Liebe, Leid und Leben von theDraco (Mamorus Jugend) ================================================================================ Kapitel 27: ------------ "Ich geh einkaufen!", rief Mamoru und schlüpfte in seine Jacke. "Ach ja?" Kioku kam zu ihm, als er gerade dabei war, sich einen Schuh anzuziehen. "Und was?" "Och, pffft, so dies und jenes", wich er aus. "Geht's auch präziser?", hakte Kioku nach. Irgendwas an ihrer Stimme ließ Mamoru aufhorchen. "Na ja", antwortete er, noch mit seinem Schnürsenkel beschäftigt, "ne Zeitschrift." "Welche?" Mamoru dachte fieberhaft nach. "Über Motorsport. Du weißt schon... da kommen so... Motoren drin vor... und ne Menge Sport..." "Seit wann interessierst Du Dich für so was?", erkundigte sich Kioku. Ihr Interesse klang irgendwie geheuchelt. "Nur so. Warum nicht?" "Und wie heißt die Zeitschrift?" "Öh", machte Mamoru, während er in den zweiten Schuh schlüpfte, "die hat keinen Namen. Ich mein... die hat schon nen Namen, aber der is egal. Also, ... is für Kunst. Für ne Collage. Ich soll da so Autos zusammenkleben." "Ich kann Dir Zeitschriften mitbringen", schlug Kioku vor. "Immerhin geh ich gleich eh zum Einkaufen." "Pffft, nicht nötig. Mach ich schon selber, danke." "Und wie willst Du das anstellen?", fragte Kioku. Erst jetzt blickte Mamoru von seinen Schuhen auf. Seine Tante hatte sich während des Gesprächs demonstrativ gegen die Haustür gelehnt. "Was meinst denn Du damit?", meinte Mamoru in unschuldigem Ton. "Nun ja", antwortete sie mit einer wohlberechneten rhetorischen Pause. "Wird schwierig, einkaufen zu gehen, wenn man Hausarrest hat." "Wie jetzt, ich hab Hausarrest?", fragte er wie beiläufig. Natürlich kannte er die Antwort schon längst. Sie bestand darin, dass Kioku eine Augenbraue hochzog und ihm einen treib's-nicht-zu-weit-Blick zuwarf. Er seufzte schwer und zog sich Jacke und Schuhe wieder aus. "Braves Kind", lobte Kioku mit unverhohlenem Sarkasmus. "Na ja, war ein netter Versuch. Und jetzt geh und vergeude Deine Zeit lieber damit, die Vitrine im Wohnzimmer zu putzen. Und danach kannst Du Dich um den Abwasch kümmern." Mit hängenden Schultern schlurfte Mamoru ins Wohnzimmer, wo seine Tante ihm vorsorglich schon einen Putzeimer bereitgestellt hatte. Dort machte er sich an die Arbeit und schmollte dabei. Sein Plan war nicht aufgegangen. Aber irgendwie hätte er sich das ja auch denken können. Er brauchte eine bessere Ausrede. Aber was? Glücklicherweise hatte er sich etwas Zeitpuffer herausgeholt. Ihm war klar gewesen, dass Plan A fehlschlagen musste. Deshalb hatte er seine Flucht um Einiges zu früh angesetzt. Bis zu seinem Treffen mit Chikara würde es noch ein gutes Stück dauern. Aber er hatte nicht ewig Zeit. Er zermarterte sich das Gehirn, während er damit beschäftigt war, teures Geschirr, kleine Porzellanfiguren und diverse Erinnerungsstücke aus der Vitrine zu räumen möglichst ohne dabei zu viel Staub in die Nase zu bekommen. Ihm war klar, ein kleiner Nieser würde genügen, und eine dieser Kostbarkeiten könnte am Boden zerschellen. Er wäre tot, würde eines dieser wertvollen Stücke ein so plötzliches und unnötiges Ende finden. , schoss es Mamoru durch den Kopf. Er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wieso er so scharf darauf war, von diesem Wichtigtuer Prügel zu beziehen. Vor allem bereitete ihm sein Bauch immer noch Probleme. Es kam, es ging. Noch hatte er seiner Tante nichts davon erzählt. Er dachte sich, sie könnte ihn vor Sorge zu irgend einem Doktor schleifen. Und das war das Letzte, was er brauchen konnte. Erstens hasste er alles, was ihn an Krankenhäuser erinnerte, und zweitens befürchtete er, dadurch massig viel Zeit zu verlieren. Und er wollte pünktlich erscheinen, um sich eine blutige Nase zu holen. Herrje, wieso hatte er sich zu so was im wahrsten Sinne des Wortes breitschlagen lassen? Er verstand selber nicht, wie ein Mensch freiwillig in sein so offensichtliches Verderben rennen konnte. Aber dann kam ihm nur ins Gedächtnis, wie Hikari ihn heute Morgen vor Chikara beschützt hatte, und alle Sorgen waren wie fortgeweht. Vielleicht war das der Grund. Vielleicht ging er wirklich nur für sie dieses Risiko ein. Zwei Ritter, die im Kampf auf Leben und Tod um das Herz des unberührten Burgfräuleins fochten. Obwohl Mamoru irgendwie daran zweifelte, dass Hikari noch Jungfrau war. Ein schmerzhafter Stich ging durch sein Herz bei dem Gedanken, dass sie mit Chikara... Bäh! Oder hatte sie vor Chikara schon einen andren Freund gehabt? Oder sogar mehrere? "Mamoru! Hallo! Noch im Reich der Lebenden?" "Hä? Was?" Erst jetzt fiel ihm auf, wie seine Tante vor seinem Gesicht herumfuchtelte. "Lass das!" Sie ließ ihre Hand wieder sinken, verschränkte die Arme vor der Brust und meinte: "Du wirst nie fertig, wenn Du nur minutenlang dastehst und Löcher in die Luft starrst. Die Vitrine putzt sich nicht von selbst. Wo hast Du Deine Gedanken?" Mamoru bekam sofort rote Wangen. "Das geht Dich mal gar nichts an." Kioku gab sich geschlagen. "Hauptsache, Du tust hier irgendwas Produktives." "Ja, ja", meinte er und widmete sich wieder seiner Arbeit, seinen Träumen und seinen Fluchtgedanken. "Ich geh den Müll raustragen!", rief er quer durch den Flur. Doch zu spät, Kioku war schon zur Stelle. Sie beäugte die beiden Müllsäcke in seinen Händen misstrauisch. "Wieso willst Du Deine Jacke und Deine Schuhe wegwerfen? Hast Du eingesehen, dass Du ja doch keine Chance hast? Dann kannst Du auch einfach die Sachen in den Schrank räumen, nicht?", meinte sie. "Was? Nein! Ich ... äh ... was meinst Du?" Kioku seufzte und wies auf den Müllsack in seiner linken Hand. "Wenn Du solche Sachen nach draußen schmuggeln willst, dann tu das doch zukünftig in einem Beutel, der nicht durchsichtig ist, was?" "Ich hab ja nichts dagegen", fuhr Kioku ungerührt fort, "dass Du den Müll raus bringst, aber zuerst trägst Du die Kleider wieder in Dein Zimmer zurück. Und Du kannst Seigis