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Lumiél Noir

von

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Stein um Stein

Die Alten Götter, so heißt es, sind tot. Verdammt und verstoßen aus dem Königreich Lumiél, in die Knie gezwungen vom neuen Gott des Landes, von der einzigen Größe, zu der die Bauern noch beten dürfen, ohne im Morgengrauen am Galgen zu baumeln: Seine göttliche Majestät König Phillipe der Dritte.

Die Anmaßung eines Menschen.

Im Rest der Welt dreht sich das Rad des Schicksals weiter. Gesandte werden geboren, Leben verwelken, Schlachten werden geschlagen – manche offen und mit dem Gebrüll Tausender Krieger, manche im Stillen hinter den Vorhängen der Weltbühne. Einer aber mischt immer mit, ist immer allgegenwärtig, immer am intrigieren: Ceteus.

Erwählt Mermerus einen Champion, so schafft er mit der Übertragung großer Macht auf nur ein einziges sterbliches Wesen einen Avatar. Eine Größe, die Königreiche stürzen kann. Doch stirbt der Avatar, so ist auch seine Mission mit ihm verloren gegangen. Immer schon hielt der Schatten es damit anders als sein Bruder und dessen Kinder und Enkel. Frei von der Notwendigkeit, sich erklären oder rechtfertigen zu müssen und befähigt, seine eigenen Kräfte aus einer ganzen Welt zu ziehen, die er nur für sich selbst besaß, vermag Ceteus seine Kräfte auf mehr als einen Streiter zu verteilen. Gerade deshalb waren die Priester der Spinne schon immer verhasst und gefürchtet: Stand man mit ihnen im Kampf, konnte man nie wissen, ob man einen Gläubiger bekämpfte, oder einen Avatar.

Gerade diese Inkarnationen seiner Macht waren oft von der gleichen Gerissenheit und Hinterlist getrieben und beseelt, die auch ihren Meister voran brachte. Parallel zu ihrem Schaffen in der Welt suchten sie sich aus den Tausenden verdorbener Seelen oftmals einen Nachfolger, lehrten ihn die Folgsamkeit, stärkten seine Kräfte und sein Wissen und nutzten ihn als verlängerten Arm seines finsteren Willens – bis der Avatar auf welchem Wege auch immer seinen Untergang fand. Denn dann wäre sein Nachfolger bereit, in die Dienste der Spinne zu treten.

Nicht umsonst lautet eine Redensart des Volkes: Das Böse schläft nie.
 

„Herrgott nochmal, sei nicht so verdammt stur!“

„Du weißt nicht im Geringsten, worauf du dich einlässt!“

„Ich bin kein Kind, ich habe Jahre ohne dich zugebracht, stell dir vor!“

Orykenes Ohr wich abrupt von der Tür zurück, als erneut ein lautes Klirren erklang – diesmal direkt auf der anderen Seite des Holzes. Sie seufzte, schüttelte resignierend den Kopf und trat zurück. Ihre Fußklauen klackten leise auf den Steinen des Untergrundes, bevor sie sich neben Delilah auf eine provisorische Bank sinken ließ. Hier, nur einen Meter von der schweren Eichentür entfernt, drangen die Stimmen aus jenem Raum nur noch sehr gedämpft an ihre Ohren – und selbst das Klirren und Scheppern wurde leiser.

„Wo Kat?“ erkundigte sich die Dryade bei ihrer Gefährtin. Orykene legte den Kopf in den Nacken, betrachtete einen Moment, wie der Tunnelbogen sich zur Decke hin wölbte. Sie war eine Harpyie, sie war ein Kind der Lüfte – sie gehörte nicht unter Tage. Gut, zugegeben, ihr Hort in Quentloas lag in einer gewaltigen Felsspalte. Aber auch dort konnten sie fliegen. Alles war breit, groß und geräumig genug. Aber Samaras Kanalisation war einfach zu beengt. Sie hatte versucht, sich daran zu gewöhnen, war es doch schließlich eine Notwendigkeit, aber es gelang ihr einfach nicht.

Schließlich wandte sie ihren Blick der Dryade zu. Sie wartete auf eine Antwort, das wusste sie auch ohne in ihre Augen zu sehen, denn die Hüterin blickte auf ihre Hand herab, auf den kleinen, grünen Spross, der sich ihrem Finger entgegen reckte. Sie tippte ihn an, 'tätschelte' ihn, wie man einen braven Hund lobte. Es war für die Jägerin ein Wunder, dass sich ihre Gefährtin hier unten nicht ebenso unwohl fühlte. Es fehlte an Sonnenlicht, sie verließen oft nur bei Nacht die Gänge des Kanalsystems. Vermutlich nicht verwunderlich – obwohl Orykene inzwischen leichte Kleidung trug, rein um sich warm zu halten, hatten sie und Delilah beide ihre Gepflogenheit abgelegt, sich beständig verstecken zu wollen.

Dies war Samara. Die Stadt gehörte Ashes – und gerade hier unten gab es für sie beide einfach keine Notwendigkeit, zu verstecken, wer oder was sie waren. Viele der Rebellen beäugten sie skeptisch, wieder und wieder. Eine Hüterin, das war eine Gesandte Phylias, eine Vertreterin eines göttlichen Willens auf dieser Welt – aber wie sollte sie über Macht verfügen können, wenn die Alten Gottheiten doch tot und verstoßen waren?

Manche hatten Delilahs Wert bezweifelt, hatten sie ausstoßen wollen. Orykene hatte sich nicht eingemischt, hatte ihnen nicht die Kehlen aufgerissen. Das war einfach nicht nötig – Delilah wusste selbst, wie sie solche Großmäuler auf ihren Platz verwies. Inzwischen, dank Kats fortwährender, geduldiger Bemühungen und auch ihrer eigenen Anstrengungen, vermochte die Hüterin zumindest deutlich besser die rasche und ungelenke Sprache der Menschen zu verstehen. Sie selbst zu sprechen, hatte sie noch Probleme – aber sie begriff, wenn jemand ihren Nutzen in Frage stellte. Es war ein durchaus amüsanter Anblick gewesen, als die giftigen Ranken, deren Samen seit Jahrhunderten unter Samara begraben lagen, sich aus dem Boden gruben, seine Arme und Beine packten, sich daran in einer Spirale empor wanden, während die Dornen über Kleider und Haut schabten und das erste Gift in seinen Körper einbrachten.

Dieser Narr hatte tagelang zitternd wie Espenlaub unter Fieber, Übelkeit und Schwindel auf dem Bett gelegen und um sein Leben gekeucht. Überlebt hatte er letztlich nur, weil die Dryade es so wünschte – denn auch, wenn solche Holzköpfe nicht unbedingt ihr Gewicht in Gold wert waren, war doch jeder weitere Schwertarm in den Diensten des Untergrundes wichtig und nützlich. Irgendwann, irgendwie.

„Kat ist in Sundergrad. Sie versucht dort eine zweite Zelle aufzubauen.“ antwortete die Harpyie nach einer Weile. Sie konnte verstehen, warum Delilah nach ihr fragte. Die Piratin war... angenehme Gesellschaft. Willensstark und eifrig, wenn auch für Orykenes Geschmack etwas zu idealistisch. Sie hatte mit der Hüterin viel Zeit verbracht, um ihr ihre Sprache zu lehren und sie mit dem System des Untergrundes vertraut zu machen – eine Bezugsperson, nach ihrer Rückkehr in die Gefilde der Menschen.

Orykene hatte nur am Rande gehört, was geschehen war. Von einem alten, toten Wald war die Rede gewesen, von tollwütigen Tieren und einem großen Streifen... Tod. Mitten in Lumiéls Osten. Kein Feuer, kein Magier und kein Katapult waren diesem Gestrüpp beigekommen. Warum die Dryade wieder hier war, vermochte Orykene nicht zu sagen. Ihr Wiedersehen war zunächst fürchterlich kühl ausgefallen, ehe sie sich langsam wieder einander angenähert hatten. Zweifellos war es der Gesandten schwer gefallen, ihr ihren damaligen 'Verrat' zu verzeihen. Aber hatte Delilah nicht ebenso längst einsehen müssen, dass es kaum einen Weg gab?

Der Widerstand war inzwischen die einzige Größe in Lumiél, die vielleicht noch etwas bewegen konnte. Auch der Plan der Jägerin war gescheitert. Als Brutmutter des Hortes die dunkle Zeit aussitzen – vielleicht war es von Anfang an eine schlechte Idee gewesen, aber sie hatte einige Jahre lang funktioniert, ohne dem Hort noch weiter zu schaden.

Ihr beider Aufmerksamkeit schwenkte um, als sie das Echo von Schritten hörten. Jemand kam den langen Gang herab, sie hörten das gelegentliche Platschen, wenn die eiligen Schritte auf eine der Pfützen trafen. Die Fackeln waren viel zu unregelmäßig und in zu großen Abständen angebracht, um immer alles sehen zu können. Doch wie sollte man für Eindringlinge sonst einen guten Hinterhalt legen können?

Vor ihnen schälte sich ein Bote aus dem Dunkel. Einfache, einstmals weiße Leinen, eine derbe braune Lederweste und erdbraune Hose samt Schuhen – ihm war anzusehen, dass alles darauf ausgelegt war, schnell, zügig und unauffällig voran zu kommen. Orykene nickte ihm zu, war sein jugendliches Gesicht ihm inzwischen doch bekannt. Er besaß, wie die anderen Männer es sagten, eine Silberzunge. Ähnlich wie Kat, hatte er Ashes bisher immer schlechte Nachrichten überbringen können, ohne ihre Kammer mit gebrochenen Knochen zu verlassen.

„Wie weit sind sie?“ erkundigte sich der Bote, als er stoppte und einen Moment auf das in seiner Lautstärke erneut anschwellende Stimmengewirr im Inneren lauschte. Als etwas knapp neben der Tür zerschepperte, zuckte er kurz zusammen, ehe er aufseufzte.

„Wenn ich richtig mitgezählt habe, müssten das inzwischen die Teller sein.“ erwiderte Orykene und verzog die Lippen zu einem Lächeln. Es war schwierig, die Harpyie einzuschätzen. War sie freundlich? War sie amüsiert? Spottete sie über ihn? Wie wenig Orykene von Menschen im Allgemeinen und von Männern im Speziellen hielt, war inzwischen weitläufig bekannt. Spätestens, seit einer der Rebellen auf die dumme Idee gekommen war, zu glauben, eine im Schlaf überraschte und gefesselte Harpyie könne ihm keinen Widerstand mehr entgegen bringen.

Man hatte Teile von ihm gefunden. Nicht alles, aber immerhin Teile. Kleine Andenken, die sie zur Warnung in den Schlafstätten seiner Freunde gelagert hatte. Der Bote hingegen wusste, dass sie durchaus auch anders konnte. Die frühere Brutmutter vermochte freundlich zu sein, wenn sie es denn wollte und ob sie das wollte, das hing – so schätzte der junge Bursche sie ein – sehr davon ab, wie man ihr gegenüber trat.

Er zeigte bisher stets Respekt, eine Spur Demut vielleicht sogar. Sicherlich würde er in ihren Augen nie die gleiche Hochachtung erreichen, die sie Ashes entgegen brachte. Eine starke Frau, die mit einem Plan mal mehr, mal weniger gut gegen einen schier übermächtig wirkenden Feind vorging und dabei Männer völlig mühelos und ohne Widerworte zu dulden herum kommandierte. Natürlich musste das der Harpyie imponieren.

„Was gibt es denn?“ erkundigte sich die Jägerin. Das stille Angebot, die Nachricht entgegen zu nehmen und selbst zu überbringen, war damit ausgesprochen. Der Bote jedoch schüttelte den schwarzlockigen Kopf und lehnte höflich ab – die Nachrichten waren zu wichtig. Mit eben dieser Bemerkung erweckte er auch Orykenes Aufmerksamkeit, weshalb sie Delilah mit einem einzigen Blick auf ihre Seite zog.

Als der Junge schwer an die Tür klopfte, verstummte das Stimmengewirr einen Moment, um wenig später im Chor ein gereiztes „Was?“ erschallen zu lassen. Er trat ein – von der Hüterin und Orykene dicht gefolgt.

Wie ein Stier schnaufend stand Ashes an der Kopfseite einer langen Tafel, das Messer, das zum neuen Wurf hatte herhalten sollen, noch fest umklammert und die Haarpracht völlig wirr und konfus. Weit näher beim Eingang wartete Alistair, einen Teller in der Hand, und begutachtete die Eindringlinge ebenso aufgewühlt.

„Was ist?“ fuhr die Elbe den Boten an, der daraufhin zusammen zuckte und versuchte, das fürchterliche Chaos aus Scherben, Besteck und den Wachssplittern zerbrochener Kerzen zu ignorieren.

„Es ist wichtig.“

„Dann steh da nicht rum, erzähl!“ blaffte die Elbe barsch.

„Vor zwei Tagen versuchte jemand, das Stadttor zu passieren. Ein Einreisender. Er kam den Wächtern merkwürdig vor, also wollten sie ihn durchsuchen.“ begann der Bote seinen kleinen Vortrag, doch es war offensichtlich, das Ashes gerade jetzt keine Ausgeburt von Geduld war. Mit einem schlichten „Na und?“ brachte sie den Schwarzhaarigen einen Moment aus dem Konzept, ehe er wieder einsetzte.

„Man fand die Leichen der Wächter bei Ereshkigals Rast. Wir haben sie in einer der Kammern gebracht, falls ihr sie euch ansehen wollt. Die Heiler sagen, ihr Blut sei verdorben. Als hätte man es wochenlang in der Sommersonne stehen lassen – ein unnatürlicher Zustand.“

Ab diesem Punkt wurde es sogar für die Anführerin der Rebellen interessant. Nicht nur, dass jemand die Stadtwache offen angriff – was dieser Tage schon selten genug war -, da hatte es jemand auch noch geschafft, ihrem Informationsnetzwerk zu entwischen. Offenkundig auch noch ein Magier oder Hexer, denn dem Wort der Heiler konnte man durchaus glauben. Mit einer sichtlich genervten Handgeste forderte sie den Boten auf, weiter zu reden.

„Es gab nur drei Augenzeugen. Einen Händler, Meister Talsin und einen Bauern. Als ich hierher kam, wollte ich euch von drei blauen Laternen berichten, aber... nun... als wir von einem Feuer in der Stadt hörten und sich heraus stellte, dass besagter Händler darin umkam, habe ich mir erlaubt, einen Späher in die äußeren Höfe zu senden. Er kehrte gehetzt und kreidebleich zurück und erzählte, dass alles tot sei. Das Vieh, die gesamte Familie, sogar das Korn sei verwelkt.“

Selbst wenn Ashes zuvor noch der Sinn danach gestanden hatte, ihren Streit mit Alistair fortzusetzen, sobald die Tür erst einmal geschlossen war, ließ sie nunmehr davon ab. Sie legte das Messer auf den Tisch und zog die Stirn in Falten. Die Lage hatte sich damit geändert. Klang es eingangs noch nach einem möglichen neuen Verbündeten, einer weiteren Verstärkung für ihre Truppen, schien es sich plötzlich um einen möglichen Feind zu handeln.

Da griff jemand ihre Informanten an. Die Wächter am Tor zu töten und zu verstecken, war sicherlich nicht der Aspekt, der Ashes störte. Auch die Augenzeugen zu beseitigen, erschien durchaus logisch – wenn jemand ungesehen in die Stadt wollte. Doch die Art, in der man das getan hatte, erweckte ihr Misstrauen. Mit einem Feuer ließen sich alle möglichen Dinge bestens vertuschen und noch bedenklicher waren da die Berichte des Spähers vom Zustand des Hofes.

Drei blaue Laternen. Das Signal für Ashes und den Widerstand, dass der Besitzer der Laterne etwas Wichtiges oder zumindest Interessantes zu vermelden hatte... und da der Bote so explizit darauf hingewiesen hatte, stammten zwei dieser Laternen zweifellos vom Händler und dem Bauern. Die Dritte gehörte dann wohl Meister Talsin.

Ashes kannte den Namen leidlich gut. Sie hatte eine fürchterliche Abneigung gegen Magier, einen regelrechten Hass auf ihre 'Zunft'. Sie empfand es nur als gerecht, dass die Zirkel zerschlagen worden waren. Sie hätte das am liebsten sogar gefeiert – doch für Feierlaune reichte ihr Gemütszustand schon seit Jahren nicht mehr aus. Stattdessen sah sie darin wohlbegründet das Problem, dass manche der nunmehr vogelfreien Magi sich hatten bestechen lassen und in die Dienste seiner Majestät übergetreten waren. Abtrünnige, die nunmehr die letzten loyalen Anhänger ihrerseits als Abtrünnige jagten. Der Elbe wäre es nur Recht gewesen, wenn dieses ganze Pack sich gegenseitig ausräucherte, dummerweise zählte Talsin zu ihren Informanten – zu den Guten obendrein. Wann immer es um Artefakte und Reliquien ging, wusste er Rat und Auskunft zu erteilen. Er verdiente sich den Schutz vor den Häschern des Königs, den Ashes ihm garantiert hatte.

Wenn er irgendetwas über den Eindringling wusste, dann war er – gemessen an der Geschwindigkeit, in der sich diese Nachrichten überschlagen hatten – entweder bereits tot, oder auf bestem Wege, das zu werden. Und damit war Eile geboten.

„Wir ziehen sofort los.“ konstatierte die Elbe ernst, ehe ihr Blick zu Alistair schwenkte und ein letztes Mal wütend funkelte, „Und du bleibst hier!“

In Begleitung Delilahs und Orykenes begab sich die Kriegerin in ihre Waffenkammer, legte ohne Umschweife und große Erklärungen ihre Rüstung an, warf sich ihren Umhang über und suchte den nächstgelegenen Ausstieg nach oben. Sehr zum Verdruss beider, mussten auch die Hüterin und die Harpyie wieder auf Tarnung und Unauffälligkeit setzen.

