Das ist ein doofes Spiel!" Entnervt warf Ryu seine Karten auf den Tisch. "Ich bin schon wieder pleite!" "Du hättest ihr eben nicht die Schlossallee verkaufen dürfen." Mantas Augen huschten über das Spielbrett, aber er ahnte, dass er die nächste Runde nicht überstehen würde, zu hoch waren die Mieten selbst auf den billigen Strassen für ihn geworden. "Ich hab meine Bahnhöfe." Grinste Yoh zufrieden. "Na und? Damit wirst du auch nicht lange überleben. Sie hat die Parkstrasse und die Schlossallee!" Ryu schüttelte seinen Kopf. Nie wieder würde er mit Anna Monopoly spielen, damit besiegelte man doch gleich seinen Untergang! "Das ist nun mal das einzige Spiel, an dem mehr als zwei Personen teilnehmen können, Ryu-kun. Ansonsten kannst du uns ja morgen ein anderes Spiel kaufen." Anna lächelte so zuckersüß, dass es den anderen eiskalt den Rücken herunter lief. "Also, wer gibt auf?" "Ich." Ryu ließ seinen letzten Hunderter auf die Karten fallen. "Ich." Manta legte seinen Taschenrechner weg. Er wusste, wann es klüger war zu kapitulieren. "Ich." Yoh grinste, als habe er gewonnen. "Ich nicht." Ren sah über seine Karten und erwiderte ihr ernstes Lächeln. Nicht umsonst hatte er die Reihen der roten, gelben und grünen Strassen eisern gesammelt und von den anderen abgekauft. Anna mochte vielleicht die Schlossallee besitzen, ihm dagegen gehörte fast die Hälfte des Spieles. So einfach gab er sich nicht geschlagen. "Bist du dir sicher?" Annas Augen blitzten. "Ganz sicher." Entschlossen ergriff der junge Chinese die Würfel und warf sie auf das Spielbrett. Die anderen Jungen beneideten ihn um seinen Mut - oder aber seinen Leichtsinn, denn er tappte direkt auf die Parkstrasse. Annas Lächeln wurde um eine Spur breiter. "Soll ich dir den vollen Preis nennen oder willst du Raten vereinbaren?" Rens rechte Auge zuckte gefährlich, dann seufzte er tief und reichte ihr seine letzten großen Scheine. Mühelos übersprang sie bei der nächsten Runde all seine gefährlichen Hotels und landete auch noch direkt auf >Los<. Ihm war klar, dass auch er keine Chance mehr hatte. "Ok, spielen wir noch einmal?" begeistert räumte das Mädchen den Tisch ab und die anderen ergaben sich in ihr Schicksal. Verlieren würden sie so oder so, aber man konnte ja es wenigstens versuchen. "Willst du jetzt mitspielen, Horo-kun?" Yoh drehte sich zu dem junge Ainu um, der bei der ersten Runde dankend abgelehnt hatte. Er kannte das Spiel noch nicht und wollte lieber erst einmal zuschauen. Anna hatte ihm statt dessen einen Tee in die Hand gedrückt und mit ihrer Straßeneinkaufstour begonnen. "Horo-kun?" Besagter murmelte nur etwas Unverständliches und kuschelte sich tiefer in die Decke, die er in einer Ecke des Wohnzimmers gefunden hatte. Er schlief bereits tief und fest, obwohl der Abend noch nicht einmal richtig begonnen hatte. War wohl ein anstrengender Nachmittag gewesen. Ren drehte sich um und betrachtete den schlafenden Jungen schweigend. Er schien mit sich zu ringen und traf schließlich eine Entscheidung. "Ich bring ihn mal lieber ins Bett, bevor er hier noch zu quatschen anfängt." Sagte er bewusst kühl und kroch auf allen Vieren zu Horo Horo hinüber, um ihn in seine Arme zu nehmen. Der junge Ainu reagierte nicht, sondern hielt lediglich Kororo fester, die friedlich an seiner Brust schlummerte. Er sieht fast wie ein kleiner Junge aus... "Ist gut, Ren. Die übliche Figur?" Yoh lächelte, als der junge Chinese auf leisen Sohlen das Wohnzimmer verließ. Gerade noch rechtzeitig, bevor Manta und Ryu in einem heftigen Streit ausbrachen, wer denn nun das heißbegehrte Schiff benutzen durfte. Vorsichtig schlich Ren die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf und öffnete die Papiertür mit seinem rechten Fuß. In China hätte er das nicht gekonnt, alle Palasttüren bestanden aus massivem Ebenholz. Das Licht der Straßenlampe drang gedämpft in den Raum, das stetige Trommeln des Regens war zu hören, der gegen das Fensterglas schlug. Ren blieb stehen und genoss die friedliche Atmosphäre. Ja, seine Schwester hatte Recht gehabt, es tat ihm gut, hier bei Yoh und seinen Freunden zu sein. Menschen, die ihm innerhalb weniger Tage einen Fehler vergaben, der für einen von ihnen beinahe tödlich geendet hätte. Freunde, die ihn in all den Monaten nie aufgaben. Danke. Horo Horo bewegte sich leicht in seinen Armen und erinnerte Ren, warum er hier her gekommen war. Behutsam legte er den Jungen auf dessen Futon und deckte ihn zu. Der junge Ainu schmatzte in seinen Träumen, bevor er sich umdrehte und mit Kororo an seiner Seite weiter schlief. Zögernd streckte Ren seine Hand aus und fuhr durch blaue Haare. >Meister...