Schuhe ausleihen, um kurz raus zu gehen." Mamoru erkannte dies klar als eine weitere ihrer Vorsichtsmaßnahmen. Seigis Schuhe waren ihm ein gutes Stück zu groß, und er würde wohl kaum versuchen, mit ihnen und dafür ohne Jacke wegzulaufen. Er lehnte den richtigen Müllsack gegen die Wand und trug den Beutel mit seinen Klamotten in sein Zimmer zurück. Soviel also zu Fluchtversuch Nummer 25, Plan Y. Na toll. Ihm gingen so langsam die lateinischen Buchstaben aus. Mamoru war zwar mit jedem Male kreativer geworden, doch leider hatte das Gleiche für Kioku gegolten. Und die Zeit wurde langsam knapp. Was sollte er denn noch tun? Fliegen? ...Warum denn eigentlich nicht? Aber er musste sich beeilen. Er hielt kurz die Luft an und lauschte. Kioku schien sich seinem Zimmer nicht zu nähern. Flink schlich er zu seinem Fenster und öffnete es. Ihn trennten fünf Stockwerke bis zum Erdboden, und unten auf der Wiese oder auf der nahe gelegenen Straße war keine Menschenseele zu sehen. Kurzerhand warf Mamoru sein Gepäck auf dem Fenster und hoffte inständig, dass es keiner finden möge, während er noch auf dem Weg nach unten war. Er schloss das Fenster wieder und hastete aus seinem Zimmer. "Wusste nicht, dass Du so ne Freude dran verspürst, Dich um den Müll zu kümmern. Merk ich mir", witzelte Kioku, als Mamoru an ihr vorbeistürmte. Er zog sich fieberhaft Seigis Schuhe über und stürzte zur Tür. "Du gehst? Ohne das hier?" Kioku hielt ihm den Müllbeutel unter die Nase. Er knurrte kurz, griff danach, und rannte zum Fahrstuhl. Dabei wäre er fast über die zu groß geratenen Schuhe seines Onkels gestolpert. "Beruhig Dich, Du hast noch genug Zeit", meinte Kioku in ihrer schnippischen Art und bevor sie die Tür hinter sich schloss meinte sie noch: "Die Arbeit läuft Dir ja nicht weg!" , dachte Mamoru mit siegessicherer Schadenfreude. Gewonnen! Na ja, so gut wie. Der eigentliche Kampf lag ja erst noch vor ihm. Er rannte nach draußen, warf achtlos den Müllsack neben den Container, umrundete dann das Hochhaus, wobei er einige Male stolperte, und schloss schlussendlich glückselig den Plastikbeutel mit seinen Sachen in die Arme. Schnell hatte er seine Jacke und seine Schuhe angezogen, Seigis Riesenlatschen in der Plastiktüte verstaut und diese wiederum sicher unter einer Hecke versteckt. Bevor Kioku auch nur auf die Idee kommen konnte, sich Gedanken zu machen, war Mamoru längst über alle Berge. Er musste inzwischen joggen, wenn er noch rechtzeitig da sein wollte. Das hatte auch was Gutes an sich, denn er als Kampfsportler wusste, dass es sich aufgewärmt gleich viel besser kämpfte. Er machte nur dann und wann eine kleine Pause, um sich zu dehnen und die Muskeln etwas aufzulockern. Er war irgendwie überhaupt nicht aufgeregt oder nervös, und er wusste nicht mal, warum. Das einzige, was ihm Sorgen bereitete, war sein Bauch, der noch immer in unregelmäßigen Abständen schmerzhafte Signale versandte. Doch das konnte noch warten. Die letzten zweihundert Meter bis zum Sportplatz ging er in gemütlichem Tempo. Er hatte nur noch ein paar Minuten Zeit und wollte etwas Kraft sammeln ehe es zur Auseinandersetzung kam. Der Sportplatz war rechteckig, über die Länge hinweg war ein Fußballplatz angelegt. Parallel zum Fußballfeld verliefen fünf schnurgerade Rennbahnen für den 100-Meter-Sprint, die am oberen Ende in einen Sandkasten für die Weitspringer führten. Das Dunkelrot des Hartgummiuntergrundes auf dem ganzen Platz wurde nur durch die weißen Linien unterbrochen, die für die Sprinter und Fußballspieler angebracht worden waren. Der gesamte Platz wurde von einem mehrere Meter hohen Zaun umgeben, der aus recht dünnen, aber sehr robusten Metallstäben bestand, die so nah bei einander standen, dass nicht mal ein Tennisball zwischendurchgepasst hätte. Nur eine Tür, die aus dem gleichen Drahtgeflecht bestand, führte auf den Platz oder wieder von ihm weg. Im Moment hätte Mamoru sich mehr Ausgänge gewünscht. Wenn es nach ihm ginge, könnte man in diesen Zaun so viele scheunentorgroße Öffnungen anbringen wie Löcher in einem Schweizer Käse sind. Dann wäre seine Chance zu fliehen, wenn es drauf ankäme, höher. Aber so konnte er nichts weiter tun, als resigniert zu seufzen und sich seinem Schicksal hin zu geben. Auf der Seite des Platzes, wo die Tür eingelassen war, hatte man Aussicht auf den nahe gelegenen Parkplatz und die Straße, die drei weiteren Seiten waren von dichten, recht hohen Rosenbüschen umgeben. Zwischen dem Zaun und den Büschen war nur ein Pfad von kaum mehr als anderthalb Metern, gerade so viel Platz, dass der Gärtner die Ranken stutzen konnte, bevor sie den Zaun erreichen und die Sportler mit den spitzen Dornen verletzen konnten. Jetzt, Anfang März, sahen die Sträucher etwas trostlos aus, denn die Blüten waren noch nicht da, nur kleine Knospen wuchsen aus den für ihre Schönheit bekannten Pflanzen. Mamoru schloss die Tür hinter sich. Der Zaun wirkte nun wie eine Festung, aus der es kein Entrinnen mehr gab. Wie ein Gefängnis. Oder wie eine Kampfarena, bei der nur der Sieger lebend wieder herauskommen konnte. Den dunkelroten Hartgummibelag des Platzes hätte man auch für getrocknetes Blut halten können, fand Mamoru. Exakt in der Mitte des Platzes - so exakt, dass man hätte meinen können, ein gigantischer Mathematiker hätte diesen Punkt persönlich vermessen und markiert - stand Chikara, die Arme vor der Brust verschränkt und siegessicher in Mamorus Richtung grinsend. "Ah, nun sieh mal einer an! Mein Prügelknabe ist pünktlich!", grölte er quer über den Platz. "Die Bezeichnung würde mir besser gefallen!", brüllte Mamoru zurück. Er schlenderte auf seinen Kontrahenten zu. So langsam aber sicher wich die Coolness aus ihm, doch er versuchte es zu verbergen. Was ihm aber ziemlich schwer fiel. Trotz des kühlen Windes, der kleine Sandkörnchen des Weitsprungbeckens umhertrieb, spürte Mamoru die Schweißperlen auf seiner Stirn. Eine wahnsinnige Nervosität