Drei vermummte Gestalten, die des Nachts durch Samaras Gassen streiften. Dieser Tage glücklicherweise nicht ganz so selten. Ohnehin hätte es schon eine ganze Schar von Wächtern sein müssen, die Ashes erkannten. Ein paar einzelne Soldaten würden sich bei ihrem Ruf niemals trauen, sie offen anzugreifen und der Großteil der hiesigen Bevölkerung stand ohnehin auf Ashes Seite. Sie hätte sich nicht verstecken müssen, doch da Eile geboten war, wollte sie zügig voran kommen, ohne alle zwei Querstraßen von irgendwem angesprochen oder um irgendetwas gebeten zu werden.

Als sie im Norden der Stadt angelangten, zog die Elbe ohne ein Wort ihr Schwert. Schon von Weitem fiel einem beim Blick auf das kleine Fachwerkshäuschen etwas auf: die Tür stand einen Spalt weit offen.

Mit einem Tritt beförderte sie sie zur Gänze in den Raum hinein. Dicht von Orykene gefolgt, erstürmten sie die kleine Wohnstube. Dunkelheit herrschte im Raum. Selbst das Feuer im Kamin schien kaum genug Licht abzustrahlen, um gegen diese Schwärze anzukommen. „Wir sind nicht allein.“ flüsterte Delilah wachsam. Die Harpyie nickte zustimmend, bevor die Drei begannen, sich im Raum zu verteilen. Es war nicht schwer für die Jägerin, das Blut zu riechen, das in kleinen Tropfen und verwischten Spuren am Boden verteilt war. Auch Delilah bemerkte es zweifellos und Ashes sicherte lediglich ab, dass niemand mehr hier war, der ihnen gefährlich werden konnte. Während die Hüterin der Spur in die eine Richtung folgte und ihren Anfang fand – einen ziemlich übel zugerichteten, umgeworfenen Sessel neben dem Kamin – spürte Orykene ihr Ende auf:

Talsin.

„Hierher!“ wies die Harpyie. Sie trat zur Seite und wusste sich beim besten Willen nicht zu erklären, was hier vorgefallen war. Es gab Kampfspuren, ein Resthauch von Magie lag in der Luft und obgleich Talsin alles andere als wehrlos war, lag der alte Mann besiegt in der Ecke des Raumes, zusammengekauert, regelrecht gekrümmter Haltung, starrte an die Decke empor und zitterte. Es war keine Angst, die seine Muskeln in Bewegung versetzte... es war Gift. Das erkannte Ashes schon, als sie sich neben den flüchtigen Magier kniete. Seine ausgemergelte, faltige Hand hob sich, doch er besaß nicht mehr die Kraft, zu zeigen, was er ihnen hatte zeigen wollen. Schlaff fiel sie wieder auf die Bodendielen herab.

Er blutete aus unzähligen Wunden, alle klein und rund, als hätte man ihm eine breite Nadel ins Fleisch gestochen. Keine davon war tödlich, selbst der Blutverlust hätte ihn in Stunden noch nicht so geschwächt – aber offenkundig waren das nur die Stellen, an denen das Gift eingedrungen war. Er wälzte den Kopf herum und selbst Orykene musste einen Moment von Ekel getroffen den Blick abwenden.

Ein Teil seiner Kopfhaut mitsamt des dünnen, strähnigen Haares blieb schlicht an der hölzernen Wandtäfelung kleben. Als würde der Magier sich langsam auflösen. Als wäre diese Vermutung nach jenem Bild nicht schon kurios und widerwärtig genug gewesen, bemerkte die einstige Brutmutter tatsächlich, dass die Blutspuren zu schrumpfen begannen. An manchen Stellen, von denen sie genau wusste, dass dort kleine Tropfen ihre Aufmerksamkeit erregt hatten, gab es keine Spur mehr.

„Er hat... hat nach dem St-... Stein gefragt...“ krächzte Talsin fast tonlos. Abermals hob sich die Hand des sterbenden Magiers, deutete mit aller Mühe nach Westen... ehe alles Leben in ihm erstarb. Das einstmals treue Zirkelmitglied und danach zumindest die Informationsquelle Ashes' war tot – und sein Henker wohl längst auf dem Weg zu seinem nächsten Ziel.

„Wir müssen ihm zuvor kommen.“ beschloss die Elbe herrisch. Es war ihrer Stimme bereits anzuhören, dass sie wütend war, aufgebracht – in Jagdlaune. Sie erhob sich aus der Hocke und ließ den alten Magier zurück. In ein paar Tagen würde jemand durch den Geruch auf ihn aufmerksam werden und ihn beerdigen, so befand Ashes. Zumindest hatten sie keine Zeit, jetzt noch eine Grabrede zu halten. Während Delilah und Orykene bereits das Haus verließen, blieb die Elbe einen Moment noch zurück.

Ihr Blick wanderte zum Kamin, in dem noch immer das kleine Feuer flackerte. Ziemlich viel Brennholz für so eine kleine Flamme... Sie blickte nach oben, zu den Seiten, zur Treppe, die in den oberen Stock führte. Talsin war tot – aber das Gefühl, hier nicht allein zu sein, war nicht mit ihm verstorben. Einige ausgedehnte Momente lang verharrte sie lediglich, die Klinge noch immer fest umschlossen, und starrte in die Dunkelheit hinauf.

„Wo bleibst du?“ hörte sie von draußen Orykenes Geflüster. Schließlich verstaute sie die Schneide wieder und verließ die Wohnstube des Magiers. Sie folgte der Harpyie und ihrer Gefährtin ein gutes Stück die Gasse hinab, ehe sie stoppte. Hatte sie... da nicht gerade ein Flüstern gehört?

Die Elbe drehte sich ruckartig um, gerade schnell genug, um zu sehen, wie die Flammen im Kamin kurz flackerten... und das Feuer dann erstarb. Völlige Dunkelheit füllte das Haus auf und selbst die erfahrene Kriegerin kämpfte einen Moment mit einer Gänsehaut. Nicht jemand... aber Etwas war in diesem Haus!

Dennoch, so befand sie, war es für den Moment wichtiger, Talsins Hinweis zu folgen. Sie erklärte Orykene und Delilah, dass der Magier nur wenige Kontakte innerhalb der Stadt unterhalten hatte. Immerhin musste er sehr darauf bedacht sein, nirgendwo aufzufallen. Aber als Magier brauchte er natürlich Übung, sonst wäre er innerhalb weniger Jahre nicht einmal mehr fähig gewesen, eine verlässliche Aussage über die magische Kraft von Kaffeesatz zu geben. Gerade unter Betrachtung dieses Aspektes ergab seine Weisung nach Westen durchaus Sinn: Im Westteil der Stadt lag der Laden eines Juweliers, der für die gehobene soziale Schicht Samaras und teilweise sogar für den Könishof das Geschmeide fertigte.

Garwinn stand schon seit Jahren in den Diensten der Elbe. Ein grandioser Schmied, vielleicht sogar der Beste in Lumiél. Krönchen, Ringe und modisch wertvolle Armschoner für irgendwelche Zeremonien herzustellen, behagte dem murrigen, eigentlich fast immer übellaunigen Zwerg nicht, aber letztlich handelte es sich dabei auch nur um seine Fassade. Wie viele es dieser Tage taten, war auch Garwinn Tag und Nacht auf den Beinen und ertränkte alle Sorgen und Gedanken in Arbeit. Er hatte erlebt, wie Nothrend gefallen war – zwei Mal. Erst hatte Verrat den zwergischen König gestürzt und dann war selbst der Verräter durch die Weisung des Königs umgekommen. Er hatte gesehen, wie Hunderte Eisenhände deportiert worden waren, wie man sie in Mienen als Zwangsarbeiter einsetzte, wie man sie reihenweise exekutierte. 'Als Exempel', hatte es gehießen. Seither schmiedete er für die Elbe ohne Unterlass. Eine Esse kühlte nie aus, sein Hammer stand nie still. Schwerter, Schilde, Rüstungen, er spannte Armbrüste, schnitzte Bolzen, fertigte Runen. Selbst das Geld, das übrig war, wenn er die Miete und seinen Lebensunterhalt bezahlt hatte, ließ er Ashes zukommen – ein stattliches Gehalt immerhin, das nach jedem Auftrag eines reichen Schnösels direkt in die Kasse der Kriegerin floss, um den Widerstand zu stärken. Und nicht selten fand sich auch jemand, der die von Garwinn gefertigten Stücke... nun... 'zurück holte'.

Das Problem für den vermeintlichen Juwelier war eher die Rohstoffzufuhr. Es war in diesen Tagen völliger Kontrolle mehr als nur schwierig geworden, ein paar Tonnen Erz und Stahl, Kohle, Holz und diverser anderer Zutaten mal eben verschwinden zu lassen. Doch gerade die Runenschmiedekunst benötigte weit mehr als nur ein bisschen Herz und einen guten Hammer.

Talsin hatte sich von Garwinn von Zeit zu Zeit Anteile seiner Zutaten gekauft. Ein bisschen Pulver aus Lykantrophenknochen, ein paar Harpyienfedern – von Orykene sehr, sehr widerwillig 'gespendet' –, eine Prise Drachenschuppenpulver.

Waren, deren Exklusivität den Magier verraten hätte, hätte er auch nur ein einziges Mal einen Händler darum gefragt, der nicht in seine Flucht vor den Abtrünnigen der Krone eingeweiht war. Doch im Widerstand half man einander – wenn auch nicht immer ganz freiwillig. Garwinn unterstand direkt Ashes und konnte es sich nicht leisten, seinem Groll gegen Magiefähige freien Lauf zu lassen. So, wie Talsin mit den Zwergen im Streit lag und darüber ebenso hinweg sehen musste.

Es kostete sie fast eine Stunde, die Stadt bis zur Westgrenze zu durchqueren. Samara war immer schon Lumiéls größte Stadt gewesen – vielleicht nicht von den Einwohnern her, da wurde es von Sundergrad überboten, aber doch zumindest flächenmäßig.

Ashes verkniff es sich, noch anzuklopfen. Stattdessen platzte sie einfach durch die Tür in den Laden. Feine Schaukästen aus gezimmertem Holz mit allerhand Gravuren priesen hinter dicken, dreischichtigen Glasscheiben die Schmiedewaren des Zwerges an. Eine junge Dame besah sich gerade einen Thresen voller Halsketten und Anhänger, als die Elbe mit ihrem vermummten Gefolge eintrat.

„Raus hier.“ blaffte sie die Adlige an, die zwar verstört und geradezu empört über diese rüde Art einen Blick zu Garwinn warf, jedoch tatsächlich verschwand, als dieser lediglich eine davon scheuchende Geste aufbrachte.

„Warst lang nich' da, Mädel.“ brummte der Zwerg und griff unter den Hocker, auf dem er saß. Er förderte einen Leinenbeutel zu Tage, der schon kräftig klimperte und klirrte, als er ihn auf dem Tisch absetzte. Ashes aber wiegelte ab, er solle das Ding wieder wegstecken – dafür müsse sich später Zeit finden. „Wie du meinst. Also, was ist los?“ kam der Schmied direkt zur Sache.

Unlängst hatten Delilah und Orykene sich im Raum verteilt, suchten nach Fallen, suchten nach Schlupflöchern, nach 'Steinen', nach allem. Selbst den Hintereingang des Hauses und die oberen Stockwerke prüften sie.

„Talsin ist tot. Jemand ist in die Stadt gekommen und legt alle um, die ihn gesehen haben.“ konstatierte die Elbe in scheinbarer Beiläufigkeit.

„Pah! Geschieht ihm Recht. Schau mich nicht so an, ist mir egal – der hat's längst verdient! Verdammtes Magierpack...! Aber was hat das mit mir zu tun? Ich verlasse meine Schmiede nicht, das solltest du wissen.“ erklärte der Zwerg ihr brummend. Aus seiner Warte war Talsins Tod etwas, das ihm den Tag versüßte. Er bedauerte nur irgendwie, dass er ihm nicht selbst das Licht hatte löschen dürfen. Zu groß war sein Hass auf diese Zunft, die für den Fall Nothrends verantwortlich war.

„Er sagte, sein Mörder hatte nach einem Stein gefragt.“

„Und? Versuch's bei 'nem Steinmetz, Mädel.“

„Er hat nach Westen gedeutet.“

„Die Straße runter is' einer.“

„Du hast mit ihm gehandelt. Führst du Artefakte aus Stein?“

Als würden beide kontinuierlich aneinander vorbei reden, hetzte ein Schlagabtausch den Nächsten ohne Punkt und Komma. Sie gingen nicht einmal auf das ein, was der andere gesagt hatte – bis Ashes nach seinem Sortiment fragte. An eben dieser Stelle wurde die Suche geradezu enttäuschend. Garwinn teilte ihr nicht nur mit, dass er keinerlei Artefakte führe, sondern obendrein, dass die einzigen Steine, die er im Laden und in der Schmiede hätte, Edelsteine wären, die am Ende geschliffen und eingefasst in irgendwelchen Ringen und Kettchen hier in den Kästen landen würden, damit feine Herrschaften sie bestaunten und ein stattliches Vermögen dafür ausgaben.

Jemand, der scheinbar mühelos drei Stadtwachen tötete, einen ganzen Hof massakrierte, ein Haus anzündete und ebenso widerstandslos einen Artefaktmagier umbrachte, der würde sich wohl kaum dafür interessieren, welchen Ring er sich holen sollte – lieber einen mit Rubin oder einen mit Saphir?

Just als die Elbe glaubte, ihre Frustration könne sich nicht mehr steigern, kehrten Delilah und Orykene von ihrem Rundgang zurück. Während Erstere die Schmiede überprüft hatte, war Letztere das obere Stockwerk Raum für Raum durchgegangen.

„Nichts.“ merkte die Jägerin an – und die Dryade nickte zustimmend.

„Das kann keine Sackgasse sein!“ fluchte Ashes aufgebracht und schlug mit dem gepanzerten Handschuh gegen einen der Schaukästen, dessen Inhalt sich daraufhin scheppernd neu verteilte. Damit standen sie wieder am Anfang – nur war die Situation dahingehend schlechter, dass sie nun keine Spur mehr hatten. Talsin war tot und sein Hinweis nichts wert. „Vielleicht sind wir zu früh dran?“ mutmaßte die Anführerin zweifelnd. Was, wenn Talsins Henker mehr Zeit brauchte, um hierher zu finden? Immerhin war die Stadt recht groß und wenn man sich darin nicht auskannte... war es möglicherweise durchaus denkbar?

„Wir bleiben hier. Das scheint mir unsere beste Chance zu sein. Wir warten ab und werden zuschlagen, wenn er hier aufkreuzt.“ stellte die Kriegerin den neuen Plan vor. Keiner, der durch Rafinesse glänzte, aber es war zumindest überhaupt ein Plan. Gemäß dessen machte sich auch Garwinn bereit, einen Angriff abzuwehren. Für einen Schmied vielleicht ungewöhnlich, aber bei Zwergen im Allgemeinen sagte man nichts, wenn sie eine Axt mit sich herum trugen... und es war ja auch nur eine Kleine. Sehr zum Amüsement des Zwerges schienen Menschen nämlich ständig zu denken, dass eine Waffe ungefährlicher werden würde, nur weil sie kleiner war.

Vermutlich kein Wunder, das niemand den König aufgehalten hatte. Er war auch klein. Den hielt zu lange einfach niemand für eine Gefahr...!

Die drei 'Gäste' seines Ladens verschanzten sich sicher in Positionen, die vom Verkaufsraum aus schwer einsehbar waren. Überhaupt, so bewies sich, hatte der Schmied offenbar ein gewisses strategisches Können bewiesen, als er den Aufbau seines Ladens ersann. Es war perfekt, um Hinterhalte zu legen. Ashes selbst verbarg sich dabei so dicht wie möglich bei Garwinn. Nicht nur, um ihn im Fall der Fälle schützen zu können – Garwinn war wertvoller als ein Dutzend Talsins -, sondern vor allem, um sich die Langeweile während der Wartezeit zu vertreiben. Sie war nach wie vor nicht sonderlich gesprächig, aber besser, man hatte jemanden, mit dem man reden konnte, wenn man es wollte.

Fast zwei Stunden vergingen und die Sensation dieser Zeit bestand in zwei Kunden, die dicht aufeinander den Laden betraten. Ein gewisser Adelsmann wollte ein Schmuckstück in Auftrag geben, eine edle Halskette als Wiedergutmachung für seine Frau, dass er sie betrogen hatte. Kurz darauf erschien eine Dame im Laden, nicht adlig, aber offenkundig unter dem Schirm eines Gönners stehend, und holte einen Ring ab, den ein gewisser, kurz zuvor anwesender Adelsmann ihr zugesichert hatte, wolle er sich doch in Kürze von seinem Weib trennen. Es waren durchaus amüsante Begebenheiten oder hätten es sein können, wäre die Spannung in der Luft nicht fast greifbar gewesen. Die Kundschaft bemerkte dergleichen natürlich nicht, aber für Ashes, Orykene, Delilah, sogar für Garwinn selbst war es eine reine Nervenprobe.

„Was für ein Steinmetz ist das eigentlich?“ erkundigte sich die Anführerin, als die Langeweile ihr die Geduld zu rauben drohte.

„Hm?“

„Der die Straße runter.“

„Ach so. Ein Langer. Keine Ahnung, wie der heißt. Er nutzt immer einen Tiger als Zeichen. Protzig, wenn du mich fragst. Aber er stand meinem Volk wohl angeblich mal sehr nahe, er schmiedet ein paar einfache Runen. Wenn du mich fragst, eine Schande. Heutzutage wird auch einfach alles verscherbelt. Die Magier verkaufen ihr komisches Gebräu und... naja... wir verkaufen die Runentechnik.“

Es war mühelos herauszuhören, wie bitter Garwinn darüber dachte. Sein Volk hatte viele schlimme Zeiten er- und durchlebt, aber nie zuvor waren sie so düster gewesen, dass die Zwerge Wissen hatten verkaufen müssen. Die kurzlebigen Rassen wie Menschen und Tieflinge waren einfach nicht fähig, die Konsequenzen ihres Handelns zu ermessen – man wollte ihnen nicht mehr Macht in die Hand legen als unbedingt nötig. Gerade deshalb hatten die Zwerge immer darauf geachtet, den Menschen keinen Einblick in ihre Technologien zu gewähren.

