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Der Karikaturist

der Tragödie erster Teil
von

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Prolog: der Kobold

Wieder dieser elende Entscheidungszwang: nimmt er den Premium oder den Medium Roast Kaffee? gibt es da einen Unterschied? das ist doch vollkommen trivial. Der Gedanken dauerte lang genug, dass sich die Worte in Farben, die Farben in Formen umwandeln konnten: der Zwang der Entscheidung: Majestetisch der knackig dunkelbraune Premiumroast zur Rechten, der glatt flippig gelbe Mediumroast zur Linken. "Entschuldigung, was hatten sie gesagt? Premium?". Was draengelnt dieser Bedienungsroboter so? Es ist ja nicht so, dass die Leute in diesem kleinen Coffee shop Schlange stehen, er scheint einfach Kunden generell nicht leiden zu koennen. Premium oder Medium. Wird er aus rein rebellischer Haltung den Medium nehmen oder siegt die Eitelkeit? "Premium ist OK." Schliesslich ist Sonntag, da kann man sich doch auch mal Etwas leisten. Auch wenn preislich kein Unterschied vorhanden ist. Der Roboter zapft den Kaffee. Langsam trudelt eine weitere Kundin in den kleinen ovalen Raum, ebenso gemaechlich wie korpulent. Sie bringt den Herbst mit von draussen herein: das blasse Birnengesicht, die Kastanienaugen und die sproede Rinde ihrer Wangen. Bevor die Tuer schliesst, pfeift sie noch schnell - so schnell wie moeglich - eine Nebelwolke aus ihrem Mund hinaus in die Natur. Rauchen scheint ihr Abnehmprogramm zu sein. "Hier, ihr Kaffee." Die Worte der Erloesung bringen wieder Bewegung in den Raum - wieder ein Grund die Tuer aufzumachen und den Sonntag zu geniessen. Ein kurzes, unehrliches "Danke" und schon sitzt der Kaffeeunkenner vor dem Laden und geniesst den spaetsommerlichen Sonntag mit koeniglichem Premiumroast.

Earl. warum nennst du mich Earl? das ist nicht mein Name. Er starrt in die dumpf farbenfrohe Welt hinein, laesst das Bild auf sich wirken, laesst Musik auf sich wirken.Zum Spaetsommer haette der gelbe Mediumroast wohl besser gepasst. Menschen laufen die Promenade entlang und die ganze Szene verschwimmt zu einem schoenen abstrakten Kunstwerk, dass man trotzdem nicht an die Wand haengen wuerde. Wer hat auch ein Zimmer, in das ein Spaetsommerbild passte? Ein Maler wuerde es verkaufen, zu eitel, um es zu behalten. Aus dem Augenwinkel sieht er etwas kleines, dunkel gekleidetes wenige Meter neben ihm stehen und ihn anstarren. Die erste Musterung ist durchbohrend. Da steht dieser kleine mensch, kein Kind, niemand kleinwuechsiges, aber ein kleiner Mensch. Es steht da und starrt mit einer Fratze. Das Durchbohren ist kein normales,keine typisch taube Blockade, die einfach unangenehm in der Wahrnehmung sitzt. Jenes Wesen durchbohrt viel gezielter. Seine Augen sind gross und verzerrt, alle Linien seines Gesichtes treffen sich penibel zwischen den Augen, die sich beinahe beruehren. Ohren stehen senkrecht vom Kopf ab, scheinen zu wachsen. Es fuehlt sich an, als stuende eine Metallleiste durch beide Koerper, keiner kann sich bewegen.Pattsituation. Was mag dieser Kobold wollen? Er scheint nicht gern angeguckt zu werden und trotzdem provoziert es dieses. Denk nicht, dass ich dem nicht standhalten kann. Es stampft auf. Im selben Moment hoert Earls Fuss auf, im Beat seiner Musik mitzuklopfen - keine bewusste Bewegung. Der Kobold wird immer haesslicher, immer verzerrter, kaum noch ertragbar. Ich kenne euch Kobolde, ihr verschwindet wenn man euch aus den Augen laesst. Wer haette gedacht, dass es vorkommt, dass man seinen Kobold loswerden will? Wer haette gedacht, dass man einem begegnet? Seinen Kaffeebecher drehend, wendet er seinen Kopf so offensichtlich wie moeglich weg von dieser Gestalt,weg von der Bewegung, weg von dem Bild. Mit Kobolden ist nicht zu spassen. Wie immer ist er zu neugierig. Er kann es nicht lassen, zu gucken, wo das Wesen hin ist. Als seine Augen den kleinen Menschen wieder erfassen, kommt jener zurueckgerannt.Ebenso kehrt die Fratze zurueck, welche doch erst eine Ewigkeit zuvor entastanden war. Es stampft. Es starrt wieder. Man sollte es in Ruhe lassen. Eine hochgezogene Augenbraue und Handbewegungen, die unwissenheit zeigen, haben schon immer geholfen. Es lacht. Es lacht so blutrot schallend, dass zu dem sonst so giftgruenen Kobold nicht passte, ein letzter Stampfer - keine Wirkung. Es rannte endgueltig davon. Wer weiss, ein anderer Kaffee haette die Situation vielleicht anders ausgehen lassen koennen, dann haette das Bild doch in die Kueche gepasst. Der Kaffee schmeckt eh nicht besonders. Weil du es bist: das naechste Mal nehme ich den Mediumroast

Ungluecklich, dass dieses merkwuerdige Bauchgefuehl in seinem Hinterkopf ihn dazu gebracht hat, grundlos einen Mythologiekurs an der Universitaet zu belegen, trinkt er seinen verherbstet braunen Kaffee. Der Kobold taucht nicht mehr auf. Earl wird wohl nie herausfinden, weshalb das Wesen ueberhaubt auftauchte.

Im Magen den Universitaet

Für Mittagessen ist es noch zu früh, die Mensa füllt sich nur schleichend mit verschlafenen Gestalten, Gestalten die er noch nie zu vor gesehen hatte. An einen durchschnittlichen Dienstag wäre Earl zu dieser Zeit noch gar nicht hier, hier im Bauch der Universität - hier, wo die meisten der unterqualifizierten Studenten sich am wohlsten fühlen. Hinter Earl sitzt eine Gruppe langhaariger Stereotypen, diskutieren belanglos über Politik. Er ist froh, diese optischen Drillinge nicht weiter beachten zu müssen, zuviel Aufmerksam zieht das klinische Türkisgrün der Wände, die keinerlei Symetrie aufweisen. Wer hat dieses Gebäude entworfen? es sind keine zwei Linien parallel. er sieht keine Logik in diesem Raum, alles ist so verzogen und fast schon schief. Gezwungenermaßen schaut er zu zwei Frauen hinüber, geschminkt bis über beide Ohren, eine Maske der Falschheit verbindet beide miteinander. Und trotzdem ist es keiner von beiden gelungen, ihr viel zu rundes Kinn zu übermalen oder wenigstens irgendeinen Fleck Haut so zu perfektionieren, wie sie es wohl gern hätte - nicht annähernd. Es ist gut, dass seine Zeichnungen schwarz - weiß sind, keine Zeit wird an Farberscheinung verschwendet.

Es dröhnt. Farbe und Formen schlagen über ihm zusammen und zugleich auf ihn ein. Und trotzdem ist es hier viel angenehmer als im Seminarraum. Der Seminarraum, aus dem ich gerade geflüchtet bin. Der Professor wird Verständnis für das kleinlaute "Entschuldigen sie..." haben. Ich bin schließlich nicht der einzige Student, der so studiert. Gerade heute war das Seminar unaushaltsam. All diese Nasen, jede anders, jede stellt andere dumme Fragen. Und Die Stahlwolle von Professor antwortet - in keinsterweise genervt, nein, sein Mund tanzte, seine Sprachmelodie klang sogar glücklich, keine Melodie, die Earl an diesem Dienstag Vormittag glücklich gemacht hätte. Er hielt es nicht aus in diesem Raum, nicht heute.

In Gedanken zwischen Mensa und Seminar zu drehen macht das endlose Warten auf den Mitleidenden angnehmer. Jeff ist immer zu spät, das ist nichts Neues. Ein lauter Ruf unterbricht die Enspannung des Moments und lässt Earl wieder leiden: ein Gerüst von Mann tritt in den Raum, nicht älter als er und schreit Parolen von Pflanzenschutz mit seinem selbstgemalten roten Banner in das Türkis der Essanstalt. Wie selbstüberzeugt er die Brust streckt, mir wäre so eine Erscheinung hier sehr peinlich.. Seine eiserne Stirn hängt tief und schwer in seinen Augen, berüht nahezu die kupfernen Wangen. Man fühlt sich bedroht von den kurzen Nadeln und Stacheln, die aus seinen Hinterkopf ragen und den Knochigen Schultern und dem blassen Bartstoppeln.

Plötzlich und erlösend stolpert Jeff in seiner ungeordnet windigen Präsenz hinter dem vermeintlichen eisernen Holzfäller hervor und eilt herüber. Jeff..wieso spottest du nicht über ihn? kenne ich ihn schon zu lang? länger als das optische Auge sehen und urteilen kann?.Jeffs rote Wangen erzählen von seinem flüchtigen Ausflug in der kalten Herbstluft.

"Hey Gamblin, hast das Seminar genossen?" Trotz diverser Atempausen ist sein neckender Ton deutlich zu hören, deutlich nicht zu ueberhören. Kurze Stichworte machten dem Freund die aktuelle Situation klar: Eine intensive Wahrnehmung ist nichts unnatürliches für einen Karikaturisten, im Gegenteil - es ist sogar mehr als Notwendig. Doch heute war die Diskussion schlimmer als je zuvor, eine Selbsthilfegruppe, der nicht zu helfen ist. So spielerisch er doch damit umgeht, kennt Jeff das Problem und nimmt es so ernst, wie ein Freund sollte. Freund. Schon das Gefühl des Bekannten in dieser trostlosen türkisen Grauheit lässt die Spiralen der Abnormen normalen Welt etwas langsamer drehen.