breitete sich in ihm aus, verlief über sämtliche Nervenbahnen hinweg bis in die äußersten Spitzen seiner Glieder. Er war an Chikara heran. Sie standen einige Herzschläge lang regungslos vor einander. Wie zwei Raubtiere, die sich nie zuvor begegnet waren, aber beide nicht vorhatten, klein bei zu geben. "Bereit, den Rest Deines erbärmlichen Lebens im Rollstuhl zu verbringen, Würstchen?", erkundigte sich Chikara. "Bereit, den Rest meines erbärmlichen Lebens damit zu verbringen, mir meine Rente zu bezahlen und mich umher zu rollen?", entgegnete Mamoru. Er hoffte, irgendwie um eine gebrochene Nase herumkommen zu können. "Ich mein, wir könnten uns doch in ein nettes Café setzen und alles ausdiskutieren, findest Du nicht?" Chikara lachte laut auf. "Das sieht Dir ähnlich! Nein, nein, Würstchen! Die Zeit des Redens ist vorbei." Er zog seine Jacke aus. Darunter trug er nur ein weißes T-Shirt, das eigentlich viel zu eng anlag und schier zerriss aufgrund der gewaltigen Muskelmasse, die sich darunter abzeichnete. Mamoru gefiel so gar nicht, was er da vor sich sah, wenn es auch ein regelrecht faszinierender Anblick war. Dennoch entging ihm nicht die Bewegung, die er im Augenwinkel wahrnahm. "Ich dachte, Du wolltest auch alleine kommen?", meinte er in vorwurfsvollem Ton. Jetzt erst drehte er seinen Kopf zu der dritten Person und erkannte sie voller Überraschung als Hikari. "Sie hier?", fragte er verblüfft. "Schiedsrichter. Was dagegen?" Chikara schaffte es, noch etwas breiter zu grinsen. "Ich wollte ihr eigentlich den Anblick ersparen, wie ich ihren heißgeliebten Großkotz in Grund und Boden stampfe", erklärte Mamoru schulterzuckend. "Du weißt schon. Pure Rücksicht." Chikara ging einfach nicht auf die Sticheleien ein. Stattdessen reichte er Hikari seine Jacke. Sie nahm das Kleidungsstück an sich und hielt Mamoru die freie Hand hin, zum Zeichen dafür, dass er ihr seine Jacke auch geben solle. Das tat er dann auch. Allerdings nicht kommentarlos. "Drückt Ihr mir die Daumen, holde Maid?" Sie kicherte leise, gab aber keine richtige Antwort darauf. Doch nicht einmal das schien Chikara aus der Ruhe zu bringen. Es schien fast, als sei sein Grinsen in seinem Gesicht festgefroren. Na ja, zumindest passte es so zu seinem eiskalten Herzen, fand Mamoru. Er streifte sich den dicken Pullover über den Kopf und drückte auch ihn Hikari in die Hand. Sein weißes Unterhemd, das nun zu Tage trat, war schon voller Schweiß, aber er machte sich keine Sorgen, sich erkälten zu können. Bei diesem Highlight würde ihm schon warm genug werden, davon war er überzeugt. Und es war wichtig, alles loszuwerden, was ihn im Kampf unnötig einschränken konnte. "Was für Regeln gelten?", erkundigte sich Mamoru, der nun noch ein letztes Mal all seine Muskeln dehnte. "Regeln?" Chikara sah irgendwie geisteskrank aus mit dieser fast schon unmenschlichen Fratze. "Wozu das denn? Die schränken doch nur ein!" "Ja, dafür sind sie gedacht. Stimmt schon", entgegnete darauf Mamoru in sarkastischem Ton. Darauf lachte Chikara nur. "Ok, wie wär's damit: Regel Nummer eins, man lässt den andren am Leben." "Ja? Ich höre. Fahre fort", meinte Mamoru als er sich ausgiebig streckte und sich auflockerte. "Reicht doch. Ich weiß gar nicht, was Du willst." Mamoru schüttelte ungläubig den Kopf. Tat der nur so dämlich oder war er so versessen auf dieses Gefecht, dass er sein Gehirn völlig ausgeschaltet hatte? Falls letzteres zutraf, konnte das entweder etwas sehr Gutes oder etwas sehr Schlechtes bedeuten. Etwas Gutes, wenn er so vor Wut verblendet war, dass er sich nicht mal an die einfachsten Grundlagen der hohen Kampfkunst erinnern konnte. Etwas Schlechtes, wenn er durch seine Gleichgültigkeit sein Gefühl für Feinheiten verlor und nicht mehr Gnade noch Rücksicht in irgend einer Form kannte. "Ich meine", setzte Mamoru zu einer Erklärung an, "wann ist der Kampf beendet? Gibt es ein Unentschieden? Wann steht der Sieger fest? Beschränken wir uns auf nur eine Kampfsportart? Und welchen Preis gibt der Verlierer dem Gewinner?" Er streckte seine Arme in den Himmel und drückte seinen Rücken durch, bis seine Wirbelsäule knackte. Dann zog er sich schlagartig vorne zusammen, als wieder dieser eigenartige Schmerz durch seinen Unterleib zuckte. Er sollte besser schleunigst herausfinden, was da nicht stimmte, und etwas dagegen unternehmen. Er hielt kurz die Luft an, zum einen, um so den Schmerz etwas zurückzukämpfen, und zum anderen, um keinen Klagelaut abzugeben. Er stand nun vor einem harten Kampf und er durfte keine Schwäche zeigen; auf keinen Fall! Doch Chikara schien zum Glück tatsächlich nichts gemerkt zu haben. "Unentschieden is nich", antwortete er endlich. "Ich bin der Sieger, wir wenden jede nur erdenkliche Kampfsportart an, der Preis ... nun, was hältst Du von Ruhm und Ehre? Und wann der Kampf beendet ist? Natürlich dann, wenn Du bewusstlos am Boden liegst. Nicht eine Sekunde eher." "Bist ja schwer von Dir überzeugt", presst Mamoru keuchend hervor. Seine Bauchmuskulatur schien sich zu verkrampfen. Ihm war irgendwie mit einem Male speiübel. "Was ich von Dir anscheinend nicht behaupten kann", stellte der Blonde fest. "Aber von Dir hab ich ja doch nichts anderes erwartet. Und nun würde ich sagen, auf los geht's los!!!" Das letzte Wort hatte er lauthals geschrieen und sich in der selben Sekunde auf Mamoru gestürzt. Beide schlugen auf dem robusten Gummiboden auf und Mamoru wurde durch den harten, unerwarteten Aufprall die Luft aus den Lungen gepresst. Der Schmerz durchzuckte seinen Bauch wie ein Stich mit einem glühend heißen Schwert. Er keuchte auf und gab leise, krächzende Laute von sich. Er hatte noch keine Zeit gefunden, seine Lungen mit frischem Sauerstoff zu füllen. "Fängst Du schon an zu schwächeln?", lachte Chikara und verpasste Mamoru einen derben Kinnhaken. Die Wucht des Schlages traf ihn wie eine Dampflok. Sein Kopf wurde zur Seite geschleudert und seine Schläfe