< Bason sprach selten ungebeten zu seinem Herrn. Vieles hatte sich in den letzten Monaten zwischen ihnen verändert, aber mit alten Gewohnheiten konnte nicht so einfach gebrochen werden. Deshalb zog Ren auch ertappt seine Hand zurück und drehte sich mit flammendem Gesicht um, um mit dem chinesischen Krieger zu schimpfen - als sein Blick auf den kleinen Blumentopf fiel, den er am Morgen auf seinem Kopfkissen zurück gelassen hatte. Sofort wich jegliche Farbe aus seinen Zügen, seine gelben Augen weiteten sich. NEIN! Bason schwebte direkt über der Blume, er brauchte nichts weiter zu sagen, auch er kannte die Bedeutung des alten Zauberspruches. NEIN! Rens Finger zitterten, als er auf seinen Knien zu dem Futon rutschte und die Blätter ungläubig berührte. Er hatte Jun doch nur eine Freude machen wollen, indem er ihr das Bild der Aster zu übermitteln gedachte. Wie um alles in der Welt hatte DAS geschehen können? Der Schmerz von gestern... Ren fasste sich an seinen Bauch und glaubte für einen Moment, sich übergeben zu müssen. Sein ganzer Körper begann zu beben und seine Augen suchten hektisch das Zimmer ab. "Weißt du, wo meine Sense ist?" flüsterte er tonlos, da seine Stimme ihm zu versagen drohte. Bason verstand ihn dennoch. Stumm nickte er. *** "Was braucht der so lange? Ich will anfangen!" Ryu, der den Kampf gewonnen hatte, drehte das silberne Schiffchen in seinen Fingern hin und her. "Ich will doch Anna-san besiegen." Manta sah von seinem Computer auf, den er in seinem Schoß hatte, und blickte besorgt zu Yoh hinüber. Zwar hatten sie einen wunderschönen Nachmittag auf der Wiese verlebt und Ren war richtig nett gewesen, dennoch konnte er die Erinnerung an einen jungen Chinesen nicht so einfach vergessen, der Horo Horo mit zornigem Blick und flammender Sense gegen die nächste Wand gepresst hatte. "Yoh-kun?" "Ich werd mal nachsehen." Der junge Japaner stand auf und klopfte sich ein paar Krümel von der Hose. Für Kartoffelchips würde er eine ganze Menge tun - sogar Anna die Parkstrasse schenken. "Bestimmt liegen jetzt beide oben und schnarchen." Nein, Ren hatte Horo Horo nichts angetan, das wusste Yoh einfach. Sonst hätte der junge Chinese den Ainu heute Nachmittag qualvoll ersticken lassen. "Ren?" flüsterte er und schob leise die Tür auf, um Horo Horo nicht zu wecken, der im Traum etwas von einem Kirschkuchen murmelte. "Ren?" Der Futon jedoch war leer, auch auf Horo Horos Futon lag nur eine Person. "Seltsam..." Yoh kniff seine Augen zusammen, als er bemerkte, dass etwas fehlte, etwas Wichtiges, von dem wohl nur wenige Menschen etwas wussten. Sein Teddy ist fort. Yoh sah sich kurz um und bemerkte sofort, dass auch Rens sonstige Sachen verschwunden, die Schrankfächer mit seinen Kleidungsstücken ausgeräumt waren. Eisiger Wind fuhr durch den Raum, riss an Yohs Haaren, ließ ihn herum fahren. Horo Horo zog sich die Decke über seinen Kopf, murmelte etwas Unverständliches, schlief jedoch weiter. Yoh dagegen kam auf seine Beine, lief hinüber zum offenen Fenster, spähte verwirrt in die regnerische Nacht hinaus. Nani? Geblendet von plötzlichem Licht kniff Yoh seine Augen zusammen. Im nächsten Moment stand Anna neben ihm. Sie wirkte ebenfalls verstört, jedoch weitaus gefasster als er. "Er ist fort." Sagte sie leise, legte eine Hand auf die Schulter ihres Verlobten, als er aus dem Zimmer laufen wollte. Energisch schüttelte sie ihren Kopf. "Lass ihn gehen, Yoh. Er hat seine Sense mitgenommen." *** "Und er hat nicht einmal gesagt, dass er