"Also siehst du zuviel",analysiert Jeff, wie Earl das von ihm erwartet,"zumindest mehr als noramlerweise. Oder noch besser gesagt: Du siehst genausoviel wie sonst, nur intensiver"

Die Erklärung erinnert Earl mehr an Geschichten von Antidrepressiva und anderen Drogen. Doch schon bevor sein Kopf das Wort Antidepressiva durchdacht hatte, schwebten ihm schon bunte, überdrehte Farben vor den Augen, welche zu schwer wieder zu verbannen sind. Zusammengekniffene Augen, gerunzelte Stirn und ein kurzes Kopfschütteln werfen das Bild wieder zurück in den Hinterkopf, wo es für eine weitere Weile als Vergessene Idee bleibt. Die Konzentration fokusiert sich wieder auf Jeffs Worte: "Hier hab ich ein paar Tabletten, die dürften helfen", er zauberte einen kleinen organgenen Zylinder aus seiner Jackentasche:" Du wirst dich dich wohl etwas düsig fühlen und weniger fokusieren können."

Die Nebenwirkungen verwerfend greift der Betroffene nach dem Behälter und wirft sich zwei der Pillen ein ohne Farbe und Form derer auch nur anähernd zu mustern - Die Droge wird so unbeschrieben anonym wie nur möglich gehalten, wie eine weisse Leinwand - charakterlos, assoziationslos.

Freundlich locker abwinkend trödelt Jeff zu den Drillingen hinüber, scheinbar hat er vernommen, worüber pseudophilospohiert wird, er möchte mitdisputieren und schon verschwindet er aus dem Kreis der Aufmerksamkeit.
 

Für Mittagessen ist es jetzt zu spät, eine Stunde in der Bibliothek gewesen, landet Earl wieder im Zentrum der Aufnahme - der Mensa. Der stille Zustand der Abgeschiedenheit in diesem perfekt organisierten Würfel voller Antworten, die erfragt werden wollen, hatte eine matte Entspannung herbeigezogen. Er hat scheinbar nur falsche Fragen gestellt, denn die Antworten hat er nicht verstanden. Muss wohl an der Tablette liegen, es wirkt: Mein Kopf ist frei, die Umwelt fühlt sich gut an. Wieder in der Mensa, wieder warten auf Jeff, der ihm die neuen Aufgaben für Karikaturen gibt. Das Zeichnen ist fein, Karikaturen sind keine Schwierigkeit - überhaupt nicht, doch was Zeitschriften sehen wollen ist nicht genug in der Reichweite der Interresse, das ist Jeffs Part, den die Themen mehr beschäftigen als die entstehenden Illusttrationen. So besteht ein Bund zwischen Geschäftspartnern, eine Symbiose zwischen Freunden - es funktioniert, denn es bezahlt die Miete, dafür wartet Earl gerne jede Woche weitere 20 Minuten.

Es herrscht eine nicht zu lokalisierende Ruhe, ist der Raum einfach entwirrt oder ist Earl selbst so entspannt? Kein Türkis schlägt ihn mehr, keine Partei des Saals greift ihn mehr an. Er erschrickt ein wenig, als sich unerwartet eine Frau vor ihn setzt - die typischen ersten Eindrücke - wellendes Haar- blond in so vielen Tönen und Augen und ein Mund, eine Nase. Nichts geschieht. Nach einer zehrenden Ewigkeit merkt er, wie penibel er sie anstarrt. "Hallo, geht es dir nicht gut, du sahst nicht gesund aus, als du aus dem Seminar gerannt bist", eine kleine Umspielung von freundlichem Lächeln bewegte ihren Mund, er nahm es mehr war als das Sprechen an sich. Klara. das blonde Sonnengesicht mit der eckigen Nase, welches sein Seminar teilt, er hatte sie noch nie so gesehen. Sie war hübsch. Noch in ihrem faszinierendem Anblick verloren, wurde er sich bewusster, dass gerade eine Frage auf eine Antwort wartet, auf seine Antwort. Er zögert, ein kleinlautes "jain" kommt aus seinem Mund was für eine dumme Aussage, ich hätte ruhig etwas konstruktiveres hervorbringen können"nicht mehr. Jetzt geht es mir besser. Vorhin hatte ich ein wenig Kopfschmerzen..." verdeutlichte er seine Aussage.

Earls Welt ist nicht mehr aufregend, keine Gesichter verziehen sich, keine Farben vermischen sich und bilden abstrakte Gemälde, alles hat eine frische Ruhe - er geniesst es, und genau das fasziniert ihn so. Nicht einmal die zwei Verbündeten des eisernen Holzfällers stören seine Ausgeglichenheit - beide sind wesentlich normaler als jener, der eine etwas dicker, der andere groß und schlank mit einem weniger intelligenten Gesicht, keine Grund für eine Beleidigung der Wahrnehmung, nicht einmal ein Grund für ein Ärgernis. Ebenso erscheint der Rest der Nahrungseinrichtung.

Nach einem kleinen belanglosen, aber sehr angenehmen Smalltalk mit Klara taucht Jeff auf, wüst und ungeordnet wie immer und sofort will er die andere Gesprächspartnerin ablösen. Moment der Musterung. Mit einem netten Zwinkern und dem Anflug eines Winkens stand sie auf und schmiss noch ein paar Worte des Abschieds und des Wiedersehens über den Tisch bis sie entgültig entschwand.
 

Gefangen war er in seiner kleinen Blase der Bewegungslosigkeit, keine Zeit vergeht, die Impression seiner fortgegangenen Begegnung lebt noch immer in der Kugel, in der er sitz. Ich träume immernoch - es gibt Dinge mit Jeff zu bereden Kurz vergisst er diese perfekte Ästhetik und kehrt wieder zur Realität der Uni zurück. Weniger freiwillig, doch der Selbsterhaltungstrieb zog ihn dahin - die Miete zog ihn.

Ein vergilbter, eckiger Ordner schlägt auf den runden Tisch, eilig erzählt Jeff von einigen Ereignissen, Skandalen der letzten Woche - noch nie ist Earl aufgefallen, wie schlecht die geschmacklos dunkelviolett geränderte Uhr oben an der Wand in die Mensa passt. Zittrige Finger skizzieren Szenen auf weissen Blättern. Noch sind sie weiß. Noch sind die Burger in der Cafeteria frisch, geizig gibt die korpulente Essensfrau die kleinsten davon zuerst an die hungernden Studenten ab, derweil vernimmt Earl Worte im Themengebiet von Korruption und Ungerechtigkeit, dann über ewig lange und uneindeutige Reden," Wie findest du du Idee?" scho wieder eine Frage. zuhören lässt sich leichter vortäuschen als Antworten. Was soll er sagen? Lügen? Gestehen? "An der Bildaufteilung mache ich noch etwas, aber die Idee gefällt mir." Diplomatisch nichts gesagt. Aber die Hörende und urteilende Macht ist zufrieden. Die Essensfrau packt ihr eigenes, Mitgebrachtes Essen aus, irgendetwas grünes in gelb. Warum sollte sie die größten Burger behalten, wenn sie jene doch nicht einmal selbst isst.? Vielleicht hat sie Lieblingsstudenten. Nein, warum sollte sie?Lieblingsstudenten - und schon waren die duselig verschwommenen Gedanken wieder bei der Sonnendame mit der markanten Nase. "Diese Tabletten sind der Hammer, kannst du mir mehr davon geben? Oder mir sagen, wo du sie her hast?" eine hochgezogene Augenbraue und Nachfrage nach den Tabletten traf Earl zurück. Jeff fragte überrascht, fast schon skeptisch, ob er gar nicht wissen wolle, was das für Medizin ist. "Egal, es hilft." Eine Zweite hochgezogene Augenbrau und ein Blick der Enttäuschung zogen das Gesicht des Freundes nach unten, als hätte ihm Jemand den Spaß verdorben. Earl verstand nicht, er verstand die Regungslosigkeit Jeffs nicht. das war eine klare Aufforderung, eine Frage, eine Bitte. Warum reagiert er nicht?.

"Oh Gamblin. Der einzige Effekt von den zwei Pillen, die du geschluckt hast wäre, dass dein Mund nach Minze riecht", macht Jeff eine typische ironische Andeutung, aber Earl durchschaut die vorsichtig versteckte Entschuldigung. Also nur ein Placebo, jetzt da ich das weiß, dürfte es nicht mehr funktionieren.Er schaut an Jeff vorbei, wartet angespannt, was ihn als erstes anspringt - wie ein Fackelhaltender in einer Höhle voller Fledermäuse. Fledermäuse. Zwielichtige Kreaturen, wie viele dieser nachtaktiven Tagschläfer in der blaugrünen Speisegrotte wohl herumhaengen mögen? Noch schaut Earl sich um, merkt nicht die ersten Schweißtropfen, merkt nicht, dass seine abweichenden Gedanken doch schon der anspringende Informationsüberfluss sind.

Er zerrt sich aus der hungrigen Dunkelheit wieder an den kleinen steril ovalen Tisch zurück. " Ein Placebo also."," Wenn du es so nennen willst: ja", kommt die Reaktion diesmal schneller, aber auch vorsichtiger aus der anderen Ecke des runden Tisches. Mit einigen unzusammenhängenden Gesten und Worten macht er Jeff klar, dass er nicht böse auf ihn ist - die Stimmung ist wieder entspannt wie immer - zumindest für den, der keine Räuber der Nacht wittert. "Also ist es mir möglich, meinen Tag ohne jegliche Medizin zu genießen." Nicht unbewusst beschönert Earl diese Idee so sehr für Jeff, denn umso erstrebenswerter wirkt es für ihn selbst. Weiter spielt Jeff leicht: "freut mich, dir geholfen zu haben." Ob er es glaubt oder nicht, Jeff hat extrem geholfen - Earl hat wirklich die Mögichkeit den Spielverderbenden Ton, den makaberen Erzähler die Stimmbänder zu nehmen. Nur wie er das schafft, ist Earl noch ein unangetastetes Rätsel. Doch vielleicht ist die Dame der Sonne ihm eine Hilfe in diesem finsteren Labyrinth.oder vielleicht ist sie auch nur eine Motivation, selbst das würde ungemein helfen. Auf jeden Fall ist sie - Klara der nächste Anhaltspunkt.

Schneewittchen's Laufsteg

Ausgeschlossen vom Seminar, eingeschlossen in den Rest der Welt sitzt er im Gang vor dem Paradedilemma: ein Weg links, ein Weg rechts. Ein Gang eben. Doch es ist nur in meinem Kopf ein Dilemma, ich werde keinen von beiden Wegen nehmen, nicht in den nächsten Minuten. Ich bleibe einfach hier sitzen. Kein Grund sich darüber Gedanken zu machen, welcher Weg nun das Spiegelbild des Originals ist. Earl würde zu gern den Weg hinter ihm einschlagen, doch ein kleines Stück Metall hindert ihn daran. Ich bin sonst nie zu spät. Eine Rechtfertigung. Alle anderen sind es immer - Zeit, die Earl verloren geht. Und diesmal, da er selber zu spät ist, wird ihm wieder Zeit geraubt, was für ein sturer Professor. Natürlich ist es schwer, seine Tugenden zu behalten, wenn sie doch von allen anderen als Sünden gehandhabt werden. Das scheint der Preis für einen Ausrutscher zu sein.

