Fürst der Finsternis von aprileagle (Zweiter Platz Herbst-Winter-FF Wettbewerb 2003) ================================================================================ Kapitel 4: Lilie - 4: Totenwache -------------------------------- Hauptteil 2: Lilie Kapitel 4: Totenwache "Wunderschön..." Horo Horo war stehen geblieben. Nicht etwa, um sich und seinem erschöpften Körper eine kurze Rast zu gönnen. Immerhin waren sie jetzt schon seit fast fünf Stunden durch die chinesische Wildnis unterwegs. Für einige Kilometer hatte sie noch ein Taxi mitnehmen können, aber der Fahrer weigerte sich, sie weiter als bis in das letzte zivilisierte Dorf zu bringen. Also wanderten sie seitdem über fast unberührte Pfade und enge Schluchten. Yoh und Horo Horo verstanden immer mehr, warum die Tao Familie über einen privaten Flugplatz und mehrere Privatflugzeuge verfügte, die Ren jedoch seit dem Sieg über seinen Vater nicht mehr benutzt hatte. Vermutlich, weil der alte Tyrann die Piloten mit sich genommen hatte. "Wunderschön..." Horo Horo breitete seine Arme aus und sah mit einem glücklichen Lächeln zum wolkenverhangenen Himmel empor. Schneeflocken, die ersten des nahenden Winters, wirbelten um ihn herum und er fühlte sich leicht und beschwingt in seinem Element. Kororo flog zwischen ihnen und freute sich sichtlich. >In den Bergen verschieben sich die Jahreszeiten immer ein wenig.< erklärte Amidamaru, der hinter seinem Herrn schwebte. Yoh schien die Schönheit der Natur um sich herum gar nicht zu bemerken. Seine dunklen Augen hatte er auf ein Ziel vor sich gerichtet, das nur er sehen konnte. Nur ab und an blieb er stehen, nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche und wunderte sich, ob es das letzte Mal auch so lange gedauert hatte, bis sie den Palast erreicht hatten. Damals waren sie schon in Eile gewesen, heute hatte Yoh jedoch das Gefühl, dass er unter Strom stand, am liebten losrennen würde. Aber aus seinem harten Training mit Annas unbarmherzigen Methoden hatte er gelernt, dass auch sein Körper Grenzen besaß und er diese besser nicht erreichte, indem er sich schonte. Horo Horo beobachtete eine kleine Schneeflocke, die leise auf seiner Hand schmolz, dann folgte er Yoh, der beständig einen Fuß vor den anderen setzte, und das in einer sehr raschen Geschwindigkeit. Dabei blickte sich der junge Ainu um, als würde er das Bergmassiv das erste Mal sehen. Nun, vielleicht war dem auch so. Das letzte Mal, dass sie hier durchgewandert waren, hatte Bason die ganze Zeit über aufgeregt geredet und Ryu war Horo Horo mehr als nur ein Mal auf die Nerven gefallen. Da hatte er keine Gelegenheit gehabt, sich umzusehen. Mit einem schweigenden Yoh war ihm nun diese Chance jedoch vergönnt. Und er nutzte sie. Auf den Bergspitzen lag bereits eine dicke Schneedecke und Horo Horo juckte es in den Fingern, sein Snowboard zu ergreifen und hinauf zu laufen. Wie wunderbar musste es hier erst im tiefsten Winter ausschauen, wenn sicherlich alles unter einem dicken Mantel der Stille begraben lag? Dann könnte er ungehindert im Schnee tollen, in richtig tiefem Schnee! Dort, wo Horo Horo herkam, gab es im Winter ebenfalls viel Schnee, immerhin lebte er schließlich im Norden Japans, aber dort gab es keine Berge. Bisher hatte das den jungen Ainu nie sonderlich gestört, aber er ahnte, dass er die Berge vermissen würde, jetzt, da er sie das erste Mal bewusst gesehen hatte. Vielleicht sollte ich mich über die Winterferien bei Tao Ren einfach so einladen. Horo Horo wusste nicht, wo dieser Gedanke herkam und obwohl er ahnte, dass der junge Chinese ihm wohl eher den Stinkefinger gezeigt, als ihn in seine Heimat eingeladen hätte, so gefiel dem jungen Ainu diese Vorstellung. Pirika würde die Wildnis Chinas mit Sicherheit auch gefallen. Nun, vielleicht könnte er auch Yoh und die anderen davon überzeugen. Ja, wenn er Anna erst einmal für die Idee eines Chinabesuches begeistert hatte, dann könnten sie alle hier her kommen und er könnte ungestört sein Snowboard fahren, während Yoh ihm die Killermaschine vom Hals hielt. Oder ich bringe Ren das Snowboardfahren bei. So, wie er mir das Drachensteigen gezeigt hat... Bei dem Gedanken an einen schwarzen Schatten, der durch weißen Schnee kullerte, musste Horo Horo hinterhältig grinsen. Ja, genauso würde er es machen! Der junge Ainu nickte entschlossen seinen Kopf und prallte benahe gegen Yoh, der plötzlich stehen geblieben war. "Nani?" Horo Horo rückte sein Stirnband zurecht und seine Kinnlade klappte nach unten, als er den riesigen Gebäudekomplex sah, der sich vor ihnen in dem Tal erhob. Das letzte Mal hatte Horo Horo kaum darauf geachtet, war nur darauf bedacht gewesen, so schnell wie möglich hinein und so gesund wie es eben ging wieder hinaus zu gelangen, mit einem ständig schnatternden chinesischen Geist an seiner Seite. Nun aber betrachtete er den mächtigen Palast das erste Mal, und war noch wilder entschlossen, Anna von seinem Vorhaben zu überzeugen. Hier hatten sie doch alle lässig Platz, Ren würde es sicherlich nicht stören, wenn sie ein oder zwei der hundert Gästezimmer in Beschlag nahmen, die dieser Palast zu besitzen schien. "Wir sind fast da." Flüsterte Yoh und schob sich die Kopfhörer in seinen Nacken, so wie er es immer tat, wenn er sich konzentrierte. Sogar die leise Musik, die ihn sonst immer zu begleiten schien, erstarb. "Endlich!" *** Horo Horo zuckte zusammen, als das Portal unter ihren Händen schließlich nachgab. Etwa fünf Minuten hatten sie sich verzweifelt dagegen gestemmt und Amidamaru und Kororo bereits zum Erkundschaften ausschwärmen lassen, um ein offenes Fenster oder ähnliches zu erspähen, als das alte Holz plötzlich laut knarrend nach innen schwenkte. Der junge Ainu stolperte und wäre wohl hingefallen, wenn Yoh ihn nicht am Arm gepackt und festgehalten hätte. "Arigatou." Horo Horo ergriff seinerseits ebenfalls eine der brennenden Fackeln und folgte dem jungen Japaner durch die schier endlosen Gänge. War der Palast ihm das letzte Mal auch schon so unheimlich erschienen? Horo Horo wusste es nicht. Das einzige, woran er sich noch erinnerte, war ein Kampf gegen diverse Untote und letztendlich Rens Vater gewesen. Da war einfach keine Zeit für genauere Betrachtungen geblieben. Der junge Ainu sah sich um und ein seltsames Unbehagen nahm von ihm Besitz. Die Wände um ihn herum wirkten schwarz, bestanden aus kaltem, glatt gehauenem Stein. Vielleicht konnte man aus diesem Ort ein gemütliches Heim machen, wenn man hier und da ein Fenster in die hohen Mauern schlug und warme Teppiche auslegte, aber im Moment jagte ihm dieser Palast einfach nur einen eisigen Schauer über den Rücken. "Weißt du, wo wir hingehen?" fragte der junge Ainu und seine Stimme klang fürchterlich laut in der schier undurchdringbaren Stille des Gebäudes. So eine Ruhe war er nicht gewöhnt. Weder von zu Hause, wo seine Schwester und ihre Freundinnen ständig kicherten und die kleinen Pokkurus über die Felder flogen, noch von seinen Freunden, wo immer etwas los war, und sei es einfach Anna, die durch den Flur schritt und lautstark nach einem Opfer suchte, das für sie im strömendem Regen Reis einkaufen ging. >Erst einmal in die Haupthalle.< erklärte Amidamaru, der ihnen einen Schritt voraus schwebte, sich zu erinnern versuchte. >Die müsste gleich um die Ecke beginnen.< Horo Horo nickte... und schrie im nächsten Moment auf, als der Boden unter seinen Füßen weggezogen wurde. Er streckte seine Hände aus, konnte jedoch keinen Halt finden. Yoh wirbelte mit weit aufgerissenen Augen herum, versuchte, ihn zu packen, aber er war leider nicht schnell genug, der junge Ainu stürzte mitten durch die Falltür in ein tiefes schwarzes Loch. Bevor er jedoch aufschreien konnte, war sein Flug bereits beendet. Etwas Weiches bremste seinen Fall, presste dennoch die Luft aus seinen Lungen. Sterne tanzten vor seinen Augen und er brauchte einige Augenblicke, um wieder klar denken zu können. Mühsam erhob er sich und hob die Fackel wieder auf, die neben ihm im nassen Stroh gelandet war. Zum Glück war sie nicht erloschen, ansonsten würde er nun in völliger Dunkelheit stehen, denn die Kammer, in die er gefallen war, besaß kein Fenster. Auch konnte er sonst keinen Ausweg sehen, außer dem Loch, durch das er gekommen war. "Yoh-kun?" schrie er laut hinauf, aber die einzige Antwort, die er erhielt, war das Knirschen von Stein. Nani? Horo Horo riss seine Augen auf, als er den massiven Felsblock sah, der sich in das Loch schob, nur etwa einen Meter über ihm, und ihm somit nicht nur den Blick auf ein schwaches Licht am anderen Ende des Tunnel, sicherlich Yoh, sondern auch seinen einzigen Weg aus dieser Falle versperrte. Was soll das denn? Horo Horo schluckte hart und schuf sich eine Treppe aus Eis, um in den Schacht zurück zu klettern. Aber egal, wie hart er sich auch gegen den Felsen lehnte, er bewegte sich keinen Millimeter zur Seite. Entsetzt schaute er zu Kororo, die auf seiner Schulter saß und zitterte. Sie mochte geschlossene Räume überhaupt nicht und dies war beinahe zu viel für sie. Leise wimmernd schloss sie ihre Augen und entschied sich, diese nicht wieder zu öffnen, bis sie diesem Verließ nicht entkommen waren. "Alles wird wieder gut." Versuchte Horo Horo, sie und sich selbst zu beruhigen. Vorsichtig kletterte er die nur langsam schmelzenden Stufen wieder herab. Es war kalt in dem Verließ, aber er war gut gekleidet. Verdursten würde er so schnell auch nicht. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als hier zu warten und zu hoffen, dass Yoh sich ein wenig beeilte. "Yoh wird uns retten, Kororo-chan, du wirst sehen." Horo Horo rammte die brennende Fackel in eine Ritze in der Wand und ließ sich wieder in das feuchte Stroh sinken. Angenehm war dieser Aufenthaltsort bestimmt nicht, aber es hätte ihn schlimmer treffen können. Zumindest hatte Tao Ren in seinen Fallgruben keine Schlangen oder andere Tiere, die nicht unbedingt auf Horo Horos Liste der Lieblingskuscheltiere standen. Auch hätte der Erbe der alten chinesischen Dynastie den Boden mit Eisenstangen picken können, statt dessen fiel der junge Ainu auf Stroh, das einmal frisch gewesen, sicherlich nur durch die Käte des nahen Winters so nass geworden war. Alles in allem, so entschied Horo Horo, hätte es ihn weitaus schlimmer treffen können. Nur ärgerte es ihn ungemein, dass er Yoh nun nicht zur Seite stehen konnte, sollten Ren und seine Schwester wirklich in Schwierigkeiten stecken. Müde von der langen Reise kniff er seine Augen zusammen und versuchte, sich wenigstens ein bisschen zu entspannen. Liebevoll nahm er Kororo in seine Arme fiel in einen unruhigen Schlaf. *** Ein Meer aus Kerzen durchflutete den prächtigen Ballsaal des altehrwürdigen Palastes. Spiegel zierten die Wände, reflektierten die Lichter tausendfach. Eine kleine Kapelle spielte angenehme, traditionsbewusste Musik, während Diener herein strömten und allerlei Köstlichkeiten auf den Tisch stellten. Der Festschmaus konnte beginnen. "Ist das nicht eine schöne Nacht?" Gelbe Augen blitzten, als eine zitternde Hand ein Weinglas erhob und einer leblosen Gestalt in einem hohen, mit rotem Samt überzogenen Sessel zuprostete. "So wolltest du doch schon immer feiern, nicht wahr?" Finger schnippten und die leblose Gestalt nickte andächtig den Kopf, erhob ebenfalls ihr Glas, wobei sie die Hälfte des Weines über ihr Brot verschüttete. "Pass doch auf, Schwesterherz." Die Gestalt eines Jungen erhob sich und ging um den Tisch herum. Behutsam ergriff dieser eine Servierte und tupfte den Wein vom dunkelgrünen Kleid der jungen Frau, ordnete lange Locken, strich zärtlich über bleiche Wangen. Leere, blaue Augen blickten ihn an, dann hob die junge Frau erneut ihr Glas und prostete ihm zu. Ihr Lächeln war genauso kalt wie das seine. "So ist's besser, nicht wahr? Und jetzt lass und unser Abendmahl beenden." Mit entschlossenen Schritten ging er zurück zu seinem Platz, verharrte jedoch mitten in der Bewegung, als er ein kleines Glöckchen hörte. Der Diener, der ihm den großen Stuhl zurück gezogen hatte, wartete geduldig und verbeugte sich, als sein Herr an ihm vorbei eilte. Der schwarze Umhang wehte hinter ihm und einige Kerzen erloschen, die andere Diener rasch wieder entzündeten. "Ich wusste gar nicht, dass wir Gäste erwarten. Aber das können sie vergessen, ich werde diesen Abend nur mit dir feiern, Schwesterherz." Gelbe Augen schauten zurück zu der reich gedeckten Tafel, zu der wunderschönen jungen Frau, die noch immer das Glas in ihren Händen hielt, ausdruckslos in den dunkelroten Wein starrte. "Ich werde nicht zulassen, dass sie dir weh tun, Jun. Verlass dich auf mich, deinen Bruder." *** "Was machst du hier?!" Horo Horo schien tatsächlich eingeschlafen zu sein. Die zornige Stimme drang aus weiter Ferne an sein Ohr und ihm war, als würde er durch dichten Nebel waten. Seine Augenlider waren so schwer, es gelang ihm erst nach mehreren Versuchen, sie zu öffnen. Und selbst dann glaubte er, noch immer zu träumen. Unwirklich erschien ihm der Raum, in dem er sich befand, so als würde ein tiefer Schleier ihn umhüllen. Ein schwaches Licht