knallte gegen den Boden. Er hatte sich aber schnell wieder gefangen, winkelte seinen Arm an und stieß mit aller Kraft seinen Ellenbogen in den Magen seines Gegners. Chikara schien es kaum zu stören. Noch immer verunstaltete dieses grässliche Grinsen sein Gesicht. Er hatte keine Mühe damit, Mamoru an den Oberarmen zu packen, ihn hoch zu reißen und ihn mit einem gekonnten Schulterwurf durch die Lüfte segeln zu lassen. Dieser fing den Sturz geschickt ab, rollte über die Schulter, stieß sich vom Boden weg und kam in einer fließenden Bewegung wieder auf die Beine. Er ließ Chikara aber keine Zeit, noch mal anzugreifen, sondern nahm Anlauf, sprang mit einem gewaltigen Satz in die Luft, machte eine geschickte Dreihundertsechziggraddrehung um die eigene Achse und griff mit einem Fersenkick an. Und die Attacke saß. Chikara wurde hart an der Schulter getroffen und einige Meter weit zu Boden geschleudert. Geschickt wie eine Katze setzte Mamoru wieder auf der Erde auf. Er federte aus der Hocke nach oben und stürzte sich wieder auf Chikara, um ihn mit einem Schlag ins Gesicht zu attackieren. Zu spät bemerkte er das siegessichere Grinsen, das einfach nicht aus dem Gesicht des Blonden weichen wollte. Noch immer auf dem Boden liegend winkelte er sein Bein an und begrüßte Mamoru mit einem heftigen Tritt in den Bauch. Dieser war zu schnell und konnte nicht mehr ausweichen, sodass er mit der ganzen Wucht seines Angriffs in den gemeinen Konter seines Gegners lief. Er brach hustend und keuchend zusammen. Rote Schlieren waberten vor seinen Augen hin und her und seine Übelkeit schien noch zuzunehmen. Einige Augenblicke wankte er unsicher umher und sein Gleichgewicht hätte ihn fast verlassen, hätte sich nicht inzwischen Chikara aufgerappelt, um das selbst in die Hand zu nehmen. Er riss Mamoru grob zu sich herum, griff mit der linken Hand in die beiden Träger des Unterhemds und schlug mit der rechten Faust erbarmungslos zu; immer wieder, sechs Mal, sieben Mal, acht Mal... Mamoru sah nur eine Möglichkeit. Er riss beide Arme hoch, um sich vor den Schlägen zu schützen, sprang dann mit beiden Beinen vom Boden ab und ließ sich blindlings in den Trägern hängen, die Chikara immer noch eisern festhielt. Durch das plötzliche, immense Gewicht auf seinem linken Arm wurde Chikara vorwärts gerissen. Noch im freien Fall drehte sich Mamoru weiter, stieß seinem Kontrahenten sein Knie ins Gesicht und stöhnte laut auf, als er ziemlich unsanft mit dem Rücken auf dem Boden aufschlug. Sein Widersacher hatte derweil vor Schreck und Schmerz Mamorus Unterhemd losgelassen. Er lag auf dem Boden und presste sich die Hand gegen die blutüberströmte Schläfe, während er laut aufjaulte. "Das wirst Du büßen, Du Scheißkerl!", fluchte er. "Na, na! Es sind Damen anwesend!", mahnte Mamoru sarkastisch. Er lag schweratmend auf dem Boden und konzentrierte sich, um den Schmerz loszuwerden, der ihm durch Bauch, Rücken und den Kopf jagte. Er stützte sich ab, um aufzustehen. Er kam nicht weit. Chikara war schon wieder heran und verpasste ihm einen sauber gezielten Schlag auf die Nase. Mamoru fiel rückwärts und knallte hart mit dem Hinterkopf auf dem Boden auf, während er sich die Hand gegen das Gesicht presste. Noch bevor er die Gelegenheit hatte, irgendetwas zu unternehmen, war sein Feind wieder auf den Beinen und stand mit blutigem Kopf über ihm. Sein Blick war finster. Endlich war das hässliche Grinsen verschwunden. "Sprücheklopfer", murmelte er. "Dir zeig ich, wo der Hammer hängt." Er holte weit aus und versetzte Mamoru einen heftigen Tritt in die Seite. Dieser brüllte auf und krümmte sich auf dem Boden. Erst viel zu spät bemerkte er, was für eine schlechte Idee das war, denn in dieser Haltung präsentierte er Chikara seinen Rücken als perfekte Zielscheibe. Und dieser Fehler blieb nicht ungestraft. Er wurde halb ohnmächtig, als er den gewaltigen Stoß in seinen Nieren spürte. Der Schmerz schien seinen gesamten Leib explodieren zu lassen. Zwischen seinen Ohren ertönte ein lautes Rauschen und wie aus weiter Ferne hörte er seine eigenen, lauten Schreie und das grässliche, vergnügte Lachen seines Gegners, der Spaß daran fand, Mamoru immer weiter als Fußball zu missbrauchen. Und dann, am Rande der Bewusstlosigkeit, hörte er die sanfte Stimme hinter seiner Stirn. Kämpfe. Befreie Deine Macht. Erwache, Herr der Erde. Er wusste selbst nicht, woher er die Kraft nahm, aber als nächstes führte Mamoru - immer noch auf dem Boden liegend - einen geschickten Tritt aus, der Chikara von den Füßen fegte. Er selbst erhob sich wieder, was ihn einige Mühe kostete. Die Welt schwankte vor seinen Augen und die seltsamen, blutigen Schwaden umnebelten immer noch seinen Verstand. Er schaute sich verwirrt um. Hatte er nicht gerade noch eine Stimme gehört? Neben ihm kam Chikara wieder langsam auf die Beine, und im Abstand von etwa fünfzig Metern stand Hikari auf dem Sportplatz und schaute den beiden Kerlen aus schreckgeweiteten Augen zu. Sie war ganz blass. Anscheinend hatte sie sich den Kampf nicht so brutal vorgestellt. Hatte sie ihm gesagt, er solle erwachen? War sie womöglich sogar die Person, die er Nacht um Nacht sah? Hatte er schon von ihr geträumt, als er ihr noch gar nicht körperlich begegnet war? Ein derber Schlag ins Gesicht holte Mamoru wieder in die Realität zurück. Er torkelte rückwärts und prallte gegen die Umzäunung. Chikara holte zu einem weiteren Schlag aus. Kämpfe! Bitte! Du musst Dich stellen! Nur so erfährst Du Deine wahren Fähigkeiten! Wieder diese Stimme! Wieder dieses kurze Aufflackern von neuer Kraft und neuem Kampfeswillen! Mamoru duckte sich blitzartig unter dem Hieb seines Gegners durch. Chikaras Hand prallte ungebremst gegen den metallenen Zaun und die Haut platzte an den Knöcheln auf. Das war die Gelegenheit! Mamoru atmete tief ein, nahm gewaltigen Schwung, indem er sich um die eigene Achse drehte, und dann ließ er seinen Fuß in den Nacken seines