Neunzehn Minuten war er zu spät, das erste mal, dass er überhaupt wagt, den Gestzen der Zeit entgegen zutreten. Vielleicht ist es heute nur eine Spielerei, vielleicht die Motivation, den Tag nicht einfach abzuhaken - es ist die Symmetrie. So belanglos wie es ist, aber genau wegen dieser Idee ist Earl auch neunzehn Minuten vor Seminarende Im leeren Gang anwesend - noch eine kleine Rechtfertigung, eine Entschuldigung an die Zeit.

Der Gang ist leer, der Weg frei - wie metaphorisch. Earl schaut in beide Richtungen, er scheint tatsächlich fast in der Mitte des Laufstegs zu sitzen, kleine Verbesserungen der perfekten Mitte lassen ihn wenige Stücke nach links rücken.

Studenten beginnen, den Gang zu füllen, sie stolzieren über die Laufbahn, werfen kurz musternde Blicke zu ihm herunter, er, der er da sitz vor verschlossener Tür. Egal, wie neutral sie gucken, sie schauen auf ihn herab. Nicht, dass es ihn stört, immerhin ordnet Earl sie auch sehr stereotyp ein - schon nach den Farben die sie tragen. Keine Farben die er noch nicht kennt. Noch erfreut sich Earl am Gedanken der Symmetrie. In welche Richtung laufen mehr von ihnen? Wird die Universität nicht schwerer auf der einen Seite?. Zwangsläufig macht sich in seinem Kopf das Bild der Lehranstalt in Form einer Waage breit - ein runder Grund, wie ein Wok. In einem Wok rutscht doch alles in der Mitte zusammen. Der Gedanke an die assoziierte türkise Mensa ließ ihn erschaudern, er tat einen Schritt zurück zur Waage - sicheres Gelände, trotzdem es nur einen Fußpunkt hat. Auf welcher Seite mögen wohl mehr Studenten sein? Sanft wiegte er den Kopf, hob beide Hände, beiden wogen gleich viel. Oder doch nicht? Schwer zu sagen. Er fühlte sich mehr zur rechten Seite gezogen, vielleicht zieht dort das Gewicht des Gebäudes jenes am meisten nach unten. Oder vielleicht war es auch nur der Hauch eines Windes, den ein vorbeistürmender Student hinter sich herschliff. Er sah den Boden unter den wenigen steinernen Schritten des Eilenden erbeben. Es war nicht die rechte Seite des Überfliegers, der schon am Ende des Ganges eingebogen war. Es ist die Westseite der Universität. Earl wusste nicht, in welche Himmelsrichtung er sah, wenn er den Gang hinunter schaute, aber Westen klang am vernünftigsten. Also ist der westliche Teil des alten Gemäuers der schwerste. Ein gruseliges Bild schlich sich in seinen Kopf: Ist es einfach nur schief gebaut? Bedeutet es mehr Anstrengung, in die eine Richtung des Weges zu laufen? Earl ist zutiefst gekränkt, seine ganze Theorie der Waagschale und des Woks sind durch menschliche Fehlkonstruktionen Wertlos? Wenigstens meine zeitliche Spiegelung kann mir niemand anderes verderben.
 

Schwungvoll reißt die Tür zum Seminarraum auf und kaltes Licht ergießt sich in den angenehm stillen Korridor. Pein greift Earl und zerrt ihn mit einem Ruck auf die Beine, sitzend sollte ihn keiner sehen. Nicht, dass es verboten sei oder verschrieen. Er war zu spät, zu verlieren wäre eh nichts mehr, es ist nur der so allgegenwärtige Schreckmoment, der seine Späße mit ihm treibt.

Er lauscht erwartungsvoll auf die Gestalten, die gleich aus dem Loch in der Wand springen werden, als gäbe es kein Morgen, oder zumindest als würden sie wichtigeres verpassen, als den Sturm des Alltags. Hellbraune Schemen tanzen im Rahmen des Lichtes, den der Rahmen der Tür zulaesst. Sie werden dunkler bis kein Fleck des Ganges mehr Licht bekommt und wieder gänzlich zum toten Steg vertrocknet - und schon strömt die kunterbunte Welle Studenten an ihm vorbei.

Einzelne bekannte Gesichtzüge erscheinen - er sucht ein paar ganz spezielle: Klaras Gesichtszüge. Gerade als sie luftholend aus der Menschenflut auftaucht, macht sich jemand vollkommen anderes bemerkbar, zieht alle Aufmerksamkeit auf sich. Aus dem Augenwinkel sieht Earl noch kurz Klaras Lächeln und Winken, dann konzentriert sich sein Blickfeld auf das, was vor ihm steht: eine kleine, schwarzhaarige Komiltonin. Mit erwartungsvollem Blick schauen ihre Ebenholzaugen in die seinen, warten auf eine Reaktion, nichts in ihrem Gesicht bewegt sich, nur die zarten Sommersprossen und der noch perfekt sitzende rot leuchtende Lippenstift verraten, dass ihr blasses Gesicht noch nicht kalt wie Schnee ist. Immer trägt sie dieselben Merkmale. Und nie kann ich mir ihren Namen merken, du scheinst das mit Absicht zu machen, du willst doch, dass ich sie Schneewittchen nenne! Bis ich ihren Namen nocheinmal erfahre, bleiben wir bei Schneewittchen. Ob sie sich selbst mit diesem Alter-Ego identifizieren kann?

"Hi" klingelte ihre Engelsstimme Earl entgegen," Du hast das wohl wichtigste Seminar des ganyen Jahres verpasst." Sie gluckste ein wenig und ihre Wangen bekamen einen frischen Frühlingston - sie taut auf.Für sie scheint Sommer zu sein, sie behandelt mich, als würden wir uns bestens kennen, da scheiden sich unsere Ansichten wohl. Sie fuhr fort und benutze einen verspielteren, süßeren Ton, als hätte sie andere, verschleiert tiefgründigere aber nicht sonderlich profunde Motivationen, mit Earl zu kommunizieren. Ein lautlosen Seufzen, dann ließ sich Earl auf die Konversation ein. Wie könnte er auch anders? er beginnt mit einem interressierten "Was kann denn so wichtig sein, dass ich es nicht hätte verpassen dürfen?"

Schneewittchen macht ein paar unbeholfene Bewegungen, sie fährt sich durch das glatte Haar und beginnt es mit ihrem Finger zu kringeln:" Es ging um die Hausarbeit über das Semester, die Aufgaben wurden verteilt - ziemlich seltsam übrigens - wir sollen dieses Jahr zu zweit arbeiten. Den prof soll einer verstehen..." Die Information lässt Earl schreckliches erahnen, sie fährt fort: " Und weil ich gerade keinen Partner hab, dachte ich, wir würden beide davon profitieren, ich habe auch schon eine tolle Idee für Thema für uns..."

So muss ich mir wenigstens keinen Kopf zerbrechen, worüber meine Arbeit berichtet. Und weiter fließt Schneewittchens Tirade über ihre Ideen der Inspiration im Expressionismus. " Und ich dachte, das wäre auch ein Thema für dich, da du ja Malerei so magst. Wir sollen das Ganze übrigens auch praktisch umsetzen,.." Da hat sie Earl also! Er ist nur der Fahrschein des Schneewittchens zu guter Note, vielleicht mag sie ihn, aber Profit ist Hauptgrund ihres Handelns.

Nicht, dass ich Malerei abgeneigt bin, aber Karikatieren ist eigentlich etwas anderes, als Malen. Mit ihrer Stimme umtänzelt sie Earl. Earl, der jetzt mittlerweile als alleiniger Zwerg im großen Gang der Universität zur Verfügung steht, kein anderer Lehrbeanspruchender scheint in der Nähe zu sein, es ist einfach zu still in der Hauptschlagader des Gebäudes. Schneewittchen eckt kurz an den Schwerpunkten ihrer Idee an, versucht ihn um den Finger zu wickeln, verabredet sich mit Earl an einem späteren Tag, um die Galerie eines sogenannten Zeitgenössigen Expressionisten zu besuchen, um jenen zu interviewen. Dieser Jemand, der die Zeitgesetze wohl im großen Stile misachtet hat, soll nun Aufschluss und Erfolg für Earls - und Schneewittchens - Jahresarbeit sein. Wenige abstraktblasse Gedanken durchziehen Earls Kopf, ihm scheint das Thema zu gefallen. Fröhlich gönnt er der kalten Verwöhntheit ihren scheinbaren Sieg und freut sich auf die Galerie. Wer weiss schon, was in dem Kopf eines solchen Expressionisten passiert..

Kontraste

Es scheint der letzte Lebenshauch des Sommers zu sein, ein letztes mal atmet der Tag einen warmen Wind ein und wieder aus. Earl schlendert durch die betonierte Allee, die ihn zur Galerie führt, obwohl dieser Begriff doch viel zu neutral und untertrieben für das bunte Schloss vor Earls Augen scheint. Im markantesten Kontrast tippt das förmlich in schwarz gestrichene Schneewittchen im Torbogen jenes exzentrischen Monuments umher - wartend. Und nervoes. Noch hat sie ihren Projektpartner nicht gesichtigt. Earl genießt die langen Sekunden, die er noch brauchen wird, um den Torbogen zu erreichen. Dann wird seine Begleitung den Stillstand eines warmen Herbstages beiseite fegen - die Ruhe vor dem Sturm brechen. Er hebt das Kinn, lächelt mit geschlossenes Augen in den aufkommenden Wind und geht noch viel langsamer, als er es ohnehin schon tat. Der gerade noch visuelle Eindruck verläuft sich in seinem Kopf zu einem viel stärkerem Bild: der Schwarze Schemen Schneewittchens, das kunterbunte Tor zur anderen Welt, das Grau der Stadt - Und überall fließen trotz alle dem die farbigen Ströme des Herbstes wieder mit ein - was für eine Perfektion.