brannte in der schwarzen Finsternis, und dennoch konnte er die ihm gegenüberliegende Wand nicht erkennen. "Ich hab dich was gefragt, Idiot!" Horo Horo hob seinen Kopf und sein Rücken schrie auf vor Schmerz. Wie lange hatte er gegen die eisige Wand gelehnt? Minuten oder gar Stunden? Sein Kopf schmerzte und er fragte sich, ob das die ersten Anzeichen einer Erkältung waren. Nein, das konnte nicht sein, er hatte sich doch extra seine dicke Winterjacke angezogen und sich von Anna sogar noch einen zweiten Schal ausgeborgt, den er über seinen Kragen gewickelt hatte. Außerdem war er ein Ainu, so leicht wurde er nicht krank! "Sag mal, hörst du mich?!" Die zornige Stimme nervte ihn beharrlich weiter, aber Horo Horo konnte ihren Verursacher nicht erkennen. Doch, halt! War da nicht ein Schatten in der Finsternis? Der junge Ainu kniff seine Augen zusammen und hob automatisch seine Hände in einer abwehrenden Geste, als sich die Gestalt plötzlich blitzschnell auf ihn zu bewegte, seine Schultern packte und ihn nach oben zog, bis er zum Stehen kam, auf wackeligen Beinen, die unter ihm nachzugeben drohten. "Bist du jetzt vollkommen bescheuert? Was machst du hier, du Vollidiot?" Normalerweise wäre Horo Horo sofort in die Luft gegangen, wenn ihn jemand mit solchen Schimpfwörtern titulierte, aber heute war ihm das seltsamerweise völlig egal, ja, in seinen Gedanken klang das Wort >Vollidiot< plötzlich wie der schönste Kosename, den je jemand für ihn gebraucht hatte. Auch wenn die Person hier vor ihm nicht so wie seine Schwester klang, die sonst immer die schönsten Kosenamen für ihn heraussuchte, wenn sie nicht gerade wütend auf ihn war, weil es ihm nicht immer gelang, ihre Mädchenwelt zu verstehen und dass es eben lebenswichtig sein konnte, dass sie ihre Puppe pflegte anstelle ihm bei den Hausaufgaben zu helfen. Schließlich war er schon ein großer Junge, er schaffte das auch ohne seine kleine Schwester! "... hirnrissiger Trottel..." Ja, das war eindeutig nicht die Stimme seiner Schwester, aber er kannte sie. Stimmt, er kannte sie. Tief und bellend, aber trotzdem so besorgt. Besorgt um ihn... Horo Horo hob seinen schweren Kopf und blickte in ein totenbleiches Gesicht. Er sah zwei funkelnde Augen darin, die ihn wütend anstarrten. So wütend... so gelb... "Ren?" flüsterte er benommen, als er die Gestalt vor sich erkannte. Ihm wurde sich nicht einmal bewusst, dass er den Namen des Erben, der Killermaschine, seines größten Feindes laut ausgesprochen hatte. Dass er ihn bei seinem richtigen Namen, bei seinem Vornamen genannt hatte. Das erste Mal. Zu froh war der junge Ainu, dass er ihn gefunden hatte. Jetzt war alles wieder in Ordnung und Yoh-kun würde nicht mehr so nervös aussehen. Ja, jetzt hatte er den Freund in dem Labyrinth entdeckt. Er, der tollpatschige Junge aus dem Norden. "Ren, da bist du ja!" Der junge Chinese bemerkte die informelle Anrede sofort. Verwirrt ließ er den Jungen los, der daraufhin wieder hilflos in das Heu rutschte, und begann, in der kleinen Zelle auf und ab zu marschieren. Er nennt mich Ren? Nicht mehr Killermaschine oder Erde oder Tao-san? Einfach Ren? Der junge Chinese hatte alles erwartet, als er die Alarmglocke der Fallgruben hörte, aber mit Sicherheit keinen Horo Horo, der ihn so unglaublich doof angrinste! "Wie zum Teufel bist du hier her gekommen?!" verlangte Ren zu wissen und baute sich unheilverkündend vor Horo Horo auf, der erneut blinzelte, ungeniert gähnte. Irgendwo in seinem Inneren hätten die Sirenen angehen müssen, ihn in höchste Alarmbereitschaft versetzen sollen, aber sie taten es nicht. Statt dessen betrachtete er den Jungen, seinen ärgsten Feind, der breitbeinig über ihm stand. Der mächtige Erbe war in schwarzen Samt gehüllt, der weite Umhang schien hinter ihm zu wehen, obwohl es in dem Verließ kein Fenster, ja nicht einmal die kleinste Nische gab, wo der Wind hätte eindringen können. Die Sense in seinen Händen leuchtete golden, aber nicht einmal bei diesem Anblick brach bei Horo Horo der kalte Angstschweiß aus. Statt dessen musste er kichern. "Schön, dass ich dich gefunden habe! Ich bin gut, nicht?" erklärte der junge Ainu stolz und legte den Kopf schief. Er erinnerte Ren an einen Hund, der seine Aufgabe erfüllt hatte und nun auf eine Belohnung wartete. Einen Teufel werd ich tun! Der kriegt keinen Hundeknochen! "Wo zum Kuckuck kommst du her?! Rede endlich?!" Dem jungen Chinesen wurde es zu bunt, besonders, da Horo Horo von seinen Drohgebärden nicht einmal Notiz nahm, leise vor sich hin kicherte, als säße er in dem lustigsten Theaterstück seines Lebens. Das hier ist aber kein Theater! Das ist bitterster Ernst! "Mit dem Flugzeug." Beantwortete der junge Ainu endlich Rens Frage und hob seine rechte Hand, obwohl sein ganzer Körper ihn aufforderte, ein weiteres Nickerchen zu tun. "Ich denke, ein helles Blau würde besser zu dir stehen als dieser schwarze Sack." Erneut musste er kichern, denn das Gesicht, das der junge Chinese nun zog, war zu köstlich. "Passt besser zu deiner Augenfarbe." In Modefragen kann man immer zu mir kommen. Das geht zu weit! Horo Horo grinste zufrieden, während Ren seine Sense tödlich nah an dessen Nase hielt. "Verschwinde! Sofort!" brachte er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Verdammt! Er brauchte hier niemanden, erst recht nicht diesen Volltrottel! Seine Schwester und er brauchten Ruhe, begriff das denn niemand? "Geht nicht." Horo Horo schüttelte seinen Kopf und bereute diese Tat sofort, als sich das Verließ um ihn herum zu drehen begann. "Muss hier auf Yoh-kun warten." Er streichelte Kororo, die noch immer in seiner linken Armbeuge schlief und nickte, eine weitere Bewegung, die er für die Zukunft ebenfalls aus seinem Katalog für Köpersprache strich. "Und Kororo-chan schläft noch, ich kann sie doch nicht wecken." "Yoh-kun ist auch hier?" Ren betrachtete den jungen Ainu, der liebevoll seinen Geist mit dem Zipfel seiner Winterjacke zudeckte und stöhnte genervt. Für einen Moment schloss er seine brennenden Augen und holte tief Luft. Verdammt! Ich kann ihn nicht hier gebrauchen! Ich brauche niemanden mehr! Niemanden! Nur noch Jun... "Wo ist er?" Die Sense berührte beinahe Horo Horos Nasenspitze, aber der Junge wirkte kein bisschen ängstlich. Statt dessen betrachtete er die Klinge interessiert, strich mit seiner freien Hand darüber und schnitt sich natürlich sofort in den Finger. "Wie kannst du das Ding tragen? Ich hab immer gedacht, das wäre zu schwer für dich." meinte er und betrachtete nun seinen blutenden Finger eingehend, als hätte er noch nie so etwas Faszinierend in der Welt gesehen. Einige Tropfen fielen auf seine helle Winterjacke und er machte nicht einmal die Anstalten, sie fortzuwischen. Wieso ich?! Ren ließ seine Waffe sinken und sah Horo Horo schweigend an, als dieser seinen Finger hin und her drehte und erneut leise zu lachen begann. Das sieht cool aus! Der junge Chinese rammte seine Sense in den Boden und ließ sich vor dem jungen Ainu auf die Knie nieder. Wirsch nahm er die verletzte Hand in die seine und betrachtete die Wunde. Gut, der Schnitt war nicht tief, also war wenigstens noch etwas Hirn in Horo Horos Dickschädel geblieben. Aber es war besser, wenn er die Blutung stillte, denn auch wenn dieses Verließ nicht mit Ungeheuern gefüllt war, andere hingegen waren es, und Ren hatte keine Lust, sie anzulocken und auf diesem engen Raum in ihre Schranken zu weisen. Idiot! Ren knirschte mit den Zähnen, als er ein Stück seines Umhanges abriss und es kräftig um Horo Horos Finger wickelte. Wie immer hatte der junge Ainu mehr Glück als Verstand gehabt. Nur eine Zelle weiter befanden sich gar schreckliche Monster, die den Jungen ohne zu zögern sofort zerfleischt hätten. Er dagegen fand das einzige Verließ weit und breit im Südflügel, das lediglich mit einer einschläfernden Droge und einem Septum gefüllt war, das die betreffenden Personen dazu brachte, genau das zu sagen, was in ihren Gedanken war. Ein äußerst kluger Schachzug, wenn man Gefangenen nehmen wollte, die alle Taktiken der Gegner freizügig ausplauderten. Für Ren erwies er sich jedoch einfach nur nervend, besonders, da sein Kopf schmerzte und mit jedem Atemzug zu zerbersten drohte. "Finde Yoh-kun und verschwindet von hier! Hast du mich gehört, Horo Horo?! Ihr seid hier beide nicht erwünscht!" Ren beugte sich vor und starrte hasserfüllt in das Gesicht des jungen Ainu, in der Hoffnung, durch die Droge durchzudringen und ihn so weit zu ängstigen, dass er auch wirklich ging und nie mehr wieder kam. Er würde wohl nie verstehen, warum der Junge, der ihn doch so offensichtlich nicht leiden konnte, all die Mühen auf sich nahm und von Japan bis nach China flog, nur, um ihn zu besuchen. Er wird wohl nur Yoh-kun begleitet haben. Für den Hauch einer Sekunde fragte sich Ren, warum ihn dieser Gedanke so sehr störte. Dann schob er ihn weit von sich. Es gab wirklich wichtigere Angelegenheiten, um die er sich kümmern musste! Jun... "Hau ab! Das hier ist eine Familienangelegenheit!" schrie Ren, denn ihm schien, dass dies die einzige Lautstärke war, in der Horo Horo ihn noch halbwegs ernst nahm. Da musste der junge Chinese plötzlich würgen, als sich ein eisiger Klumpen in seinem Magen bildete. Rasender Schmerz pochte hinter seiner Stirn und seine Arme gaben nach. Ohne, dass er sich dagegen wehren konnte, fiel er nach vorn und spürte, wie ihn beinahe eine Ohnmacht überwältigte. Nein! Ich muss stark sein! Für Jun muss ich stark sein! Ren drehte seinen Kopf zur Seite und erbrach das Brot, das er noch vor einer halben Stunde in dem Ballsaal eingenommen hatte, gemeinsam mit seiner Schwester... Jun braucht mich! Eisern kämpfte er gegen die Übelkeit und die Pein an, die ihn zu lähmen drohte. Dennoch konnte er nicht sofort wieder aufstehen. Nur ein paar Minuten, nur ein klein wenig mehr... Nein! Keine Schwäche! Ich muss stark sein! Da spürte er Hände, weiche Hände, die sanft durch seine rabenschwarzen Haare fuhren. Jun? Aber es war nicht seine Schwester, obwohl es sich ähnlich anfühlte. Ja, obwohl die Berührung komplett anders war, übermittelte sie denselben Trost, dieselbe Geborgenheit. Was? Verwirrt hob er seinen Kopf und blinzelte in Horo Horos dumm grinsendes Gesicht. Der junge Chinese brauchte einige Augenblicke, um zu begreifen, dass es der Junge gewesen war, der ihn so sanft berührt hatte. Genervt schlug er die Hand beiseite und erkannte erst in dem Augenblick, dass er halb auf dem Jungen lag, Horo Horos Jacke versaut hatte. Wenigstens hatte er Kororo nicht getroffen, die noch immer tief und fest in der Armbeuge schlief. Der junge Ainu schien das Erbrochene aber nicht zu sehen, vermutlich hatte er durch seinen Schlaf schon zu viel von den Drogen aufgenommen, so dass er sich über einen hässlichen Fleck auf seiner ach so geliebten Winterjacke nicht weiter ärgerte. Wenn er nicht so benebelt wäre, würde er mich dafür verprügeln. So wie noch letzte Woche, wo ich mich über seinen blauen Beutel lustig gemacht habe. Letzte Woche. Als Jun noch... Jun! "Yoh-kun ist sofort aufgebrochen, als deine Aster vertrocknet ist, Ren." Horo Horos Stimme klang hohl in Rens Ohren, als sich dieser unter Aufwartung all seiner Kräfte auf seine Arme stemmte, bis er quer über dem jungen Ainu hockte. Nur noch einen Meter zur Seite, und er würde in der Lage sein, seine Sense zu ergreifen. Mit ihr an seiner Seite konnte er stark sein. Stark genug, um seiner Schwester zu helfen... "Wir alle haben uns Sorgen um dich gemacht!" Horo Horo mochte weggetreten wirken, aber seine blauen Augen waren klar auf die Gestalt über sich gerichtet, die ihn in ihrem Zusammenbruch auf das nasse Streu gestoßen hatte. Eigentlich müsste er sich ja wieder aufrichten, aber Kororo schlief noch immer so schön in seinem Arm und eigentlich fand er es ganz bequem, hier auf dem Boden zu liegen, warum sich also abmühen? "Ach, halt deine Klappe!" murrte Ren und streckte sich. Noch ein kleines Stückchen, dann würde er seine Sense wieder in der Hand halten, wieder Herr der Lage sein, wieder die völlige Kontrolle über sein Leben besitzen. Dann würde er zurück zu Jun gehen und den Rest seiner Tage an ihrer Seite verbringen. Ja, dann würde er all die Fehler wieder gut machen, die er in den ersten zehn Jahren getan hatte, in denen sie sich kannten. Noch ein Stückchen, Jun... "Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, Ren." Der junge Chinese verharrte in seiner Verrenkung, in der er den Stab der Sense schon fast mit den Fingerspitzen fühlen konnte, und blickte zurück in Horo Horos noch immer dämlich grinsendes Gesicht. Dennoch wusste er, dass der junge Ainu die Wahrheit sagte, nicht nur wegen dem Septum, das noch immer in der Luft lag, ihm als den Fallensteller jedoch nichts anhaben konnte. Was? Spinnt der jetzt völlig? Der will sich Sorgen um mich gemacht haben? Ausgerechnet er? Dennoch wusste Ren, dass dem wirklich so war, dass Horo Horo diesen Satz vermutlich auch ohne Drogen gesagt hätte. Ja, Asakuras Yohs offenes Wesen färbte auf viele Menschen ab, besonders auf die Freunde in seiner Umgebung. Vermutlich wäre der junge Ainu