geht? Nicht einmal einen Brief hat er da gelassen?" Manta kratzte sich nachdenklich am Kopf. Ren hatte schon immer seine Eigenarten gehabt, aber bisher hatte er sich wenigstens von Yoh immer verabschiedet. Ja, auf Yoh hielt Ren große Stücke, einfach so feige wegzulaufen sah ihm deshalb gar nicht ähnlich. Weglaufen? Wovor denn? Manta klappte seinen Computer auf, um ihn gleich wieder zu schließen. So richtig verstand er die ganze Situation nicht. An den Gesichtern der anderen konnte er ablesen, dass es ihnen ähnlich ging. Die Sache mit Horo-kun ist doch beinahe schon vergessen! "Das ist alles, was er zurück gelassen hat." Yoh stellte den Blumentopf auf das Spielbrett, den er neben dem Kopfkissen gefunden hatte. Es war alles, was Ren in seiner Eile vergessen hatte, denn dass er in Eile gewesen war, davon war Yoh überzeugt. Sie hatten keine zehn Minuten auf ihn gewartet. Er sah überhaupt nicht aus, als wollte er gehen, während er Horo Horo ins Bett geschafft hat... "Was? Eine halb verwelkte Aster?" Ryu zog beide Augenbrauen angewidert in die Höhe. "Also, wenn er das unter einem Gastgeschenk versteht, dann hat er eindeutig keinen Geschmack." "Nein..." Yoh schüttelte seinen Kopf und stellte die Blume behutsam auf den Fensterstock, wo sie am nächsten Montag vielleicht etwas Sonne erhielt. "Das kann ich mir nicht vorstellen." Anna holte tief Luft, dann nahm sie den kleinen Silberhut vom Spielbrett und würfelte. "Es war seine Entscheidung. Akzeptieren wir sie, bis er wieder auftaucht." Meinte sie entschieden und setzte ihre Figur - direkt auf die Poststrasse, die sie natürlich ohne zu zögern kaufte. "Gut..." Yoh würfelte ebenfalls, aber ihm war anzusehen, dass er nicht viel Gefallen an dieser Vorstellung fand. *** Die Gestalt stöhnte gequält auf in dem großen Bett, wand sich von einer Seite auf die andere, um schließlich erschöpft liegen zu bleiben. Eine Kerze brannte auf dem Nachttisch, ihre Flamme flackerte leicht im Nachtwind, der durch das offene Fenster wehte. Leise rauschten die Bäume vor dem Palast, sangen hier und da Vögel ihr Lied, die nicht in den warmen Süden gezogen waren. Die Luft roch nach Schnee. >Können Sie ihre Schmerzen denn nicht lindern, Doktor?< Der große Mann sah besorgt auf die junge Frau, die wimmernd in seinen Armen lag. "Ich..." Der Doktor zögerte, als er die Spritze in die Flüssigkeit tauchte, langsam aufzog. "Ich kann nicht garantieren, dass sie diese hohe Konzentration..." Er brauchte die Worte nicht auszusprechen, der Hüne wusste auch so, was er meinte. Traurig blickte er die Kranke an, strich mit seinen großen Händen sanft durch lange, grüne Haare. >Sie soll nur nicht so leiden, Doktor.< "Gut." Der Arzt zog nach einigem Zögern die komplette Flüssigkeit auf, bevor er sich auf das Bett niederließ und die Spritze in eine Kanüle einführte, die er an dem linken Arm der jungen Frau angebracht hatte. Mittlerweile brauchte sie die Spritzen beinahe stündlich, er wollte ihr nicht mehr weh tun als nötig war. Nicht noch mehr. Schon während die klare Flüssigkeit in ihre Venen floss, entspannte sich die Patientin merklich. Unsicher tastete sie nach der Hand des Hünen, der die ihrige ergriff und beschützend umschloss. "Werdet Ihr Euch um sie kümmern, Li Pailong?" >Wo immer sie hingeht, ich werde ihr folgen, Faust VIII< Beide blickten einander stumm an und der Doktor drückte ein letztes Mal auf die Spritze, ließ den Rest Medizin in den geschundenen Körper der jungen Frau fließen. "Ren-chan..." flüsterte Jun und schmiegte sich enger an den vertrauten Körper ihres Li. Wie gern sie ihren kleinen Bruder noch einmal gesehen hätte! Aber es war besser so. Er sollte sie nicht noch einmal sehen, nicht so. Nein, er sollte sie in guter Erinnerung behalten. "Ren-chan..." Der Doktor stand auf, fuhr sich über die müden Augen, die seine Tränen nicht verbergen konnten. "Bleibt bei ihr, Li Pailong." Flüsterte er gebrochen, wissend, dass all seine mächtigen Kräfte als Heiler und als Schamane versagt hatten. "Es wird bald vorbei sein." *** Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)