Man trifft aufeinander, das blasse Mädchen bekommt eine glückliche Farbe: Wer weiß, wie perfekt ihr Tag soweit verlief. Wer weiß, wie er noch verlaufen soll? Sie eröffnete mit einen leichten Smalltalk, viel gelassener, als noch wenige Tage zuvor. Seitdem hatten beiden keine Minute miteinander verbracht und trotzdem machen diese wenigen Tage sie zu alten Bekannten. Ihre Augen leuchten Earl unter ihren dunklen Haaren entgegen, ungehalten gestikuliert sie, aendert ihren Tonfall, wird ausgelassen und verfällt in einen Nahezu pfeifenden Singsang. Auf ihre niedlich naive Art erinnert ihre Stimme Earl an das Piepsen der kleinen Voegel, die die letzten langen Tage nutzen, um sich noch einige Male in größter Zahl zu zeigen, bevor sie dann zu ihrer temporären Winterresidenz fliegen.

Kurz schaut er sich um und entdeckt, was er gesucht hatte: Zwei kleine Spatzen, die wild um einen Baum hüpfen, nur wenige Meter von Earls Füßen entfernt. Sie kämpfen um einen halben Apfel. obwohl man das nicht Kampf nennen kann, wenn sie sich nicht einmal berühren Tatsächlich erinnert das Gerangel mehr an einen Tanz, bis beide gleichzeit Schnabel an die halbe Frucht legen. Schneewittchen springt auf und ab, Man kann leichterhand an ihrem gespitzten Gesicht erkennen, wie entzückt und gespannt sie dem Vogeltanz zuschaut und dem Apfel nachfiebert. Earls Kopf erlaubt sich einen Spaß mit ihr: Ach Schneewittchen, wenn du nur um dein Schicksal wüsstest. Der saure Apfel wird wohl bald zu dir kommen. Sein nächster Gedankengang führt zur bösen Hexe hin - eine riesige Nase, eine Warze, ein Gesicht wie der Tod persönlich, doch bestens verkleidet. Wird es sie in der Galerie geben? Die boese Hexe, die Schlange im Paradies? Wird sie Schneewittchen in einen sauren Apfel beißen lassen?

Der Anflug seines Grinsens verschwindet augenblicklich, als die neugierig großen Augen Schneewittchens wieder vor seinem Gesicht aufschlagen - Ihr Fokus ist wieder vollständig auf Earl gerichtet: "Gehen wir rein? Wir sind schon wieder spät dran." Earls Gesichtsausdruck kann sie nicht entziffern, bemerkt ihn vielleicht gar nicht, doch seine Augen halten noch fest an der Welt vor den Toren des Schlosses. Die Prinzessin reagiert auf sein schwungloses Nicken und schon trotten beide dem Eingang in das farbenfrohe Reich der Kunst entgegen. Schwere Türen öffnen leichter und schneller, als dass es einer von beiden erwartet hätte und schon standen sie in der hohen Eingangshalle: Trotz eigentlich sehr zarter Farben und Formen platzen Lila und Rot auf Earl, seine Augen müssen sich erst an diesen unrealen Ort gewöhnen. Nach einigen Momenten ist er bereit, die neue Welt in Augenschein zu nehmen: Nur wenige andere Touristen haben ihren Weg hierher gefunden und nicht einmal eine Hand voll davon wirkt tatsächlich vollkommen verzaubert, haben jegliches objektives Urteilen ausgeblendet und lassen sich von den verschiedensten Gemälden fesseln. Ein vorsichtiger Blick nach oben - keiner sollte ihn dabei erwischen - verliert sich in der ewigen Höhe des Raumes. Spricht das fuer die Aroganz oder Eitelkeit des Künstlers? Er hat sich das Schloss selbst ausgesucht, also spricht die Höhe auf jeden Fall! Das kleine vielleicht belanglose und unbeabsichtigte Detail lässt Earl stark urteilen.

Er hat den ganzen Raum inspiziert und gemustert, nun kommt auch Schneewittchens Stimme nach einem ersichtlich beeindruckten Staunen wieder, sie schlägt vor, weiter zugehen - Earl folgt ihren penibel leisen Schritten, er erinnert sich zurueck, dass das Ziel des Auflugs ein Interview mit dem Erschaffer solch skuriler Welt ist. Wieder das Ziel scharf vor Augen verschwimmt der Rest des Wunderlandes ein wenig und lässt den bombastischen ersten Eindruck hinter sich.

Das verwunderte Paar gelangt endlich beim Rezeptionisten an - Earl ist enttaeuscht, als er sich umdreht, um zu sehen, wie weit man sich schon hervorgekämpft hat: gerade mal ein grosser Sprung.

Eine Stimme, so leise wie gelassen zieht ihm gemächlich die Unruhe aus dem Ohr, lässt ihn weniger und weniger über Farben und Bauten nachdenken und so dreht er sich verwundert um. Die ersten Worte des Rezeptionisten entgingen Earl, zu fasziniert war er von der Stimme und zu gespannt auf die Erscheinung desjenigem, dem sie gehörte: "Die Welt ist doch ein ebenso verwunderlicher Ort, meinen Sie nicht?" er muss zuvor wohl ueber die Eingangshalle gesprochen haben, die ist wahrlich verwunderlich. Was ist mit dem Rest der Welt? Schwere hängt an seinen Augenlidern, nur in Zeitlupe kann Earl aufschauen. Sein Kopf war eingerastet, er zieht die Augenbrauen hoch, um sein Blickfeld nach oben zu weiten - pure Demut zu dieser Klangutopie hält seinen Kopf gesenkt.

Neben ihm hört Earl Schneewittchens unmelodisches Geschnatter - wohl als Antwort, er hört nicht weiter hin.

Earl traute sich, über den hohen Tisch zu schauen: Dort saß die Stimme: ein kleiner Mann, gebräunte, alte Haut, weiße Haare, ein gutmütiges Gesicht, dass aber keinesfalls Feuer oder Verstand verloren hatte. Stolz weilte er da, hoch oben an seinem Pult, wie ein wachender Adler, aber nicht auf Beute aus - wie ein unbestechlicher Richter, wartend, Gerechtigkeit zu bringen. Seinen Tintenhammer schwang er nicht spielend über den Finger, wie jeder andere in seiner Position, nein, jenes Werkzeug wurde in eineindeutiger Weise nur für seinen Zweck angetastet und geheiligt. Er brauchte keine Robe, wie jeder andere im Gerichtssaal, selbst sein brauner Altherrenanzug vermochte es nicht, einen Funken Rationalität zu verkleiden. So hoch erschien sein Holzwall, auf dem er schrieb, und er nutzte es nicht, um herabzublicken und voreilig zu urteilen, dieser Holzwall wartete genauso geduldig auf Earls Antwort, wie sein Herrchen. Earls Antwort. Er macht es kurz frischer Luft möglich, in seine vor Erstaunen abgestandenen Lungen zu fliessen, um sie im nächsten Augblick in Form von Worten wieder herausspringen zu lassen, da bleibt sein Blick an der Engelsstatue auf dem Pult hängen. Ebenso bleibt die Luft in seinem Koerper haengen und ebenso bleibt sein Mund unbewegt. Wie er die Skulptur genauer betrachtet, fällt ihm auf, dass es sich hierbei nicht um einen Engel handelt, sondern um zwei: einer hält einen Weinstock, der andere eine Flöte - wie unpassend für einen rationalen Richter, sich Kunst und Rausch hinzugeben und dieses mit der Justizia vereinen zu wollen. Der Richter verliert jeglichen Titel in Earls Augen. Und trotzdem bleibt er die erhabene Gestalt, was braucht er Titel?

Er passt einen musternden Blick zu Earl, als er Schneewittchen den Weg in die Schatzkammer des Wunderlands weist. Diese schleift Earl unerbitterlich hinein. Plötzlich beginnt Earl an seiner brillanten Idee zu zweifeln: Selbst wenn dieser Exzentriker ihn nachvollziehen und verstehen kann - warum sollte er Earl helfen? Warum sollte er nicht? Immerhin hat er sich schon dazu bereiterklärt, sich Zeit für ein Interview zu nehmen.
 

Keine Sekunde stehen die Studenten im fremden Raum und schon zieht das Zentrum des Büros alle Blicke auf sich, denn jede Linie, der man folgen könnte, endet früher oder später an dem prunkvollen Tisch in der Mitte: "schließt gefälligst die Tür!" hallt es herab. Im Sprung ihres Schrecks gehorcht Schneewittchen dem Befehl ohne zu zögern, ohne zu denken.

Ein weiterer kleiner Mann erhebt sich vom Thron auf der anderen Seite des Tisches, stehend war er nicht viel größer als auf seinem hohen Stuhl. Er hoppelte zu seinem Tee servier und fragte nach Kaffee oder Tee, erst jetzt bemerkt Earl die bleiche Haut und die wenigen, gegräuselten, weißen Haare. Des Künstlers lange Ohren stehen gespannt ab, Earls Ohren liegen Schlimmes erwartend dicht an. Ein kurzer Blick zur Seite: Schneewittchens Ohren sind unter ihrem langen glatten Haar versteckt. Wie der Muskel in einer Muschel. "Kaffee bitte" , "Tee, Danke" , überschneiden sich die Gäste, bombadieren sich fliegend mit Splittern von peinlichen und merkwürdigen Gesichtsausdrücken, um letztendlich über ihre Unkoordination einig zu werden.

Der Rücken des Expressionissten verdeckt den Vorgang der Getränkepreperation, so exakt steht er vor dem Teeservier. Alles, was Earl sieht ist das extravagante Muster aus blauen und violetten Kästchen auf seinem Jacket und die zittrigen Ellenbogen, die um seinen kleinen Körper rotieren. "Sie dürfen anfangen zu fragen, ich habe noch andere Termine heute" , lässt er verlauten. Earl wundert sich über den Tonfall, der keineswegs genervt scheint, nur sehr sehr eilig. Schneewittchen kramt in ihrem Täschchen um ihre vorbereiteten Fragen durchzugehen, Earl hatte nichts vorbereitet, doch er ergreift Initiative, ein Bild an der Wand macht ihm Mut und Motivation. Er deutet auf ein wahrscheinlich surreales Gebilde und fragt, was es damit auf sich hätte, wie der Kopf des Künstlers auf diese Idee kam. Dieser erwidert einen in Earls Ohren sehr einstudierten Satz, über seine persönliche Ansicht und einen Traum zu der Einschränkung in der Kunst der fünfziger Jahre.