nie so offen gewesen, erst recht nicht seinem ärgsten Feind gegenüber. Vielleicht, und das erschien Ren mit einem Mal viel logischer, kannte er Horo Horo einfach nicht so gut, um dieses Verhalten als typisch einschätzen zu können. "Jetzt bist du wohl völlig übergeschnappt, was?" keuchte er, als eine zweite Welle der Agonie über ihn hinwegschwemmte. Hart biss er auf seine Unterlippe und brachte eine geballte Faust an seinen Bauch, der zu explodieren drohte. Jun... Ich muss zurück zur ihr! "Verschwinde einfach, ok? Ich will mit meiner Schwester allein sein!" brachte er zwischen zwei Stromstößen der Pein hervor und kroch zu seiner Sense. Als er die Hand um den Griff schloss, spürte er sofort die dunkle Macht, die durch seine Venen jagte, ihn mit neuer Kraft versorgte. Kraft, die seine Schwester so dringend benötigte. "Also geht es ihr gut?" Horo Horo entschied sich doch gegen das Herumliegen auf dem Boden, es wurde ihm allmählich zu langweilig. Mühsam kam er auf seine Beine, und die Welt schwankte um ihn, als befände er sich auf einem Schiff, das gerade in Seenot lief. "Das freut mich zu hören." Er wankte hinüber zu dem jungen Chinesen. Das Grinsen auf seinem Gesicht machte Ren noch kranker, als er sich bereits fühlte. Jun soll es gut gehen? Hart schluckte der junge Chinese, als sich ein dicker Kloß in seinem Hals bildete. Ja, es wird ihr auch wieder gut gehen, wenn ich erst wieder bei ihr bin! "Ich wollte sie nämlich fragen, ob wir dich alle in den Winterferien besuchen kommen können. Platz hast du ja genug und Pirika-chan würde die Berge hier auch mal gern sehen." Horo Horo griff nun ebenfalls nach der Sense und hielt sich daran fest, als sei sie sein einziger Rettungsring. Dass Ren ihn am liebsten damit aufgeschlitzt hätte, sah er nicht einmal. Vor seinem inneren Auge sah er sie bereits alle lachend einen Abhang hinunter fahren, er auf seinem coolen Snowboard natürlich vorneweg. "Wenn du willst, bring ich dir auch bei, wie man Snowboard fährt. Das ist ungefährlicher als Drachensteigen." Horo Horo kicherte, als hätte er gerade einen unglaublich guten Witz gerissen. Das wird einfach nur klasse! Winterferien? Was soll das?! "Was für einen Stuss erzählst du da?" verlangte der junge Chinese von ihm zu wissen und packte mit einer Hand seine Sense fester, mit der anderen zerrte er an Horo Horos Kragen und Schal, um ihn direkt in das verträumte Gesicht sehen zu können. Ihre Nasen berührten sich beinahe und für einen Moment war die Welt des jungen Ainu von zwei gelben Augen ausgefüllt, die ihn hasserfüllt anstarrten. Als das dümmliche Grinsen aus Horo Horos Gesicht verschwand und seine Wangen eine kränkliche Blässe annahmen, hoffte Ren, dass die Wirkung dieser hartnäckigen Droge nachließ und der junge Ainu allmählich begriff, in welch gefährlicher Lage er sich befand. Dann wäre es einfacher für Ren, ihn davon zu überzeugen, dass er den Chinesen sogar noch mehr hasste und dass er sich nichts sehnlichster wünschte, als sofort nach Japan zurück zu eilen. Am besten zusammen mit diesem Asakura Yoh, der zwar immer tat, als könnte er die Welt retten, im Endeffekt doch nur tatenlos daneben stehen musste, wenn ein weiteres Kartenhaus in sich zusammen stürzte. Ich bin der einzige, der Jun helfen kann! Ich brauche die anderen nicht! Dieses Mal kam der Schmerz nicht all zu heftig und Ren hielt ihm stand, ohne mit der Wimper zu zucken. Schließlich musste er furchterregend aussehen, damit Horo Horo sich halb zu Tode ängstigte. So, wie er sich in dem Wohnzimmer vor ihm gefürchtet hatte, als er ihn beinahe erwürgte. Oder wie auf dem Baum, wo der junge Ainu geglaubt hatte, er würde ihn mit seinem lächerlich kleinen Dolch die Kehle aufschlitzen. Ich muss das tun! Es ist Juns einzige Chance! Ich will sie nicht verlieren! Ich brauche sie doch! Als Horo Horo seine freie Hand hob, erwartete Ren, dass er ihn schlug oder sonst wie von sich stieß, um anschließend um sein Leben zu rennen. Er rechnete jedoch nicht mit der sanften Berührung, mit der der Junge über seine linke Schläfe strich. Der brennende Schmerz war nichts im Vergleich zu der Pein, die in seinen Adern, in seinen Knochen, in seinem ganzen Inneren tobte, er bemerkte ihn kaum. Erst, als Horo Horos Augen sich weiteten und er eine blutverschmierte Hand zurück zog, begriff er, dass der junge Ainu keine Angst vor, sondern um ihn hatte. Denn es war nicht Horo Horos Blut, das wusste Ren sofort, immerhin hatte er die Wunde fachmännisch verbunden. Nein, es war Rens eigenes Blut und er wusste auch genau, warum. Nein! Ich muss stark sein! Für Jun muss ich stark sein!!! "Du blutest, Ren." hauchte Horo Horo und mit einem Mal schwammen Tränen in seinen blauen Augen. Er wirkte gar nicht mehr wie der Junge, der noch vor wenigen Monaten Shaman King werden wollte, und das möglichst ohne Ren in seinem Team, den er schon immer abgrundtief verabscheut hatte. Nur Yoh zuliebe hatte er den jungen Chinesen auf der Reise nach Amerika in seiner Nähe geduldet. Nun aber wirkte er besorgt. Unglaublich besorgt. Um genau diesen ewigen Gegner, dem er mehr als einmal den Tod gewünscht hatte. Ren blutet... Horo Horo blinzelte und eine Träne rann über seine Wange, fiel auf den Steinfußboden des Verlieses. "Das ist nicht gut." Er weint? Wegen mir?! Ren errötete, bevor ein weiter Anfall jegliche Farbe aus seinem Gesicht vertrieb. Ein roter Striemen blieb dennoch zurück, hob sich unheimlich gegen seine bleiche Haut ab. Jun! Ich muss zu ihr zurück. Genau, wie er gehen muss, denn er kann mir nicht helfen! Energisch stieß er den jungen Ainu von sich, der zurück in das nasse Stroh fiel, dort bewegungslos liegen blieb. Er ist still. Na endlich! Ren wusste, dass die Drogen endlich ihre wahre Wirkung entfalteten. Horo Horo würde für die nächsten Stunden schlafen, eine wirksame Methode, mit der man Feinde außer Gefecht setzte, die man zuerst ausgehorcht hatte und später gut als Geiseln für Lösegeldforderungen verwenden konnte. Die Zeiten in China waren nicht immer friedlich gewesen und wenn schon jemand den Tao-Palast angriff, so hatten Rens Ahnen nicht zurück geschreckt und ihren eigenen Profit an dem Leichtsinn anderer geschlagen. Ren stützte sich hart auf seine Sense und wimmerte leise, stöhnte erleichtert auf, als der Schmerz in seinem Inneren auf ein erträgliches Maß schrumpfte. Ich muss zu Jun. Sie braucht mich! Der junge Chinese betrachtete die schlafende Gestalt vor sich im Stroh und seufzte leise. Und der kann nicht hier bleiben. Also schwang er Horo Horo über seine Schulter, verzog angewidert seinen Mund, als der junge Ainu von Reisbällchen zu murmeln begann, wie köstlich er diese fand und wie viele er auf einmal verdrücken konnte. Wenn er in meinem Umhang beißt, ist er dran, egal, ob er schläft oder nicht! Ren holte tief Luft und versuchte, die Pein in seinem Bauch zu ignorieren. Dann konzentrierte er sich und schwang seine Sense langsam vor sich im Kreis, bis ein goldenes Gebilde entstand, durch das er trat. Im nächsten Moment war die Zelle leer, die Fackel fiel von der Wand und erlosch im nassen Streu. Jun braucht mich. So, wie auch ich sie brauche! *** "Da hat sich ein Felsen davor geschoben!" Yohs Stimme klang gedämpft aus dem schwarzen Loch, das kratzende Geräusch von Metall war zu hören, das auf Stein schlug. Amidamaru schwebte direkt über der Falltür, durch die Horo Horo gefallen war und in die sein Herr ohne zu zögern nachgesprungen war, und blickte aufmerksam in alle Richtungen. Wo eine Falle existierte, gab es sicherlich auch noch andere. Amidamaru hatte nicht umsonst geschworen, den Jungen mit all seinen Kräften zu beschützen, deshalb war ihm nicht wohl bei dem Gedanken, dass Yoh nun auf sich allein gestellt war, Samuraikräfte hin oder her. >Komm heraus, Yoh-dono.< rief er schließlich in das Loch hinab und beobachtete Yoh, der wieder zu ihm empor kletterte. Der junge Japaner hatte seine Lippen aufeinander gekniffen, er wirkte ärgerlich. "Es ist ja nicht das erste Mal, dass wir hier sind! Ich hätte besser aufpassen müssen!" sagte er und klopfte sich den Staub von der Jacke. Sein Rucksack lehnte an der Wand, war vergessen. Weder verspürte der junge Schamane Hunger, noch würde er sich weiter mit dessen Gewicht belasten. Jetzt hatte er nur noch einen Gedanken in seinem Kopf, der alles andere um ihn herum vergessen ließ. "Wir müssen Ren finden." Yoh betrachtete das Schwert in seinen Händen eingehend, bevor er es in die Scheide führte. Beim Laufen würde es ihn nur behindern und sollte es zum Kampf kommen, würde er es schon schnell genug ziehen können. "Damit er Horo-kun dort rausholt. Eigentlich könnte ich den Stein ja zerschlagen, aber ich will Horo-kun nicht verletzen." Amidamaru nickte zustimmend. Sie beide wussten nicht, was sich unter dem Felsen befand und was für Schaden sie bei dessen Vernichtung anrichten würden. Beide hofften sie schweigend, dass es dem jungen Ainu gut ging, in was für Schlamassel er gerade auch geraten war. >Zum Saal ging es dort entlang.< erinnerte sich der Geist und schwebte, immer wachsam umher schauend, vor Yoh her. Dieser nickte und folgte seinem Freund. Seit sie sich das erste Mal vor über einem Jahr auf dem kleinen Friedhof in Tokio begegnet waren, hatte Yoh dem Samurai vertraut, hatte sich nicht von den schaurigen Legenden abschrecken lassen, die sich um Amidamaru rankten. Mehrere tausend Mann sollte der Samurai kurz vor seinem Tod umgebracht haben, bevor ihn ein Pfeilhagel nieder streckte. In all diesen Geschichten steckte auch ein Fünkchen Wahrheit, aber Yoh hatte die wirklichen Hintergründe erfahren, wusste, dass der Geist ein guter Mensch gewesen war und ihm loyal zur Seite stand. Zusammen waren sie schon mehr als einmal durchs Feuer gegangen und hatten bisher immer überlebt. Amidamaru war nicht glücklich mit der Idee, dass sie erneut in den gefährlichen Tao-Palast eindrangen, aber er wusste, wie wichtig dieser junge Chinese für Yoh war, also führte der Geist seinen Herrn ohne zu zögern. Yoh ahnte dies und war ihm dankbar dafür. "Wir hatten Rens Vater letztes Jahr besiegt." Überlegte der junge Japaner leise, während sie um die nächste Ecke bogen, nach weiteren Fallgruben oder Angreifern Ausschau hielten. "Warum steht hier alles noch auf Verteidigung?" >Vielleicht haben sich Rens Eltern nicht besonders viele Freunde geschaffen und das ist das Erbe, was seine Schwester und er nun antreten müssen.< "Aber man kann doch nichts dafür, was seine Vorfahren gemacht haben!" >Das siehst du so, Yoh-dono, andere Menschen würden dir da nicht zustimmen.< "Das ist doof!" Yoh schüttelte seinen Kopf und wirbelte im nächsten Moment herum, sein Katana mitten in der Bewegung ziehend, als er das Stöhnen neben sich hörte. Es klang voller Qual, nicht mehr menschlich. Der Gang hinter ihnen war jedoch leer. Schlecht beleuchtet und unheimlich dunkel, aber eindeutig leer, wie sich Amidamaru selbst überzeugte. "Was war das?" Yohs Augen weiteten sich und er trat einige Schritte zurück, als das Stöhnen erneut erklang. Aber es war nicht vor ihm, auch nicht hinter ihm. Nein, es schien irgendwie aus der Seite zu kommen. Aus der Seite? Yoh wandte seinen Kopf nach links und nach rechts, aber alles, was er sah, waren graue Steine, die im Licht einer Fackel noch trostloser wirkten. Die Gänsehaut auf Yohs Armen verstärkte sich, als sich ein schwaches Klopfen zu dem Stöhnen gesellte. Das kam eindeutig von links! Aus einer Wand? Der junge Japaner und sein Geist tauschten Blicke aus, dann trat der Junge vorsichtig zu der besagten Wand hinüber und ließ seine Finger über den kalten Fels streichen. Sollte das Horo Horo sein? War ihm etwa etwas zugestoßen? Aber nein, der junge Ainu war doch an einer ganz anderen Stelle in die Tiefe gestürzt, hockte vermutlich in einer Zelle gefangen und wartete sehnsüchtig darauf, dass ihn jemand aus seiner misslichen Lage befreite. So rasch konnte Horo Horo nicht von der Stelle mehrere Gänge entfernt hinter diese Wand gekommen sein! Und was ist, wenn es hier Verbindungskanäle gibt? Das ist schließlich ein großer Palast. Ein unheimlicher... Das Stöhnen verstummte, dafür wurde das Klopfen energischer. Wer auch immer hinter den Steinen saß, er schien sie gehört zu haben und war wild entschlossen, nicht länger hinter dem harten Fels zu verharren. >Ich kann einen Geist spüren.< flüsterte Amidamaru, obwohl es keinen Sinn machte, seine Stimme zu senken. Außer dem klopfenden Jemand war niemand anwesend, der sie hätte hören können. >Es scheint aber ein guter Geist zu sein. Zumindest kann ich nichts Böses fühlen.< Yoh nickte zustimmend. "Mir geht's genauso, Amidamaru." Erklärte er und klopfte probehalber zurück. Für einen Augenblick herrschte Stille hinter der Wand, dann verstärkte sich das fremde Klopfsignal wieder. "Aber egal, wer dahinter ist, wir holen ihn raus." Yoh trat zurück und hob das alte Harusame, Amidamarus Geisterkatana. Sofort war der Samurai bei seinem Herrn und unterstützte ihn mit all seinen Kräften, so wie er das die letzten Monate so oft getan hatte. Unter ihrer gemeinsamen Macht zerbrachen einige Steine zu Staub, gaben ein großes Loch in der Wand frei, zeigten die Person, die dahinter saß. "Eliza-san?" >Eliza-san?