Und nun das.

Traditionalisten wie Garwinn befürchteten deshalb den Untergang der zwergischen Kultur. Seine Majestät würde alles aus ihnen heraus pressen. Elektrizität, Dampfkraft, Schießpulver, alles. Am Ende wäre das Volk der Zwerge für ihn entbehrlich – und sie würden verschwinden. Restlos. Wie die verdammten Spitzohren.

„Sag mal,“ setzte der Schmied wieder ein, bemüht, das Thema zu wechseln, „hat Alistair dir von seinem Spielzeug erzählt? Wenn du mich fragst, ist der Lange einfach irre.“ brummte der Zwerg und fing sich von Ashes einen Blick ein, der nicht frostiger hätte sein können. Selbst der Schmied schluckte da schwer. Ashes Launen waren... gefährlich. Bestenfalls. Und offenkundig war er gerade dabei, einen mehr als wunden Punkt zu berühren – etwas, das man nach Möglichkeit eher vermied. Daher erschien es zumindest dem Schmied recht praktisch, dass das Thema nicht weiter vertieft werden musste, denn ein neuer Kunde, so schien es, betrat den Laden.

Tatsächlich jedoch schob sich ein junger Bursche mit schwarzen Locken, einer einfachen, braunen Lederweste und suchendem Blick durch den Türspalt. „Ist sie hier?“ erkundigte sich der Bote bei Garwinn, der lediglich schräg nach unten neben sich nickte. Direkt hinter dem Verkaufstresen erhob sich schließlich die Elbe und musste zugestehen, dass die Anwesenheit des Boten hier sie durchaus überraschte.

„Ich habe euch gesucht, es ist... wichtig.“ erklärte sich der Junge, ehe er eilig fortfuhr, „Es gab einen weiteren Toten.“

Schon zu diesem Zeitpunkt wurde der Elbe schmerzlich bewusst, dass sie falsch waren. Es hatte beim nächsten Ziel nie um den Schmied oder eines seiner Ausstellungsstücke gehandelt. Der Bote klärte die Anführerin darüber auf, dass ein alter, zynischer Zausel im Westteil der Stadt ums Leben gekommen war. Genickbruch, so schien es, doch seine Wohnung war restlos verwüstet. Schon als Ashes den Namen hörte, wusste sie genau, wohin sie nun mussten.

„Los, packt euch, wir müssen zum Südfriedhof! Vielleicht können wir etwas Zeit wieder aufholen!“ heischte die Elbe ihr Gefolge an. Orykene und Delilah sprangen aus ihren Verstecken und drängten sich an dem verdutzten Boten vorbei. Selbst Ashes gab keinerlei Erklärungen von sich, doch sie kannte diesen Alten. Er war der Friedhofswärter gewesen und hatte über Jahrzehnte hinweg den Acker bestellt, gepflegt und mit ein paar jungen Burschen zusammen die Gräber ausgehoben. Seit Phillipes Wahn offenkundig wurde, lag Samaras Südfriedhof unter strikter Bewachung durch städtische Truppen. Nicht die einfache Stadtwache, die man praktisch mit einem Augenzwinkern schon kaufen konnte – nein, Soldaten. Bellatoren im Dienste seiner Majestät, die Kriegsveteranen, die Elite des Heeres von Lumiél.

Würdige Gegner für Ashes.

Sie hatte oft versucht, herauszufinden, was genau der König dort eigentlich bewachen ließ und hatte es unter viel Mühe auch in Erfahrung gebracht. Vor Jahren hatte ein Nekromant, ein Überlebender der Zirkel, den König zu töten versucht. Er war mit einer sehr stattlichen Armee Untoter auf La Coeur zu marschiert. Tote für seine Beschwörungen zu finden, war in diesen Zeiten ja nicht schwierig. Die Verteidiger hatten dieses Heer rasch ausgedünnt, aber erst im letzten Moment begriffen, dass es sich nur um ein Ablenkungsmanöver handelte. Bis vor die Tore des Thronsaals hatte der Magier es geschafft und hätte er nur einen Fuß hinein setzen können, hätte das Gift in seiner Manteltasche bei Zerbrechen der Flasche das ganze Stockwerk ersticken lassen. Doch dazu kam es eben nicht.

Die Berater seiner Majestät warnten, dass es sicherer wäre, alle Maßnahmen zu ergreifen. Nekromanten agierten näher an der Grenze des Todes als die meisten anderen Lebewesen, oftmals waren sie schon halbe Untote und sicherten sich gegen mögliche 'Zwischenfälle' mit diversen Zaubern, Amuletten oder Pakten ab. Also verbrannte man all seine Habe, bestattete ihn in einem gewaltigen Labyrinth von einem Mausoleum in geweihter Erde und postierte eine stattliche Schar Wachen, sollte er tatsächlich auferstehen und aus dem Labyrinth heraus finden.

Für Ashes waren die Informationen wertlos gewesen. Was nützte ihr ein toter Nekromant, der nichts mehr besaß? Zumal von einer kleinen Armee bewacht? Doch nun fügte sich das Bild durchaus zusammen. Vielleicht war der Fremde ebenfalls ein Überlebender, vielleicht ebenfalls ein Nekromant. Zumindest würde das zu den verdorrten Feldern draußen auf dem Hof passen, zum toten Vieh und dem vergifteten Meister Talsin.

Was immer er war – er würde mit Widerstand rechnen. Das hatte sich schon gezeigt, als er so rasch, leise und mühelos die Zöllner tötete. Nun hatte sich das Blatt von Neuem gewendet. Selbst wenn dieser Hurensohn ihr halbes Informationsnetzwerk zerstört hätte auf seiner Jagd nach Antworten, Artefakten oder was immer er suchte – er wäre ein machtvoller Verbündeter, sollten sie ihn abpassen können. Er durfte nur jetzt nicht einfach so wegsterben.

Sie hetzten durch die halbe Stadt und erreichten den Friedhof wenige Stunden vor Morgengrauen. Noch war es finster – doch längst nicht dunkel genug, um zu verbergen, was vor sich gegangen war. „Die Feierlichkeiten sind schon vorbei...“ spottete Ashes durchaus mit einem Unterton der Genugtuung, als sie durch das Eingangstor des Friedhofes schritten. Unzählige Leichen säumten den Pfad bis zum Eingang der Gruft. Bellatoren, allesamt. Schwere Panzer, viele davon mit Siegeln und Familienwappen, Hellebarden, Schwerter, Bögen, Armklingen, Chakras, nichts davon hatte ihnen das Leben retten können. Es war beeindruckend, dieses Gemetzel zu sehen – aber es stimmte Ashes auch nachdenklich.

Ein Magier mit solcher Macht war gefährlich, zweifellos. Die Frage war jedoch eher, ob er sich ihr anschließen und mit ihr zusammen gegen Phillipe kämpfen würde, oder ob er nicht viel eher versuchen würde, sie zu verdrängen – und das wäre völlig inakzeptabel. Sie hatte zu viele Jahre gelitten und in diesen Plan investiert, um jetzt von einem dahergelaufenen Flüchtling ersetzt zu werden. Das war ihre Stadt, ihr Untergrund und ihr letzter Kampf!

Sie schritten zwischen dem Gemisch aus Bodennebel, Blutlachen und Pflastersteinen umher, traten die Stufen der Treppe hinab, kühl, stellenweise glitschig, und fanden die Tür zum Labyrinth aufgebrochen vor. Massive Steinplatten, mit denen man das Innere versiegelt hatte... und nun lagen sie zertrümmert und stellenweise fast schon zu Staub zermahlen vor ihnen. Allmählich formte sich in der Elbe der Verdacht, dass dieser Magier nicht das war, was sie zu sein glaubte.

„Wir müssen ihn aufhalten.“ stellte Delilah fest, als sie durch die zertrümmerte Pforte schritt, fast so, als hätte sie Ashes' Gedanken erahnt. Die Hüterin spürte eine dunkle Präsenz in der Nähe, die ihre Innereien gehörig in Aufregung versetzte. Etwas war hier nicht in Ordnung, nicht... richtig. Ein Blick nur genügte, damit sie die Elbe warnte – und ihren Platz einnahm.

Delilah ging voran, sich ihrer Sache sicher. Würde sie dem Gefühl dieser Präsenz folgen, dann würden sie zweifellos ihr Ziel finden. Doch sie besorgte viel mehr, das dieses Gespür überhaupt war. Nie zuvor war ihr etwas Derartiges untergekommen.

Sie schritten einen langen, staubtrockenen Gang entlang. Einzig die Fackel, die Ashes entzündet hatte, spendete einen schwachen Lichtschein und ließ erahnen, wie der Tunnel beschaffen war. Lang, geradlinig, schmucklos. Eigentlich perfekt, um sich darin zu verlaufen, doch das änderte sich schlagartig, als sie eine weitere, ebenfalls durchbrochene Tür passierten.

Der Korridor öffnete sich vor ihnen, wurde deutlich größer und breiter. Hier fand sich nicht der banale Backstein, der den Eingangstunnel geschirmt hatte, sondern massive Granitblöcke, die einen gewaltigen, unterirdischen Gang deckten. Viel imposanter aber als die Bauart des Tunnels war, was sie darin fanden.

„Das ist... unglaublich...“ brachte Orykene hervor. Sie hatte von dergleichen gehört, hätte aber nie erwartet, so etwas zu sehen. Vorsichtig schritt das Dreigespann an die Wand heran, genauer genommen an das, was in der Einbuchtung der Wand stand. Aus massigen Granitteilen geschlagene Blöcke, von Lehmteilen und Metall ergänzt, wie es schien, erhob sich vor ihnen ein Konstrukt. Ein Golem von wohl zweieinhalb Metern, bullig breit und mit leeren, dunklen Augenhöhlen. Während Orykene Delilah erklärte, was es mit diesem Ding auf sich hatte, bemerkte Ashes mit einem wenig überraschten Schnauben das eingravierte Tigersymbol auf der Brust des Steinriesen.

Ein Tiger. Hatte Garwinn nicht erzählt, dieser Steinmetz am Ende der Straße würde dergleichen für eine Werke verwenden? Samara, die große Stadt... pah – nur ein Dorf!

„... und wenn ein Magier sich schützen wollte und die Macht besaß, dann erschuf er aus Stein, Metall oder Erde... soetwas. Einen Leibwächter.“ vollendete die Harpyie ihre kleine Lektion. Manche Bekanntschaften zahlten sich durchaus aus. Sie hatte selbst nie gewusst, was ein Konstrukt war... bis sie Drakimh begegnete. Heute wusste sie so manches über Artefakte zu sagen, das ihrem Volk auch weiterhin rätselhaft erschien.

Aus einer Ahnung heraus nahm Ashes Delilah die Fackel ab und leuchtete, bemüht, weiter in den gewaltigen Gang hinein. Spätestens da blieb selbst der sonst so abgebrühten Elbe einen Moment die Sprache weg.

Reihe um Reihe. Der Gang erstreckte sich weit in beide Richtungen, und alle paar Meter war in der Seitenwand – zu beiden Seiten – eine Einbuchtung, gerade groß genug für einen solchen Golem. Und alle Alkoven waren gefüllt. Wie lang mochte dieses Tunnelsystem sein? Wie viele dieser Dinger gab es hier? „Hunderte...“ konstatierte Orykene erahnend. Einen toten Nekromanten mit einer ganzen Armee bewachen? Unfug! Selbst seine Majestät konnte nicht dämlich genug sein, so etwas zu glauben. Aber solche Gerüchte waren praktisch. Man konnte ein ganzes Regiment Soldaten aufstellen, ohne das jemand nachfragte. Selbst Ashes hatte so nichts herausfinden können – denn wer wunderte sich schon darüber, dass ein Friedhof große Lieferungen Lehm und Steine geschickt bekam? Zweifellos gab es hier unten irgendwo ein Atelier oder dergleichen, eine Schmiede vielleicht sogar, in denen diese Dinger hergestellt wurden.

Aber ein Golem wurde normalerweise von einem Magier beherrscht. Sie waren einfach nur große, nutzlose Klötzer, solange man ihnen kein Leben einhauchte. Selbst die Runen auf ihren Leibern waren dazu nicht fähig. Es musste irgendeine Form von... Bedienmöglichkeit geben. Dass der König sich in seinem Größenwahn hier unten eine neue, oder besser wohl eine weitere Armee schmieden ließ, konnte nicht geleugnet werden. Aber er würde sich diese Mühe nicht machen – oder sie anderen bereiten -, wenn er nicht von der Funktionalität und Loyalität überzeugt wäre.

So sehr Ashes sich aber bemühte, am Golem selbst und in dessen kleiner Ausbuchtung fand sich nichts. Allein diese Information jedoch war Gold wert.

„Wir sollten weiter. Er wartet auf uns.“ bemerkte Delilah nervös.

Ashes nickte ihr zu und sie schlängelten sich unwissend und orientierungslos durch ein gewaltiges Labyrinth, das sich unter halb Samara erstreckte. Tatsächlich lag Orykene mit ihrer Vermutung nicht falsch – sie konnten noch von Glück reden, wenn es 'nur' hunderte Golems wären.

Schließlich, nach gefühlten Stunden in der Dunkelheit und nicht mehr als dem ständig flackernden Fackelschein, erreichten sie ein weiteres Tor.

„Da passt ja ein Drache durch!“ wunderte sich Orykene über die Ausmaße des Durchganges. Tatsächlich waren die schweren Granitflügel mehr als unpraktisch – man brauchte zwei oder drei Mann, um sie aufzuschieben oder wieder zu schließen. In einer Grabkammer, in der man etwas einsperren wollte, war das natürlich wiederum eine gute Idee.

Beide Flügel waren verziert mit allerlei Gravuren, die vermutlich sogar eine Geschichte erzählen sollten. Möglicherweise die vom Aufstieg und Fall des Nekromanten oder es war nur eine weitere kleine Siegerehrung für Phillipe – keiner der Drei interessierte sich dafür. Viel wichtiger erschien ihnen, dass die Tür einen Spalt offen stand. Delilah hatte es ja angekündigt – sie wurden erwartet. Als sie sich zu dritt ins Innere drängten, wurde ihre eigene Fackel überflüssig.

Ein kreisrunder Raum mit einem Säulengang. Acht wuchtige Stelzen trugen das Tonnengewölbe der Kammer und verhinderten, dass die Tonnen von Erde und Geröll herabstürzen und den Sarg im Zentrum der Kammer völlig verschütten würden. Der Sarg selbst schien ebenso aus massivem Stein zu bestehen – und stellte im Moment den 'Thron' des Gesuchten dar.

Ashes' Iriden weiteten sich, als sie die Figur erkannte. Ein kräftiger, bulliger Körper, muskulös und trainiert. Er mochte um die vierzig Jahre alt sein, doch sie wusste aus sicheren Quellen, dass das bestenfalls der Anschein war. Er war älter. Viel viel älter. Sein kahler Schädel reflektierte hier und da scheinbar das Lichtspiel der Fackeln und er rührte sich nicht vom Fleck, saß nur dort auf der Grabplatte und wartete. Ashes registrierte die Axt neben ihm, offenkundig in Griffreichweite.

„Du kommst nicht allein?“ erklang die tiefe, basslastige Stimme des Fremden.

Sein Blick hielt Ashes fixiert, offenkundig gewillt, Orykenes und Delilahs Gegenwart völlig zu ignorieren. Die Anführerin des Dreigespanns nickte lediglich, statt große Reden zu schwingen. Man musste ein Dummkopf sein, jetzt und hier zu glauben, dass eine friedliche Einigung möglich wäre. Sie hatte von diesem Mann gehört. Er hatte Ärger gemacht... hier und dort war er aufgetaucht, manchmal, so munkelte man, war er nicht allein gewesen. Er tötete in der Regel ohne jede Skrupel, Mann, Frau, Alte, Kinder – es schien ihm alles völlig gleich zu sein. Auch zeichnete sich keinerlei Muster ab, keinerlei tiefgreifender Plan. Dann verschwand er. Selbst, wenn man ihm Wunden beibringen konnte – und er kämpfte angeblich mit allen gebotenen Mitteln, und das recht gut -, dann heilten sie in einer Weise, die für Menschen einfach nicht natürlich sein konnte.

„Du nennst dich Thorin, nicht wahr?“ erkundigte sie sich bei ihrem Gegner. Seine Mundwinkel zuckten einen Moment, ehe seine Hand sich ohne jede Hast auf den Griff der Axt legte. Er rutschte von der Sargplatte herab und musterte einen Moment ihre Begleitung.

„Das hatte ich zwar so nicht bestellt... aber ich denke, damit werde ich dennoch fertig.“ eröffnete er geradezu großmütig – und schon im nächsten Moment war er plötzlich verschwunden. Finsternis füllte die Kammer, als alle Fackeln abrupt erstarben. Ein Schaben erklang, Knarren, Krächzen – und die schwere Granittür schlug ins Schloss. Niemand hatte sie geschoben.

„Ceteus!“ rief Delilah in einem Moment der Erkenntnis aus. Phylia, die Göttin der Natur, hasste nichts mehr als die Untoten, doch wie ihr Vater und ihre Mutter und wie Mermerus persönlich war sie eine Feindin des Schatten.

Ein amüsiertes Lachen ertönte, als die erste Attacke erfolgte. Ashes konnte gerade noch ihr Schwert zur Abwehr empor reißen, ehe die Axt es ihr aus der Hand schlug. Ein kräftiger Tritt gegen ihren Brustpanzer und die Elbe flog zu Boden – ohne ihren Feind auch nur gesehen zu haben. Er war nicht hier, nicht greifbar, besaß nur einen Körper, wenn er das wollte. Die Schatten waren seine Heimat geworden, sein Versteck, seine Waffe. Und Ashes begriff, dass er mit ihnen spielte. Er hatte all die Bellatoren dort oben abgeschlachtet, mühelos, weil es Nacht war. Keine Lichtquellen. Hier drinnen war es noch dunkler – und er tötete sie nicht einfach. Er spielte.