Schneewittchen hat ihren Zettel jetzt in der Hand, ein wenig zerknittert, aber jetzt war sie an der Reihe zu fragen. Sie beginnt, nach ihrem Muster zu interviewen, doch in Earls Kopf hallt die Antwort auf seine Frage immer und immer wieder. Er kann mir nicht helfen, seine Kunst, sein ganzes Sichtfeld dreht sich nur um ihn selbst, der Rest der Welt hat nichts von diesem alten Hasen.

Einige Minuten sind vergangen, Schneewittchen steht still, trinkt ihren Tee. Der Expressionist läuft herum, trinkt nichts. Earl ist abwesend, trinkt langsam seinen Kaffee, fühlt sich fehl am Platz und tritt etwas auf der Stelle umher. Die eine Antwort, die er bekommen hat, hat eine markante Narbe hinterlassen, als wäre sie schon seit Jahrzehnten in seinem Kopf und erst gerade eben kam der erleuchtende Schlüssel, um die Glyphe zu verstehen. Der Maler ist Nervös, beantwortet aber alle Fragen geduldiger, als der Karikaturist es ihm zugetraut hätte. Nun sieht Earl ihn auch bewusst von vorn, das Muster seines Jackets hat sich nicht verändert, jedoch laufen die Linien des Raumes nicht mehr zum Schreibtisch, vor dem er steht. Nein, die Linien rennen in die andere Richtung, weg vom Tisch, weg von Kunst, hinaus aus dem Raum. Earl überrascht sich selbst, als er sich mit kraftvoller Stimme entschuldigt, um auf Toilette zu gehen - ein offensichtlicher Vorwand, aber die Norm verlangt es. Schneewittchen dreht eine Kurve in ihrem Satz, baut ein "bis gleich." ein und wendet sich wieder der Kindheit des kleinen Mannes mit den ungeduldigen Ohren zu. Dieser nickt einfach nur, als fände er Earls Tat in Ordnung. In Ordnung?! Es ist ihm doch völlig egal, ob ich gehe! Ein entschuldigendes Lächeln zu Schneewittchen und schon kehrt Earl dem alten Hasen den Rücken zu, verlässt den Raum.

Wie Earl die Tür hinter sich zuzieht, atmen seine Augen eine neue Freiheit. Einen Schritt näher an der Realität! Die Eingangshalle ist wie leergefegt, vereinzelte Besucher entweichen seinem Sichtfeld, verschmelzen mit Gemälden, sind einfach nicht mehr interresant. Überhaupt hatte der Kubus, in dem er jetzt steht eine viel schönere Perspektive, wenn man aus der Tür des Inhabers kommt. Nach dem kurzen goldenen Gefühl kriecht die Enttäuschung wieder in sein Gemüt - was nun? Es dauerte einige Sekunden, bis Earl bemerkt, dass er beobachtet wird: der Richter an der Rezeption schaut ruhig zu ihm herüber, darauf wartend, dass Earl ihn bemerkt. Mit Leichtigkeit wird er Earls Gesichtsausdruck durchschaut haben: "Was machst du? Du siehst enttäuscht aus."

"Ich weiß nicht, wir sollten eine Hausarbeit schreiben, und.." ein kleines Gelächter unterbricht ihn: Kein gemeines, eigentlich ein sehr warmes Lachen. Das Lachen eines netten Großvaters, aber auf Earls schellte es herab wie die Guillotine seines letzten Urteils. Trotz der verheerenden Reaktion des Mannes fühlt der Verhörte sich gerecht behandelt, der Richter spricht weiter: "Deine Enttäuschung geht tiefer, als die Hausarbeit jemals könnte, habe ich recht?" Natürlich hat er recht!"Schon" fügt dem Earl so tonlos wie nur irgegnd möglich in dieser Situation bei - man sollte ihn nicht noch weiter durchschauen. Das Verhör geht weiter: "Also, was machst du als nächstes, nach diesem Misserfolg?"

"Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht" Earl entsinnt sich, was der Mann vorhin sagte. Die Welt ist ein verwunderlicher Ort. So So. Da der Richter seine Misere wohl eh schon längst durchschaut hat, sieht Earl ihn als engen Bekannten. Er ist die anonyme Person, der er vertrauen kann, weil er sie eh nie wieder sieht. Earl spricht den Beamten auf seine Aussage an: "Was macht die Welt denn in ihren Augen so verwunderlich?"

Plötzlich bekommt der richtende eine humanere, fast schon warme Aura. Er hat gehört, was er hören wollte. "Weißt du, nur wenige gehen auf diese Aussage ein.", erklingt seine Stimme wie eine Lektur, "die meisten Leute scheren sich nicht darum, zu Erkenntnissen zu kommen. "Earl stutzt etwas, diese Art zu reden, der sentimentale Seufzer des nun wirklich alten Mannes - alles an der Figur ist so altmodisch. Allerdings ertränkt der gewonnene Stolz jegliche Abneigung gegen diesen Gesprächspartner - ihm zufolge war Earl schon weiter, als die meisten anderen Menschen, das meinte der alte Weise zumindest.

"Lass mich dir eine Frage stellen." Der Mann muss innerlich grinsen, als hätte ich gerade ein kleines Feuer in ihm losgebrochen. Ich bin gespannt, was er zu sagen hatEin beschwörender Finger erhob sich: "Woran glaubst du?" Der Student überbrückt seine Denkpause mitr einem langsamen "Woran ich glaube..." Er wollte den Meister nicht warten lassen, sein Gehirn suchte und suchte, dann sagte er die erstbesten Dinge, die ihm in den Sinn kamen. "Nicht Religion, ich bin Atheist. Ich glaube an Realität, an Wissenschaft und..." Man unterbricht ihn:" Aha!" Earl war fast erschrocken, so harsch hätte er keine Gegenrede erwartet, nicht von diesem Greis. "Über Religion müssen wir also nicht reden", schwingt er abfällig, "Mit Realität bist du auch schon wieder weiter, als die meisten, die hierher kommen" Earls Augen hüpfen über die Bilder und Farben an den Wänden, er kann sich sein Glucksen nicht verkneifen - war das Stolz, Eitelkeit oder Verstandenheit? Schwer zu sagen. "Aber die Wissenschaft, die Wissenschaft, da müssen wir mal drüber reden!" fährt er fort. Was ist so schlimm an Wissenschaft, ich habe doch keinen Grund, nicht daran zu glauben, oder? Vielleicht ist er kein Freund von den sogenannten Pseudowissenschaften wie Psychologie. Wer weiß. Das Gespräch gestaltet sich sokratischer: Wenn Earl nicht umkehren und fliehen wollte, konnte er nur einen Weg gehen - Dem Theologen der Realität folgen. " Lass mich dir ein Beispiel bringen:", der Kopf des zuhörenden Verhörten sucht im Geiste das Blatt im Raum, von dem der Herr ablaß, so einstudiert kam ihm dieser Dialog vor. Ich denke, er versucht Menschen zu bekehren, oder zumindest zu reinigen und zu erleuchten. Sehr weise Absichten hat der Herr.

"Ein Beispiel:", er legt eine Pause ein - so absichtlich, es wäre schwer zu übersehen gewesen. "Kennst du die Theorie von "'Schrödingers Katze?'" DEr Student nickt unsicher, kramt in seinem Kopf nach dem so einprägsamen Titel des Tierversuches. Schrödingers Katze. Den Denkprozessen, die Earls Erinnerungen wage wieder zusammensetzen, greifen die Erläuterungen des alten Mannes unter die Arme. Eigentlich denkt er schon fast für mich. Er wird misstrauisch, sucht nach Fehlern im Erklären seines Dozenten. "Schrödingers Katze ist eine nicht endlos kleine Veranschaulichung des Zustandes eines Quantums." Quantenphysik. Nicht gerade meine Stärke. In Mechanik war ich aber eignetlich immer gut.... Er schweift kurz ab, kriegt sich aber wieder um dem Wissen der Physik zu lauschen. "Als stell dir vor du hast eine Katze und sperrst sie in eine Kiste." er setzt ab. Earl schmunzelt ein wenig über Erinnerung an die Klassenkameraden, die bei solchen Beispielen immer die übertrivialsten Widersprüche erbracht haben. Schrödingers Katze hat hoffentlich keinen Herzfehler - Die erste Phrase, die jedem Lehrer bei diesem Exampel Bahnen von Information und Nerven zerreißen muss.

Dieser Lehrer hier bemerkte Earls Unkonzentriertheit, sein Blick lastet immernoch Vorwurfsvoll auf Earl. Entschuldigende Augen lassen ihn weiterreden:" Wenn du die Kiste nach einer Stunde öffnest springt deine Katze dich fröhlich - und lebendig - an. Du kannst die sicher sein, dass sie die ganze Zeit in der Kiste am Leben war. Schrödinger legt seiner Katze allerdings noch vergifetes Futter in die Kiste. Wir wissen nicht, ob die Katze frisst und wann sie frisst, wen sie es tut" Jetzt käme der zweite Spruch zu Tierversuchen.

"Hier kommt die Phsyik ins Spiel. In der Theorie hat jedes Quantum alle möglichen Zustände die es nur haben könnte, bis wir seinen Zustand messen. Dann legt es sich fest. Am Beispiel unser Katze hieße das, unsere KAtze wäre tot und lebending zur gleichen Zeit, solange sie sich in der Kiste befindet."

Zufrieden, als hätte er das elitäre Wissen über Quanten fast von selbst komplett aufgefrischt, entgegnet Earl mit einem gelassenen 'Natürlich!'

Zum ersten mal erhob der Mann seine Stimme und geriet beinahe in Euphorie." Ich frage dich: Wie kann eine Katze zwei sich gegenseitige Zustände zugleich haben? wie kann man auf so eine Idee kommen?!" Damit wird er bestimmt wieder die Quanten meinen, nicht mehr die Katze... Und weiter spricht er in selbiger Betonung, sodass beide Sätze gleich klingen: "Ich sage es dir: Weil all diese Ideen auf Wahnsinn basieren."

Zum ersten mal hakt Earl nach, bisher scheint ihm seine Zeit verschwendet:" UNd was hat das mit meinem Glauben an Realität zu tun?" Der aufgebrachte Erzähler legt seine Stimme wieder, er muss gemerkt haben, wie unprofessionell seine Begeisterung gewirkt haben muss. "Menschlicher Wahnsinn beschreibt dir, wie ein Objekt zwei sich ausschließende Zustände haben kann und es auch soll. Mit Realität hat diese Wissenschaft doch nichts mehr zu tun."