< Beide blickten sie verwirrt auf die Krankenschwester, die in einer kleinen Ausbuchtung hockte, die vermutlich zu dem komplizierten Gangsystem gehörte, das durch die meterdicken Mauern des Palastes lief. In den Armen der jungen Frau lag niemand anderes als ihr Herr, ihr Ehemann, ihre Liebe - Doktor Faust VIII. "Was ist passiert, Eliza-san? Was macht ihr hier?" Yoh steckte das Schwert beiseite und lief hinüber, um ihr zu helfen, den bewusstlosen Mann aus der Mauer zu heben. Dankbar lächelte sie ihn an und er konnte sehen, dass sie geweint hatte. "Er hat ihn seine eigenen Pillen einnehmen lassen und uns dann hier eingesperrt." Schluchzte sie und strich liebevoll durch blonde Haare. "Die Pillen haben keine besonders starke Wirkung, Faust wäre bald aufgewacht, aber..." sie errötete leicht und einige Tränen rannen über ihr wunderschönes Gesicht. "... aber ich fürchte mich vor der Dunkelheit. Da habe ich euch gehört und versucht, eure Aufmerksamkeit auf mich zu lenken." >Was euch auch gelungen ist.< Yoh betrachtete Fausts bleiches Gesicht im zuckendem Licht der Fackel und die Gänsehaut verstärkte sich auf seinen Armen. Mit einem Mal war ihm übel. "Warum seid ihr hier, Eliza-san? Was macht Faust hier?" "Faust hat sich um eine Patientin gekümmert, aber alles ist schief gegangen. Weil sie zu spät um Hilfe gerufen hat, konnte ihr nicht mehr geholfen werden. Und jetzt ist er da und bringt alles durcheinander." Eliza weinte nun offen und hielt ihren Ehemann schützend fest, so als wollte sie ihn vor einer drohenden Gefahr bewahren. Yoh fühlte, wie seine Beine nachgaben, und kniete sich vor dem Doktor in den Staub. Er verstand nicht alle Worte, die Eliza ihm gesagt hatte, wohl aber, dass Faust versucht hatte, eine Person zu heilen und dass diese Person die Krankheit wohl nicht überlebte. "Ist diese Patientin Tao Jun gewesen?" Eliza zögerte und streichelte Fausts Wange. Der junge Mann bewegte sich noch immer nicht, seine Medizin schien wirklich ausgezeichnet zu wirken. "Eliza-san?" "Hai." Schließlich hob sie ihren Kopf und nickte dankend, als Yoh ihr geistesabwesend ein Taschentuch reichte. "Tao-san rief vor etwa einem Monat nach Faust, aber da war der Krebs schon zu weit fortgeschritten. Das einzige, was mein Mann noch für sie tun konnte, war, ihren Lebensabend so schmerzfrei wie möglich zu gestalten." Die Pflanze! Yoh fühlte sich, als würde ihm der Boden unter den Füßen fortgezogen, aber anstelle in eine Fallgrube zu fallen, ähnlich wie Horo Horo, war ihm, als würde er in ein unendlich tiefes Loch gesogen, das ihn nie mehr hergeben würden. Die vertrocknete Aster! "Wie geht es Tao Jun jetzt?" drängte er Eliza und kam schwankend auf seine Beine. Ihm war schwindelig, denn mit einem Mal wusste er, dass sich all seine Ängste, all seine geheimsten Alpträume bewahrheiteten hatten. Ren war nach Hause gekommen und hatte seine Schwester im Sterben vorgefunden. Yoh konnte nur erahnen, wie sich sein chinesischer Freund nun fühlen musste. Verdammt, er musste zu ihm, ihn beistehen! Deswegen war er ja schließlich nach China gekommen. "Sie ist letzte Nacht gestorben." Schluchzte Eliza traurig. "Daraufhin ist er wütend geworden und hat uns hier eingesperrt." Die junge Frau blickte direkt in Yohs Augen und er konnte in den ihrigen Angst und Schrecken sehen. "Ich glaube nicht, dass er ihren Tod so ohne Weiteres akzeptieren wird." "Wer?" fragte Yoh, obwohl er die Antwort schon längst wusste. "Tao Ren, ihr Bruder." Jun ist tot. Und Ren wusste von nichts. Oh Gott... *** Yoh sah schon von Weitem, dass ein Bann über der massiven Tür lag, die ihm Zugang zu den Ballsaal verschaffen würde. Niemand sollte in den Saal eindringen können. Niemand soll entkommen... Der junge Japaner zögerte nicht einen Moment. Wild entschlossen rannte er auf das Portal, das etwa doppelt so hoch wie er war, zu und hob Harusame. Der Bann hielt ihm stand, zumindest für den Bruchteil einer Sekunde, dann spürte Yoh, wie die Kraft aus dem Holz wich, sich seinem Angriff beugte, dann brach der junge Japaner auch schon durch. Splitter wirbelten durch die Luft, aber Yoh bemerkte sie nicht einmal. Er stolperte einige Schritte in den Saal und das erste, was er wahrnahm, waren die tausend Lichter, die überall zu stehen schienen. Ein wahres Flammenmeer begrüßte ihn und geblendet kniff er seine Augen zusammen, hielt sich schützend seinen rechten Arm und Harusame vor das Gesicht. Was ist hier los? Dann hörte er auch die leise Musik, sah all die Diener, die mit großen Platten in ihren kalten Händen umhereilten. Yohs Magen drehte sich einmal um die eigenen Achse, als der Junge all das Fleisch und das andere Essen sah, das auf reinem Silber serviert wurde. Mahlzeiten, die der junge Japaner plötzlich einfach als nur ekelig empfand. Was wird hier gespielt? Yoh schluckte hart und trat einige Schritte in Richtung Saalmitte. Holz knirschte unter seinen Füßen und er stieß einige Kerzen um, die sofort erloschen. Amidamaru, der seinem Herrn folgte, schien genauso verwirrt zu sein. Kerzenlicht, Musik, gutes Essen, Silberbesteck. Yoh wurde noch schlechter und seine Hand, die noch immer das Katana schützend vor seinem Oberkörper hielt, begann, leicht zu zittern. Feier? Das ist eine Feier? Was wird hier denn gefeiert? Doch wohl kaum Juns Tod... Yoh ging sofort in Angriffsstellung über, als sich von der großen Tafel, die in der Mitte des Saales und des Kerzenmeeres stand, eine Gestalt erhob. Zuerst konnten Yohs geblendete Augen nur einen Schatten erkennen, dann aber wusste er, wer vor ihm stand. Eine golden glänzende Klinge gab ihm den entscheidenden Hinweis. "Ren?" Yoh blinzelte, aber außer einem schwarzen Umhang konnte er nichts von seinem chinesischen Freund sehen. Tief hatte sich dieser die Kapuze in sein Gesicht gezogen, auch blieb sein restlicher Körper unter schweren Samt verborgen. Lediglich die Sense funkelte im Kerzenschein. Er ist am Leben! Yoh lächelte erleichtert, als er den jungen Schamanen vor sich stehen sah. Niemand anderes war erlaubt, die Sense zu halten oder gar zu benutzen, es konnte nur Ren sein, der ihn schweigend anstarrte. Gott sei Dank! Als Yoh in Elizas erschrockenes Gesicht gesehen hatte, hatte er befürchtete, dass sich der junge Chinese etwas antun würde. Immerhin hatte er gerade seine Schwester, den kostbarsten Menschen in seinem Leben verloren, und Ren hatte schon immer zu sehr drastischen Maßnahmen tendiert. Yoh wusste nicht, wie er reagieren würde, sollte Anna etwas zu stoßen. Allein der Gedanken an diese Möglichkeit erschuf einen eisigen Klumpen in seinem Magen, der ihn zu verzehren drohte. Wie musste sich da erst Ren fühlen? "Ren?" Yoh senkte sein Schwert und trat auf die Gestalt zu, entschlossen, dem Freund in seinem Kummer beizustehen. Aber anstelle auf einen verzweifelten Chinesen traf der junge Japaner lediglich auf die golden glänzende Sense, die jedoch an Yoh vorbei auf die zerbrochene Tür zeigte. "Das wirst du mir bezahlen, Asakura Yoh." Rens Stimme war tief, seltsam ruhig. Die Sense schwebte scheinbar schwerelos neben Yohs Kopf. "Wird dich ,ne schöne Stange Geld kosten, diese Tür war antik und damit praktisch unbezahlbar." Yohs Nackenhaare richteten sich auf, als Ren seinen Kopf in den Nacken warf und schallend lachte. Von einen auf den nächsten Augenblick verstummte der junge Chinese wieder und Yoh fühlte einen eisigen Blick auf sich ruhen. "Nimm diesen Schneeidioten mit und geh, Asakura Yoh. Du bist nicht eingeladen." Sagte Ren in einer gefühllosen Stimme, die Yoh schon lange nicht mehr gehört hatte, seit einem Jahr nicht mehr. Also geht es Horo-kun gut. Yoh steckte seinen Katana fort und schüttelte energisch seinen Kopf. Dem jungen Ainu mochte nichts zugestoßen sein, aber Ren brauchte ihre Hilfe. Egal, was der junge Chinese in seiner unendlichen Trauer auch glaubte, Yoh würde ihn nicht allein lassen! "Was wird hier gespielt, Ren?" fragte er leise und streckte seine Hand nach dem Freund aus. Ren sprang darauf hin etliche Meter zurück, zertrat nicht einmal eine Kerze, als er den Boden wieder berührte. Für einen Augenblick schien sein ganzer Körper golden zu glänzen, bevor sich das Leuchten wieder auf die Sense konzentrierte. "Es handelt sich hierbei um ein Familienfest, zu dem du nicht eingeladen wurdest. Also verschwinde von hier!" Ein Familienfest? Yoh sah sich kurz um, aber der Tisch schien leer zu sein, bis auf die Speisen, die sich unberührt in die Höhe stapelten. Vielleicht wurden sie für ein Fest zubereitete, aber es schien niemand da zu sein, der sie aß. Ein Familienfest? Mit welcher Familie denn? "Ist dein Vater wieder zurück gekommen? Hat er all das..." "Mein Vater wird nie mehr zurück kehren, das weißt du genau!" Ren hustete und stützte sich hart auf seine Sense, eine Bewegung, die Yoh alarmierte. "Ich feiere dieses Fest nur meiner Schwester zu Ehren!" Nani? Ist das hier eine Beerdigung? Yoh riss seine Augen auf, aber er konnte nirgendwo einen Sarg erkennen, der darauf hindeutete, dass Ren seine Schwester mit dieser schauerlichen Feier zu Grabe tragen wollte. Um ihr dann selbst zu folgen... Yoh wusste nicht, woher dieser Gedanke kam, aber er wusste, dass er Recht hatte. Ren brauchte seine Schwester, würde mit Sicherheit eine große Dummheit begehen, wenn er sie nicht mehr um sich wusste. "Ich habe Faust gefunden." Erklärte der junge Japaner und hangelte sich zwischen den brennenden Kerzen hindurch, konnte es aber nicht verhindern, dass er ab und an doch eine zertrat. Der Chinese stand unbeweglich ihm gegenüber, sein Umhang verschluckte die Gestalt des Jungen vollkommen, bewegte sich leicht, obwohl kein Wind zu spüren war. Auch schienen die Flammen dem Samt nichts anhaben zu können. "Dieser Nichtsnutz von einem Arzt ist noch nicht verschwunden? Dabei braucht er doch nur den Gang hinunter zu laufen und ist im Freien." Höhnte Ren und hustete erneut. "Der soll ja nach Japan zurück kehren. Quacksalber!" "Ich habe von deiner Schwester gehört." Yoh hatte Ren fast erreicht, aber bevor er seine Hand heben und dessen freien Arm berühren konnte, wirbelte der junge Chinese plötzlich herum und bevor es sich Yoh versah, landete er an der gegenüberliegenden Wand, zerbrach mehrere Kerzen unter seinem Rücken, als er fiel. Wie durch ein Wunder setzte er sich dabei nicht selbst in Brand. >Bist du in Ordnung, Yoh-dono?< Amidamaru schwebte schützend zwischen seinem Herrn und der ganz in Schwarz gehüllten Gestalt. "Ich schon, Amidamaru. Ich schon..." Yoh kniff seine Augen zusammen, als er sich aufrichtete, bis er saß. Sein Rücken schmerzte von dem Aufprall und er fragte sich benommen, warum der junge Chinese ihn ohne Vorwarnung angegriffen hatte. So etwas Unfaires hätte er noch vor einem Jahr getan, aber sie waren doch Freunde! Selbst in Amerika, als sie ihren letzten Kampf austrugen, forderte ihn Ren zu einem fairen Duell heraus, hätte ihn niemals so plötzlich, so hinterhältig von sich geschleudert. Kein Blut... Yoh hob seine Hand und befühlte sein Gesicht. Es wäre dem jungen Chinesen ein Leichtes gewesen, ihn mit seiner Sense zu verletzen oder ihn gar zu enthaupten, aber er hatte es nicht getan. Statt dessen stand Ren wieder bewegungslos an seinem Platz und schien zu ihm hinüber zu starren. Seine gelben Augen lagen in tiefen Schatten, Yoh hätte sie jetzt gern gesehen, um ihn besser einschätzen zu können. Jeder reagiert in seiner Trauer anders. Anna würde das halbe Haus in Schutt und Asche legen, damit sie es wieder aufbauen könnte. Manta würde seinen Computer neu installieren. Ich würde... Yoh schluckte hart und seine rechte Hand wanderte wie von selbst unter seine Jacke und schloss sich um ein kleines Gerät, das er ohne viel zu Überlegen einfach mitgenommen hatte. Ich würde einfach nur wie gelähmt sein. Und Ren schien seine Trauer einfach zu ignorieren, so wie er den Tod seiner Schwester missachtete, indem er für sie ein großes Fest veranstaltete. "Ich habe von Eliza gehört, was deiner Schwester passiert ist. Es tut mir leid, Ren." Yoh zog sich an der Wand empor, bis er wieder stand, und zog sein Schwert. Wenn Ren einen Zweikampf wollte, um seinen Zorn über den Tod seiner Schwester besser beherrschen zu können, so würde er bereit sein. So wie er immer für ihn da sein würde. "Es tut mir so leid, Ren." Yoh meinte jedes einzelne Wort, konnte Rens Schmerz sehr gut nachempfinden. "Ich verstehe dein sinnloses Gebrabbel nicht, Asakura Yoh." Noch immer lag Rens Gesicht in tiefen Schatten, aber der junge Japaner konnte das Grinsen dennoch sehen, spürte den Wahnsinn dahinter. "Meiner Schwester geht es ausgezeichnet. Dieser Quacksalber hat einfach keine Ahnung, das ist alles!" Ren trat zur Seite und die Kapuze drehte sich erwartungsvoll Richtung Tisch. Yohs öffnete seinen Mund, um etwas zu erwidern, aber jeglicher Ton erstarb in seiner Kehle, als er die junge Frau sah, die sich langsam von einem Sessel erhob. Da sie mit ihrem Rücken zur Tür gesessen hatte, hatte Yoh sie erst nicht wahrnehmen können. Dafür sah er sie nun umso deutlicher. Nani... Harusame