Wut kroch in der Elbe empor. „Festnageln!“ rief sie mit vor Zorn zitternder Stimme aus. Ein altbekannter Befehl. Die Harpyie stieß ihren Kriegsschrei aus, während Elbe und Hüterin sich die Ohren zuhielten. Ein schrilles Gellen, das von den Wänden zurückgeworfen wurde. Mitten aus den Schatten heraus stolperte der kahlköpfige Ceteusdiener zurück, unfähig, diesem Schmerz zu entgehen und kaum, dass Orykene ihren Schrei abbrach, schoss Delilahs Hand empor. Sie erkannte schwach die Umrisse des Feindes und binnen Sekunden brachen Ranken aus dem Boden. Tödliches Gift an den Dornen tragend, wanden sie sich seine Haut aufkratzend um Thorins Arme und Beine, doch der Krieger lachte nur schallend, als Ashes zudem mit dem Schwert auf ihn zu kam. Noch bevor sie ihren Hieb ausführen konnte, zerstob der Körper des Mannes in die Schatten und die Ranken fielen ziellos zu Boden.

Sekundenbruchteile vergingen, dann begann der Gegenangriff. Orykene wurde wuchtig getroffen, ein tritt in die Kniekehle ließ sie einbrechen, ein Schlag mit der Stirn raubte ihr jede Orientierung und ein letzter Kinnhaken beförderte die Harpyie völlig zu Boden. Sekundenbruchteile, in denen Delilah nicht zu reagieren fähig war, ehe auch sie übel einstecken musste. Zu Ashes' Zorn mischte sich immer mehr Verzweiflung. Sie waren geliefert, sie würden hier unten draufgehen und niemanden würde es interessieren, ihr Plan würde scheitern und all die Jahre waren umsonst.

Doch alle Wut half ihr nicht. Sie schlug um sich, sie versuchte zu blocken, doch als hätte er jeden Zug schon vorhergesehen, trafen Thorins Attacken präzise die Lücken in ihrer Verteidigung und schickten auch die Elbe zu Boden. Keiner seiner Gegner war tot – aber es war fraglich, wie viele dieser Runden sie überstehen konnten.

Dann jedoch... wandelte sich das Blatt. Es begann mit dem schweren Geräusch eines Aufstampfens, das direkt vor den Granittoren verebbte.

„Kopf einziehen!“ brüllte die Elbe noch, dann surrten auch schon zig Granitsplitter Geschossen gleich durch die Luft. Etwas brach durch den Eingang der Kammer – und zwar nicht gerade zimperlich. Ein fürchterlicher Lärm brach sich Bahn, als etwas wieder und wieder gegen das Tor schlug – bis es berstend nachgab und Trümmer in der Größe eines Kindes durch den Raum flogen. Durch den Einbruch aber schritt etwas, das der meisterhaften Schmiedekunst Garwinns entsprungen war. Seinem Amboss war dieses Ding entwachsen... und Alistairs skurrilen Ideen.

„Raus hier!“ tönte die Stimme des Diebes. Schon im nächsten Moment drehte sich das Konstrukt in der Größe der Golems um einige Grad nach links und ein ohrenbetäubendes Fauchen setzte ein. Eine Ladung einer Flüssigkeit verteilte sich im Raum. Ein Rezept der Goblins – und hochgradig entzündlich. Der Flammenwerfer verteilte das Gemisch auf den Wänden, den Säulen, dem Sarg, überall war plötzlich Licht vom sich ausbreitenden Brand. Thorin besaß immer weniger Rückzugsorte und sprang aus den Schatten hervor. Kaum entdeckt, fuhr die übergroße hydraulische Kralle, unter der sich Alistairs verstümmelter Arm befand, empor und warf einen kleinen Sprengkörper. Die Detonation erschütterte die Kammer, ließ Staub und Erde von der Decke rieseln, doch der Feind entkam wieder in die Schatten. Die Situation hatte sich für ihn mehr als unschön entwickelt und nun war Thorin es, der um sein Überleben kämpfen musste.

Eben dieser Kampf fand sein Ende, als Orykene sich trotz des betäubenden Geruches zu Alistairs Konstrukt begab und tief Luft einsog. Ihr wurde schwindlig vom Geruch der Chemikalien, doch es reichte, um ein weiteres Mal ihren Schrei zu entfesseln. Alistair, der zur Gänze in dem Anzug aus Metall, Mechanik und Hydraulik verborgen war, wurde davon nicht beeinflusst – aber Thorin stürzte erneut aus den Schatten und die Granate, die der Dieb diesmal warf, zerschmetterte den Sarg... und begrub den Krieger unter tonnenschweren Granitteilen.

Das Konstrukt setzte sich in Bewegung, stampfte ungerührt durch die Trümmer und Flammen – und barg aus einem Splitter der Sargplatte etwas, das er hinaus trug. Außerhalb der Kammer ließ er es Ashes zukommen.

„Krone?“ fragte Delilah irritiert und deutete auf das runde Stück Metall. Ein Tiger war als Emblem eingearbeitet worden – und Ashes begriff, was sie vor sich hatte. Eine Möglichkeit, die Heerscharen an Golems, die in diesem Gewölbe versteckt worden waren, zu beherrschen.

„Was ist mit ihm?“ verlangte die Elbe zu wissen und deutete über ihre Schulter.

„Tot.“ erwiderte Alistair zufrieden. Natürlich würde er sich trotzdem mit Ashes streiten müssen, hatte sie ihm doch verbieten wollen, dieses Ding zu besteigen und sein Leben zu riskieren. Er war schließlich kein Kämpfer – aber die schiere Feuerkraft des Konstruks hatte ihm, so glaubte er, ein gewichtiges Argument in die Hände gespielt.
 

Während das vierköpfige Gespann davon zog, erstarben nach und nach die Flammen in der Grabkammer. Eine zierliche, kleine Gestalt schälte sich aus den Schatten hinter einer der Säulen. Sie störte sich nicht an der Hitze, die die Steine des Bodens noch immer ausstrahlten. Wichtig war jetzt nur eines...

Barfuß schlich sie sich zielsicher schreitend an den Trümmern vorbei und nahm der längst verfallenen Leiche des toten Nekromanten einen Stein aus der kalten Grabesklaue. Ein schwarzer Diamant, wundervoll geschliffen, sehr kostbar und an einer Seite zugespitzt. Mit dem Stück begab sie sich zu der zerschmetterten Gestalt, die noch immer reg- und leblos unter Teilen der Grabplatte verborgen lag.

Langsam senkte sie sich herab, setzte die Spitze des Diamanten über seiner Brust auf das Fleisch und flüsterte etwas. Zufrieden beobachtete sie, wie der Diamant ein Eigenleben entwickelte, sich tief in Thorins Brust hinein schraubte und dort ersetzte, was einstmals sein Herz gewesen. Neues Leben kam in den Körper und der Krieger begann, sich aus den Trümmern frei zu schälen.

„Wir sind hier fertig. Spute dich... wir haben noch viel vor.“ frohlockte Ninafers samtene, gleichmütige Stimme, ehe sie sich erhob. Dann kehrte Stille ein – und die Grabkammer verwaiste.

Die Sünden der Ahnen

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Verhältnisse

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Die fünfte Front

Schritte, die in einem Raum ihr Echo warfen. Gewaltig war die Halle, hob sich dem Himmel entgegen, als wollte sie den Gesetzen der Natur spotten. Schaut, ich erwachse bis in eure Sphären – ein Frevel gegen die alten Götter, hätte mancher wohl gar dazu gesagt. Getragen von gewaltigen Säulen, bot ihre Decke hoch droben eine kleine, kreisrunde Aussparung. Mit etwas Mühe konnte man die Sterne sehen, doch ihr Licht und matter Schein schnitten sich mit den Fackelkränzen. Ein Eisenring umlagerte jede Säule auf Kopfhöhe, trug vier Pechfackeln, die unablässig loderten. So viel Licht und doch schien es kaum in alle Ecken dringen zu können. Mehr noch, war es fast so, als würde es verzweifelt um sein eigenes Überleben kämpfen müssen.

Er sprach kein Wort. Wozu auch. Sie waren bis hierher gekommen, sie hatten so viel verloren, es war so viel schief gegangen – die Zeit der Worte war vorbei. Vor ihnen lag ihr Ziel und keiner von beiden wusste, worum es sich dabei überhaupt handelte. Doch dies war die Zentrale, der Konvergenzpunkt, der Kern. Hier würde es Antworten geben. Mindestens.

Ein Kichern ertönte, hell, fast mädchenhaft. Die Schritte verstummten, hielten inne. Beide sahen einander an, entschlossen. Hier war jemand – und wer immer hier war, konnte wohl kein Freund sein.

„Siehst du,“ setzte eine helle, vergnügt wirkende Stimme an, „mit den meisten Lebewesen ist es ganz einfach. Man schlingt ihnen ein paar Fäden um die Glieder, zupft die richtigen Stricke und schon tanzen sie bereitwillig herum. Und oh schau nur – wir haben Gäste.“

Nur mit Mühe konnte er seinen Blick schärfen, konnte er gegen die Dunkelheit ankämpfen, die seinen Augen verweigern wollte, etwas zu erspähen. Doch es gelang ihm. Dort erhoben sich Stufen, flach, breit, bis hin zu einem Thron.

Die zierliche Gestalt einer Frau überschlug darauf ihre Beine und lächelte ihren Gästen zu.
 

Einen Mondzyklus zuvor.
 

Quälende Schreie. Drakimh vernahm sie wieder und wieder. Sie jagten ihm durch Mark und Bein, sie rissen ihn oft genug aus dem Schlaf, wieder und wieder und wieder. Ein Traum in einem Traum. Wie oft war er schon aufgewacht, ohne aufzuwachen? Er hörte sie und allein das war wichtig. Sie schrie um ihr Leben, sie schrie vor Qualen, vor Schmerzen, vor endloser Pein – aber allein, das sie schrie, bedeutete, dass sie noch lebte.

Er hatte sie schon so oft hier besucht. Hoch droben in diesem Zimmer. Er wusste nicht, warum es 'oben' war. Reine Intuition. Es fühlte sich hoch an. Fenster gab es hier keine. Nur eine einzige Tür, die er nie hatte öffnen können. Ein kreisrunder Raum, schnörkellos, leer – mit Ausnahme eines Altares, der auf einigen wenigen Stufen aufgelagert im Zentrum des Raumes stand.

Die Fackeln spendeten gerade genug Licht, um sie zu sehen. Wie schon unzählige Male stürzte er herbei, versuchte ihr zu helfen und wollte sich fast übergeben, als er ihren Zustand erkannte. Bisswunden am ganzen Leib, jemand hatte ihr die Wange aufgerissen, Fleischfetzen aus Armen und Beinen gezerrt. Ihre Bauchdecke war zerfetzt, ihre Innereien verteilten sich in einer Lache aus dickem Blut auf dem Altar, tropften leise vom Rand der Steinplatte auf die oberste Stufe.

Bei den Göttern, wie konnte sie noch leben?

Hilflos schlug die Brutmutter von Quentloas mit dem Flügel um sich. Der andere war taub, gefühllos – gebrochen. Federn segelten in erschreckend friedlichen Bahnen zu Boden, sie scharrte mit den Füßen über den Stein in dem verzweifelten Versuch, sich zu bewegen. Nicht einmal den Arm konnte sie heben, viel zu wenig Kraft floss noch in ihrem Körper. Sie konnte nur hier liegen und... leiden.

Welchen Sinn hatte das?

Er trat an den Altar heran. Drakimh spürte den Blick in seinem Rücken stechen. Jemand war hier, er wusste es. Unzählige Male hatte er diesen Traum geträumt, aber diesmal war es anders. Diesmal war er sich darüber im Klaren, dass er träumte! Diesmal... hatte er ein kleines Vermögen dafür ausgegeben, einen Schamanen zu kaufen und sich in diesen Traum führen zu lassen. Der Magier erinnerte sich an die Präsenz dieser anderen Figur. Der Schamane war es nicht – er saß zweifellos noch immer in seinem Zimmer, ging mit merkwürdig gutturalen Lauten seinem meditativen Gesang nach und hielt den Zauber aufrecht. Aber wann immer er sich früher umgedreht hatte, war die Präsenz verschwunden.

Nein – nicht verschwunden. Gewandert.

Sie befand sich in seinem Rücken, starrte ihn an – immer. Drehte er sich um, sprang sie zur anderen Raumseite. Er konnte sie nie erfassen, also versuchte er es auch dieses Mal gar nicht erst. Sollte er, sie, es, worum auch immer es sich dabei handeln mochte, doch seinen Spaß hieran haben. Er war nur aus einem Grund hier!

Drakimh schritt die Stufen empor, überwand Ekel, Angst und das nagende Gefühl der Verzweiflung. Wie lange litt sie schon so? Gab es eine Grenze, ab der Schmerzen einen Geist völlig zerrütten könnten? Er hatte einst die Bibliotheken seiner Akademie verschlungen, als sein freiwilliges Exil ihm genug Zeit dazu verschafft hatte, doch in den dortigen Werken stand nichts über... Folter.

Vorsichtig ergriffen seine schlanken Finger die klein wirkende Hand der Harpyie. Ihre Krallen schlossen sich fast abrupt darum. Sie wollte ihn nicht verletzen – aber die Krämpfe, die im Todeskampf ihren Körper schüttelten, waren schier unerträglich und zwangen sie dazu.

„Orykene... ich bin es!“ flüsterte er ihr leise zu. Ein trockenes Schlucken und die eigenen Befürchtungen hatte er bezwingen müssen, um diese einfachen Worte zu sprechen. Ihr Kopf wandte sich um und einen Moment erschrak der Magier noch mehr. Er wollte sich zügeln, er wollte ihr nicht zeigen, was er sah, nicht zeigen, wie er sich fühlte, was er empfand. Das halbe Gesicht hatte man ihr zerfetzt, ihr Ohr hing in kleinen Fleischstreifen herab.

Der Ausdruck ihrer Augen, als sie ihn erfasste, ließ ihn fast verzagen. Tiefste Verzweiflung, Schmerz und nur die vage Erkenntnis, wer er war. Sie rang mit allen Kräften um die Einigkeit ihres Geistes, mit bloßem Willen focht sie einen Kampf, den sie unmöglich gewinnen konnte. Aber sie erkannte ihn. „Drakimh...“ hauchte ihre Stimme so zittrig, dass er glaubte, sie würde jeden Moment von ihm scheiden. Doch selbst hier und jetzt, in ihrem Kampf um ihr Leben, schwang die Melodie ihres Volkes in jeder Silbe. Schwer und träge dieses Mal, doch sie existierte noch.

Er hatte sich nach diversen Verfehlungen im Hort ein Werk über Harpyien beschafft, nachgelesen, was ihm verloren gegangen war. Ein Absatz hatte besagt, dass der Verlust des eigenen Liedes für eine Herrin der Lüfte den Tod bedeutete. Sie wäre gestorben – unabhängig davon, ob sie noch atmete und sich bewegen konnte.

Drakimh beugte sich noch ein Stück herab, versuchte, seinen Blick auf ihre Augen gerichtet zu halten. Er wusste genau: Würde er jetzt zur Seite schauen, das chaotische, blutige Gewirr unterhalb ihrer Brüste sehen, würde er sich übergeben müssen. Und... dafür hatte er einfach nicht die Zeit. Das hier war wichtig, er konnte sich keine Fehler und Trödeleien erlauben, er musste es wissen.

„Orykene, höre mir gut zu, es ist sehr wichtig!... Wo bist du?“

Mit der Warnung mochte er sich beeilen, doch seine Frage sprach er aus, als müsse er jedes Wort einem Wesen beibringen, das die Sprachen der Menschen nicht kannte. Langsam, deutlich, betont. Es war wichtig. Bei den Göttern, zu wichtig – sie musste auf diese Frage antworten!

Unzählige Male hatte Drakimh diesen Traum erlebt und durchlitten. Er war sich anfangs sicher, dass es nur ein Alptraum war. Die Vergeistigung seiner Befürchtungen. Ein Spiegelbild seiner Ängste, hatte er sich inzwischen doch eingestanden, dass er zu viel für sie empfand. Aber der Traum kehrte wieder und wieder.

Es ließ sich nicht leugnen, dass etwas daran verstörend war, zu verstörend, um noch Teil eines gewöhnlichen Traumes zu sein. Da war mehr – das spürte er einfach. Bis zu diesem Traum hatte er nie begreifen können, ob es sich um den immer gleichen Ablauf handelte, oder ob er eine Art von Verbindung zu Orykene aufgebaut hatte. Letzteres fürchtete er nur umso mehr, denn ganz unabhängig davon, wie romantisch das klingen mochte, würde es bedeuten, dass sie wochenlang gelitten hatte, in seinen Träumen nach ihm rief, ihn um Hilfe angebettelt hatte – und er im festen Glauben, nur zu träumen, nichts unternommen hatte.

Ein Gedanke, den er kaum zu ertragen fähig war.

Er sah, wie die Muskeln der Brutmutter sich spannten, zu einem neuen, schmerzhaften Ziehen verkrampften. „Bleib bei mir, ich bitte dich!“ hauchte er ihr zu, spürte, wie ihm nun die eigene Stimme schwach wurde. Sie durfte einfach nicht sterben, oh Götter – er flehte zu ihnen, sie nicht sterben zu lassen. Die Harpyie dagegen hatte ihre Kräfte gesammelt, versuchte, sich einen Moment der Beherrschung und Kontrolle abzuringen. Sie zerrte Drakimh in einem völlig überraschenden Moment zu sich herab, vielleicht etwas zu unkontrolliert, etwas zu ruppig – und stieß mit ihrer Stirn gegen die Seine.