Kontrahenten krachen. Eh er's sich versah stieß Chikara laut brüllend mit der Stirn und der Lippe gegen die Verstrebungen des Zaunes. Er sackte zurück, doch Mamoru hatte sich schon hinter ihm aufgebaut, packte ihn nun am Kragen des T-Shirts, nahm Schwung und donnerte den Kopf des Blonden wieder gegen das Gitter. Und wieder. Und wieder. Bis die eigenartige Kraft ihn wieder verließ. Er konnte Chikaras gewaltiges Gewicht nicht mehr halten. Das Shirt entglitt seinen Fingern. Blutend und stöhnend sackte der Feind zu Boden. Auch Mamoru konnte sich nicht mehr aufrecht halten. Er brach in die Knie und landete unsanft auf den Händen. Einige Meter weit konnte er noch krabbeln, dann verließen ihn seine Kräfte völlig. Haltlos fiel er zu Boden. Sein Schweiß vermischte sich mit dem Staub und dem Sand unter seinem Gesicht. Die ganze Welt vor seinen Augen schien sich zu drehen und bunte Pünktchen tanzten wild vor seinem Gesichtsfeld auf und ab. Ununterbrochen pulsierten seine Nieren schmerzhaft in seinem Rücken, und sein Bauch verkrampfte sich bis ins Unerträgliche. Er war sich nicht ganz sicher, aber er glaubte, wie aus weiter Ferne seinen Namen zu hören. Mühevoll drehte er den Kopf. Alles schien vor ihm unscharf zu sein, er konnte seine Umgebung kaum erkennen. Doch seine Augen sagten ihm, Hikari würde geradewegs auf ihn zugelaufen kommen. Ein kleines Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Es würde schon bald alles wieder in Ordnung kommen. Wenn doch nur diese grässlichen Schmerzen endlich aufhören könnten! Noch ehe er einen weiteren Gedanken hätte denken können, krachte erneut die Faust seines Gegners in sein Gesicht. Mamoru stöhnte leise auf - zu mehr war er nicht mehr fähig. Er lag hilflos auf dem Bauch, sein Gegner über ihm. Chikara fuhr mit einer immer noch kräftigen und schnellen Bewegung mit dem Arm unter Mamorus Hals und riss ihn in einem einzigen, schmerzhaften Ruck nach oben. Er stand nun aufrecht hinter dem halb knienden, halb schlaff hängenden Mamoru und drückte mit dem Unterarm dessen Kehle zu. Vom Selbsterhaltungstrieb geleitet hob Mamoru seine Arme, griff nach dem Unterarm seines Peinigers und zerrte mit Leibeskräften daran - doch vergeblich. Der Druck steigerte sich sogar eher noch. Du musst kämpfen! Du musst weiterleben, das ist wichtig! Gib nicht auf! , fragte er sich verzweifelt. Er hörte in seiner Nähe ein schrilles Kreischen. Müde und unendlich langsam hob er ein Augenlid und sah Hikari vor sich. Sie stand tatsächlich da und schrie irgendwas. In seinem desolaten Zustand konnte er ihre genauen Worte nicht mehr hören, er griff nur Wortfetzen auf. Aber er verstand denn Sinn dessen, was sie da sagte. Sie forderte Chikara lauthals auf, sofort loszulassen! Was er als nächstes mitbekam waren ein klatschendes Geräusch und eine schnelle Bewegung direkt vor seinem Auge. Sein Gehirn wurde durch den Sauerstoffmangel langsam ernsthaft vernebelt, aber es konnte sich dennoch einen Reim darauf machen, was geschehen sein musste. Chikara hatte sich das von seiner Freundin nicht bieten lassen und hatte ihr einen so heftigen Schlag verpasst, dass sie zu Boden gestürzt war. Doch zuerst musste er sich um sich selbst kümmern. Anscheinend ging es Chikara nicht schnell genug. Vielleicht wollte er einfach nicht warten, bis Mamoru erstickt war. Jedenfalls lockerte er den Griff um seine Kehle. Aber nur, um stattdessen einen anderen Griff anzusetzen. Er stützte sein Knie in Mamorus Rücken, etwa in Höhe der Schultern. Seine Hand griff nach Mamorus Stirn. Und dann zog er den Kopf des Schwächeren langsam aber stetig nach hinten. Am Ende seiner Kräfte und gegen die Schmerzen in seinem Nacken ankämpfend, kniff Mamoru seine Augen aufeinander. Als ein undeutliches Raunen hörte er Hikaris Schrei: "Du brichst ihm das Genick!" Du, Herr der Erde, musst jetzt sofort wiedererwachen! Du musst Deine Kräfte erwecken! Du musst kämpfen! Du musst Deine Aufgabe übernehmen! , dachte Mamoru. Urplötzlich erfüllten Hoffnung und tiefes Vertrauen sein Herz. Eine angenehme Wärme breitete sich in seinem Körper aus. Er spürte, wie sein Herzschlag sich langsam beruhigte und einen kräftigen, gleichmäßigen Rhythmus annahm. Ein tiefer, innerer Frieden breitete sich in seinem Brustkorb aus und nahm ihm alle Schmerzen und alles Leid. Er öffnete wieder die Augen. Sein Blick war klar und so scharf wie nie zuvor. Hikari lag vor ihm auf dem Boden und hatte sich auf einen Ellenbogen aufgestützt. Ihre Hände, Unterarme und das linke Knie waren mit blutigen Schrammen versehen und die pure Panik sprach aus ihrem Gesichtsausdruck. Mamoru setzte ein beruhigendes Lächeln auf, das ihr sagen sollte es ist alles in Ordnung. Jetzt wird alles gut. Die Wärme in seinem Körper steigerte sich nun rapide, wurde zu einem Strom aus purer, wenn auch angenehmer Hitze, der durch seinen ganzen Leib floss. Dann schien irgendetwas diese Hitze aus seinem Fleisch zu saugen. Der Sog verstärkte sich immer weiter, und schien durch seine Brust nach draußen zu weichen. Und dort, wo die Energie dieser Wärme die Luft berührte, entstand ein kleines, goldenes Leuchten. Zunächst waberte ein formloser goldfarbener Nebel durch die Luft, und dann, nach einem hellen Blitz, erschien auf einmal ein eigenartiges Gebilde aus dem Nebel. Ein durchsichtiger, goldfarbener Polyeder erschien, in dessen Mitte eine kleine, goldene Kugel schwebte. Was sich da materialisierte, glich einem perfekt geschliffenen Kristall, der von innen heraus leuchtete und strahlte. Mamoru streckte die Hand aus und ergriff den glänzenden Kristall. Und dann geschah alles gleichzeitig: Ein gleißendes, intensives, goldenes Strahlen entwich dem etwa faustgroßen Kristall und breitete sich wie eine kleine Explosion aus. Durch die Druckwelle wurde Chikaras Körper fortgerissen und mit dem Rücken gegen den Zaun geschleudert. Hikari war anscheinend zu weit entfernt, sie spürte nur einen heftigen Windstoß, der an