"Doch gerade unser 'Wahnsinn'", Earl benutzt sehr bestimmt die Worte des Herren, der nun wieder zum kleinen Rezeptionisten zurückgeschrumpft war,"unser 'Wahnsinn' bringt uns als Menschheit doch voran, ermöglicht uns so vieles. Da glauben sie nicht dran?"

Etwas erhöht sitzt saß er trotzdem noch, Earl merkte, wie er ihm in die Falle gegangen ist. Er formuliert gekonnt, er wollte genau, dass ich diese Frage stelle. "Ein guter Einwand, mein Junge. Natürlich brauchen wir diese Mutationen, die uns zum Wahnsinn führen, um neue Entdeckungen zu tätigen. Aber wer sagt denn, dass diese wahr sein müssen? Nur weil man die erzählt und auf Bildern zeigt, dass die Erde rund ist, muss sie dass doch lange nicht sein."

Earl belächelt die überspitzte Aussage, es dauert einen Moment, bis er die Intention des Mannes sieht. Es ist doch sehr nihilistisch, überhaupt nichts zu glauben - aber ein gewisses Misstrauen kann nicht schaden Earl sollte sich noch lange an die Lektüre des Hinterfragens erinnern.

Er vernimmt ein leichtes atmen an seinem Ohr, Schneewittchens Stimme wispert ihm zu: "Der alte hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank, komm, lass uns gehen." sie zieht Earl in Richtung Ausgang. Nur ein Blick, keine Kopfbewegung, nur ein Blick zum Rezeptionisten dient als Gruß und Dank - stille Übereinstimmung. etwas weiter entfernt öffnet die Gefährtin wieder vorlaut den Mund, sie redet über den Künstler, wie ihr seine Bilder gefallen, was sie alles allein machen musste, womit Earl sich denn schon wieder herum triebe. Die kleine ist jetzt schon qualifiziert als alte Ehefrau...

Unter Stoff

Die Stadt zeigt ihre Frühvorstellung, Regen, Nebel und Kälte zugleich saugen aus Straßen das Leben, verwandeln Bäume in graue Klagelieder. Depressiv lehnen sie an Wegerändern, flehen immer noch die archaischen Laternen an, ein gelbes Irrlicht ins Geäst gezaubert. Das Jahr trägt nun einen Mantel, einen langen, schwarzen Umhang, der jeden Tag länger fällt. Erst wenn künstliches Licht schon längst Promenaden beleuchtet, dann enthüllt sich ein jämmerliches Täglein aus dem schweren Filzmantel.

Earls Mantel umschlingt ihn schon längst nicht mehr. Nass fläzt er über dem Stuhl zu seiner linken, vermag es, in jener Stellung zu ruhen, Schlaf nachzuholen, den Earl ihm zu früher Stunde genommen hat. Es ist Frühvorstellung.

Vor ihm liegt ein kleiner, zusammengefalteter, ja beinahe liederlich geknitterter Zettel. Er stammte von Klara. Wie das kam ist leicht zurückverfolgt - es ist die früheste Vorlesung, die die Universität zu bieten hat, Earl kann kaum erkennen, ob die Augen seiner Kameraden noch vom kurzen oder gar vom ausgebliebenen Schlaf verklebt waren. Er war schon wieder zu spät gekommen, es störte die Dozentin nicht, auch sie sparte und geizte mit munterer Frische. Für die kindliche Lebenspanne des bisherigen Tages war für Earl schon genügend passiert, er hatte sich schnell sein Frühstück trocken und steif in den Hals geschoben, war zu Bussen und Bahnen geirrt, um endlich die klammen Treppen empor zu klimmen und nun endlich hier zu sitzen. Doch zwischen Tür und Stuhl ereignete sich der erweckende Erlebnis des Premorgens: Klara. Er wusste, dass sie heute hier sein würde, wusste, dass er sie sehen würde, mit ihr sprechen könnte, sie betrachten könne und es genießen würde: Keinerlei großes Erlebnis also, und doch war er glücklich sie hier zu sehen, sie war der Frühling im Herbst, das Symbol des Lebens, der Auferstehung, des Aufstehens. Doch ich konnte mich nicht neben sie setzen, musste vorbei an den anderen Figuren, musste feststellen, dass neben ihr kein Platz mehr frei war. Und so sitze ich nun hier. Vier Plätze links von Klara, doch ihre Gedanken liegen mit naiver Freiheit auf jener Notiz da vor mir.

Noch traut Earl sich nicht, den Zettel anzurühren, zu wild noch türmen sich seine Flausen, was sie ihm wohl sagen wollte. Sein erfreutes Lächeln zum Gruße und ein Hauch Sonne ihrerseits waren die einzige bisherige Unterhaltung der beiden gewesen, und nun dieser Zettel.

Er starrt ihn an, er starrt zurück. Keiner von beiden rührt den anderen an – Earl und der Zettel – im Geiste bekam das Briefchen einen Charakter, ein Aussehen, eine geheimnisvolle Weise, die Earl zu durchschauen suchte, aber sich nicht traute, die prickelnde Ungewissheit fallen zu lassen. Gerade als beide wieder anfangen, sich wölfisch zu umschleichen, stupst Earls Nachbarin ihn an. Er erschrickt, dieser Stups erinnert ihn an Schneewittchens uneinsichtige Art. Sie wird denken, ich habe die Notiz nicht entdeckt. Ein Blick zur Seite in die seichten Augen des neugierigen Huhnes bestätigen seine Ahnung, auch die anderen beiden Damen, die Klara noch von ihm trennten, linsen munter herüber. Sie glucksen alle drei in sich hinein. Natürlich, schließlich wird jeder Briefwechsel von ihnen beäugt und aufs Genauste analysiert, sie werden jeden Kuli strich und –Schwung gierig beobachten, jegliche Mimik beschauen, um auch nur einen Hauch dessen zu erhaschen, was sich im inneren der weißen Post befindet.

Verschlafen spielt er die Notiz durch seine Finger, öffnet sie etwas weiter mit jeder Umdrehung, die sie macht. Einige Buchstaben sind schon zu erkennen, Earls Züge erhellen, als er die schönen, geschwungenen Buchstaben sieht, die langsam zum Vorschein kommen. Sie schlingen und schlängeln sich wie Ranken um seine Augen, verzaubern Earl mit ihrem Filigran. Ein kurzer Blick nach vorn, als würde er sich vergewissern wollen, dass er auch ja nichts verpasst von der Vorlesung, die noch immer totenstarr dahin zieht, dann wirft er sich voller Eifer in die lebendigen Zeilen des kleinen Briefchens:

Der Brief beginnt sehr formal: Hi, guten Morgen,

und verläuft weiter mit sehr steifem Smalltalk: Du schaffst es wohl nie, pünktlich zu kommen, was?

Es gibt so vieles, was Earl ihr erzählen möchte – sein Kopf schreibt Romane und Trilogien, Gedichte und Balladen, um auf diese wenigen Worte antworten. Was soll er schreiben? Gedankenversunken entdeckte er die restlichen Zeilen, trinkt sie gierig mit seinen Augen, dass die Tinte zu Staub zerfällt: Die letzten Sätze erkundigen sich nach seinem Wohlsein, nach seiner Erholung der letzten gemeinsamen Vorlesung und erwähnen in verschmitztem Sarkasmus die Intensität Klaras langer Weile…
 

Earl antwortet ihr – wenige Zeilen, dieselbe Form die Klara wählte, er schmiegt sich warm an ihre Form des Briefchen-Schreibens an, ja kopierte sie fast schon. So Oberflächlich müssen wir diesen Briefwechsel halten, so viel lieber würde ich profunde Gespräche mit ihr führen, eine Unendlichkeit im Universum der Gedanken verbringen. Aber nein! Wir müssen hier sein und die grottige Dozentin kommentieren. Sie war heute wirklich keineswegs in der Lage, in irgendwem Feuer für Lernstoff zu entfachen.

Brav hatte er unter ihren paar Sätzen die seinen geschrieben. Earl wusste, wie gern man seine Zeichnungen machte, leichthändig karikiert er die Lehrende, faltet den Zettel und gibt ihn nach rechts auf den Weg zur anderen Seite der Bankreihe. Wie an einem seidenen Faden gleitet er über den Tisch, durch lange Finger, kurze Finger, krumme Finger. Die drei Moiren zwischen ihm und Klara halten seine Lebenspost in der Hand. Alle drei lachen, lachen erhaben, erhaben über ihre Macht, Macht, die sie über Earl haben. Earl bereut für einen Moment das Risiko, das er eingegangen ist, den dreien so offen zu vertrauen. Ihre grauen Gesichter werden immer munterer, als saugten sie das Leben aus dem Stück Papier. Jeder ihrer Finger, der ihn berührt, zuckt erregt und elektrisiert. Jedes Gesicht, das den Zettel vor sich sieht, blitzt zu Earl herüber, offenbart ihm mit einmal ihre ganze, gierige Hässlichkeit - verrückte Weiber! Jede Pore ihrer des Wetters wegen so verhüllter Erscheinung weitet sich zu grau-schwarzen Abyssen und Mäulern, und endlich - Endlich zieht Klara den Hexen das Spielzeug mit sachter Hand aus den Klauen – Earl ist erleichtert.

An Klaras Schmunzeln erkennt er, dass sie die Karikatur entdeckt haben muss. Sie wirft einen Blick herüber, freut sich und beginnt zu schreiben. Gierig stachelt ihre Banknachbarin sie an, doch Klara schwingt den Arm leichtfertig über ihre Zeilen, sodass keinem anderen als Earl ihr geist zu Teil werden kann. Und gegen diese überfreundliche Geste, das spaßhafte verdecken können sie sich nicht wehren. Die Hexen müssen den Frieden wahren. Trotzdem wollen sie alle gierigst wissen, was Klara Etwas so geheimes mit einem Mann zu bereden hat, dass sie sich das Briefgeheimnis zu Nutzen macht.
 