fiel klirrend auf den harten Steinfußboden, als Yoh vergaß, dass er es weiterhin festhalten musste. Seine braunen Augen weiteten sich und Entsetzen überzog sein Gesicht, dem jegliches Blut entzogen wurde. "Jun ging es noch nie so gut wie heute, nicht wahr, Schwesterherz?" Ren streckte seine freie Hand der jungen Frau entgegen, die diese ergriff und scheinbar schwerelos zu ihm hinüber glitt. Blaue Augen waren starr ins Leere gerichtet, die Brust hob und senkte sich nicht. Totenblässe lag auf schneeweißer Haut. Tao Jun trug ein elegantes, enganliegendes Abendkleid, das aus grüner Seide bestand. Eine Kette hing um ihren zierlichen Hals, zog automatisch Yohs Blicke auf sich. "Heute feiern wir meine Rückkehr, zu der du nicht eingeladen wurdest, Asakura Yoh, also verschwinde endlich! Ich will mit meiner Schwester allein sein!" Yoh hörte kaum die harten Worte des jungen Chinesen. Seine Augen waren nur auf den Anhänger geheftet, den Tao Jun um ihren Hals trug. Er bestand jedoch nicht aus einem Diamanten oder einem anderen Edelstein. Er bestand aus einem einfachen Stück Papier, auf dem alte chinesische Runen geschrieben standen. Ein Zauberspruch. Yoh bedeckte seinen Mund mit seiner rechten Hand und schluckte hart, um den üblen Geschmack zu vertreiben, der sich plötzlich in seinem Mund breit machte. Der Zauberspruch eines Totenbeschwörers. Yoh sank zurück auf seine Knie und schüttelte ungläubig seinen Kopf, während Ren seine Schwester zu sich zog, seinen freien Arm um ihre Hüften legte und sich vertrauensvoll an sie schmiegte. Die junge Frau reagierte nicht, starrte weiterhin ausdruckslos vor sich hin, blinzelte in all der Zeit nicht ein einziges Mal. "Niemand wird uns mehr trennen können, Schwesterherz." Murmelte der mächtige Erbe der Tao Dynastie und gelbe Augen schienen hinter der Kapuze zu glühen. Ren... Yoh holte tief Luft, aber das Entsetzen schien seinen Körper gelähmt zu haben, er konnte sich einfach nicht erheben und hinüber zu dem Geschwisterpaar gehen, das sich im Leben schon sehr nah gestanden hatte. Das nicht einmal der Tod zu trennen vermochte. Ren, was hast du nur getan? Tränen brannten in Yohs Augen und er spürte, dass Amidamaru, der über ihm schwebte, nicht minder schockiert war. Tao Ren hatte aus seiner Schwester seinen Haupt-Kyonshi gemacht. *** Ganz langsam glitt Horo Horo aus den Tiefen seines wunderschönen Schlafes an die Oberfläche. Gerade noch hatte er vor einem großen Teller voller Reisbällchen gesessen und so viel gegessen, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Oh, wie köstlich die Reisbällchen doch gewesen waren! Deshalb benötigte er mehrere Anläufe, bevor er begriff, dass das Essen zusammen mit dem Traum verschwunden war und er sich in einem weichen Bett befand. Wie er hier her gekommen war, wusste er nicht, aber es war ihm egal, als er sich die Decke über den Kopf zog und sich auf der warmen Matratze umdrehte. Hier ist's gemütlich! Horo Horo lächelte vor sich hin, als er nach Kororo griff und sie zu sich ziehen wollte. Statt dem kleinen Naturgeist hielt er aber etwas anderes in der Hand. Etwas Kaltes, das nicht nachgeben wollte, egal, wie heftig er daran zog. Nani? Der junge Ainu öffnete seine Augen und schrie erschrocken auf, als er die Hand sah, die er in seinen Fingern hielt. Eine eisige Hand, aus der schon vor langer Zeit jegliches Leben entwischen zu sein schien. "IGITT!" kreischte der Junge und strampelte heftig um sich, wobei er die Decke nur noch kräftiger um seine stampfenden Beine wickelte. "Hilfe!" Das ist ein Toter! Panik ergriff von ihm Besitz und abwehrend ruderte er mit seinen Armen in die entgegengesetzte Richtung. Er wollte nur fort von der Leiche. Nur fort! Mit einem weiteren Schrei verlor er seinen Halt und landete auf dem harten Steinfußboden. Da war auch Kororo wieder an seiner Seite, setzte sich auf seine Schulter und rieb ihren Kopf beruhigend an dem seinem, gab dabei tröstende Geräusche von sich. Obwohl Horo Horo am liebsten aufgesprungen und laut brüllend durch den Palast gerannt wäre, besann er sich auf seine kleine Pokkuru, die ihn schon immer beschützt hatte. Ihr jetziges Verhalten zeigte ihm, dass ihm von dem Toten keine Gefahr drohte. Was soll das? Horo Horo schloss für einen Moment seine Augen und genoss Kororos besänftigende Anwesenheit, bevor er sie wieder öffnete und entschlossen zu der Leiche empor blickte, die nun quer über dem Bett lag. Wieso wach ich neben einem Toten auf? Horo Horo stand mit zittrigen Beinen auf und beugte sich über die leblose Gestalt. Obwohl es mittlerweile stockfinstere Nacht geworden war und dichte Wolken den Mond verdeckten, konnte der junge Ainu genug erkennen, um zu wissen, wer vor ihm auf der weichen Matratze lag. "Li Pailong?" wisperte Horo Horo und ballte seine Fäuste. Ja, er hatte immer gewusst, dass der ständige Begleiter Tao Juns ein Zombie gewesen war, aber da Jun ihm seinen freien Willen ließ, war Horo Horo der ehemalige Kunfu-Kämpfer nie wie ein Untoter vorgekommen. Nein, er hatte einfach wie ein guter Freund auf ihn gewirkt, wie eben auch Kororo oder Amidamaru oder Bason. Bason... Horo Horo riss seinen Mund auf, aber nichts als ein erstauntes >Häh?< entwich seinen durcheinander wirbelnden Gedanken. Der junge Ainu streckte seine Hände aus und umschloss mit eisigen Fingern eine Totentafel, die neben dem leblosen Li Pailong lag, scheinbar achtlos weggeworfen worden war. Was geht hier vor? Horo Horo konnte die chinesischen Schriftzeichen nicht entziffern, die den schwarzen Stein zierten, aber er brauchte der fremden Sprache gar nicht mächtig zu sein, um zu wissen, dass er Basons Totentafel in den Händen hielt, und dass der Geist höchstwahrscheinlich darin eingesperrt war. Das kann nur Ren ihm angetan haben. Der junge Ainu drehte die Tafel in seinen Händen hin und her und sah verwirrt in Kororos Gesicht. Die Pokkuru schüttelte nur ihren Kopf und kuschelte sich an seinen Hals. Sie verstand all die Vorkommnisse nicht nur, sie machten ihr sogar Angst. Unsagbare Angst, die sich langsam auch auf den Jungen übertrug. Ren hat also Bason in seine Totentafel verbannt. Horo Horo ließ die Tafel in die Taschen seiner Winterjacke gleiten, wünschte sich auf einmal, an einem ganz anderen Ort zu sein. Ja, er wollte zurück zu seiner Schwester, in sein Heimatdorf, wo er sich sicher fühlte. Sicher vor diesem seltsamen Ort mit all den Toten und den Fallgruben und... Das Verließ! Wie bin ich da hinaus gekommen? Horo Horo setzte sich im Schneidersitz auf den Fußboden und nahm sein Kinn in seine Hand. Dies war eine typische Haltung, die er immer einnahm, wenn er angestrengt nachdachte. Dass von Li Pailong keine Gefahr ausging, das wusste er. Der Zombie war immer nett zu ihm gewesen, selbst als er noch seine Seele besessen hatte. Ich war in der Zelle, der Fels versperrte den Ausweg. Genau. Dennoch, wie war ihm die Flucht gelungen? Die Flucht aus einem Raum ohne Ausgang? Hatte Yoh ihm geholfen? Wenn ja, wo war er dann? >Verschwinde einfach, ok? Ich will mit meiner Schwester allein sein!< Die tiefe Stimme schnitt durch seine suchenden Gedanken, brachte mit einem Schlag alle Erinnerungen zurück. Verschwommene Erinnerungen, die ihm kaum wirklicher erschienen als der Reisbällchentraum, die jedoch wahr sein mussten, erklärten sie allein seine jetzige Lage. Also hat mich Ren aus dem Verließ geholt und hier her gebracht. Wieso ist er dann nicht da? Wo ist er? Horo Horo biss sich auf die Unterlippe und zuckte zusammen, als sein Daumen schmerzte, mit dem er gerade seine müden Augen massierte. Ruckartig zog er seine Hand zurück und starrte verwirrt auf den schwarzen Samt, der um seinen Finger gewickelt war. Ach ja, ich hatte mich ja verletzt und geblutet. Geblutet. Im nächsten Augenblick sprang Horo Horo so rasch auf seine Füße, dass Kororo beinahe von seiner Schulter gefallen wäre. Er missachtete jedoch ihren ängstlichen Protest, als er die Totentafel wieder aus seiner Tasche zog und zwischen ihr und dem leblosen Untoten hin und her schaute. Li Pailong ist Tao Juns Haupt-Kyonshi gewesen. Er kann nur in dieser Welt existieren, solange sie ihm ihre Macht gibt. Ohne ihre Gabe würde er zurück ins Reich der Toten kehren, wo er hin gehört. Horo Horo wusste all dies über Untote, da seine Schwester es für nötig gehalten hatte, dass er als zukünftiger Shaman King auch fremde Geistererscheinungen und Kräfte außerhalb des Schamanenzirkels kannte. Tao Jun hätte Li Pailong niemals so aufgegeben, er war mehr für sie gewesen als nur ein Zombie, er war ihr Freund gewesen, so wie Kororo meine beste Freundin ist! Geblutet... Ren hat geblutet. Der junge Ainu verstand plötzlich all die Teile des Puzzles: Warum die Aster vertrocknet war, warum Li Pailong leblos auf dem Bett lag, warum Bason in seine Totentafel eingesperrt wurde. Und warum Ren in dem dunklen Verließ warmes Blut über die Schläfen gelaufen war. Oh nein... Laut krachte die Tür gegen die Mauer, als Horo Horo aus dem einsamen Schlafzimmer stürmte, blindlings die Gänge entlang rannte, in ängstlicher Hoffnung, dass er den Erben der chinesischen Dynastie bald fand, und dass er sich geirrt hatte. *** Wo bin ich? Wie bin ich hier her gekommen? Warum bin ich hier? Ein seltsamer Nebel umgibt mich, aber ich fürchte mich nicht vor ihm. Nein, er ist nicht kalt und nass, wie ich das in meiner Heimat so oft erlebt habe, früh am morgen, wenn ich aufstehen und mich um meine Verpflichtungen habe kümmern müssen, die ich doch so sehr verabscheute... Dieser Nebel ist warm und umhüllt mich wie ein schützender Mantel, unter dem mir nichts geschehen kann, unter dem ich endlich frei sein werde. Eine Gestalt kommt auf mich zu. Ich kenne sie, obwohl ich mich nicht an sie erinnern kann. Doch, ich muss sie kennen, denn das würde erklären, warum mein Herz so freudig zu schlagen beginnt. Sie war mein ganzes Leben an meiner Seite und ich weiß, wenn sie da ist, wird alles gut. Alles gut? Ist es das denn nicht immer gewesen, trotz meines fordernden Vaters, trotz dem Druck der alten Traditionen? Gerade will ich mich erheben, will zu der Gestalt laufen und mit ihr lachen, wie ich das schon immer getan habe, da schnellt plötzlich aus dem Nebel vor mir eine Hand und hält mich fest, hält mich zurück. Wie... Als die Hand mich nicht los lässt, greife ich hinein in das Graue Nichts, wundere mich nicht einmal, woher dieser Mut stammt. Es könnte sich ja auch um Dämonen, um böse Geister handeln, die es in den Bergen meiner Urahnen zuhauf gab, da mein Vater sie einlud, viele von ihnen sogar erschuf. Aber anstelle eines grausamen Geistes ziehe ich einen kleinen Jungen hervor. Gelbe Augen schauen mich groß an, Tränen rinnen ungehindert über bleiche Wangen. Die kleine Hand zittert in der meinen und obwohl ich sein Schluchzen nicht höre, weiß ich, dass es kläglich klingt. Mein kleiner Fratz! Gütig lächle ich und ziehe ihn ganz fest in meine Arme. Er ist wieder drei Jahre alt, genau das Alter, in dem ich ihn das erste Mal sah. Damals hat er mich beschimpft, getreten und mehr als einmal mit seinem Dolch bedroht, nun aber kuschelt er sich fest an mich, versucht, ganz auf meinen Schoß zu kriechen. Wie ein Welpe, oder eben ein ganz kleiner Junge, der Angst vor den lauten Gewittern hat. Hab keine Angst. Liebevoll drücke ich ihn an mich und wiege ihn wie ein Baby, zerwuschle ihm seine rabenschwarzen Haare. Nein, bei mir braucht er keine Angst zu haben, denn ich werde ihn mein ganzes Leben lang beschützen. *** "Ren..." Yoh wusste nicht, ob er lachen oder schreien sollte, deshalb blieb er einfach nur starr stehen und betrachtete das Geschwisterpaar voller Entsetzen, sah einer wunderschönen jungen Frau zu, die ausdruckslos vor sich hin starrte, noch nicht einmal den Arm hob, als sich ihr kleiner Bruder an ihre Schulter schmiegte. Yoh kannte Jun, sie hatte ihren Bruder über alles geliebt, und zwar für den Jungen, der er war und nicht für den Erben, der er in den Augen seiner Familie hatte sein sollen. Wenn sie noch am Leben gewesen wäre, hätte sie seine Zärtlichkeiten erwidert, hätte ihn seine Frisur zerwühlt, so wie sie das schon so oft getan hatte und dafür ein unverständliches Gemurmel, aber auch ein beschämtes Lächeln von Ren geerntet. Nun aber reagierte sie überhaupt nicht mehr, war wirklich nichts anderes mehr als ein Kyonshi, ein gefrorener Körper, der keine Gefühle mehr besaß, keine Seele. Sie ist nicht mehr wirklich Tao Jun, sie ist nur noch ein leeres Gefäß... Yoh schluckte, als Ren seine Schwester wieder los ließ und auf ihn zu trat. Die Sense leuchtete golden und der junge Japaner begriff, dass der Junge vor ihm seine magischen Kräfte nicht mehr aus dem chinesischen Krieger, sondern ganz allein aus der Sense und der dunklen Magie seiner Vorfahren bezog. So, wie das sein Vater immer für ihn vorgesehen hatte. Ein Erbe, das Ren vor einem Jahr ablehnte, da er das Gute im Menschen und die Liebe in sich selbst erkannte. Für seine Schwester schien er aber all diese Vorsätze über Bord geworfen zu haben. "Ren..." "Du siehst also, du bist hier unerwünscht, Asakura Yoh. Also verschwinde! Nimm deine Verbündeten mit