ihren Kleidern zerrte, der aber nicht stark genug war, ihr zu schaden. Mamoru selbst wurde nur sanft vom Wind erfasst, der mit seinen Haaren spielte und seinen Körper von Schmutz und Schweiß befreite. Das helle Strahlen des Kristalls blendete ihn so sehr, dass er die Augen schließen musste. Und dennoch wusste er immer noch genau, was alles in seiner Umgebung geschah. Er sah alles um ihn herum; und das sogar in einer bislang ungekannten Schärfe und Genauigkeit. Doch damit nicht genug. Er fühlte die Erde unter sich. Aber er spürte sie nicht nur wegen der Gravitation, die ihn nach unten zog; nein. Er fühlte die gesamte Erde, als Ganzes, als ein System, als ein Planet. Er spürte jedes einzelne Sandkorn, jede einzelne Pflanze, jedes einzelne Tier, jeden einzelnen Menschen. Jede Geburt und jedes Sterben. Er konnte alle Klagelieder und allen Jubel, jede einzelne Sprache auf dieser Welt hören und verstehen. Alles Licht und alle Wärme spürte er ebenso auf seiner Haut wie auch alle Dunkelheit und alle Kälte. Er wusste auf einen Schlag um jeden einzelnen Grashalm und um jedes einzelne Insekt. Er fühlte regelrecht das emsige Treiben der Würmer, Bakterien und Maden, die abgestorbenes Material wiederverwerteten und so Material für neues Leben heranschafften. Er sah, wie die Bäume das lebensspendende Wasser aus dem Boden sogen. Er erlebte im kleinsten Detail die Umsetzung von Sauerstoff zu Kohlenstoffdioxid, und dann wieder von Kohlenstoffdioxid zu Sauerstoff. Er sah die Erde, das Wasser, das Feuer und den Wind. Und er verstand, wie sehr sie alle von einander abhingen, und das sie einen festen Kreis des Lebens bildeten. Mamoru spürte, wie dieser ganze Planet, sein Planet, fühlte, wuchs, gedieh, atmete, lebte! Gerade, als diese Masse an Eindrücken und Impulsen sein menschliches Gehirn zu übersteigen drohte, riss der Strom an Informationen mit einem Male ab. Nach nur einer Sekunde tiefster Verbundenheit mit dieser blauen, lebensspendenden Kugel, kehrte Mamoru geistig wieder in die Wirklichkeit zurück, die er genaugenommen nie wirklich verlassen hatte; eher noch: deren Teil er geworden war. Oder die zu einem Teil von ihm wurde. Mamoru sah sich verwirrt um. Hikari lag immer noch an der selben Stelle, wo er sie zuletzt gesehen hatte. In dieser einen Sekunde, in der er sich mit diesem Planeten vereinigt hatte und zum Herrn dieser Welt geworden war, hatte sie sich nicht um einen Millimeter bewegt. Nur der Ausdruck der Verwirrung und des Unglaubens war noch deutlicher in ihr Gesicht getreten. Als Mamoru sich umwandte, sah er auch, warum. Er hatte zwar noch mitbekommen, dass Chikara durch die heftige Druckwelle gegen die Umzäunung geschleudert worden war, aber was danach mit ihm geschah, das wurde Mamoru erst jetzt klar, wo er dieses unglaubliche Bild vor Augen hatte: Chikara hing an diesem Zaun. Er hing wirklich, so erstaunlich das auch klingen mag. Rosenranken wanden sich um seinen Körper und hielten ihm am Zaun fest, die Arme zu beiden Seiten weit abgespreizt, die Beine senkrecht zum Erdboden hin zeigend, den Kopf haltlos herunterhängend. Er war offensichtlich bewusstlos. Die Rosenranken waren anscheinend in Bruchteilen von Sekunden gewachsen, und zwar in genau dem Moment, in dem Mamorus Feind gegen den Zaun geprallt war. Und das Außergewöhnlichste war: Sie blühten. Das galt nicht nur für die Äste, sie sich um Chikaras Körper rankten, und ihm unzählige blutige Schnitte in die Haut ritzten. Alle Rosen, die rund um den Sportplatz wuchsen, blühten nun in den schönsten, tiefsten Rottönen auf, obwohl es eigentlich um diese Jahreszeit viel zu kalt war für diese herrlichen Pflanzen. Aber sie taten es. Es war, als hätten sie etwas von der gewaltigen, goldenen Energie abbekommen, und das hätte ihnen genügt, um solche Pracht zu erlangen. Sie blühten und gediehen, als hätten sie nie etwas anderes getan. Als wollten nie wieder etwas anderes tun. Mamoru sah sich weiter um. Er suchte alles mit seinen Augen ab, aber den goldenen Kristall konnte er nicht mehr finden. War er in seinen Körper zurückgekehrt? Aber das war nun gleichgültig. Noch immer verwirrt auf dem Boden sitzend starrte Mamoru seinen Feind aus ungläubig geweiteten Augen an. Bis er eine Bewegung bemerkte. Hikari rappelte sich langsam vom Boden auf. Sie tat einen Schritt, keuchte vor Schmerzen auf und fiel vorwärts. Mamoru sprang hastig auf, machte einen großen Satz auf sie zu und fing sie auf. Dann stutzte er. Er sah an sich herunter und stellte verblüfft fest, dass all seine Verletzungen komplett verheilt waren. , fragte er in sich hinein. Keine Antwort. Stille. Nichts. Er wartete vergeblich auf die Antwort der unbekannten Frau, die sonst immer in seinem Geist herumspukte. Nach einem langen Seufzer beschloss er, auf die Nacht und damit auf seinen nächsten Traum zu warten, um mit ihr zu sprechen. Bis dahin gab es noch Wichtiges zu tun. Er spürte Hikaris sanfte Hände, als sie sich haltsuchend an seiner Brust abstützte. Ihr linkes Knie sah nicht gut aus, ebenso wie ihre Unterarme. Er spürte ihre Körperwärme mit einem Feingefühl wie selten zuvor in seinem Dasein. Mit leicht roten Wangen schob er den einen Arm unter ihre Schultern und den anderen unter ihre Knie, hob sie hoch, ging neben dem Zaun in die Hocke, setzte sie neben Chikara wieder ab und lehnte sie gegen das Gitter. "Danke", flüsterte sie leise. Sie schien wirklich üble Schmerzen zu haben, doch sie warf ihm einen tapferen Blick zu. "Was ist mit ihm?", fragte sie und ihre Augen wanderten kurz zu Chikara und dann wieder zu Mamoru zurück. "Ich weiß auch nicht genau", murmelte er und erhob sich wieder. Er stellte sich vor seinen bewusstlosen Gegner und sah ihn mit fragendem Blick an. Chikara hing dort am Zaun wie gekreuzigt, und die Rosen schienen ihn eisern festhalten zu wollen. Als Mamoru sie allerdings zögerlich berührte, zogen sie sich raschelnd zurück; langsam genug, dass Chikara nicht einfach wie