Ein Blitz zuckte vor seinen Augen umher, blendete ihn, ließ ihn ihre Hand loslassen. Er taumelte die Stufen zurück, verfehlte die Treppe, verlor das Gleichgewicht und stürzte gar. Ihre Klaue entglitt seiner Hand, er hörte sie von Schmerzen gepeinigt aufschreien und noch während er fiel, sah er es. Er sah eine Karte des Atolls von Lumiél, er sah eine feine, pechschwarze Linie durch das Land fahren, er sah, wo sie verebbte. Bilder schossen durch seine Gedanken wie der Bolzen von der Armbrust schnellt, gewaltige Mienen, abgetragener, schwarzer Stein auf unzähligen Karren, ächzende, schwitzende und geplagte Seelen, die zu Hunderten die Karren bewegten, die Steine abluden und aufschichteten zu...

Das letzte Bild war schlichtweg Ehrfurcht gebietend.

Eine Festung ragte vor ihm auf. Er glaubte, das Gras unter seinen Schuhen spüren zu können, die Luft, die als Fallwinde von den Mauern herab strich und sein Blick glitt an diesem Monstrum empor. Hohe Türme ragten wie spitze Zähne aus dem Bauwerk unzähliger Sklavenarbeiter auf. Blanker, schwarzer Obsidian, vollkommen glatt, lückenlos – als hätte es die einzelnen Steinquader nie gegeben.

Es gab keine Wachen.

Dann schlug er auf dem Boden des Raumes auf, das Bild, alle Bilder, zerstoben zu einem Funkenregen, Schmerz rührte sich in seinem Kopf, zu groß, als das der Traum ihn hätte verkraften können – und Drakimh sah Orykene und den Raum zerbrechen wie einen Spiegel, der am Boden aufkam.
 

Der Lichtmagier schreckte empor von einem kleinen Lager. Weiches Leder, gut verarbeitet – er erspürte diese Qualität sofort unter seinen Fingern, umschloss die Matte, als würde er sich an die Realität klammern müssen, als würde er sich erst davon überzeugen wollen, dass er tatsächlich wach war.

Sein Blick flirrte, glitt umher. Zeltwände, eine kleine Feuerstelle draußen in der Nacht, sandiger Boden. Seine Erinnerungen kehrten zurück, vernebelten in ihrem chaotischen Zustand einen Moment lang seine Sicht und ließen ihn nichts erkennen, bis der Magier sich damit abgefunden hatte, verzaubert worden zu sein. Dann gewahrte er des Drakoiden.

Das Lager war klein, geradezu winzig. Auch ihr Volk hatte in den letzten Jahren schwer leiden müssen. Solch große Horden der Zentauren verlangten schließlich viel Nahrung und da waren ihnen irgendwann selbst die übergroßen Echsen recht gewesen. Natürlich gab es eine Zentaurenplage längst nicht mehr in diesem Umfang. Seit die Harpyien von Quentloas eine neue, magiefähige Generation von Jägerinnen hervorgebracht hatten, war die Waagschale im Kräftegleichgewicht erneut gekippt. Eine der Ihren konnte es mit einem Dutzend Zentauren aufnehmen – und sie wichen dennoch nicht von ihrer Taktik, die Jägerinnen immer zu dritt zu entsenden. Die Jagdtrupps der Pferdemänner hatten vom ersten Ausflug der neuen Brut an keine Chance mehr, lebendig zurückzukehren – und auf dem nunmehr prall gefüllten Speiseplan der Jägerinnen fand sich Zentaurenfleisch wieder.

„Hassst tu, wasss tu sssuchssst?“ erkundigte sich das Weibchen. Es war nach wie vor befremdlich, wie ihre gespaltene, schlangenartige Zunge bei jedem Wort hervor schnellte. Sie nahm Luft und Witterung auf, das war ihm klar, sie versuchte allein über den Schweiß und Körpergeruch bereits ihre Antworten zu bekommen. Drakoiden besaßen die feinsten Geruchssinne der bekannten Völker, sie konnten sogar Angst riechen. Doch das Gemisch, das Drakimh ihr gegenwärtig entgegen schlug, war zu vielfältig.

„Ich will erneut mit deinem Anführer verhandeln!“ erbat der Lichtmagier bestimmt und erhob sich. Sie hatte ihn gerade noch warnen wollen, doch er reagierte zu rasch – kam ins Taumeln und ließ sich allzu bereitwillig wieder auf sein Lager fallen.

Die Verhandlungen mit einem ganzen Stamm waren schwierig. Die Drakoiden besaßen ein gutes Verständnis für Tauschhandel – etwas, das dem Magier wiederum völlig fremd war, da er als Mensch sich schon viel zu sehr an den Gebrauch der Münzen gewöhnt hatte. Mit den zwei Harpyien, die ihn hierher begleitet hatten, dem Stammesführer und zwei seiner Gefolgsleute saßen sie am Feuer und handelten einen neuen Vertrag aus. Hatte Drakimh für die Hilfe der Drakoidenschamanin zahlreiche Vorräte angeboten und auch bereits übergeben, so wurde dieses Bündnis nun erweitert.

Ihr Volk war klein und von den letzten Jahren zu geschwächt – jedes Mitglied, das zur Paarung fähig war, war eine kleine Kostbarkeit... und Drakimh verlangte, dass die Schamanin ihn auf seiner Reise begleiten möge. Die Harpyien dagegen waren in einer durchaus überlegenen Situation. Sie hätten den ganzen Stamm auslöschen und die Schamanin gefangen nehmen können, doch der Magier bemühte sich, ihren Blutdurst und ihre starren, von Gewalt geprägten Denkmuster in Schach zu halten. In Zeiten wie diesen mussten alle Völker, die dazu noch fähig waren, zusammen halten und eine geschlossene Front errichten.

Unter dem Widerwillen der Schwestern gestanden die Harpyien den Drakoiden zu, keine der Ihren zu jagen und zu töten, ihnen Zutritt zu den sieben inzwischen erbeuteten Wasserquellen zu gewähren und sie an großen Beutezügen teilhaben zu lassen. So – befand Drakimh stolz – schmiedete man Allianzen!

Obgleich die Verhandlungen die ganze Nacht andauerten, erwies sich sein durchaus vernünftiges und zugleich charmantes Gemüt als überaus vorteilhaft. Er vermochte die Harpyien zu zügeln und den Drakoiden ihre übersteigerten Forderungen auszutreiben, ohne eine der zwei Parteien zu verprellen. Immerhin war auch er nur mehr oder minder Gast in Quentloas und besaß nur Weisungsrechte, weil Orykene sie ihm eingeräumt hatte.

Der Gedanke an die Brutmutter ließ ihn einen Augenblick wieder in Sorge versinken. Er war sich noch immer nicht darüber im Klaren, ob er immer den selben Traum hatte, oder ob sie schon seit Wochen in diesem Todeskampf litt. Wenn dem so war, wurde er irgendwie künstlich aufrecht erhalten. Zweifellos war diese Präsenz, die er verspürt hatte, maßgeblich dafür verantwortlich – doch welche Macht war groß genug, um Ereshkigal über einen so langen Zeitraum von einer gequälten Seele fern zu halten?

Er würde es herausfinden.

Am folgenden Morgen zogen die Harpyien seiner Weisung folgend nach Quentloas zurück. Allein ihr Ehrgefühl, das wusste der Magier, verbot ihnen, das geschlossene Bündnis zu brechen. Und die Drakoiden waren unzählige kleine Stämme in den Wüsten, es würde dauern, ehe die Kunde dieses Vertrages sich verbreitet hätte. Es würde dauern, ehe sie auch nur die Chance bekämen, einander Probleme und Krisen zu bescheren.

Er dagegen hatte ein Ziel – und erste Gefährtinnen auf dieser Reise. Zzschra'Ak, so stellte sich die Schamanin vor, würde ihn nicht allein begleiten. Wie sich zeigte, behütete und schützte ihr Stamm ein Wesen, das möglicherweise einstmals ein Mensch war. Drakimh hatte weder einen guten, noch einen langen Blick auf ihr Gesicht werfen können, doch die Frau, die sich als Aulet vorstellte, schien von Magie nur so durchdrungen zu sein. Ein Fluch zweifellos, beschied der Magier gedanklich und hegte durchaus einen Moment Mitleid mit diesem Wesen. Möglicherweise war sie einst ein normales Weib, ein Mensch gewiss, vielleicht sogar überaus ansehnlich. Doch der Fluch hatte sie entstellt. Katzenhafte, gelbe Augen, zu vertikalen Schlitzen geformt, Schuppen, die jede sichtbare Stelle ihrer Haut bedeckten und auch den Schluss nahe legten, dass es sich an den nicht sichtbaren Stellen kaum anders verhalten würde. Zudem waren ihre Finger zu leichten Krallen geformt, nicht annähernd mit denen der Harpyien vergleichbar, wohl aber spitz und scharf genug, um als Waffen durchzugehen. Anders als Zzschra'Ak erwies sich Aulet nicht als Freundin von Magie und Schamanenstäben. Sie stand unter der Obhut der Drakoiden, weil kein anderes Volk sie zu dulden gewillt war, doch die Wahl ihrer Waffen zeugte nur zu sehr von ihrer Herkunft: Sie trug ein altes Schwert und eine Armbrust bei sich.

„Wir reisen nach Samara. Es bedeutet für uns keinen großen Umweg.“ erklärte der Magier am Morgen des Aufbruches und erntete fragende Blicke. Warum er überhaupt einen Umweg einschlug, wollte Aulet wissen. Ihre Stimme besorgte den Magier – sie wirkte so kalt, als besäße sie nicht einmal eine Vorstellung davon, was Mitleid und Skrupel bedeuteten. Doch andererseits war es wohl besser, eine solche Figur auf der eigenen Seite zu wissen. Obwohl das dann wohl auch hieße, dass er sie stets in seinem Rücken hätte...

Er versuchte sich darüber möglichst wenig Gedanken zu machen und wimmelte ihre Fragen mit zwar guten, aber eben ausweichenden Antworten ab. Er hatte diese Aktion nicht geplant, wahrlich – und wieder einmal bewies sich das als recht unpraktisch. Aber er hatte... nun... Gerüchte gehört. In Samara, sollte man diesem Waschweibergeschwätz glauben, gab es Rebellen, die der Stadtwache trotzten und schon so manchen stattlichen Sieg eingefahren hatten. Vielleicht würde er dort die nötige Hilfe finden, diese Festung zu stürmen, die sich in der Nähe des alten Nephilim aus dem Boden erhob.

Wachen hatte er in seinem Traum keine gesehen, sicherlich, aber weder wollte er sich auf diese Informationen verlassen, noch war es ihm geheuer, ein solches Bauwerk mit nur zwei Verbündeten zu betreten. Wenn hunderte Menschen daran arbeiteten, musste es auch viele geben, die sie überwachten und an der Flucht hinderten.

Nephilim dagegen war für ein solches Vorhaben zweifellos perfekt geeignet. Ammarath, Jegurath, Xeranor, Lithlad und sogar Kaderalith verband in diesen Tagen nur noch eines: Sie waren einstmals Siedlungen der Elben gewesen und glichen nun gewaltigen Geisterstädten. Dazu musste es nicht Nacht sein – allein die Totenstille, die sich über die einstmaligen Metropolen der Elrim gelegt hatte, war bedrückend und unheimlich. Niemand wagte sich dieser Tage noch dorthin, es gab... Gerüchte über Geister, dunkle Wesen und grausame Schicksale. Angeblich kroch noch so mancher Elrim als Untoter, Verfluchter oder geplagte Seele zwischen den leeren Häusern herum, auf der Suche nach all den Dingen, die sein Volk in den Kämpfen verloren hatte. Der Untergang der Elben in Lumiél hatte bewiesen, dass es keine Macht zu geben schien, die sich Phillipe dem Dritten, Gottkönig des Landes, entgegen stellen könnte.

Nun – und doch hatten es ein paar geschafft, nicht wahr? Aber die Grausamkeit und konsequente Brutalität, mit der die Hohen verfolgt und deportiert worden waren, sprach für sich. Niemand wusste, was mit den Elben eigentlich geschehen war. Viele starben bei der Erstürmung, bei den Verteidigungen ihrer Städte und Häuser. Der Rest... verschwand. Auf Schiffe nach Übersee, wie manche sagten. Zu den Sklavenhändlern. Oder in die Hände der Drow, die ihre einstigen Brüder für ihren Hochmut zu Tode foltern wollten. Manche sagten auch, sie seien einfach verschwunden. In Massengräbern verscharrt oder ins Meer geworfen.

Schicksale, über die man besser nicht zu lange nachdachte. Drakimh hielt es ebenso und versuchte zu verdrängen, wohin die Reise ihn unweigerlich führen würde. Er wollte sich die gute Laune davon nicht verderben lassen, immerhin reiste er in Gesellschaft zweier Damen – auch wenn beide ein wenig schuppiger waren, als es für seinen Geschmack förderlich war.

Die Reise nach Samara brauchte seine Zeit, doch Zzschra'Ak erwies sich als geschickte Führerin durch die Wüsten und Aulet, bei den Göttern, zeigte ein unglaubliches Talent mit der Armbrust. Auf Reichweiten, auf die ein solches Gerät schon gar nicht mehr funktionieren sollte, hätte sie wohl einen Käfer noch mit ihrem Bolzen getroffen! Vielleicht war das einer der wenigen, positiven Nebeneffekte des Fluches, Drakimh wusste es nicht zu sagen. Aulet schwieg die meiste Zeit. Sie folgte ausschließlich den Anweisungen der Schamanin und selbst, wenn sie Worte von sich gab, dann meist in einem leisen Flüsterton – und nie an ihn gerichtet.

Ein klein wenig bedauerte er diesen Umstand. Nicht, dass er mit ihnen ein Liedchen hätte trällern wollen, aber so wurde die Reise doch wesentlich anstrengender und ermüdender, als er zunächst erwartet hatte.

Bereits auf dem Weg in die Grünlandebene trafen sie genug Reisende und Händler. Hier kamen Drakimhs Münzen widerum zum Einsatz. In nicht zu knappem Maße obendrein – er bezahlte für Informationen und die waren dieser Tage besonders teuer, musste man doch immer darauf achten, wem man was sagte und wer möglicherweise mithörte. Sie streiften einige kleine Dörfer, hielten sich aber meist abseits der Wege. Die Drakoiden waren noch immer ein unbekanntes Volk und ihr Anblick, wenn sie durch die Gassen einer fremden Stadt streifen und ein Gasthaus betreten würden, wäre zweifellos für so manchen überaus verstörend. So kam es, dass selbst der Magier wider seiner Bitten und Gesuche im Lager der beiden Damen nächtigen und damit einer guten Matratze und einer Gasthofsmahlzeit entbehren musste. Er besuchte die Dörfer, frischte die Vorräte auf und zog sich wieder zurück, doch diese wenigen Ausflüge waren fast eine Wohltat.

Menschen um sich zu haben, die zu lächeln fähig waren, die mit ihm sprachen, Witze machten, handelten, redeten – Gesellschaft. Es fühlte sich fast an, als hätte er sich für ein paar Stunden ein Stück Normalität kaufen können. Mit jeder Rückkehr wurde ihm dagegen bewusst, weshalb er überhaupt unterwegs war.

Als wenn die Nächte das nicht schon deutlich machen würden.

Drakimh erfuhr in dieser Zeit so Manches über Samara und die Rebellen. Allerlei kurioseste Gerüchte hörte er, über die Zerstörung einer ganzen Stadt, über eine Plage von Untoten, Unruhe im Gewässer des Sonnensees. Doch meist waren es kronloyale Kräfte, die davon berichteten und nicht zuletzt deswegen zweifelte er doch sehr am Wahrheitsgehalt dieser Aussagen. Phillipe war vielleicht kein sonderlich angenehmer Geselle, doch er war wohl auch nicht wahnsinnig genug, ganz Samara in Schutt und Asche zu legen, nur um ein paar Aufständische zu zermürben. Obendrein wollten die Untoten so gar nicht in diese Geschichten passen, befand der Lichtmagier.
 

Vor zwei Wochen.
 

Es gab durchaus diese Momente, in denen der Magier verfluchte. Manchmal seine eigene Schusseligkeit, manchmal sein vorschnelles Mundwerk oder auch nur, dass er nie ordentliche Pläne zu fassen fähig schien. Wobei er natürlich durchaus fähig war, es fehlte ihm nur an... der Einsicht, dass ein guter Plan einem zumindest einen Teil des Tages erleichtern, wenn nicht sogar retten konnte.

Als er mit Aulet und Zzschra'Ak die Ausläufer Samaras erreichte, bemerkte er nicht sofort, wie leer die Höfe und Äcker waren. Ihm fiel das Fehlen des Viehs auf den Weideflächen nicht auf und die Stille auch nicht, die sich über das Umland gelegt hatte. Die Drakoide dagegen bemerkte es zwar, doch statt den Magier davon zu unterrichten, schürte sie in der Vermutung von Überfällen und Angriffen die eigene Wachsamkeit und hielt Aulet mit wenigen, gezischelten Lauten ihrer Sprache zur gleichen Sache an.

„Oh Götter...“ kroch es atemlos aus der Kehle des Magiers, als sie die sanft geschwungene Hügelkette im Süden der Stadt erreichten und ihren Kamm bestiegen hatten. Sein Blick glitt voller Unglauben über den Anblick, der sich ihm bot. Ausgebrannte Viertel, Verwüstungen solcher Ausmaße, dass man sie mit bloßem Auge von hier aus erblicken konnte. Unruhen gab es keine mehr... nur eisiges Schweigen. Wie in einer Grabkammer.

Zerstörte Karren blockierten Straßen, Leichen dagegen fand man keine. Es schien keine Ratten zu geben, keine Vögel, keine Hunde, nicht einmal wilde Wölfe, die nach Aas suchten. Es gab einfach... nichts. Die ganze Stadt war ein Friedhof geworden und mit Schrecken sah der Magier alle Gerüchte und Erzählungen bestätigt.

Samara war restlos zerstört worden.