und komm niemals wieder zurück!" Rens tiefe Stimme klang hohl in Yohs Ohren. Sein Blick schweifte zwischen der jungen Frau, die bewegungslos in der Mitte des Saales stehen geblieben war, und dem verhüllten Freund vor sich hin und her. Auch wenn er es anders sieht, er braucht unsere Hilfe. Yoh schluckte und bückte sich langsam, ohne auch nur eine Sekunde von der dunklen Kapuze fort zu schauen, und hob sein Katana wieder auf. Sofort spürte er, wie Amidamarus Stärke auch in seinen Körper floss. Sollte es zu einem Zweikampf kommen, so war der Geist bereit, seinen Herrn bis zum Äußersten zu unterstützen. Beide wussten sie, dass das auch nötig war, denn Ren würde heute sogar über seine Grenzen hinaus gehen, um seine Schwester zu retten. Um Jun zu retten, die schon längst in das Reich der Toten übergegangen war. Er braucht unsere Hilfe, auch wenn er das noch nicht einsieht. Yoh spreizte seine Beine, beugte sich leicht vor und hielt das Schwert abwehrend vor sein Gesicht. Noch einmal würde er sich nicht gegen die nächste Wand schleudern lassen, jetzt war er vorbereitet. Ich lass ihn mit dieser Bürde nicht allein! "Verschwinde endlich und wage es nicht, mich heraus zu fordern!" Die Sense verharrte nur wenige Millimeter vor Harusame, zitterte leicht. "Glaubst du etwa, du würdest mich so einfach loswerden? Immerhin bin ich dein Freund! Und ich lass dich am Todestag deiner Schwester mit Sicherheit nicht in diesem gruseligen Gemäuer hier zurück!" Yoh sprang zur Seite, als Ren ohne Vorwarnung zuschlug. Einige Kerzen erloschen unter der Wucht der Sense, tiefe Risse zeigten sich in der Wand, an der Yoh noch vor wenigen Minuten gelehnt hatte. Der gesamte Palast erzitterte, dann kehrte wieder Ruhe ein. Die liebliche Musik wirkte fehl am Platz, sogar für Yohs Geschmack. Aber er ignorierte sie, als er die schwarze Gestalt betrachtete, die sich langsam zu ihm umdrehte. Sie wirkte unwirklich inmitten dem Meer aus Kerzen um sich herum. Gelbe Augen blitzten voller Hass, aber auch voller Trauer. "Rede keinen Unsinn! Meine Schwester ist nicht tot!" Mit der Sense zeigte der junge Chinese hinter sich, deutete direkt auf die junge Frau, die sich, seitdem er von ihrer Seite gegangen war, nicht im Geringsten bewegt hatte. Ihr Arm war noch immer seltsam abgewinkelt, als würde sie jemanden sanft an sich drücken. Ihre Augen blickten ins Leere, den Kopf hielt sie leicht geneigt. Yoh tat dieser Anblick weh, selig wie auch körperlich. Er biss hart seine Zähne aufeinander und kämpfte gegen die Tränen an. Auch er hatte Tao Jun kennen und schätzen gelernt. Sie liebte ihren Bruder aufrichtig und war sehr besorgt um ihn gewesen, als er sich Yoh und seinen Freuden anschloss, um nach Amerika zu gehen und dort an dem Shaman Fight teilzunehmen. Sie hatte mit Yoh ein langes Gespräch geführt, hatte ihm schonungslos all die Einzelheiten über ihre Eltern und Rens Erbe erzählt, denn sie wollte, dass er genau wusste, wen er da in seinem Team und in seinem Herzen aufnahm. Sie hatte damit ihrem Bruder nicht schaden, sondern ihn nur vor Enttäuschungen schützen wollen. "Meine Schwester ist nicht tot!!!" Ja, sie war immer für ihren Bruder da gewesen, hatte ihn vor allen Widrigkeiten der kalten Welt beschützen wollen: Vor ihren Eltern und vor falschen Freunden. Umso erfreuter war sie gewesen, als sie erkannte, dass Yoh und die anderen es ernst gemeint hatten mit ihrer angebotenen Freundschaft. "Meine Schwester ist nicht tot!!!" Tao Jun hatte ihren Bruder vergöttert. Einen kleinen Bruder, der sie nun nicht gehen ließ, aus ihr einen Untoten machte und ein bizarres Fest ihr zu Ehren abhielt. "Meine Schwester ist nicht tot!!!" Ren wirbelte die Sense durch die Luft, bis die Klinge schließlich wieder direkt auf den jungen Japaner gerichtet war. Yoh konnte für einen Augenblick einen Blick unter den schwarzen Umhang werfen und glaubte auch, wirklich Rens Gestalt darunter erkennen zu können. Nur verwirrte ihn, dass der Junge rote Kleidung trug. Ren hatte doch sonst jegliche andere Farbe außer Schwarz oder dem violetten Oberteil abgelehnt, das er auch nur deshalb geduldet hatte, weil Jun es ihm genäht hatte. Yoh brach seine Überlegungen jedoch ab, als er blitzschnell reagieren musste. Amidamaru und Harusame wehrten jeden einzelnen Schlag ab, aber Yoh spürte, dass sich Ren heute nicht zurück halten würde, wie damals bei ihrem ersten wirklichen Kampf während dem Vorentscheid zum Shaman Fight. Damals war Ren bereit gewesen, seinen Gegner zu töten. Vermutlich würde er auch heute nicht davor zurück schrecken. "Jun!" Metall schlug auf Metall. "Ist!" Beide Jungen sprangen in die Höhe, die Klingen ihrer Waffen trafen sich zwischen ihnen. "Nicht!" Ren landete auf beiden Beinen, während Yoh über einige Kerzen stolperte, sich nur mühsam aufrecht halten konnte. Er atmete schwer und wunderte sich, dass er bei dem jungen Chinesen kein Zeichen der Müdigkeit fand. Gewiss war Ren, genauso wie sie auch, sofort vom Flughafen zu seiner Schwester geeilt. Yoh konnte sich nicht vorstellen, dass der Junge sich nach dem Tod Juns auch nur eine Minute Schlaf gegönnt hatte. Er musste doch genauso müde, genauso erschöpft wie er sein, oder? "TOT!!!" Offensichtlich nicht. >Geht's dir gut, Yoh-dono?< Yoh nickte seinem besorgten Geist nur zu und wehrte den nächsten Schlag ab. Ren war während des Shaman Fights ebenfalls sehr stark geworden, und seine Verzweiflung und unbändige Wut schienen seine Kräfte noch zu verstärken. Yoh spürte, wie er einige Meter über den Boden geschoben wurde, obwohl es ihm gelang, gegen die Sense anzukommen. "Ren..." versuchte er erneut, zu dem Freund durchzudringen. "Ren, deine Schwester wird..." "Lass uns beide einfach in Ruhe!" Der junge Chinese ließ ihn nicht einmal ausreden. Erneut fuhr die Sense auf Harusame herab und erneut konnte der Geist seinen Herrn gerade so vor der Katastrophe bewahren. "Hau ab!" Ein letzter Schlag, der Yoh endgültig auf die Knie zwang. Für einen Moment verharrten die beiden Jungen in dieser Haltung, Metall auf Metall liegen. Yoh konnte Rens gehetzten Atem hören, wusste, dass sein Freund genauso erschöpft wie er selbst war. Für einen Augenblick glaubte der Japaner, ein Schluchzen zu hören, dann aber trennte sich der Chinese bereits wieder von ihm. Aber er schlug nicht erneut zu, wie das Yoh erwartet hatte. Statt dessen drehte sich Ren um und schritt langsam zu seiner Schwester zurück, um erneut ihre eisige Hand zu ergreifen. "Geh einfach, Yoh-kun. Das hier ist eine Familienangelegenheit." Seine Stimme klang leise, wie aus weiter Ferne. Auf Yoh wirkte sie erschöpft, resignierend. Nein! "Nein." Yoh schüttelte seinen Kopf und zwang sich auf seine wackeligen Beine. Hart stützte er sich auf Harusame auf. "Glaubst du etwa, ich lass dich hier zurück?" fragte er laut, erwartete nicht wirklich eine Antwort. "Du hast Jun zu deinem Haupt-Kyonshi gemacht." Yoh schluckte hart und zwei Tränen rannen über seine Wangen. "Das wird sie nicht zurück bringen, Ren. Sie wird von all dem nichts merken... und dich wird es zerstören." Die dunkle Gestalt ließ von der jungen Frau ab und wirbelte herum. Yoh konnte die gelben Augen unter der Kapuze blitzen sehen, die ihn förmlich zu durchbohren schienen. "Sei still!" "Kannst du so leben, Ren? Kannst du mit ihrem Leichnam leben? Mit dem Körper deiner Schwester, dessen Seele schon längst entschwunden ist?" Yoh zuckte nicht einmal mit der Wimper, als die Sense an seinem Kopf vorbei geworfen wurde, hinter ihm zitternd in der Wand stecken blieb. Sie hinterließ eine kleine Wunde auf Yohs Wange, wo sich das warme Blut mit seinen heißen Tränen mischte. "Du wirst das seelisch nicht verkraften, Ren, ich könnte das auch nicht." Der junge Japaner schloss für einen Moment seine brennenden Augen, schüttelte traurig seinen Kopf. "Lass sie gehen, Ren, auch wenn es dir schwer fällt. Es..." "HALT DEINE KLAPPE!" Yoh fiel widerstandslos zur Seite, als ihn eine Faust im Gesicht traf. Es tat nicht einmal weh, denn er wusste, dass dieser Schmerz nichtig war im Vergleich zu der Pein, die in seinem und die auch in Rens Herz wütete. "Sie hätte nicht gewollt, dass du..." "HALT ENDLICH DEINE KLAPPE UND VERSCHWINDE!" Rens Schatten thronte bedrohlich über dem jungen Japaner. Er hatte beide Fäuste geballt und atmete schwer. Wieso konnte dieser Idiot nicht einfach gehen, so wie er das von ihm verlangte? Ja, er war der Erbe der Tao Dynastie, aber anders als seine Urahnen wollte er seinen Freunden nicht weh tun, die sich ihm in den Weg stellten. Oder zumindest den Menschen, die er einmal seine Freunde genannt hatte. Er wolle einfach nur, dass Asakura Yoh ging und Horo Horo und Faust mit sich nahm. Sie sollten nie wieder kommen, sondern ihn und seine Schwester in Ruhe lassen. Einfach nur in Ruhe lassen. War das denn zu viel verlangt?! Ich will doch nur mit Jun allein sein. Glücklich sein. So wie damals... Eisiger Schmerz durchfuhr seinen Körper wie ein Blitz und Ren stöhnte unterdrückt auf. Seine linke Hand wanderte automatisch zu seinem Bauch, während seine rechte nach der Sense griff. Hoffentlich hatte sein Wurf den richtigen Eindruck bei Asakura Yoh hinterlassen und der Junge ging endlich! "Verschwinde..." flüsterte Ren und biss seine Zähne zusammen, als die Pein unerträglich wurde. "Verpiss dich..." Erleichterung durchströmte ihn, als er seine Waffe endlich ergreifen konnte. Der Schmerz ließ ein wenig nach und er war wieder in der Lage, sich aufzurichten und zurück zu seiner Schwester zu gehen. Damit wollte er Yoh ignorieren und zur Tagesordnung, sprich, zu dem makaberen Fest übergehen, aber er hätte es besser wissen müssen. "Ich werde nicht eher gehen, bis ich nicht weiß, dass es dir gut geht." Yoh fuhr sich über die brennenden Augen, um wieder klar sehen zu können. Er schämte sich seiner Tränen nicht, denn sie waren ehrlich. "Und dir kann es gar nicht gut gehen, wenn Jun SO ausschaut! Verdammt, du kannst mir nicht weismachen, dass dies eine Lösung ist!" "Das ist mir scheißegal, was du denkst!" Ren geleitete seine Schwester zurück zu ihrem Sessel und rückte ihren Teller zurecht. Sie erwiderte nichts, sah ihn nicht einmal an. Aber das war ihm egal, solange sie nur bei ihm war. Solange er nicht wieder allein auf dieser Welt sein müsste, ohne Liebe, zu ewiger Einsamkeit verdammt. Ah! Seine Beine drohten, unter ihm nachzugeben und er griff in letzter Sekunde nach der Armlehne, um sich auf dieser abzustützen. Die junge Frau reagierte nicht, half ihm nicht, wie das Jun zu ihren Lebenszeiten ohne zu zögern getan hatte, sogar gegen den Willen ihrer versammelten Familie. Verflucht... Ren biss sich auf die Unterlippe, bis ein metallischer Geschmack seinen Mund füllte. Aus weiter Ferne hörte er Yohs Stimme und ärgerte sich, warum dieser nicht einfach so aufgeben konnte. Andererseits, es wäre sehr untypisch für den jungen Japaner gewesen, ihn hier zurück zu lassen. Wieso kann ich keine normalen Freunde haben, die mich fallen lassen, wenn ich sie nur kräftig genug beleidige? Ren holte tief Luft und war froh, dass sein Umhang seinen Körper und besonders seinen Gesichtsausdruck verbarg, als er sich wieder aufrichtete, hart seine Sense umklammerte und sich erneut Yoh zuwandte. "Verschwinde!" zischte er leise. "Das ist meine letzte Warnung!" Es sollte bedrohlich klingen und er hoffte, dass dem auch so war, denn er wusste nicht, was er sonst tun sollte. Nein, er wollte Asakura Yoh nicht verletzen, geschweigedenn töten. Er wollte doch einfach nur, dass der junge Japaner ging. Er wollte doch einfach nur bei seiner Schwester sein! "Niemals!" Yoh schüttelte energisch seinen Kopf und wischte sich die Nase an dem Ärmel seiner Winterjacke ab. Für diese Bewegung hätte ihn Anna zu Hause mächtig gerügt, nun aber bemerkte es keine der anwesenden Personen. Amidamaru ging hinter seinem Herrn in Stellung, um ihm sofort zu helfen, sollte der junge Chinese erneut angreifen. Ren tat jedoch nichts dergleichen. Er stand da, einem Schatten gleich, und schien Yoh stumm anzustarren. Beide Gegner rührten sich nicht und es erschien, als würden sie auf ein unsichtbares Signal warten, um dann wie zwei Panther aufeinander zu zu springen. Das Signal war jedoch gar nicht so unsichtbar, noch war es besonders leise. In der Gestalt eines aufgeregten Jungen kam es in den Ballsaal gestürmt. "Ren! Tu das nicht!" schrie Horo Horo und rannte quer durch das Kerzenmeer auf den jungen Chinesen zu. Er zertrat nicht eine einzige, was vielleicht an seinen Naturkräften lag oder einfach an der Geschicklichkeit, die er nur dann an den Tag legte, wenn er unbewusst an mehreren Katastrophen vorbei schlingerte. Kororo hielt sich an seinem Schal fest, kniff ganz fest ihre Augenlider zusammen. Sie hatte fürchterliche Angst, genauso wie ihr Herr. Das spürten Yoh und Ren, die bereits abgesprungen waren. Etwa einen Meter, bevor sich die Klingen ihrer Waffen wieder getroffen hätten, entschieden sie sich jedoch dagegen und landeten beide schwer atmend auf dem harten Steinfußboden. "Das wird dich umbringen, Ren!" Horo Horos blaue Augen waren schreckgeweitet. In seiner rechten Hand hielt er