ein Sack Mehl zu Boden plumpste, aber immer noch schnell genug, dass man die Bewegung richtig sehen konnte. Mamoru fing seinen Gegner behutsam ab und legte ihn vorsichtig auf den Boden. Chikara hatte zwar an diesem Tag ein gutes Stück übers Ziel hinaus geschossen, aber Mamoru war jetzt nicht nach Rache zumute. Er war zu gutherzig, um den blonden Jungen einfach achtlos herumliegen zu lassen. Wenn ihm etwas passieren würde, könnte sich Mamoru das nie verzeihen. "Was meinst Du, sollen wir einen Krankenwagen rufen?", murmelte er, während er leicht Chikaras Wange tätschelte und dann und wann seinen Namen sagte, um ihn zum Aufwachen zu bringen. Hikari zuckte mit den Schultern und begutachtete ihr Knie. "Keine Ahnung. Der ist zäh, der hält ne Menge aus." "Schon, aber ob er eine Explosion aushält von einem..." Mamoru stockte. Er wandte sein Gesicht zu Hikari, die immer noch ihr Bein ansah, aber ebenfalls in ihrem Tun inne hielt. "...ja, was genau war das eigentlich?", beendete er seinen Satz. "Das wollte ich Dich fragen", entgegnete Hikari. "Bist Du ein Außerirdischer, oder irgendwie so was? Was zum Teufel hast Du da gemacht?" "Keinen blassen Schimmer", antwortete er. Mangels einer besseren Idee begann er damit, an Chikaras Schultern herumzurütteln, doch vergeblich. Innerlich lachte er verzweifelt auf. Was zur Hölle war da geschehen? Er, ein Außerirdischer? Als Kind war er sehr einsam gewesen, und seine Fantasie hatte damals jemanden geschaffen, um nicht einsam zu sein. Fiore. Ein außerirdisches Kind mit grüner Haut und spitzen Ohren. Oder war Fiore mehr als Einbildung gewesen? Mamoru versuchte sich an Näheres zu erinnern, doch sein Gedächtnis war verschwommen. Es war einfach zu lange her. Mamoru gab auf. Anscheinend konnte Chikara einfach noch nicht aufwachen, aus welchen Gründen auch immer. Er atmete zwar regelmäßig, und sein Herz schlug gleichmäßig und kräftig, aber er reagierte nicht auf seine Umgebung. Da wandte sich Mamoru eben wieder Hikari zu. Er kroch den kurzen Weg von vielleicht nur einem Meter zu ihr rüber und betrachtete ihr Knie. Sie hatte sich eine üble Schramme eingehandelt, als Chikara sie so grob behandelt hatte. "Tut es sehr weh?", erkundigte sich Mamoru. Er ließ seine Fingerspitzen tastend um die Wunde herum gleiten. "Au!", stöhnte Hikari. "Ja, schon." "Tut mir Leid." Mamoru machte ein grimmiges Gesicht. "Mir hat es schon von Anfang an nicht gefallen, dass Du dabei warst. Als hätte ich's vorausgesehen." Er hatte wirklich großes Mitleid mit ihr. Sie wirkte so unendlich zerbrechlich und hilfsbedürftig, wie sie so da saß und blutete. Er mochte es nicht, ihr schönes Gesicht schmerzverzerrt zu sehen. Er wollte ihr lieber ein Lächeln auf die Lippen zaubern. Wenn es doch nur irgend etwas gäbe, das er für sie tun könnte! Ihm fiel aber nichts besseres ein, als seine Hände um die Schramme herum zu platzieren und vorsichtig auf die Wunde zu pusten, um sie zu kühlen. Sie sah ihm dabei mit so großem Interesse zu, dass sie die Schmerzen darüber fast vergaß. Aber auch nur fast. "Danke, Mamoru. Aber das wird schon wieder." Statt zu antworten seufzte er nur. Was sollte er denn auch besseres tun? Das schönste Mädchen auf der Welt war verletzt, und er war schuld daran! Nur, weil er unbedingt kämpfen und sich als was Besseres darstellen musste! Nichts hatte er sich so sehr gewünscht, wie in ihrer Nähe zu sein, sie zu berühren, mit ihr zu reden! Und nun? Nun konnte er ihr nicht helfen. Konnte ihr - mal wieder - nicht zeigen, was er für sie empfand. Warum war das Leben immer so grausam? Er schloss die Augen. Er musste nachdenken. Musste selbst erst mal mit dem zurechtkommen, was er da gerade erlebt hatte. Und es fiel ihm nicht leicht. Als er Hikaris leisen, überraschten Aufschrei hörte, öffnete er seine Augen wieder und schaute sie verwundert an. Sie starrte nur verblüfft auf ihr Knie. Er folgte ihrem Blick und erschrak auch erst mal heftig, als er endlich realisierte, was Hikari so geschockt hatte: Ihr Knie war wieder vollkommen geheilt. So, wie auch Mamorus Wunden verblasst waren ohne auch nur eine Narbe oder gar einen Funken Schmerz zu hinterlassen, so sah man auch an Hikaris Knie nun nicht mal mehr den kleinsten Kratzer. Er hob seinen Kopf wieder und sah in ihre smaragdgrünen, schreckgeweiteten Augen. "Was - bist - Du?", flüsterte sie völlig fassungslos. Er ließ von ihr ab, hockte sich im Schneidersitz vor sie und ließ den Kopf hängen. "Wenn ich das wüsste! Ich sag Dir Bescheid, wenn ich's herausgefunden habe." Er wusste nicht, wer er war. Seit er bei einem Unfall sein Gedächtnis verloren hatte, war er auf der Suche nach seiner Identität. Und die Antworten, die er bisher gefunden hatte, gingen weit auseinander. Seine Tante und sein Onkel - wenn sie das denn tatsächlich waren! - hatten ihn aufgezogen wie einen ganz normalen Jungen. Er war weder adelig, noch von einem Medizinmann oder von einer bösen Fee von einem Zauberbann belegt. Aber Nacht für Nacht suchte ihn im Traum eine eigenartige Fremde auf, die ihn nannte. Und nun hockte er da, spürte den Boden zu seinen Füßen als sei er ein Teil seines Körpers, und war dazu in der Lage, Wunden in Nullkommanix zu heilen. Was sollte man da noch glauben? Als Mamoru den Blick wieder hob, sah er Hikari lächeln. Er wusste nicht, ob sie unter Schock stand, oder ob sie einfach mit einem Schlag alle Scheu vor ihm und seinen fremdartigen Fähigkeiten verloren hatte. Er persönlich fürchtete sich vor sich selber. Was mochte er noch für ungeahnte Eigenschaften besitzen? Jedenfalls beugte sie sich etwas zu ihm vor, legte ihre Hand beruhigend auf seine Schulter und sagte: "Du bist etwas Außergewöhnliches, weißt Du das? Ich hab zwar keine Ahnung, was das vorhin genau war, aber eins weiß ich: Das warst Du. Und es war nichts wirklich Schlechtes. Ich denke, es gibt viel Unerklärliches auf dieser Welt und um sie herum. Aber wir müssen keine Angst davor haben, nur weil