Die größte Stadt Lumiéls – vernichtet. Dem Wahn eines Puppengesichts von König anheim gefallen. Längst hatte der Lichtmagier in Erfahrung gebracht, dass seine Eltern nicht mehr hier waren. Man hatte sie deportiert. Er jagte zwar ihrer Spur noch immer nach, doch das kostete Zeit und Ressourcen. Sie waren aber nicht hier gewesen, als... das geschah. Einerseits mochte es ihn beruhigen, doch es schmerzte ihm tief in der Brust, zu sehen, was aus seiner Heimat geworden war. Er kannte manche der Läden und Geschäfte, die sein Blick streifte, als ihr Weg sie durch die Gassen führte.

Zerbrochene Fensterläden, eingeschlagene Türen, zersprungene Gläser in den Fenstern. Umgeworfene Stühle, die teilweise sogar samt zerborstener Tische bis auf die Straßen hinaus verteilt lagen. Tischdecken, die mit Blutsprenklern aus den offenstehenden Fenstern hingen. Verfaultes Obst, das am Rinnsteig sich verflüssigte und nur noch eine klebrig-breiige Masse abgab. Was immer hier geschehen war, hatte die Stadt schnell und sehr kraftvoll getroffen. Es konnte sich zweifellos nur um Kräfte handeln, die solche Schäden binnen weniger Tage anzurichten fähig waren, sonst hätte es zweifellos weit mehr Überlebende gegeben. Doch genau das wollte man wohl nicht.

Wie würde es mit Lumiél weiter gehen? Gewiss, Sundergrad war das Handelszentrum des Landes, wenn es um den externen Verkehr ging. Waren wurden eingeschifft, verladen, abgeschickt. Doch Samara hatte immer den großen Markt des inländischen Handels dargestellt. Wenn ein Schmied aus Norwingen Erz brauchte, kaufte er es hier. Wenn ein Ganove aus Herothing einen guten Dolch wollte, kaufte er ihn hier. Wenn seine Majestät neues Klopapier aus Samt und Seide wollte, kauften seine Diener es hier!

Schwermut legte sich über Drakimhs Gemüt und machte es ihm mehr als nur schwer, sein charmantes Wesen und seine Freundlichkeit zu bewahren. Er war fassungslos über die Zerstörung, die sich ihm hier offenbarte und begann aufrichtig zu zweifeln, ob er noch finden würde, was er suchte. Von seinen Kontakten und den Bestochenen hatte er genug erfahren. In den Kanälen unter der Stadt gab es Kammern, eine silberhaarige Elbe mit einem Auge führte diesen Widerstand an, sie nannte sich Ashes.

Ungewöhnlich für eine Elbe, aber konnte man den Informationen trauen, dann war diese Frau durch und durch ungewöhnlich. Von eher breitem Bau, keineswegs am Singen und Tanzen interessiert, aber eine grandiose Kriegerin. Drakimh schöpfte Hoffnung, dass eine Frau wie sie dieses Chaos überlebt haben könnte und trieb seine Schritte zu neuer Eile voran. Wenn dem so war, dann mussten sie sie zügig finden und falls nicht... nun, dann war es wohl besser, früher Gewissheit darüber zu haben als später.

Sie drangen durch einen Kanaldeckel in die Kammern ein und hatten großes Glück, an der nordwestlichen Seite eingedrungen zu sein. Nicht nur, weil die Wellen der Untoten hier sämtliche Fallen bereits ausgelöst hatten, die es auszulösen gab.

Süßlicher Geruch, schwer und dumpf hing er in der Luft und ließ Zzschra'Ak etwas, das nach Galle aussah, auf den Boden speien. Für ihre Geruchssinne war dieser bestialische Gestank die reinste Beleidigung, sodass sie und Aulet es vorzogen, gänzlich außerhalb zu bleiben und oben zu warten. Wohl fühlte sich Drakimh damit nicht, aber wie hatte Aulet es so schön in ihren ersten, direkt an ihn gerichteten Worten gesagt? „Die Stadt ist tot – was soll euch hier schon angreifen?“

Drakimh hatte Mitleid mit den zahllosen Lebewesen, die wohl einstmals die Basis für diese Untoten gegeben hatten. Viele sahen aus, als könnten sie selbst einst Bürger der Stadt gewesen sein. Vielleicht eine Seuche, möglicherweise sogar magischen Ursprunges. Ihre Kadaver lagen in den Gängen verstreut, bildeten kleine Berge, hingen in Stacheldrahtseilen und ruhten in obskuren Posen auf aus dem Boden geschossenen Pfählen. Allein der Ekel des Lichtmagiers sorgte dafür, dass er sich so behände wie möglich zwischen den Leichen hindurch schlängelte, bemüht, sowohl die klebrigen Lachen alten Blutes zu umgehen, als auch, keinerlei Kontakt zwischen den Toten und sich herzustellen.

Die zwei kleinen Lichtkugeln, die dabei beständig herum schwirrten, spendeten ihm genug Licht, um sich auch ohne Fackeln zurecht zu finden.

„Wenn ich doch nur wüsste, wo ich eigentlich bin!“ fluchte Drakimh leise – und plötzlich schoss etwas aus der Dunkelheit hervor. Eine Klinge legte sich an seinen Hals und schon als er das scharfe, kalte Metall spürte, verharrte er wie zur Säule erstarrt.

„Am falschen Ort, würde ich meinen.“ knurrte ihn eine Stimme an – und aus der Finsternis hinter einer Abzweigung trat jemand hervor. Drakimh erkannte ihre Gestalt sofort. Ashes, zweifellos. Silberne Haare, lang – wenn auch aktuell sehr zerzaust und verdreckt. Ihre Augen besaßen einen eigentümlichen Farbton, der sie schon als Elbe auszeichnete, noch bevor man ihre Ohren hätte erspähen können. Sie wirkte geschwächt, ein wenig untersetzt und doch glommen Zorn und Argwohn in ihren Augen.

„Mylady, wenn ich mich vorstellen dürfte, ich bin-“ setzte Drakimh so freundlich wie ihm möglich an, um gegen das Misstrauen der Kriegerin vorzugehen. Doch Ashes gab ihm gar nicht die Gelegenheit, sich zu erklären.

„Was willst du hier?“ verlangte sie harsch. Drakimh versuchte, rein einer Geste halber, die Klinge von seinem Hals zu schieben, doch schon als er die Finger sanft gegen das Metall legte, schob Ashes ihm das Schwert noch dichter an die Kehle und presste ihn gegen die Wand. Offenkundig waren Geduld und gute Manieren tatsächlich keine ihrer Stärken.

„Ich suche eine große Kriegerin, ihr Name ist Ashes.“ erwiderte der Lichtmagier so gut es die Klinge zuließ. Die Elbe jedoch überging sein Kompliment völlig, was ihm durchaus einen Moment der Resignation entlockte. Stattdessen verlangte sie zu wissen, was er von dieser Ashes denn nun wolle. Es war mehr als deutlich, dass sie von recht... nun, geradliniger, direkter Natur war.

„Ich brauche ihre Hilfe bei der Befreiung einer...“ Nun – was war Orykene denn eigentlich für ihn? Er hatte hin und wieder versucht, sich diese Frage aus gegebenem Anlass zu beantworten, doch war er nie zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen. „... einer Freundin.“

„Ashes hat eigene Probleme. Geh und löse die Deinen allein.“ blaffte ihn die Elbe an, zog die Klinge nach einem eindringlichen Blick von seiner Kehle und wandte sich brüsk ab. Bei den Göttern, einen Moment hielt er sie zwar für gemeingefährlich, aber er konnte nicht abstreiten, dass ihr Auftreten ihm durchaus imponierte – und es war mehr als eindeutig, dass sie genau die war, die er suchte. Sie besaß diese... Stärke.

Ungeachtet ihres Befehls und der darin verborgen liegenden, indirekten Warnung hastete der Magier nach einem Moment des Durchatmens der Elbe nach und noch während er sich über den Hals rieb, begann er auf sie einzureden. Er erklärte ihr alles. Begonnen bei seinem Exil, den Briefen seiner Eltern, seiner Rückreise nach Sundergrad, der Gefangennahme. Kurz glaubte er, sie würde an dieser Stelle hellhörig werden, ihr Schritt verlangsamte sich einen Augenblick, doch dann... zog sie ungerührt weiter. Ihr Murren dagegen gab ihm dezent immer wieder zu verstehen, wie wenig Nerv sie für eine farbenprächtigen Ausführungen hatte – und wie kurz ihre Zündschnur war, sollte er es nur übertreiben.

Dann kam er auf die Träume zu sprechen, auf die Hilferufe der Harpyie und einen Versuch, mit der Drakoidenschamanin zu ergründen, wo sich die Brutmutter befände.

Ab dieser Stelle war er sich sogar sicher: Er hatte ihr Interesse geweckt. Ashes blieb stehen, packte ihn an der Schulter und drückte ihn abermals gegen die Wand. Sie funkelte ihn an, fragend, bohrend. Es war überaus unangenehm, einen solchen Blick auf sich zu spüren, doch er wagte keinen Widerstand zu leisten. Er hätte sie zwar bezwingen können, daran gab es keinen Zweifel, aber er war ja nicht hier, um sich Feinde zu machen oder gar seiner wahnsinnigen Majestät in die Hände zu spielen.

„Du kennst also Orykene und weißt, wo sie ist?“ hakte Ashes nach. Drakimh stutzte einen Moment. Nicht nur, dass ihm nicht klar war, dass die Brutmutter ihrerseits mit der Elbe vertraut war – diese fasste seine weitschweifigen Erzählungen auch noch in einem einzigen Satz zusammen, der, wie er zu seinem Leidwesen eingestehen musste, den Kern tatsächlich präzise umriss.

Er nickte, wurde daraufhin von der Elbe von der Wand gezogen und nunmehr fast wie eine Art Gefangener vor ihr her gestoßen, bis sie durch einen Torbogen in eine kleine Kammer schritten. Was sich hier versammelt hatte, war zweifellos der kläglichste Haufen, den der Lichtmagier je gesehen hatte.

Eine Hand voll Männer und Frauen, gekleidet in Lumpen und zerschlissenen Rüstungen, verdreckt, die Waffen stets fest umschlossen. Allesamt verletzt, abgemagert, verdreckt. Sie sahen auf, manche hoffnungslos, andere fast paranoid und mit einem schmerzhaften Stich begriff der Magier, dass er vor sich alles sah, was vom Widerstand noch übrig war – und manche darunter waren eindeutig einfache Männer und Frauen Samaras, denen die Rebellen im Versuch des Überlebens Waffen in die Hand gedrückt hatten.

„Ihr brecht nach Sundergrad auf. Versucht dort, mit Kathryn Kontakt aufzunehmen. Bleibt in Deckung und verhaltet euch ruhig.“ erklärte die Elbe in wenigen Worten. Die Meisten erhoben sich – offenbar war die Elbe es gewohnt, Befehle zu erteilen, so wie alle um sie herum gewohnt waren, diese zu befolgen. Nur einer fragte nach, was mit ihr sei und der Blick der Elbe richtete sich auf Drakimh, den jeder der abgekämpften Männer und Frauen mit völliger Ignoranz abstrafte.

„Ich hole mir zurück, was mir gehört.“

Drakimh musste zugegeben, dass die Dinge längst nicht so liefen, wie er es erhofft hatte. Aber das war möglicherweise auch einer der Vorteile daran, wenn man keine Pläne schmiedete – man grämte sich weniger, wenn etwas derartig außerhalb aller vorhersagbaren Bahnen verlief. Ashes bot ihm keine zweihundert Mann Verstärkung an, es gab keine Armee in seinem Rücken und sie schien sich auch nur bedingt mit Zzschra'Ak und Aulet zu verstehen.

Wichtig war am Ende für ihn nur, dass die Elbe zusicherte, ihn zu begleiten und ihm zu helfen, Orykene zu befreien. Sie war sehr zu einem Verdruss den beiden anderen Damen in einem Zug erschreckend ähnlich: Geschwätzigkeit fand man bei ihr nur auf der Liste an Dingen, die sie nie an den Tag legen würde. Dabei hatte er durchaus auf ein kleines Gespräch gehofft. Doch sie wollte ihm weder erzählen, wie sie Orykene getroffen hatte, noch, was sie sich zurückholen wollte. Sie reisten nicht nach La Coeur und wenn den Gerüchten zu trauen war – was Drakimh nunmehr durchaus zu tun gewillt war, nachdem er gesehen hatte, was mit Samara passiert war -, dann war seine Majestät für den Fall der Stadt verantwortlich. Wenn Ashes also etwas weggenommen wurde, dann wohl vermutlich vom König – oder nicht?

Warum aber sprach sie dann davon, etwas zurück zu holen, wenn sie doch nach Nephilim reisten?

Mehrere Tage zogen ins Land, in denen sie versuchten, die Stadt nach Brauchbarem zu durchforsten. Ashes hatte große Teile bereits absuchen lassen, aber die Seuchengefahr war immer weiter gestiegen und am Ende hatten sie allein durch Krankheiten so viele verloren, dass sie sich in den unterirdischen Tunneln und Gängen selbst eingesperrt hatten. Noch immer war die Gefahr groß, doch sie würden ja nicht in jedem glitschigen Haufen herum wühlen. Viel mehr labte sich die Elbe ungeniert an den dargebotenen Vorräten der kleinen Gruppe, ehe sie sehr gezielt Häuser und ehemalige Läden ansteuerte. Sie besorgte sich eine neue Rüstung, neue Schwerter, eine Armbrust. Auch Aulet schien diese Gelegenheit wahrzunehmen, während Zzschra'Ak nur skeptisch das Arsenal menschlicher und zwergischer Schmiedekunst begutachtete.

Als sie Samara wieder verließen, waren sie zwar zu einer schlagkräftigen kleinen Gruppe geworden, besaßen aber keinerlei verwertbare Vorräte mehr. Was übrig geblieben war, hatte Ashes ihren Kameraden gegeben, damit sie wenigstens bis zu den ersten Dörfern kamen, ohne durch Hunger und Durst weitere Verluste zu erleiden.

Was vom Widerstand übrig geblieben war, so erkannte Drakimh, würde nicht mehr lange Bestand haben. Die Rebellen waren zerschlagen – und keiner von ihnen wagte es auszusprechen.
 

Tag null.
 

„Solemnium Samatka!“ spie eine aufgebrachte Stimme aus. Obwohl sie sich in Räumlichkeiten befand, schien an der Decke der Himmel aufzubrechen. Gleißendes Sonnenlicht durchflutete den gesamten Raum, grell, brennend, blendend. Ashes und Drakimh hielten sich die Augen zu, die Lider fest herabgepresst und die Hände zum Schutz darüber gelegt. Unzählige Gestalten, die sie in die Enge getrieben hatten, zerstoben in sich auflösende Schwaden. Das Licht brannte alle Schatten aus diesem Raum – doch als der Zauber endete und die Dunkelheit zurückkehrte, war Eile geboten. Sie würden sich nicht lange frei bewegen können, ehe die Schatten wieder Form annehmen würden. Hunde aus Nebel hatten sie gejagt, manche Gestalten schienen menschliche oder zwergische Form zu besitzen und Drakimh musste seine Befürchtungen nicht einmal aussprechen, um zu wissen, dass Ashes das Gleiche vermutete.

Sie wurden von verdammten Seelen angegriffen. Diese Schatten zerstoben vielleicht im Licht, wenn ihre Grundform keinen Rückzugsort mehr fand, doch am Ende waren sie unsterblich. Sie waren gequälte Geister, dem Willen einer Macht unterworfen, die man niemals gegen sich wissen wollte: Ceteus.

Als sie sich gestern der Festung genähert hatten, fehlte von den Minenarbeitern jede Spur. Keine Sklaven gab es mehr, das ganze Gelände um die Festung, die nahe Nephilim aufragte, war verwaist. Einzudringen hatte sich als ein allzu leichtes Spiel herausgestellt und kaum waren sie ein paar Schritte gegangen, hatte die Mausefalle zugeschnappt. Ein überaus robustes Fallgatter war hinter ihnen zugefallen und schon die ersten Attacken der Feinde hatten sie von Zzschra'Ak und Aulet getrennt.

Ashes hatte eine einfache und deutlich Direktive aufgestellt: Sie würde ihn beschützen und zu seinem Ziel bringen, wenn er genau ihren Anweisungen Folge leistete. Drakimh hatte sich empört dagegen auflehnen wollen, aber gerade seit sie immer häufiger auf Feinde stießen, wurde ihm klar, dass sie solcherlei Situationen besser ertragen und damit besser umzugehen wusste. Ashes blieb die Ruhe selbst – immer, wie es schien.

Sie packte ihn an der Schulter und zottelte den Magier weiter. Gegen solche Feinde konnten sie auf Dauer nicht bestehen, ihr einziger Weg lag darin, ihr Ziel zu erreichen und rasch zu verschwinden. Eine bessere Chance hatten sie nicht.

Durch drei weitere Korridore schafften sie es im Laufschritt, ehe vor ihnen die Fackeln wieder zu Flackern begannen. Drakimh schleuderte einen kleinen Blitz auf die Verdichtung, die sofort aufschrie und zerstob – nur um sich zweifellos irgendwo anders neu zu formen. Es war müßig, Gegner zu bekämpfen, die man nicht endgültig aus dem Spiel nehmen konnte und allmählich wurde der Magier unruhig. Seine Kräfte schwanden, jeder Zauber kostete ihn mehr Energie und auch Ashes schnaubte bereits. Ihre Schwerter waren gegen immaterielle Kreaturen eigentlich völlig nutzlos, aber jeder Hieb zerteilte die Gestalt und sie musste sich neu zusammen setzen – minimale Erfolge, die erschreckend viel Kraft kosteten.

„Dort lang!“ wies die Elbe die Richtung. Drakimh bog abrupt ab, glitt unter der weit ausholenden Attacke eines neuen Schattens hindurch und rauschte so schnell seine Beine es ihm erlaubten, einen weiteren Korridor herab. Sie platzten durch einen Torbogen hinein... und bremsten ab. Etwas an diesem Raum war anders.