eine chinesische Totentafel. Nani? Yoh kniff seine Augen zusammen, konnte aber bei Horo Horos hektischen Bewegungen keine Schriftzeichen erkennen. Dennoch wusste er instinktiv, dass dies Basons Totentafel war, hatte er sie in den letzten Monaten während des Shaman Fights doch oft genug gesehen. Woher stammt dann seine Macht? Der junge Japaner starrte die golden schimmernde Sense an und ließ Harusame entgegen Amidamarus offenem Protest zurück in die Scheide gleiten. Woher, wenn nicht von seinem Geist? Woher... "Das darfst du nicht tun, Ren!" Horo Horo hatte die dunkle Gestalt beinahe erreicht, als Rens rechte Hand ohne Vorwarnung in die Höhe schnellte. Der junge Ainu wurde von unsichtbaren Kräften ergriffen und quer durch den Raum geschleudert. Er knallte direkt auf den reich beladenen Tisch und riss mehrere Teller mit sich, als er noch einige Meter weiter rutschte, direkt vor einer jungen Frau liegen blieb, die ihn mit ihren wunderschönen, blauen Augen ausdruckslos anstarrte, dann ihr Weinglas ergriff und ihm blind zuprostete. Horo Horos Gesicht, das sich noch eben vor Schmerz verzogen hatte, wurde mit einem Mal totenbleich. Er riss seinen Mund auf und streckte seine Hand nach der jungen Frau aus. Vorsichtig berührte er Juns rechte Wange... und zuckte sofort zurück, als er den Tod unter der makellosen Haut spürte. So kalt! Der junge Ainu stützte sich hart auf seine Ellenbogen ab und spähte zu der Gestalt hinüber, die langsam, aber unaufhaltsam zu ihn hinüber schritt. Er musste wieder an den leblosen Li Pailong denken und presste die Totentafel des toten Kriegers fester an seinen zitternden Oberkörper. Kororo wimmerte hinter seinem Rücken und begann, eine Schutzmauer aus Eis um sie beide zu errichten. Er hat es also tatsächlich getan... Horo Horos Kopf schnellte nach oben und er suchte Yohs Blick. Der junge Japaner wirkte erschöpft, seine linke Wange blutete. Blut... "Yoh-kun! Er blutet!" Horo Horo ergriff einen Hühnerschenkel, den er einfror und wie eine Waffe dem langsam näherkommenden Chinesen entgegen hielt. "Er hat mich aus dem Verließ befreit und da hat er geblutet." Horo Horo sah, wie sich Yohs Augen in Erkenntnis weiteten. Sie beide hatten Manta nur halbherzig in seiner üblichen Gelehrtenrede zugehört. Nun kehrten seine und Annas Worte schlagartig in ihr Gedächtnis zurück. >Ein Schamane kann keine Zaubersprüche von Totenbeschwörern ausüben, es könnte ihn umbringen!< Es könnte ihn umbringen. Beide sahen einander kurz an und Monate des gemeinsamen Kämpfens, Wanderns und Lachens ließ sie einander ohne ein weiteres Wort verstehen. Horo Horo hob den eingefrorenen Schenkel und stellte sich damit dem mächtigen Erben. Er hat geblutet. "Was denn? Willst du mich hier bekämpfen oder mich füttern?" Ren lachte, aber Horo Horo spürte, dass noch etwas nicht stimmte, abgesehen von der jungen Frau, die ihm erneut ihr Weinglas entgegen hielt, ansonsten jedoch gefühllos vor sich hin starrte. "Du darfst keine Totenbeschwörersprüche als Schamane anwenden, Ren, das kann deinen Körper zerstören." Das Hühnchen zitterte, als sich Ren der Tafel näherte, liebevoll über Juns Arm streichelte, ihr das Weinglas aus der Hand nahm und schließlich über eisige Finger strich. "Du scheinst nicht zu wissen, wer ich bin." Flüsterte die Kapuze unheilverkündend und Kororo versteckte sich wimmernd hinter ihrem Herrn. Horo Horo hätte es ihr gern gleich getan, doch er wusste, wie ernst die Lage war, wenn er jetzt seiner Angst nach gab, würde er Tao Ren verlieren. Er mochte ein arroganter Schnösel sein, der immer mürrisch drein schaute und beleidigende Sprüche klopfte, aber er war immer noch ein Freund. Selbst wenn er seine Taten nicht immer unter Kontrolle hatte, auch wenn er sich manchmal wie ein wildes Tier benahm, er hatte Seite an Seite mit ihm in dem tödlichen Shaman Fight gekämpft, ihm mehr als einmal das Leben gerettet. Er hat mir einen wunderschönen Drachen gebaut... Horo Horo hielt seinen Atem an, als sich die Kapuze zu ihm hinüber beugte. Nein, wie auch immer sich Ren manchmal benahm, er war ein Freund von ihm, sogar ein sehr guter. Yoh-kun vertraut ihm. Der junge Ainu produzierte in seiner zweiten Hand einen Schneeball und schwenkte ihn wie eine Waffe neben der Hühnchenkeule. Also vertraue ich ihm auch! "Weißt du, wer ich bin? Weißt du, welchen Titel ich nach der feigen Flucht meines Vaters geerbt habe, kleiner Schneemann?" Horo Horo schüttelte seinen Kopf und wandte leicht seinen Kopf zur Seite, sah, wie sich Yoh der dunklen Gestalt von hinten näherte, auf leisen Sohlen und mit bloßen Händen. Nur noch ein paar Schritte... "Mein Titel ist der Fürst der Finsternis." Rens Stimme war aalglatt, völlig gefühllos. Eine Hand schnellte unter dem schwarzen Umhang hervor und Horo Horo wollte schon aufschreien, denn er glaubte, diese Finger wieder an seinem noch immer wunden Hals zu spüren, aber da verharrte die Gestalt mitten in der Bewegung, griff nicht nach der Haut des jungen Ainu, sondern nach der Sessellehne. Jun schien von all dem nichts zu bemerken. Still saß sie da und drehte nicht einmal den Kopf, als ihrem kleinen Bruder ein gequältes Stöhnen entkam. Au... Horo Horo schnappte nach Luft, als er das Blut sah, das hinter dem Umhang langsam auf das teure Samtkleid der jungen Frau tropfte. "Yoh-kun!" schrie der junge Ainu auf und griff automatisch nach Ren, da er glaubte, dass dieser umfallen könnte. Es war eine verdammt große Lache, die sich da auf dem Samt bildete. Erneut zuckte Tao Jun nicht einmal mit ihrer Wimper, wohingegen sie im Leben aufgesprungen wäre, um ihrem kleinen Bruder zu helfen. Um ihn zu retten... "Er blutet ganz stark!" Ren zischte nur etwas Unverständliches und schlug Horo Horos Hand beiseite. Bevor er jedoch herumwirbeln konnte, hatte Yoh ihn bereits erreicht. Blindlings schnappte sich der junge Japaner einen Zipfel des schweren Umhanges und zog ihn zusammen mit Amidamarus Kraft herab. Er landete in einem Kerzenfeld und fing sofort Feuer. Horo Horo wunderte sich, warum weder Ren noch Yoh reagierten, kümmerte sich aber erst einmal darum, dass sie hier nicht abbrannten. Eine dicke Eisschicht bedeckte den dunklen Samt, erstickte die Flammen. "Yoh-kun?" Horo Horo wandte sich zu den beiden Freunden um, die seltsamerweise nicht gegeneinander kämpften, und erkannte auch sofort, warum nicht. Yoh wirkte viel zu entsetzt und Ren... Horo Horo schrie leise auf, als er den jungen Chinesen sah, der inmitten all der Kerzen schwer auf seine Sense gestützt da stand und sichtlich nach Luft rang... schien nicht mehr großartig in der Lage zu sein, um gegen Yoh oder sonst wen zu kämpfen. Ja, er schien nicht einmal in der Lage zu sein, die angebrochene Nacht zu überleben. *** Mein kleiner Fratz! Wie leicht fühlt sich doch mein Herz an, wenn er um mich herum läuft und lauthals lacht. Ich kann dann immer nicht anders, als ihn in meine Arme zu ziehen und ein wenig auszukrabbeln. Er ist ja so kitzelig, obwohl er das nie zugeben will. Sein helles Lachen macht mich glücklich, so glücklich. Oh, ich liebe ihn ja so. So sehr. Er dreht sich in meinen Armen und schnappt nach Luft, scheint plötzlich Probleme zu bekommen. Besorgt hebe ich ihn hoch und will ihn untersuchen, er aber schüttelt nur seinen Kopf, versucht, mich zu beruhigen. Alles wäre in Ordnung, murmelt er und flüchtet sich wieder in meine wärmende Umarmung. Er zittert am ganzen Leib und ich decke ihn mit meiner Jacke zu. Wie sehr er zittert, ist nur los mit ihm? Was ist nur los mit meinem kleinen Fratz? Ich will ihn doch immer beschützen, will immer für ihn da sein! Wie kann ich ihm nur helfen? Zärtlich halte ich ihn fest, kann jedoch die Schmerzen, die er vor mir ohne Erfolg zu verbergen versucht, nicht lindern. Ich bin doch die einzige, die ihm helfen kann, ich bin doch seine Schwester! *** Yoh überkam eine heftige Übelkeit und es gelang ihm nur unter Aufbietung aller Kräfte, sich nicht zu übergeben, als er Rens zitternden Körper im glitzernden Schein der Kerzen sah, die noch nicht von ihnen zertrampelt, eingeeist oder anderweitig gelöscht worden waren. Rens Haut war ebenso leichtenblass wie die seiner Schwester und er rang nach Atem, so als würde sein Brustkorb zusammen gepresst werden. Den Grund konnte der junge Japaner sofort ausmachen, als er den nackten Oberkörper sah, denn dieser war blutverschmiert. Eine tiefe Wunde klaffte in Rens Bauch und Yoh fragte sich für den Horror einer Sekunde, ob sie bereits so tief war, dass man hinter all den Blut die Gedärme sehen konnte. Ren hielt jedoch seine Hand schützend davor, verdeckte sie. Eiskalter Schweiß stand auf seinen Armen und nun wusste Yoh auch, warum die goldene Sense in der Luft bebte. Ren mochte seine Kraft aus ihr beziehen, besaß aber selbst kaum mehr die Macht, sie sicher zu führen. Der junge Chinese trug schwarze Hosen und Yoh fragte sich, heftig gegen das flaue Gefühl in seinem Magen ankämpfend, ob der mächtige Erbe darunter ebenfalls blutete. >Ein Schamane kann keine Zaubersprüche von Totenbeschwörern ausüben, es könnte ihn umbringen!< Annas Stimme war allgegenwärtig, in Yohs und auch in Horo Horos Gedanken. "Hör auf damit, Ren!" flehte der junge Ainu und rappelte sich auf dem Tisch auf, bis er kniete. "Siehst du nicht, dass dich das umbringt? Du bist ein Schamane! Du darfst keine Totenbeschwörersprüche anwenden! Sie zerstören deinen Körper!" Ren drehte sich zu ihm um und betrachtete ihn mit seinen gelben Augen kühl. Horo Horo starrte wie hypnotisiert zurück und fragte sich, welche Pein der junge Chinese gerade durch litt. "Das interessiert mich nicht." Erwiderte Ren und umklammerte den Griff der Sense stärker. "Es wird dein Tod sein, Ren." Yohs Stimme war monoton und automatisch glitt seine Hand unter seine Jacke, tastete nach einem kleinen Gerät, das er monatelang mit sich herumgetragen, das ihn am Ende so schamlos betrogen hatte. Ren drehte seinen Kopf und blickte den jungen Japaner gefühllos an, während warmes Blut über seine eisigen Finger rann. "So sei es." Sagte er leise, aber bestimmt, versuchte, die Sense erneut zu haben. Wahnsinniger Schmerz fuhr durch seinen Körper und er biss hart auf seine Zähne, um nicht laut heraus zu schreien. Die Wunde brannte höllisch und er kämpfte hart gegen das Schwindelgefühl an, das hinter seinem Blickfeld zu lauern schien. Nein! Yoh straffte seine Schultern, zog seine Hand mit dem kleinen Gerät in der Hand wieder hervor. Amidamaru sah es und wollte etwas sagen, aber Yoh schüttelte nur seinen Kopf. Dieses Mal werde ich nicht so naiv sein! Dieses Mal bin ich rechtzeitig für die Menschen da, die mir etwas bedeuteten. Dieses Mal warte ich nicht, bis es zu spät ist! "Ich werde das nicht zulassen, Ren!" sagte er entschieden und kam langsam auf den jungen Chinesen zu, streckte seine Hand nach ihm aus, um ihm die Sense aus der Hand zu reißen. "Das ist mir scheißegal!" schrie ihn der Erbe an und umgriff die Sense nun mit beiden Händen, ignorierte das Blut, das langsam dem goldenen Griff herab rann. "Verschwinde endlich! Ich will mit meiner Schwester allein sein! Ist das denn so schwer zu verstehen?" "Ich weiß, du hast deine Schwester geliebt, aber..." "Was weißt du schon?!" Ren machte einen Satz nach vorn und Horo Horo zuckte zusammen, denn er konnte sich nur vorstellen, wie schmerzhaft jede Bewegung für den jungen Chinesen sein musste. "Was weißt du schon, Mister Sonnenschein? Wie kannst du nur dort dastehen und dich zwischen mich und meine Schwester drängen?! Du verstehst doch überhaupt nichts!!!" Yoh griff ohne zu zögern nach der Sense und hielt das stumpfe Ende der Klinge fest zwischen seinen Fingern. Energisch schaute er in Rens blitzende Augen, hielt dem hasserfüllten Blick eisern stand. "Hao..." Es war nur ein einziges, ein gehauchtes Wort, aber Ren hörte es dennoch. "Wie kannst du es wagen, diesen Abschaum mit meiner Jun auf ein und dieselbe Stufe zu stellen!" schrie Ren auf und riss seine tödliche Waffe frei. Gefährlich schwang er die Sense mit einer Leichtigkeit, die Horo Horo bei der schweren Verletzung des jungen Chinesen verwunderte. Yoh blinzelte nicht einmal, als ihm die scharfe Klinge einige Strähnen abtrennte, seine Schulter nur um Millimeter verfehlte. "Dieser Abschaum war mein Bruder." Sagte der junge Japaner kühl und griff erneut nach der Sense. Dieses Mal hatte er weniger Glück und schnitt sich beide Hände auf. Horo Horo zuckte entsetzt zusammen und wollte von dem Tisch rutschen, als plötzlich eiskalte Finger nach ihm griffen, ihn zurück hielten. Der junge Ainu schrie auf und drehte seinen Kopf, nur, um Jun zu sehen, die ihm mit einem Glas Wein ausdruckslos zuprostete. "Ich lasse dich hier nicht verrecken, Ren, schlag dir das aus dem Kopf!" Yoh tat einen Ausfallschritt und umklammerte im nächsten Moment den goldenen Griff. Sein Blut vermischte sich mit dem des jungen Chinesen, aber er sah es nicht einmal. Er sah vor sich die leblose Gestalt eines Jungen, der inmitten eines kräftigen Wirbelsturmes gestanden und ihn einfach nur stumm angesehen hatte. Das Gerät entglitt seinen glitschigen Fingern und er spürte nicht einmal den Schmerz, der durch auf seinen aufgeschnittenen Handflächen brannte, als er mit Ren um die tödliche Waffe rang. Bei dem Geräusch von Metall, das auf Stein schlug, war erneut der Augenblick gegenwärtig, in dem er die Nachricht, die letzte Nachricht erhalten hatte. Natürlich hatte er die ganze Zeit, als sie durch Amerika reisten, daran gedacht, dass sich hinter Asakura Hao nicht nur sein Bruder verbarg, sondern auch der kleine Junge, den er damals im Sandkasten getroffen und den er kurzerhand zu seinem besten Freund erklärt hatte. Lange hatte er gebraucht, um die Frage erneut zu stellen, die ihm all die Wochen, all die Monate auf der Seele brannte. Zu lange. >Bist du dann noch immer mein Freund?