wir es nicht verstehen." "Woher weißt Du, dass ich Angst habe?", fragte Mamoru kleinlaut. "Sieht man es mir so sehr an?" Seine Stimme klang bitter. Er wandte den Kopf von Hikari ab. Doch sie legte darauf ihren Finger unter sein Kinn, hob so seinen Kopf und zwang ihn dazu, sie anzusehen, während sie fortfuhr: "Ich bin immerhin eine Frau", erklärte sie. "Ich hab ein feines Gefühl für so was. Irgendwie hab ich schon in der letzten Zeit gespürt, dass irgendetwas an Dir anders ist, als bei all den anderen. Ich hab nur nicht gewusst, was. ...Na ja, genaugenommen weiß ich jetzt immer noch nicht so genau, was das gerade überhaupt war! Aber ... ich muss schon sagen ... es beeindruckt mich. Ich schätze mal, damit kannst Du noch sehr viel aus Dir machen." "Danke schön!" Jetzt lächelte Mamoru stolz. Sein Herz fühlte sich auf einmal so leicht an, nun, wo er wusste, er hatte es tatsächlich geschafft, Hikari zu beeindrucken. Er errötete leicht. "Ähm ... weißt Du ... Du hast auch ... von Anfang an diese ... diese Anziehung auf mich ausgeübt. In Deiner Nähe, da fühle ich mich einfach ... wahnsinnig wohl." Sie nickte verstehend und lächelte ihn weiter mit ihrem zuckersüßen Lächeln an. Er schwebte geistig in höchsten Höhen. "Sag mal, Mamoru", meinte Hikari da, "Kannst Du nicht vielleicht auch irgendwas für Chikara tun?" "Was? Für wen?" Mamoru hatte sich so sehr auf das Gespräch mit ihr konzentriert, dass er seine Umwelt vollkommen vergessen hatte. "Oh, ach, ja, natürlich. Mal sehen." Er wandte sich dem immer noch bewusstlosen Chikara zu. Er hatte keine Ahnung, was genau er tun sollte. Mangels einer besseren Idee legte er einfach mal seine rechte Hand auf die Stirn seines Erzfeindes. Doch nichts geschah. Er konzentrierte sich intensiv darauf, an das Wort zu denken. Doch es bewirkte nichts. Hatte er seine Fähigkeit etwa schon wieder verloren? Das durfte nicht sein, er brauchte diese Begabung doch, um Hikari zu beeindrucken! "Bleib ganz ruhig", riet ihm Hikari und setzte sich ganz nah zu ihm. "Versuch Dich mehr zu konzentrieren." Leichter gesagt als getan! Aber Mamoru versuchte es erneut. Und tatsächlich! Die Kratzer, die durch die Rosendornen entstanden waren, verheilten langsam. Es waren ziemlich viele Schnitte, wenn sie auch klein waren, und sie kosteten wahnsinnig viel Konzentration und Kraft. Mamoru musste den Heilungsprozess in der Mitte abbrechen, er konnte einfach nicht mehr. Keuchend sank er zurück und wischte sich feine Schweißperlen von der Stirn. "Gib mir etwas Ruhe", stöhnte er. "Aber das war doch schon echt super!", lobte Hikari. Sie umarmte ihn und drückte ihm einen kleinen Kuss auf die Wange. "...Hikari...", stotterte er verdattert. Sie zwinkerte ihm zu. "Ist eine kleine Belohnung für zwischendurch." Gerade da hörten sie ein leises Stöhnen. "Chikara", flüsterte Hikari und beugte sich zu ihm hinunter. "Wie fühlst Du Dich?" Er schlug die Augen auf und sah sich benommen um. "Weiß nicht", meinte er und versuchte sich aufzurichten. "Bleib liegen und ruh Dich noch etwas aus", riet Hikari, aber der Blonde schlug den Aufforderung einfach in den Wind. "Was zum Teufel ist passiert?", fragte er. Sein Blick fiel auf den vollständig regenerierten Mamoru. "Ich verstehe nicht..." , dachte Mamoru, behielt es aber für sich. Er streckte die Hand hin. "Komm, ich helfe Dir auf." Chikara schlug die Hand beiseite. "Deine Hilfe kannst Du Dir sonst wohin schieben!" Unter Ächzen und Stöhnen richtete er sich auf. Er schien sauer und verwirrt zu sein. Aber anscheinend sah er ein, dass Mamoru - wie der es auch immer geschafft haben möge - der Sieger des Tages war. Jedenfalls schnauzte er Hikari an: "Komm! Wir gehen!" Er setzte sich in Bewegung, lief einige wackelige Schritte und drehte sich dann zu ihr um. Hikari hatte sich keinen Millimeter bewegt. "Was ist denn?", brüllte er sie an, doch sie blieb cool. "Ich lasse mich nicht herumkommandieren, das weißt Du genau", erklärte sie. "Und wenn Du das nicht verstehst, dann kannst Du mir gestohlen bleiben. Zisch ab!" "Wie bitte?", fragte er ungläubig nach. Sein Gesicht färbte sich dunkelrot vor Zorn. Mamoru stellte sich zwischen die beiden. "Hast Du nicht gehört? Du sollst abzischen!" Chikara kam auf Mamoru zugestapft und baute sich bedrohlich vor ihm auf. "Was bist Du, ihr Papagei?" "Willst Du wirklich jetzt noch Ärger vom Zaun brechen?", stellte Mamoru die Gegenfrage. Er wusste, Chikara hätte nun keine Chance mehr gegen ihn. Er hatte zwar eine Menge Kraft eingebüßt, als er die Wunden seines Feindes versorgt hatte, aber dennoch war der blonde Junge immer noch verwundet und stark geschwächt. Chikara knurrte, warf einen letzten, hasserfüllten Blick auf Mamoru und Hikari, dann drehte er sich endgültig um und trabte davon. Mamoru seufzte erleichtert auf. Endlich, endlich war es überstanden. Langsam setzten sich die beiden in Bewegung. Die Sonne ging schon so langsam unter und es gab beim besten Willen keinen Grund, weiter zu bleiben. Mamoru sammelte seinen Pullover und seine Jacke auf. Es wurde empfindlich kühl; besonders, wenn man nur ein nassgeschwitztes Unterhemd trug. Er zog sich den Pullover über und bot Hikari seine Jacke an. Doch sie lehnte dankend ab. "Ist schon Okay", erklärte sie, "Ich hab's nicht weit bis heim." "Soll ich Dich begleiten?" "Nein, schon gut. Ich denke, Du solltest Dich jetzt lieber ausruhen." "Es macht mir nichts aus!" Hikari lächelte ihn an. "Das weiß ich. Aber ich muss jetzt etwas allein sein und nachdenken. Das alles war ziemlich viel auf einmal. Na ja. Wir sehen uns morgen in der Schule, ja? Dort können wir dann ja weiterreden. Mach's gut!" "Ja, mach's gut", verabschiedete er sich. Sie gingen in verschiedenen Richtungen davon. Mamoru hatte nun viel mit Nachdenken zu tun. Was seine Gedanken nun allerdings am meisten beschäftigte, war, wie er seiner Tante seine Abwesenheit erklären sollte... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)