Ein plötzliches Donnern und Rütteln brachte sie aus dem Konzept. Schwere Erschütterungen zogen durch den gesamten Obsidian, ein Erdbeben brachte Boden, Decke und Wände zum erzittern und einen Moment lang schien es, als würde die gesamte Feste in sich zusammen brechen. „Das kann kein Beben sein.“ argwöhnte Ashes. Lumiél war nur im Süden und Westen instabil, am Drachengraben und am Höllenschlund. In Nephilim bebte die Erde nicht. Nie.

„Magie!“ brachte der Lichtmagier bemüht hervor, ehe er in die Knie brach und sich auf den Boden übergab. Es waren nicht die Zauber, die ihm dies abverlangten – seine Sinne wurden soeben überflutet von einem Ausbruch an Energien, wie er es so noch nie erlebt hatte. Er wurde von üblem Schwindel befallen, sein Magen rotierte um die eigene Achse, so hätte er geschworen, und sein Blick trübte sich durch ein unfeines Grieseln ein.

Das Donnern, Dröhnen und Knacken hielt einige Augenblicke an, ehe es sich wieder beruhigte und schließlich völlig verebbte. Drakimh fühlte sich elend, als hätte er zwei Wochen Fieber frisch hinter sich gebracht und würde nun an völliger Entkräftung leidend den Rückfall nahen spüren. In einer ungewohnt freundlichen Geste hielt Ashes ihm die Hand hin und zog ihn auf die Beine. Wacklig waren sie, aber er konnte stehen – das war für den Anfang ausreichend.

Vorsichtig sahen sie sich um. Hinter ihnen lag noch immer der Korridor, leer, finster – und seltsamerweise frei von Feinden. Vor ihnen dagegen erhob sich eine gewaltige Halle in die Höhe. Riesige Säulen trugen ihre Decke, in der sich ein winziges Loch befand. Drakimh glaubte, dort oben die Sterne zu sehen.

Vorsichtig und wachsam schritten die zwei Eindringlinge über den marmorierten Hallenboden auf das Zentrum der Zitadelle zu.

„Siehst du,“ setzte eine helle, vergnügt wirkende Stimme an, „mit den meisten Lebewesen ist es ganz einfach. Man schlingt ihnen ein paar Fäden um die Glieder, zupft die richtigen Stricke und schon tanzen sie bereitwillig herum. Und oh schau nur – wir haben Gäste.“

Beide stoppten und Drakimh erkannte nach einigen Mühen die Gestalt einer zierlichen Frau auf dem gewaltigen Thron im Zentrum der Halle. Auf den Stufen, die zum Thron empor führten, lag eine weitere Gestalt – Drakimh erkannte sie als die Drakoidenschamanin Zzschra'Ak. Neben dem Thron aber saß Aulet. Wie ein Blumenmädchen hatte sie die Beine eingeschlagen, hockte neben dem Aufbau und ließ sich von der Hand der scheinbaren Königin durch das Haar fahren.

„Verzeiht, My-“ setzte Drakimh an, als sich Ashes brüsk an ihm vorbei schob.

„Ey, Flittchen! Gib uns Orykene und Alistair zurück, dann verspreche ich dir, ich mach's kurz und schmerzlos.“ blaffte Ashes erbost und mit einem kalten Hass in der Stimme, der Drakimh beinahe erschreckte. Er war sich darüber im Klaren gewesen, dass die Elbe... nun... ihre eigenen Methoden hatte. Doch sie meinte es ernst – sie würde diese hübsche junge Frau dort quälen und foltern, wenn es nötig sein sollte. Dabei war der Lichtmagier fest überzeugt, dass sich durch einen angestrebten Dialog möglicherweise die Situation unblutig lösen ließe – man müsste es nur zumindest einmal versuchen!

Ninafer dagegen lächelte nur zufrieden. „Willkommen, Valenae Sternentänzer.“ Während der Magier stutzte, verengten sich Ashes' Augen zu Schlitzen. „Wie war das?“ Ninafer dagegen zog die Mundwinkel zu einem fast schon amüsierten Lächeln empor. Oh wie freute sie sich doch über Gäste! Eine Feier sollte man schließlich nie allein begehen.

„Ich hatte erwartet, dass du... nun sagen wir... ein wenig klüger wärst. Die Schatten kennen dich gut, Valenae. Glaubst du denn, es hat in den Nächten niemand deine Tränen gesehen? Glaubst du, sein Auge ruhte nicht auf dir, wenn du um Hilfe gebettelt hast? Pendrilian hat die Ratten überlebt, musst du wissen. Es war kein schönes Leben mehr, aber er hat überlebt. Er hat viele Dinge getan, so manches davon wäre allein schon gut genug gewesen, um ihn in die Schatten zu stoßen. Ich habe mich eine Weile mit ihm unterhalten, ein wirklich charmanter Bursche. Sag, wie war das damals eigentlich? Wie hat es sich angefühlt, als du mit deiner Zunge seinen Samen umher geschoben und gekostet hast? Wie war es für dich, seine Hinterlassenschaft an deinen Schenkeln kleben zu fühlen? Hat es sich sehr davon unterschieden, als dich die Wächter in Sundergrad nahmen? Eine ganze Mannschaft in nur einer Nacht, das ist wirklich eine Leistung, meine Liebe – wie viele kamen noch einmal zeitgleich in deinem Leib? Wir könnten da bestimmt wundervolle Frauengeschichten austauschen...!“

Mit jedem Wort Ninafers, das sie in ihrer völligen Ruhe und einer Art von kindlicher Begeisterung sprach, verfinsterte sich Ashes Miene zunehmend. Ihre Fäuste ballten sich, begannen zu zittern, die Knöchel traten weiß hervor, bis sie schließlich nicht länger an sich halten konnte. „Kämpfst du noch oder willst du mich tot quatschen? Oder soll deine Gespielin mich mit ein paar Haarnadeln totkitzeln?“ spie die Elbe voll inbrünstigen Hasses aus. Ninafer erhob gerade die Hand in Richtung Aulets, als ein geworfenes Messer der Elbe die Verfluchte im Hals traf. Die bloße Wucht des Wurfes schleuderte sie zurück die Treppen herab, wo sie zuckend und sterbend liegen blieb.

„Ich wollte sie eigentlich nur weg schicken.“ merkte Ninafer fast ein wenig bekümmert an und sah Aulet nach. Natürlich würde das kein Problem ergeben, aber sie hatte ihrer neuen Freundin das Gefühl des Todes ersparen wollen. Doch der Schatten kümmerte sich... zumindest um jene, die ihre Loyalität und ihren Nutzen bewiesen hatten. Immerhin stammten die Bolzen im Leib der Schamanin nicht von Ninafer...

„Thorin?“ bat die einstige Herzögin freundlich. Aus den Schatten zu ihrer Rechten löste sich die Gestalt eines Kriegers heraus. Finstere Blicke wurden zwischen Ashes und ihm getauscht – ein Kettenhund, der darauf wartete, von der Leine gelassen zu werden. Das war der Eindruck, der sich der Elbe aufzwang. Doch dieser Kahlkopf würde sie nicht aufhalten – der Kopf dieser verdammten Schlange gehörte ihr!

„Sei so lieb und beschäftige Valenae ein wenig.“ führte Ninafer geradezu freundlich aus, strich mit den Fingerspitzen versonnen lächelnd über den muskulösen Unterarm des Kriegers, der daraufhin in aller Ruhe die Axt von seinem Rücken zog. Ein einfaches Nicken und er trat die erste Stufe herab. Dann begann er, sein Gewicht nach vorne zu verlagern, begann rasant an Tempo aufzunehmen, stürmte wie eine Naturgewalt die Stufen vor Ninafers Thron herab. Ashes machte sich gerade zur Abwehr bereit, da verschwand er plötzlich einfach so, zerstob zu Schatten und schwarzen Nebelschaden, erschien an anderer Stelle – und einige Meter näher – zerstob erneut, erschien wieder an anderer Stelle. Auf diese Weise war es der Elbe fast unmöglich, den eigentlichen Angriff vorherzusehen und sich angemessen darauf vorzubereiten.

Mit einem Mal erschien Thorin kaum zwei Meter vor ihr und preschte mit voller Wucht, die Schulter voran, gegen ihre Brust. Er stieß die Elbe kraftvoll von ihren Füßen, schleuderte sie ein gutes Stück zurück und setzte sogleich nach. Kaum hatte sich die Elbe wieder auf die Füße rappeln können, wuchtete sie ein kraftvoller rechter Kinnhaken direkt wieder auf den Boden zurück. Das Paar um Sieg und Leben kämpfender Krieger verschwand irgendwo lautstark außerhalb der Halle und Thorin ging seinem Auftrag nach – er beschäftigte Ashes. Sie zu töten, war nicht Teil des Planes. Tatsächlich, so hatte Ninafer ihm mitgeteilt, hatte Ceteus noch Pläne für die bittere Elbe, doch wie bei Früchten, die noch am Baum hingen, war sie einfach noch nicht reif, ihre Rolle anzutreten.

Nunmehr befanden sich einzig Drakimh und die Adlige in der Thronhalle.

„Nun, Meister Drakimh D'spayre, können wir uns ein wenig unterhalten. Ich empfinde es als Gastgeberin immer ein wenig... nun, unhöflich, nichts über die eigenen Gäste zu wissen. Sicherlich versteht ein Mann eurer Bildung und Erziehung das. Lasst uns also ein wenig unverfänglich plaudern, ehe wir die Feierlichkeiten beginnen. Robyn von Rabenhorst – ihr erinnert euch? Ich hörte kürzlich von ihr. Es ist schon merkwürdig, wie die Dinge sich doch gleichen können. Eine Dryade dieser Landen, Delilah Fel Famgrar, sie kämpfte wohl mit den gleichen Problemen. Sie war nicht mehr so recht erwünscht, verschanzte sich in ihren Wäldern. Und obwohl sie den Rückzug antrat und dort lediglich ihre Ruhe suchte, bekämpfte man sie. Mit Giften, mit Katapulten, mit Feuer. Wie ich hörte, war Robyn in diesem Kampf weit weniger erfolgreich als Delilah. Eine wirklich tragische Geschichte. Es erging Jezebeth wohl ebenso. Ein nettes Mädchen. Ihr habt euch damals, als sie euch vorschlug, bei den Prüfungen zu schummeln, stets gefragt, ob ihr sie nicht hättet ansprechen sollen, nicht wahr? Ihr wolltet sie küssen, sie halten, ganz der Gentlemen sein, zu dem man euch erzogen hat. Einem Mann wie euch ist sie nicht wieder begegnet, aber ihre Träume... sie forderten ihren Tribut. Es war wohl unausweichlich.“

Tausend Ohren und Augen – das war ein Bild der Nacht, wie es ein Schwarznekromant der längst zerschlagenen Zirkel einst gezeichnet hatte. Jede Dunkelheit für sich und die Nacht ganz besonders besaß Tausend Ohren und Augen. Dieser Nekromant hatte einst Dinge gesehen und erfahren, die nicht für einen menschlichen Geist bestimmt waren – und war darüber in Wahnsinn gefallen. An genau diese Geschichte erinnerte sich Drakimh, als er Ninafer gegenüber stand, das befremdliche Flackern in ihrem Blick sah und Worte vernahm, die wie Nadeln ins Fleisch stachen. Er zweifelte nicht, dass genau dies auch ihr Ansinnen war, doch wollte er sich nicht möglichen Provokationen beugen. Stattdessen versuchte er, das alte, höfische Spiel zu spielen, bei dem er in all den Jahren so aus der Übung geraten war.

„Mylady erfreuen mich mit solcher Fürsorge und Umsicht, doch muss ich gestehen, mir über den Anlass der Feierlichkeiten nicht im Klaren zu sein. Wäre die Dame denn geneigt, meiner bescheidenen Bitte nach Klarheit nachzukommen?“ Bei den Göttern, es war schwer geworden, so zu reden! Seine Dienerinnen hatten dergleichen nie erfordert – da hatte es genügt, zu sagen, sie sollen ihre Kleider ablegen und sie wussten über den Ablauf der nächsten Stunden Bescheid.

Ninafer dagegen lächelte, wohlwissend, dass sie ihm in jedweder Hinsicht überlegen war. Ein Gefühl, das Drakimh hasste. „Gewiss, mein Herr. Eine gemeinsame Freundin, so denke ich, wird euch bestens dienen, dieser Aufgabe nachzukommen.“

Der Lichtmagier begriff nicht, worauf sie hinaus wollte – bis zu dem Zeitpunkt, da kräftige Flügelschläge laut wurden. Er kannte dieses Geräusch inzwischen zur Genüge. In Quentloas hörte man den ganzen Tag kaum etwas anderes. Dennoch wollte er sich die Wahrheit nicht eingestehen, bis zu dem Zeitpunkt, an dem er sah, wie Orykene sich an der linken Flanke des Thrones nieder ließ. Ihr Kopfschmuck fehlte, aber ihr Gesicht, ihr Bauch, ihr gesamter Leib – alles war wieder in seinem Urzustand. Als hätte sie nie einen unmöglich zu gewinnenden Kampf gefochten, als wäre sie nie von Untoten knapp außerhalb Samaras zerrissen worden... als hätte sie nie wochenlange Folter im Turm dieser Festung durchlitten.

Mit verführerischem Hüftschwung und dem altvertrauten, leisen Klicken ihrer Krallen auf dem Fußboden schritt die Brutmutter die Stufen herab. Ein geradezu räuberischer Blick, den er an sich kleben spürte. Sie musterte ihn, schätzte ihn ab. Er spürte, wie sie ihm näher trat, als er es wohl hätte unter diesen Umständen zulassen sollen, doch er konnte sich nicht wehren, wollte es nicht. Diese Situation war so völlig... absurd!

„Du... du lebst... geht... es dir gut? Ich meine...“ stammelte der Lichtmagier zusammen. Er wollte es nicht wahr haben. Es durfte einfach nicht wahr sein.

„Es geht mir ausgezeichnet. Schneller, stärker und kraftvoller denn je.“ säuselte die Harpyie leise, strich mit den Spitzen ihrer Krallen seine Oberschenkel herauf und wusste selbst nur zu gut, wie schwer sie es Drakimh in diesem Moment machte, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen.

„Liebes, sei so gut und zeige unserem Gast, was wir heute feiern.“ wies Ninafer im freundlichen Plauderton an. Drakimhs Blick richtete sich in völligem Unglauben zu der Giftmischerin empor. Liebes...?

„Ja Herrin.“

Herrin??

Drakimh war planlos. Hilflos. Ein klein wenig verzweifelt und vor allem ratlos. Wie sollte es weiter gehen? Sollte er überhaupt glauben, was er hier hörte? Nein, sicherlich hatte Orykene nur... nur nachgegeben, zum Schein, um die Folter zu beenden. Sie... sie konnte unmöglich...

Mit sanfter Gewalt zog die Harpyie den Magier davon und geleitete ihn aus der Halle. Einen kleinen Abzweig nur liefen sie, ehe die einstige Brutmutter ihn auf einen Balkon führte. Schwarzer Obsidian bildete den Boden, ein Säulengeländer schuf sicheren Halt und der Magier löste sich völlig eigenständig aus dem Griff der Harpyie, die ihn nunmehr selbst die Schritte voran zur Brüstung setzen ließ.

Sicherlich an die hundert, vielleicht sogar zweihundert Meter ging es unter ihm in die Tiefe. Bei den Göttern – vielleicht sogar noch mehr!

In einem schrecklichen Moment der Erkenntnis begann Drakimh zu begreifen. Das Beben, das sie gespürt hatten – es war der Moment gewesen, in dem sich diese schwarze Zitadelle aus dem Boden gerissen hatte. Machtvolle Runen sah er auf dem Stein glühen. Unzählige Tonnen Erde und Gestein hatten sie mit aus dem Boden gerissen, als die Festung sich erhob. Wie ein Zipfel klaffte noch immer ein Teil des Landes unten an der Bastion, die nunmehr schwebend über dem Land verharrte. Und in diesem Moment begriff Drakimh auch, dass die zierliche junge Frau, die jenen Thron besetzte, nicht einfach nur eine Dienerin der Spinne war.

Sie war eine Gesandte des Ceteus, sein Avatar, sein Wort und seine Hand in der Welt der Sterblichen. Sie war eine Macht... gegen die weder er noch Ashes noch sonst irgendwer ankommen konnte.

Die bitterste Erkenntnis ließ ihn am Geländer des Balkons auf die Knie brechen.

Er hatte Orykene an sie verloren.

Die Klaue der Harpyie legte sich auf seine Schulter, als die einstige Brutmutter hinter ihn trat. „Es kommt der Zeitpunkt, an dem jedes Land, jedes Volk und jeder König bekommt, was ihnen zusteht. Es ist nicht an uns, zu beurteilen, ob das gerecht ist.“ säuselte die Harpyie leise in sein Ohr, während ihre Klaue sich von seiner Schulter zu seinem Haupt hob und ihm über das Haar strich.

Wandlungen

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Ungewöhnliche Freundschaften

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Tanz mit Teufeln

Es gibt ein Sprichwort in Lumiél. Es besagt, dass die Uhren in Sundergrad schneller ticken als im Rest des Königreiches. Wenn auch nur ein Fünkchen Wahrheit darin läge, so könnte man sich gewiss sein, dass diese Uhren in Samara gebaut worden waren...
 

Er hat sich nicht irgendwie heraus geputzt. Gut gekleidet ist er immer, feinste Seide von den teuersten Märkten der Stadt. Er trägt sie mit Vergnügen, mit Genuss. Ein wenig ist es wie eine zweite Haut – hat er sie an, dann fühlt er sich sicherer. Es ist bequem. Wer immer den Spruch schmiedete, man müsse für Schönheit leiden und Eleganz habe ihren Preis, der hat ganz offensichtlich noch nie einen guten Schneider getroffen.