Plötzlich liegt der diesmal unsauber gefaltete Brief wieder vor ihm. Das grausige Gespenst der Nacht muss ihm kurz die Augen zugehalten und ein süßes Gift eingeflößt haben. Oder wolltest du mir diesen Kampf der Moiren um mein Leben nur ersparen? Doch warum deutest du dann erst auf die riesigen Eiterbeulen und Warzen, Klauen und Giftblicke? Blinzelnd sieht Earl nach seinem Mantel – trocken, aber dennoch unbewegt, bald sollte die Vorlesung vorbei sein. Dieses Mal nüchterner tastet Earl nach dem Papier, zieht es zu sich, hebt es an, öffnet es langsam. Plötzlich fangen die ersten Reihen an, auf die Bänke zu klopfen, die Stunde ist vorbei. Vereinzelte springen auf, als hätte sie die muntere Eile gepackt, gerissen und getreten, es werden immer mehr. Verzweifelt schießt sein Blick zu Klara hinüber – auch sie steht schon. Earl könnte sich in den Schwung ihres Winkens verlieben und in ihm verlieren. „Lies ihn nachher, du musst mir nicht sofort antwortet.“, sagt sie, Earl antwortet: “In Ordnung, Ich freu‘ mich schon drauf.“, jedoch mehr zu sich selber. Sie wird es gehört haben. Und wieder hatte sie ihn sitzen lassen.
 

Der Brief war die Einladung zu einer Party.

Walpurgisnacht

Ewig weit hinein muss Earl den kleinen Knopf drücken, bis er entfernt ein Klingeln hört, er lässt wieder ab, muss warten, dass er eingelassen wird. Um noch möglichst viel von dem schönen Abend in sich aufzusaugen, dreht er sich ein letztes Mal um und beobachtet die eingeweißte Landschaft: Pastellene Hügel tasten sich ruhig über den Hof, über den er gerade kam – jede einzelne Erhebung der sanften Schicht spiegelt das Innenleben einer anderen Wohnung im leicht bläulichen Schatten wider. So hell wie die Schneedecke, so finster, so kalt, aber ebenso blau schattiert öffnet sich das Universum über Earls Kopf. Es strahlt dieselbe, endlose Ruhe aus, flüstert die gleiche, ewige Stille zu.

Es ist spät, die Kälte hindert Earl am Einschlafen. Plötzlich klappt das Maul des Altbaus vor ihm auf und ein sonst mitstudierender - eine samtene Zunge - umarmt ihn freundschaftlich und bittet ihn hinein. Earl wird sein schlichtes Gastgeschenk schnell los, dann verschlingt ihn das surreale Gebilde, das jene Feier heute Nacht hospitiert.

Eine ganz neue, völlig chaotische Welt fliegt um Earl, als die Tür zu schlägt. Aus dem bunten Mischmasch, den die Discokugel an der Decke in alle Richtungen wirft, macht er Gesichter aus, die sich aus den kleinen Spiegelflächen des Balles langsam konturieren. In grünen, roten und blauen Dämmerlichtern erkennt Earl gerade noch den Samtenen, der ihn durch das Gewusel lotsen möchte. Wie ein tückischer Umhang fliegt er vor Earl her, mit leuchtenden Augen und voller Eifer war dieser schon längst einem Wahn nahe. Neben dem Küchentisch zu seiner Rechte steht ein dunkles Ungetüm aus Menschen. So viele Augen hat es und doch nur den einen Gedanken, den es mit sich selbst disputiert. Zeit spielt zu dieser Stunde schon keine Rolle mehr und auch Earl verzichtet auf ein genaueres hinhören, denn jeder solcher Versuche wird von den pulsierenden Händen der Musik von ihm fortgedrückt und geschmissen. Kurz darauf hat ihn der Rhythmus mehr gepackt als ein wirres Gespräch, bewegt seine Beine im Takt, massiert ihm nach der Prügel die Ohren. Sein Leitvogel erscheint wieder, drückt ihm ein Glas Wein in die Hand, betitelt sich selbst mit überstreckter Brust als den Weingott. Sie passieren eine weitere Gruppe Gäste: ein ganz anderes Völkchen, viel stolzer, viel individueller als das Ungetüm zu Beginn des Feiertraktes. Sie alle haben markant geschwungene Gesichter, einen leichten Bart und recht entzückte, lebensfrohe Gesichter. Earl folgt einzelnen Zügen der grazilen Wesen, über den Wangenknochen bis zum Schwung von Hand und Glas. Es sind Faune, es sollen Faune sein!

Aus seinem Surrealen Traum reißt ihn eine unerwartete, weitere Umarmung. Schneewittchen. Sie ist eine merkwürdige Gesellin. Aber ihre Freude steckt Earl an, sodass ihr warmer Hauch von Stimme Earl auch erfreut. Ihre Arme gleiten um ihn, ihr Lächeln wirkt verträumt, verliebt. Ihr heiterer Zustand verbietet ihr keine Berührung mehr und so natürlich, wie sie mit Earl umgeht, hätte es wohl jeden der Faune den letzten Verstand gekostet. Dionysos‘ Ebenbild balanciert die Stimmung der liebenden und des geliebten auf dem höchsten Punkt seiner Nasenspitze und so entscheidet sich Earl für das frohe Spiel, die schimmernde, leuchtende Welt des Weines und lässt sich in ihr treiben. Und Earl genießt diese Welt – keine Zwänge drücken ihn, er redet offen mit jedem, der das Gespräch mit ihm sucht, hält sich aber trotz jeder flüssigen Brüderlichkeit an die Raster der Höflichkeit. Es dauert nicht lang, bis er die gesamte Feier kennt – alle Personen, alle Konstellationen, alle Tabuthemen – Earl ist eben ein Beobachter. Ein aktiver Beobachter: Denn mit jedem Bekannten, was nicht wenige waren, hatte er heute des Öfteren das Glas erhoben.

Auch Jeff war da. Er war der zehnte oder zwölfte, dem Earl am Abend die Hand schüttelte, doch aus dem kalten Händedruck ging eine warme Umarmung der zwei Freunde hervor, sie lachen Zusammen, trinken, scherzen – ein sehr schönes, vertrautes Gefühl, dem Earl nicht entsagen wöllte: Die Geister der beiden werfen sich die Worthülsen und Sprachakrobatiken nur so zu, sie spielen mit ihrem Publikum, ihren Zuhörern, die nicht zuletzt von Jeffs offener Philanthropie in taube Ekstase gewogen werden. Klara blieb Earl bisher weit aus dem Sichtfeld. Solange sie sich nicht blicken lässt, muss ich mir die Zeit vertreiben! Wölfisch nutzen die Freunde ihre Überlegenheit, fressen den Geist der dummen Schafe in ihrem Revier. Die einzigen Tugenden, die hier zählen, sind die Trinkfestigkeit und die Kunst, auf der Welle zu surfen: einmal auf dem Platz des Unterhalters sitzen ist kein neues, aber auch kein sonderlich geläufiges Gefühl für Earl. Alle schauen, keiner spricht. Alle warten, warten auf eine weitere Jonglage mit Worten, die – einer Karikatur gleich – mit kleinsten Mitteln der Rhetorik eine Ode oder eine Hymne über jeden der Anwesenden für immer in den alkohol-dementen Köpfen der Umsitzenden verhaken könnte. Es ist gut, Jeff hier zu haben. Ohne ihn würde jeglicher Humor flau wirken.

Die Party geht nicht zu Ende, einige der fabel- und sagenhaften Gestalten sind bereits wieder entschwunden, doch der engere Kreis um Earl bleib bisher unverändert. Das blasse Mädchen mit der rosenen Nase und den Ebenholz-schwarzen Haaren saugt weiter an ihm. Sie fällt für jeden seiner kleinsten Späße, und sie fällt tiefer und tiefer in einen Zustand der Sucht – Earl ihre Erlösung, sein Beisein ihr Opiat. In einer Minute der Zweisamkeit wird Earl von Jeff beiseite genommen: Sie sitzen an einer Ecke des Unrealen Gefängnisses – große Panoramafenster hinter ihnen lassen lange Sehnsüchte nach der Außenwelt zu, lassen sie aber mit einer ewigen, hämischen Ruhe feurig und unbeantwortet. Ein apathischer steht ein Stück neben den Freunden und starrt in die schwarze Scheibe – Es ist schwer zu sagen, ob er wacht oder schläft, - oder ob das Backsteinerne Ungetüm ihm schon Geist und Verstand geraubt hat. Mit dem Zucker seines Lieblingsliedes erweckt das Gebäude ihn wieder zu Lotustrunkenem Leben und führt ihn Behutsam wieder in die uniform tanzende Ekstase seiner Gleichgesinnten. Jeff schmunzelt wenig interessiert über jenen und setzt danach vollen kindischen Eifers an: “ Sag mal Gamblin, wer ist denn die Dame an deiner Seite? Die erliegt dir ja vollkommen.“ Er lachte sarkastisch, als er sprach - genau diese Art von Therapie mochte Earl schon immer. Umso verlegener muss er jedoch antworten: „Ich kann dir gar nicht mal sagen wie sie heißt – mein Kopf hat sie Schneewittchen genannt. Schneewittchen, meine Projektpartnerin.“ „Du kennst ihren Namen nicht?“, der Therapist kommt aus dem Lachen nicht mehr heraus, “Soll ich sie mal fragen?“. Schneller und energischer, als er wohl wollte, bellt der Geliebte Schneewittchens ein „Nein!“ in den Raum. Warum eigentlich nicht? Er wollte es nur denken, doch auch Jeff möchte er an 100% seines Denkens teilhabenlassen. „Weil sie mir als Schneewittchen schon so gefällt, es könnte nicht passender werden.“ „Na gut, und was läuft mit dir und Schneewittchen? Sie versucht dir aus der Hand zu fressen, während sie dir zu Füßen liegt!“ „Das ist nett von ihr.“, erwidert Earl mit einem drosseligen Gefühl des Ertapptseins - es ist noch kein Schuldgefühl, kein Verpflichtetsein, aber es gibt schon ein Gefühl, dass ihm klamm, grau und dämmrig im Unterkopf umherschwirrt. „Ich weiß nicht, was ich mit Schneewittchen soll“, lässt Earl seine Gedanken verlauten, „ Ich denke, ich werde es beim Status Quo belassen“ –Wer nichts tut, tut nichts Falsches. Ein blasser Schatten mit leuchtend roten Lippen taucht aus einer Tür heraus auf und steuert auf sie zu – Schneewittchen erscheint wieder, stumm übereinstimmend beenden die beiden ihre Therapiestunde auf dass sie zu unbestimmter Zeit fortgestzt wird! Und fangen synchron und einstudiert mit fachlicher Begeisterung an, über weltliche Ereignisse und Karikaturen derer zu schwadronieren, zu diskutieren, auszuschweifen und wieder herzlich miteinander zu lachen. Schneewittchen, ein paar Herren, die ihr am Scharmützel hängen und ein paar andere Gesichter, die Earl schon bekannt und erforscht erscheinen gesellen sich wieder zur Gruppe, versuchen, sich in das Gespräch einzubringen und schon läuft die Feier wieder unerschütterlich weiter und die Uhr bleibt wieder wie erschüttert stehen.