< Die Antwort war prompt gekommen, und dennoch viel zu spät auf sein Funkgerät übertragen worden. Hao antwortete ihm noch vor dem letzten endgültigen Kampf, Yoh erhielt die Nachricht jedoch erst, nachdem er bereits nach Japan zurück gekehrt war. >Wenn du mich noch haben willst.< "Ich habe schon einmal versagt, Ren. Noch einmal lasse ich nicht zu, dass ich die Personen verliere, die ich liebe!" Der junge Chinese riss seine Augen auf und Yoh war es möglich, die Sense noch stärker zu umklammern und sie ein gutes Stück aus Rens zitternden Händen zu ziehen. "Dieses Stück Dreck..." "Er war mein Bruder." Yohs Stimme klang weinerlich und er schluckte hart, fühlte Amidamarus Beistand und Trost. "Und ich habe ihn getötet!" "Er hat schamlos andere Menschen umgebracht! Du hast mit deiner Tat lediglich die Welt und damit mehrere Milliarden normale Menschen gerettet!" "Dennoch habe ich meinen Bruder getötet! Ich will dich nicht verlieren und ich will nicht, dass du für den Rest deines Lebens mit dem schlechten Gewissen leben musst, Jun so sehr leiden gelassen zu haben!" "Aber sie leidet nicht! Sie lebt!" "Sie ist tot, und du hast einen Zombie aus ihr gemacht." Yoh konzentrierte sich und gemeinsam mit seinem Geist war es ihm möglich, die Sense dem jungen Chinesen zu entreißen. Sofort erstarb das goldene Glänzen und er warf sie entschieden von sich. Scheppernd blieb sie am anderen Ende des Saales zwischen mehreren abgebrannten Kerzen liegen. "Das macht sie nicht wieder lebendig, Ren, aber es wird dich ganz sicher umbringen!" Yoh trat langsam auf Ren zu, der stöhnend nach seinem Bauch griff und auf seine Knie sank. Um ihn herum breitete sich rasch eine rote Pfütze aus. "Ich sagte schon, das ist mir egal." Flüsterte er heiser und presste seine Augen aufeinander, als der Schmerz ärger denn je zuvor durch seinen Körper jagte. "Ich kann sie nicht gehen lassen, Yoh-kun. Lieber sterben, als in einer Welt ohne sie leben." Der hohe Blutverlust benebelte seine Gedanken und er spürte, wie er langsam nach vorne kippte. Aber es war ihm gleich. Er wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, und das war ihm recht so. Dann wären die rasenden Schmerzen, die unerträgliche Trauer endlich vorbei und er hätte seine Ruhe. Endlich Ruhe, mit seiner Jun an seiner Seite. Jemand fing ihn auf und er fand sich in zwei warmen Armen wieder, die seiner Schwester so ähnelten, aber gleichzeitig ganz anders waren. "Mir ist es aber nicht egal." Hörte er über sich eine verzweifelte Stimme und hob langsam seinen Kopf. Müde bemerkte er, dass er in Yohs Armen lag und dass dieser weinte. Um ihn weinte. Um einen mächtigen Erben weinte, der diese kostbaren Tränen nicht verdient hatte. "Ich bin der Fürst der Finsternis und wurde zur Einsamkeit erzogen, Yoh-kun." Versuchte er, sich zu erklären und hustete. Mit einem Mal fiel ihm das Sprechen so schwer. Ja, sogar das Atmen und das Wachbleiben. Er wollte schlafen, nur noch schlafen. "Ich kann in diese Einsamkeit nicht zurück, nicht ohne Jun..." "Für mich bist du kein Fürst, für mich bist du Tao Ren, ein verdammt guter Freund." Yoh drückte ihn behutsam an sich und Ren bedauerte kurz, dass er seinen Umhang nicht mehr besaß, denn die Hände des jungen Japaners bluteten fast genauso stark wie seine Bauchwunde. "Und du bist nicht einsam! Du hast Anna und mich, und all die anderen!" Horo Horo schluckte hart und fragte sich panikartig, was er tun könnte. Ren griff sie zwar nicht mehr an, würde aber in Yohs Armen zu verbluten. Der junge Japaner schien nicht in der Lage zu sein, ihn davon zu überzeugen, dass er seine Schwester besser frei, endgültig sterben ließ, bevor sie beide verloren waren. Würde ich Pirika-chan einfach so gehen lassen? Horo Horo schluckte hart und schaute hinüber zu der jungen Frau, die ihn die ganze Zeit mit dem Wein zurückgehalten hatte. Nun entglitt das Glas ihren kalten Fingern, zerschellte auf dem Steinboden in tausend Splitter. Nani? Blaue Augen blickten den jungen Ainu mit einem Mal flehend an, jegliche Ausdruckslosigkeit, die für einen Zombie so typisch war, verschwand ganz plötzlich. Eine totenbleiche Hand versuchte, den Anhänger der silbernen Kette zu erreichen, schaffte es jedoch nicht. Der Zauberspruch war für den Untoten zu stark. Oh... Horo Horo zog fragend seine Augenbrauen zusammen und wusste mit einem Mal, was es zu tun galt, als die Leiche von Tao Jun leicht nickte. Der junge Ainu holte tief Luft, dann riss er den Zauberspruch von der Kette. *** Er blutet aus einer grässlichen Wunde am Bauch, mein weißes Gewand ist bereits rot verfärbt. Meine zitternden Hände versuchen, die Blutung zu stillen, aber er schiebt sie immer wieder fort, will mich mit seinem gequälten Lächeln beruhigen. Vielleicht erkennt er den Ernst der Lage nicht, aber ich weiß, dass er sterben wird, wenn ich ihm nicht helfe. Wenn ich nicht eingreife und ihn rette. Ja, ich muss ihn retten, was es auch kostet, denn er ist schließlich mein kleiner Bruder, mein ein und alles. Ich habe geschworen, ihn mit meinem Leben zu beschützen, also werde ich das auch tun, egal, wie sehr er sich dagegen sträubt. Er mag seine Gründe haben, seine Schmerzen vor mir zu verbergen, aber das werde ich nicht dulden. Er ist mein kleiner Fratz und was immer ich tun muss, um ihn vor allen Übeln dieser kalten Welt zu bewahren, so werde ich es tun. Seit dem Tag, da wir uns das erste Mal sahen, habe ich mir geschworen, sein Schutzengel zu sein, für alle Zeiten! "Ren-chan!" *** "Ren-chan!" Jun erhob sich von dem Sessel, sah Horo Horo nicht, der erschrocken aufsprang, stolperte und hin fiel. Alles, was sie kümmerte, war ihr kleiner Bruder, der inmitten einem Kerzenmeer auf dem Boden lag, in einer roten Lache, und schwer nach Luft schnappte. Ren-chan, was hast du nur getan? Sie brauchte keine Erklärung, war sie doch diejenige aus der Familie gewesen, die zur Totenbeschwörerin auserkoren wurde. Sie kannte den Zauberspruch, der zerrissen auf dem Boden lag, wusste bescheid über die Folgen, die er auslösen konnte, wenn er von ungelernten Totenbeschwörern angewandt wurde - oder von einem Schamanen, der nicht die Kraft besaß, einen Körper im Diesseits zu erhalten. Mein armer Ren-chan... Jun ergriff die Totentafel, die auf dem Tisch lag, und schritt langsam zu ihrem kleinen Bruder hinüber, den Asakura Yoh fest in seinen Armen hielt, obwohl er ebenfalls ärztliche Hilfe dringend benötigte. Der junge Japaner hatte Tränen in den Augen. Das ist gut so... Ja, Jun vertraute Asakura Yoh blind, sie wusste, dass ihr kleiner Bruder bei ihm in Japan gut aufgehoben war. Mit diesem Wissen würde es ihr leichter sein, Ren für immer zu verlassen. "Ren-chan..." Sie sammelte den Rest der Magie zusammen, die der Zauberspruch in ihrem sterbenden Körper hinterlassen hatte, und sank neben ihrem schwer atmenden Bruder auf die Knie. Ren hatte seine Augen geöffnet, sah sie so traurig an, dass es ihr fast das Herz brach. Sie streckte ihre Hand aus und streichelte sanft über seine Wange. Er hob unter sichtlicher Kraftanstrengung seine und umschloss ihre kalten Finger. "Ich will nicht, dass du gehst." Flüsterte er leise und wunderte sich, wo die Tränen blieben, die in seinen Augen so fürchterlich brannten. Aber sein Gesicht blieb trocken, abgesehen von dem Blut, das stetig über seine Schläfe pulsierte. "Bitte, lass mich nicht allein." Sie lächelte ihn liebevoll an und strich behutsam durch rabenschwarze Haare, genoss die letzten Minuten, die ihr noch gegeben wurden. "Meine Zeit ist um, Ren-chan." Antwortete sie ihm leise. "Dann bleib als mein Kyonshi hier, Jun." "Das ist nicht mein Schicksal, Ren-chan. Li wartet auf der anderen Seite auf mich, ich habe ihn gesehen. Hier zu bleiben wäre ein Verrat an ihm, so wie es auch ein Verrat an dir wäre, Ren-chan. Ich darf und will nicht auf Kosten deiner Kräfte in dieser Welt bleiben." "Dann nimm mich mit!" Rens gelbe Augen waren entschlossen auf sie gerichtet und sie konnte deutlich den Schmerz in ihnen sehen, als sie nur ihren Kopf schüttelte. "Warum kann ich nicht mit dir gehen?" fragte er wütend, wollte sich aufrichten, aber Yoh hielt ihn zurück. Er wollte das letzte Gespräch zwischen den Geschwistern nicht stören, aber er ahnte, dass jede unbedachte Bewegung für den jungen Chinesen gefährlich werden konnte, lebensgefährlich. "Dein Platz ist hier, Ren-chan. Hier unter den Lebenden." Sie lächelte ihn zärtlich an, spürte die eisigen Tränen, die über ihre Wangen rannen. "Ich werde auf der anderen Seite auf dich warten, Ren-chan, aber du hast hier ein Leben zu leben, bevor wir uns wieder sehen." "Das akzeptiere ich nicht! Ich will mit!" Jun schüttelte erneut ihren Kopf, verstummte all seine Proteste, indem sie ihre kalten Finger auf seine heißen Lippen legte. Sie spürte, wie ihre Zeit verrann, sie bald in das Reich der Toten zurückkehren würde. "Ich will, dass du mit Yoh zurück nach Japan gehst." Kurz blickte sie in das blasse Gesicht des jungen Japaners und lächelte dankbar, als dieser ohne zu zögern nickte. Nein, sie hatte sich nicht in Asakura Yoh geirrt, konnte nun, da sie tot war, dessen Gefühle noch deutlicher spüren. Gefühle, die den ihrigen so ähnelten. "Ich möchte, dass du dort bei Anna-san und ihm bleibst und das normale Leben eines ganz normalen Jungen führst. Wenn du erwachsen bist, kannst du dir überlegen, ob du wieder hier her zurückkehrst und dein Erbe annimmst, aber bis dahin will ich, dass du der Junge bist, den du unter Vaters Regiment nie hattest sein dürfen." Sie beugte sich zu ihm herab und küsste sanft seine Stirn, wobei ihre Tränen in sein Haar fielen. "Sei der kleine Fratz, den ich mein Leben immer geliebt habe, Ren-chan." "Jun..." Ren klammerte sich an die kalte Hand, konnte sie jedoch nicht festhalten. Sie wurde durch eine Totentafel ersetzt. "Was immer auch in deinem Leben geschehen mag, Ren-chan, vergiss nie, dass ich dich über alles liebe." Jun spürte, wie ihr Körper zu erstarren begann und erhob sich, nachdem sie noch einmal schwarze Haare zärtlich zerwühlt hatte. "Genauso wie du nie vergessen darfst, dass dich die Menschen um dich herum auch lieben." "Jun..." Ren kämpfte hart gegen Yohs unbarmherzige Arme an. Dann durchfuhr ihn ein so heftiger Schmerz, dass ihm schwarz vor Augen wurde. Die Gestalt seiner Schwester verschwamm immer mehr und hilflos musste er die Ohnmacht zulassen, die ihn in ein tiefes Loch riss. "Asakura Yoh?" Der junge Japaner bettete den ohnmächtigen Jungen vorsichtig auf den Fußboden und überlegte bereits fieberhaft, wie er Faust erreichen sollte. Sicherlich konnte dieser Ren helfen, aber die Hilfe musste so schnell wie möglich erfolgen. "Hai?" "Pass gut auf ihn auf." "Hai." Tao Jun nickte, dann wandte sie sich zum Gehen. Sie wollte nicht hier neben ihrem bewusstlosen Bruder bleiben. Nein, sie wusste genau, wo sie nun hingehörte. Kurz blieb sie an der Tafel stehen und musterte einen Jungen, der mit Tränen in den Augen zu den beiden Schamanen schaute. "Horo Horo?" Er schreckte sichtlich zusammen und ein kleiner Naturgeist versteckte sich sofort in seinen Armen. "Danke." Der junge Ainu wirkte, als ob er sie nicht verstanden habe, als wollte er nachfragen. Dafür hatte sie jedoch keine Zeit mehr, er würde ihre Worte später begreifen. Leise verließ sie den großen Saal, verschwand in der Dunkelheit der Nacht. Ich liebe dich, Ren-chan. Vergiss das nie. Ich liebe dich. *** Eine dünne Schneeschicht bedeckte die Dächer des alten Palastes, als sich am nächsten Morgen die Sonne majestätisch über Bergkuppen erhob, die im jungen Licht eines neuen Tages hell leuchteten, als wären sie mit Diamanten überzogen. Mehrere Gestalten liefen über das offene Feld zu einem kleinen Hubschrauber. Der Pilot, ein junger Mann mit blonden Haaren, untersuchte seinen Patienten auf einer improvisierten Bare, bevor zwei andere Jungen diese vorsichtig in das Fluggerät schoben, sich daneben setzten und anschnallten. Eine hübsche junge Frau im Schwesternkostüm übernahm die Navigation, faltete fachmännisch mehrere Flugkarten auseinander. Laut knatternd erhob sich der Hubschrauber schließlich in die Lüfte und flog rasch davon. Er hinterließ ein Bergtal voller Stille, einen alten Palast und ein Schlafzimmer, in dem zwei leblose Gestalten in einem großen Bett lagen. Sie hielten einander fest umschlungen, lächelten einander noch über den Tod hinaus zärtlich an. *** Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)