Ein angenehmer, dunkler Eindruck strahlt von der Öffnung zur Außenwelt her. Klara erscheint endlich im Rahmen des Ausgangs – der Ausgang! Wie weit ist er nur von allen Gästen hier entfernt? Wie viele haben ihn schon vergessen? Wie viele krochen schon erschöpft in seine Richtung, als sie der Zauber ihrer Launemittelchen einholte oder die Ohnmacht ihrer Betäubung sie mit Leichtigkeit wieder tiefer in den Rachen des Partytraktes schob, sie mit gespielter Fürsorge behutsam auf einen treuen, vierbeinigen Ausruhposten deponierte und mit lieblichem Singsang überzeugte, sie würden den Weg nach draußen heute noch finden oder heute nicht mehr benötigen?

Earl steht auf – auf Moment der Klarheit durchfährt seinen Kopf. Schneewittchen guckt ihn an, als wäre sie auch schlagartig ernüchtert, Earl weiß nicht, ob sie Klara entdeckt hat, oder nicht. Es ist ihm egal. Jeff nimmt er noch etwas stärker wahr: Dieser sitzt noch ruhigen Geistes aber voller Euphorie in der Runde schläfriger Personen. Es ist egal, was Jeff tut. Ein übertriebenes Lächeln und eine profane Entschuldigung lassen ihn in Richtung Tür gehen, vorbei an einzelnen Menschen und ganzen Gruppen – Klara hat inzwischen Ihre Jacke ausgezogen, wurde samten Umarmt, wie jeder andere Gast, hat ein Glas in der Hand wie jeder andere Gast. Nur was sie noch nicht hat, ist die Menschlichkeit, die jeder hier besitzt – sie hat etwas göttliches, zu mindestens Übermenschliches an sich, nachdem Earl sich so sehnt. Gleich ist er bei ihr. Doch wie er sich von Klara wendet und dreht, blickt ihn der Weingott wieder an, eine Freudenverzerrte Fratze ziert sein rotes Gesicht. Die Augen des Karikaturisten überspringen ihn, sehen um die Ecke – um ihn herum, durch ihn hindurch – Klara ist weg! Wo ist sie hin? Meine ganze Spannung konzentrierte sich auf diesen Moment und jetzt versteckt man sie vor mir?! „ Du willst doch nicht gehen, oder?“ fragt der Samtene beschämt. Keiner konnte diese Frage bedochen, so einfühlsam hatte er gefragt – und Earl wollte ja auch alles andere, als gehen – er suchte Klara! „Nein, keinesfalls – ich wollte nur Klara begrüßen“, Earl hatte sich wieder beruhigt. „ Klara ist doch gerade an dir vorbeigegangen und hat dich begrüßt – das hast du wohl verpasst, was?“. Er grinst breit: „ Dort, sie sitzt bei Jeff, beeil dich, sonst bist du der letzte, dem sie ‚Hallo‘ sagt – da kommt es am wenigsten von Herzen“ Recht hatte er, Earl eilt entspannt wieder zu seiner Gruppe zurück. Und geduldig und lieb hörte er Klaras ‚Hallo‘, er bekommt eine Umarmung – die wärmste heute – und beide setzen sich. Ich möchte sie gern allein sprechen. Schneewittchens weißes Klammern ergreift ihn wieder und hält auch seinen Gedanken fest. Ein kurzer Moment peinlicher Stille währt, dann katapultiert einer der Anwesenden die Laune aller mit einer einzigen Pointe wieder in die Unweiten des profunden Trunkenen-Humor-Himmels. Und wieder bleibt die Zeit stehen, das große Gebäude hat die Macht und den Verstand seines Inhalts wieder im Griff, um das Bewusstsein seiner Insassen Kämpft es noch!

Berauscht und euphorisiert fordert einer der Umsitzenden Besonderes: er ist ein zurückhaltender Typ, er schwang heute schon öfter die Gitarre als sein Schwert, kurbelte Gruppendynamiken mit rhythmischen Liedern und Tänzen an. Als großer Anbeter der Kunst legt er nun seinen musikalischen Bogen nieder und forderte Earl, seine Kunst zu zeigen: „ Hey Gamblin! Zeichne doch mal die Dame an deiner Seite!“ Es war eindeutig Schneewittchen gemeint. „Ich weiß nicht, ich hab doch schon so viel getrunken, und…“ Seine Unsicherheit fliegt davon, als er Klara aus dem Augenwinkel sieht. Das Fegefeuer ihrer Ruhe bringt ihm unendliche Geborgenheit. „Na gut! wenn die ‚Dame‘ damit einverstanden ist? “, spielte er mit. Und – wie konnte Schneewittchen nicht damit einverstanden sein, so ewig tief hing ihr Kopf an seinem Arm, so endlos verschlossen waren ihre Augen in ihrem Traum, in dem sie Earl schon besaß und so grenzenlos lang waren die Arme ihrer Sehnsucht. Wenige Striche und Sekunden kostet es Earl und man sieht ein perfekt karikiertes Abbild Schneewittchens aus dem improvisierten Bleistift auf das schnell organisierte Blatt fließen. Die Menge ist Begeistert – sogar Jeff schaut beeindruckt: „Wenn er jede seiner Zeichnungen mit so viel Hingabe zeichnete, wären wir schon reich!“ Damit heizte er Schneewittchen am meisten an, aber der Rest der Runde war nicht weniger angetan. Die Nachfrage kam wie erwartet: Schnell wollte und sollte jeder als kleines verzogenes Portrait existieren. Klara ist Earl schon wieder aus dem Kopf verschwunden. Klara! Nein! Ich will mit ihr reden! Klara war mit Jeff die einzige, von der noch keine Karikatur existiert. Jeff hatte er einst versprochen, dass er ihn nie zeichnen wöllte. Earl dreht seinen Kopf zu seiner Sonne, seiner Personifikation des Lebens, doch er schafft es nicht, ein einziges Wort aus seinem Rachen zu quetschen – eine unbändige Macht hält ihm die Lippen zusammen, lässt seine Zunge erschlaffen und friert seinen Kiefer trocken. Erschrocken starrt er Jeff an. Dieser Versteht Earls Ausdruck natürlich. Der Zeichner möchte wieder zum Satz ansetzen, doch es gelingt nicht. Trotzdem sich die Freunde stumm verstehen, hält eine tiefe Unwissenheit Jeff vom Handeln ab. Was soll er auch tun?! Andere Gesichter in der Runde sprechen ihn an, es interessiert ihn nicht. Earl starrt abwesend auf seine Zeichnungen. Die klar konturierten Gesichter flimmern auf dem weißen Papier, bewegen sich schon fast auf eine geheimnisvoll beeindruckende und fesselnde Art und Weise. Schneewittchen zuerst, dann Jeff und schließlich auch Klara verschwinden aus seinem Sichtkegel, erschleichend wickelt Earls Geist ihn ein und seine ganze Wahrnehmung schließt sich auf seine kleinen, lebendigen Figuren. Einzelne Striche der Karikaturen erzählen ihm Geschichten aus deren Leben, Earl unterhält sich angeregt mit ihnen, so verzaubert ist er, so wissbegierig, noch eine Kleinigkeit herauszufinden, die die kleinen Männchen zu unstereotypen, interessanten Persönlichkeiten heranwachsen lässt.

Besonders Schneewittchen sieht er jetzt in einem ganz neuen Licht: Die roten Lippen fehlen, ihre Lippen. Farben sind auf dem weißen Blatt ausgeschlossen, Farben sind nur verschwommen und Irreführend – Farben werden durch schwungvolle Striche ersetzt! Die Tintenfiguren erläutern all ihre Bedenken und Hoffnungen den anderen Mitzeichnungen gegenüber – Earl unterhält sich gerne mit ihnen, denn sie sind die Gesellschaft, die Ihm gefällt: er muss sich nicht einreden, wie diese Menschen eigentlich aussehen, denn auf dem Papier sieht ist keiner, wie er sich gibt, sondern nur so, wie er auch ist. Es fällt ihm schwer, sich an diese andere, zu bunter Welt positiv zurückzu erinnern und es fällt ihm schwer, jener Welt etwas abzugewinnen, wenn diese Welt hier in seinem Zelt doch so viel faszinierender ist. Auf dem Blatt kann Earl sich schaffen, was er möchte, kann bestimmen, es ist seine Welt, sie ist real und klar. Und doch reißt der helle, unschuldige Vorhang, der ihn umgibt seitlich ein: Unreal und auch verschwommen weht eine weiche Stimme, eine warme Wonne zu ihm. Jeffs Stimme? Oder doch Klaras?! Der kann es nicht unterscheiden, nur weiß Earl, dass er die Stimme mag, es ihm danach dürstet, wie einen halbvertrockneten Baum, denn das Ertönen einer solchen Stimme lässt welke Blätter wieder an ihm ergrünen. Der Klang zerschneidet die Fädenstriche, die seine Pupillen an das Schwarz-weiße Spektakel nähten. Die Gleichen Fäden hielten die Seitenwände seines Geisteszeltes, welches fällt, fallen muss! Der Einsiedler des Geistes wirft die weiße Leinwand, in der er gerade noch hauste von sich, blickt verdutzt in die Runde, blickt verdutzt Klara an, danach Jeff.

„Es ist spät geworden, Gamblin. Ich denke, wir sollten bald los.“ Der Raum um Earl wird kalt und nüchtern. Farben verfallen, das Bild in Earls Augen wird grau. Er schaut zu Klara.

„Lass uns noch ein wenig bleiben - weniger trinken könnte allerdings nicht schaden.“

„In Ordnung, wie du meinst.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  nufan2039
2010-01-31T09:58:16+00:00 31.01.2010 10:58
Ich bin jetzt einfach mal so frei, einen Kommentar für zwei Kapitel zu schreiben. Verzeih mir das bitte. ;)

Ich finde deine Art zu schreiben wirklich faszinierend, ich finde, du hast eine äußerst intelligente Art, dich auszudrücken und denke, dass du unglaublich kreativ bist.

Du bist unglaublich begabt, ws das Beschreiben angeht, deine Geschichte ist bildgewaltig und du kannst richtig gut mit Worten umgehen.


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