Natürlich war der Schnitt einmalig. Solche Muster gebraucht in der Welt sonst kaum jemand und in der Regel wissen die Magier, die einstmals den Zirkeln angehörten, durchaus ihre Gewänder zu hüten und zu pflegen, zu flicken – falls nötig. Aber dieser Tage waren ein paar Dinge anders bestellt. Die Zirkel waren zerbrochen und er... hatte noch nie Interesse am Nähen aufgebracht. Gute Güte, dafür gab es geschickte Kinder- und Frauenhände!

Er hielt sich nicht zurück. Aufsehen folgte ihm auf den Straßen. Das verworren geschlungene Gewand war nicht dazu gedacht, unauffällig zu sein – das musste er hier auch nicht. 'Dezente' Töne von sattem Wiesengrün und ein paar Striche und einfache, fast ornamenthafte Muster in Violett. Eine skurrile Mischung, aber wenn man ein Auge für Mode hatte, durchaus kleidsam – zumal es seine gute Statur betonte. Nicht muskulös, aber durchaus trainiert.

Sein Weg führte ihn in das Noblenviertel der Stadt. Große Anwesen, viel Land mit Grün und teilweise sogar ein paar Wäldchen. Einige Beete und Gärten – natürlich ein einer kleinen Horde an Bediensteten und Tagelöhnern bewirtet. Sklaverei gab es in Lumiél nicht... die Abhängigkeit von Lohn und Nahrung dagegen hatte bei so manchem, der hier wohnte, ein durchaus legitim vergleichbares Verhältnis zwischen Arbeitern und Besitzern geschaffen.

Aber auch das störte ihn nicht.

Seine Laune war einfach zu gut. Er spitzte die Lippen und begann ein kleines Liedchen zu trällern, während er Hausfriedensbruch beging, über den Zaun hinweg setzte und den kleinen Kies- und Schotterweg zum eigentlichen Anwesen hinauf lief. Ganz ohne Eile, verstand sich. Solche wunderbaren Kleider, die schwitzte man nicht durch einen unüberlegten Dauerlauf voll, das wäre ja entwürdigend. Zumal es keine Veranlassung gab, zu rennen. Die Herren dieses Hauses würden gewiss nicht Selbiges packen und mitsamt des ansehnlichen Gebäudes sich einfach in Luft auflösen. Überhaupt...!

Er hielt einen Moment inne, fasste die Hände hinter dem Rücken und blieb stehen. Sein Blick glitt empor. Der kleine Springbrunnen vor dem Anwesen war ja schon recht imposant. Zwergentechnik pumpte irgendwie Wasser von irgendwo – wussten die Götter, wie das funktionierte! Es war schick anzusehen und neu. Solcherlei Innovationen fand man selbst im verschwenderischen Nobelviertel nicht überall. Doch das Haus selbst war... geradezu skurril.

Einerseits fand das geschulte Auge darin ohne jede Mühe viele Details, die auf den Baustil der zahllosen, weit verbreiteten Fachwerkshäuser schließen ließen. Ein Baustil, der in Samaras bester Wohngegend einfach nichts zu suchen hatte. Solche Häuser gehörten Krämern und Handwerkern und vielleicht ein paar wohlhabenderen Bauern, aber ganz sicher sollten sie keinen Platz hier finden! Andererseits war die Fassade auf geradezu kunstvolle Weise von eben diesen Details abgebracht worden. Auf dem Dach fanden sich keine Ziegel, es lief nicht spitz zu. Nein, flach wie ein geschliffener Stein. Er kannte das System bereits, war nicht zum ersten Male hier. Dort oben gab es eine Art von... Saal. Nur eben ohne Wände, ohne Decke. Grünzeug wucherte in kleinen Senken, ein System von kleinen, eingelassenen Kanälen beförderte das Regenwasser zu den Seiten, wo es über Rinnen und Röhren zum Boden geleitet wurde. Das obere Stockwerk war sehr stabil, sehr massiv gebaut – damit selbst sintflutartige Regenfälle keinerlei Gefahr darstellen konnten. Auch damit hob sich dieses Haus deutlich von allen anderen dieses Viertels ab.

Es war, als würde hier irgend so ein exzentrischer Künstler leben!

Bei diesem Gedanken musste er schmunzeln, zufrieden und breit. Das Haus erweckte ganz eindeutig genau den Eindruck, den es auch erwecken sollte. Da hatte jemand wohl gute Arbeit geleistet.

Den Schritt wieder aufnehmend, trat er über eine Reihe flacher, breiter Stufen langsam zur Haustür empor und klopfte dezent. Ihm öffnete keine Magd, kein Diener, die Bewohner dieses Hauses vermieden solcherlei Verhältnisse. Noch. Es war vermutlich nur eine Frage der Zeit. Irgendwann würde die Gartenarbeit zu viel werden, zu lästig, irgendwann würde die Bibliothek zu groß werden, würde der Weinkeller zu üppig bestückt sein, würde die Küche zu viele Gerätschaften fassen, würden die Festlichkeiten zu umfangreich werden.

Irgendwann würden weitere, helfende Hände einfach nötig sein. Das war immer so.

Nach einer Weile des Wartens wurde geöffnet. Er kannte das bereits – sonst wäre er möglicherweise nervös geworden, hätte befürchtet, dass seine Ziele geflohen wären. Doch das taten sie nicht. Nicht mehr.

Er trat ein und schmunzelte. Bei seinem ersten Besuch war er über die Maßen empört gewesen, war regelrecht außer sich, als er gespürt hatte, wie die dünnen Fäden des magischen Gewebes sich von ihm lösten. Er hatte geschrien und gegeifert und war so völlig aus seiner sonst ruhigen und beherrschten Rolle gefallen – weil er sich in einem Hinterhalt wähnte.

Doch niemand hatte ihn angegriffen. Damals nicht. Heute nicht. In jedem der Besuche seither nicht. Es war einfach eine Sicherheitsvorkehrung des Hausherren, es war... sein Ausdruck von Paranoia, und wer konnte ihm die schon verdenken?

Als die Tür geöffnet wurde, lächelte er und bekam ein Lächeln zurück. Nicht künstlich, aber auch nicht freundschaftlich. Sie waren keine Freunde, so leicht stülpte man nicht die ganze Welt um. Er musterte noch im Eintreten den Hausherren. Ein weites Gewand, seiden, aber von einer matteren, gedeckteren Farbwahl. Offenbar hatte er nicht mit Besuch gerechnet.

„Ihr kommt früher als sonst.“ eröffnete der Besitzer munter und konnte doch nicht verbergen, dass ihn offenbar der unerwartete Besuch aus einem Nickerchen in der Bibliothek gerissen hatte. Er schmunzelte, nickte nur und bestaunte – wie schon oft zuvor – die Eingangshalle. Sehr hübsch anzuschauen, wie die Treppe sich weitläufig in die oberen Stockwerke wand. Ihre Schritte hallten dumpf in der verwinkelten Halle wieder, als ihre Schritte sie über polierte Marmorfliesen einem kleinen Arbeitsraum entgegen führten.

Regale voller Bücher säumten die Wände. Und dabei war das hier nicht einmal die Bibliothek, es war nur ein Arbeitszimmer. Ihm wurde ein Sitz angeboten und er nahm ihn gerne in Anspruch. Ein mit rotem Samt bespannter Ohrensessel. Diese gewaltigen Dinger vermittelten stets gekonnt den Eindruck einer heimischen Atmosphäre, von Gemütlichkeit und gelöster Entspannung. In weiser Voraussicht zog er den kleinen, dreifüßigen Tisch aus kunstvoll bearbeitetem Kirschholz heran, ehe er sich zurück lehnte und auf die Rückkehr seines Gastgebers wartete, der sich für einen kurzen Augenblick entschuldigt hatte.

Sein Blick glitt über die unzähligen Bücher. Anatomische Studien, Fachlektüre, alles, was ein aufstrebender Künstler brauchte, um sich mit Inspiration zu versorgen und zeitgleich nicht zu erschaffen, was andere schon in ihren schöpferischen Phasen fabriziert hatten. Die wirklich interessanten Werke, die über das Brauen von Tränken, über rituelle Anrufungen und vor allem die Bücher, die vor lauter Zauberformeln überquollen... die würde man gewiss nicht hier finden. Vermutlich auch nicht in der Bibliothek, wenn... dann gab es einen sehr gut gesicherten Raum dafür. Ein geheimes Versteck, irgendwie, irgendwo. Er suchte nicht danach, nicht mehr. Das hier war keine Schlacht, die sich auf die klassische, altbewährte Weise gewinnen ließ und sie wussten das alle.

Der Hausherr kehrte zurück, balancierte ein kleines Silbertablett, das er auf dem Kirschholztisch abstellte. Der wunderbare Duft von würzigem Tee entströmte einer dampfenden Kanne. Das Gemisch wurde teilweise auf zwei edle Porzellantassen verteilt.

Er nahm sich seine erst, nachdem er das zusätzliche Angebot geprüft hatte. Kandis, Zucker, ein paar Sorgen von anderen Gewürzen, die der Verfeinerung des Aromas zukommen könnten. Alles recht klassisch, aber nicht unbedingt sein Geschmack. Er entschied sich stattdessen für den Honig, gab einen kleinen Teelöffel der zähen Flüssigkeit in seine Tasse, rührte sorgfältig um und labte sich daran, wie der Duft der vom dampfenden Gebräu aufsteigenden Flüssigkeit sich veränderte. Süße, ja, das war jetzt genau das Richtige.

Er rührte sorgfältig, wartete, bis der Tee ein wenig abgekühlt war, ehe er den Löffel weglegte und die Tasse erstmals an die Lippen setzte. Viele Minuten, die die zwei Herren einfach schweigend einander gegenüber sitzend verbrachten. Insgeheim musste er wieder über das Gewebe nachdenken. Bei Überschreiten der Türschwelle waren ihm seine magischen Kräfte genommen worden. Galt das auch für den Hausherren? Er wäre mehr als dumm, wenn er sich der eigenen Kräfte beraubte. Nicht zuletzt, weil sie ansehnlich stark waren – er hatte schon lange keinen so angemessenen Gegner mehr gehabt.

Nein, wahrscheinlicher war, dass es sich um Runen handelte. Vermutlich gefüttert mit dem Blut der Drei, die hier wohnten – damit für sie eine Ausnahme gemacht wurde. Damit sie nicht ihrer Kräfte beraubt wurden. Und dazu, quasi als kleine, doppelt absichernde Beigabe, irgendeine Form von Tarnung. Magiefähige spürten einander, wenn sie sich berührten. Ein zartes Kribbeln im Bauch und unter der Haut der Finger. Selbst aus dem Gewebe gelöst, waren manche in ihrer Sensorik fein genug, das zu begreifen – aber selbst der Händedruck beim zweiten Besuch hatte nichts klingeln lassen. Vermutlich war das ganze Haus ohnehin mit Magie nur so vollgepumpt.
 

„Warum kommt ihr eigentlich immer wieder hierher?“ eröffnete Alandor Lamerak, Besitzer des kleinen, aber ungewöhnlichen Hauses im Nobelviertel Samaras, schließlich das Gespräch mit seinem Gast.

„Nun, um ehrlich zu sein – ich schätze, was mir geboten wird. Der Tee ist einfach köstlich.“ merkte Iangeon an, seines Zeichens Geistmagier im Dienste der Abtrünnigen, einstmaliger Zirkelmitglieder, die sich beim erstbesten Angebot auf die Seite des Königs geschlagen hatten. Er hatte Alandor und seine Tochter Selina schon über Wochen und Monate hinweg gejagt – und Vivica Aandergast, Alandors einstmalige Begleiterin, sogar über Jahre.

Sonderliche Eile, seinen Auftrag zu erfüllen, hatte er dagegen nie an den Tag gelegt. Er war ein überaus geduldiger Jäger – und ein Gentlemen, trotz allem.

„Eine Mischung von Wildkräutern aus dem Norden. Das Rezept stammt natürlich von Vivica.“ erörterte Alandor mit einem Lächeln, in das Iangeon durchaus ehrlich einstimmte. Ja, die kleine Firnhexe hatte immer wieder die besten Ideen – schon damals, als sie seiner Obhut entwischt und ihn über Tage hinweg zum Narren gehalten hatte.

„Ist die Dame des Hauses denn anzutreffen?“ erkundigte sich der machtlose Geistmagier. Einen kurzen Moment wurde sein Gegenüber ernster, doch die Situation löste sich recht schnell wieder.

„Der Stadtvogt, der Beirat, der Kommandant der Wache, diverse äußerst wohlhabende Handelsleute, ein paar vom Klerus und sogar mancher aus den drei einflussreichsten Adelshäusern der Stadt...“ hob Alandor ohne scheinbaren Zusammenhang und in geradezu gelangweilter Manier an.

„Ich kenne die Liste eurer Förderer und Unterstützer. Nein, wirklich, ihr braucht mir diesmal nicht misstrauen. Heute bin ich nicht hier, um euch zu ärgern. Ich weiß, dass ihr schon rein politisch betrachtet schneller weit größere Geschütze gegen mich auffahren könntet, als ich auch nur die Anklageschrift geschrieben hätte. Überdies wisst ihr genauso gut wie ich, dass mir die nötigen Beweise fehlen, um einfach mal so jemanden aus Samaras Oberschicht anzuklagen. Ihr habt... euch ein hübsches Heim eingerichtet. Weit schneller, als ich es erwartet hatte und es ist gut gesichert, also macht euch vorerst keine Sorgen. Fühlt euch nicht zu sicher – aber vorerst bin ich nicht als euer Jäger hier. Ein wenig schade ist es ja schon, für mich zumindest. Jegurath hat mich weit länger aufgehalten, als ich gedacht hätte. Hm.“ erörterte Iangeon in aller Ruhe. Und obwohl sie einander Feinde waren – im Grundsatz zumindest, in der Theorie -, kam der Bannmagier und Hausherr nicht umhin, diese Gespräche, die in der Regelmäßigkeit eines Mondzyklus stattfanden, durchaus zu genießen. Iangeon war ein Abtrünniger, aber das würde er nie einsehen.

Er hatte seine Ausbildung als Magier der Zirkel absolviert, die Abschlussprüfung überstanden und durfte sich Zirkelmagier nennen, aber anders als die Meisten, hatte die intensive Gehirnwäsche und Umerziehung, die den Adepten während ihrer Ausbildung beigefügt wurde, bei ihm einfach nicht gefruchtet. Er fühlte sich den Zirkeln nicht verbunden, nicht ihren Herren, nicht ihrem Kodex, nicht ihrer Abneigung gegen Hexen. Er war hier, weil er einen Auftrag hatte – genau genommen war er also kaum besser als ein Söldner. Befand zumindest Alandor.

Aber es war nicht abstreitbar, dass er sich schon aus alter Gewohnheit heraus sehr nach Gesprächen mit seinesgleichen sehnte. Keine Beleidigung gegenüber Vivica – einer Eishexe -, sondern einfach das Zugeständnis, dass die Adligen, Kaufleute und Künstler Samaras gewiss ein gehobenes Niveau hatten, einem Zirkelmagier aber dennoch nicht das Wasser reichen konnten. Die Art, wie ein Gespräch geführt wurde, war unter ihresgleichen einfach einzigartig und anders als bei Iangeon, vermisste Alandor diese Zeit durchaus hin und wieder.

„Es ist so,“ hob der Geistmagier schließlich an, „neben dem unbestreitbar köstlichen Tee wird mir in diesem Haus geboten, was ich sonst nirgendwo finde: Höflichkeit und Ehrlichkeit. Will ich Erstere, gehe ich zurück an den Hof nach La Coeur und geselle mich zu den anderen verbohrten alten Magi – dummerweise ist die ganze Bande so intrigant und verlogen wie die einfachen Höflinge dort. Will ich Ehrlichkeit, dann treibe ich mich in Gasthäusern herum und lasse mich vom Pöbel mit seinen verdreckten Griffeln betatschen. Ehrlich sind sie, gewiss – solange sie nicht wissen, mit wem sie es zu tun haben. Ehrlich, aber leider schrecklich ungehobelt. Ich gebe es ungern zu, aber wenn die Jagd eines Tages von Neuem los geht, wenn eure kleine Welt hier zusammenbricht und wir wieder sind, was wir waren, bevor ich in Jegurath eure Spur verlor, nun... ich glaube, mir werden unsere Treffen fehlen.“

Fast wirkte es so, als wäre Iangeon geradezu rührselig geworden. Er blickte in seinen Tee hinab und trauerte bereits jetzt für etwas, das noch nicht einmal im Ansatz absehbar war. Der Anblick allein irritierte Alandor. Sie waren einander seit der Flucht aus der einstigen Elbenstadt mit einer distanzierten, ehrlichen Höflichkeit begegnet, gewiss, aber er hätte nicht vermutet, dass dem Magier diese Treffen so viel bedeuteten. Nein, er hätte nicht einmal vermutet, dass sie ihm überhaupt etwas bedeuteten.

„Warum hört ihr dann nicht einfach auf, uns zu jagen?“ erkundigte sich Alandor, die Antwort kennend und nippte erneut am Tee.

„Ach ihr wisst doch. Die Alten würden einen riesigen Aufstand machen, irgend einen Stümper auf eure Fährte setzen. Ihr seid gut... aber nicht fehlerlos. Wenn er euch findet, würde er gewiss ein heilloses Chaos anzetteln und mit der Eleganz eines hysterischen Trolls aufwarten. Möglicherweise kommt die kleine Selina oder Vivica dann noch zu Schaden – das kann ich so natürlich nicht zulassen.“

Früher hätte er ihn erdrosselt. Allein dafür, dass er wagte, diese zwei Namen in den Mund zu nehmen. Andererseits waren früher einige Dinge anders gewesen. Er hatte beispielsweise guten Grund gehabt, Iangeon Conster zu hassen, er hatte dagegen keinen Grund gehabt, ihm zu glauben, dass ihm tatsächlich etwas an Vivicas oder Selinas Wohlbefinden lag.

„Ich hörte, ihr gebt heute Abend einen Ball?“ erkundigte sich Conster und Alandors Miene wurde zum Spiegel seiner aufziehenden Erkenntnis. Natürlich – deshalb kam der Geistmagier ein paar Tage früher als sonst.

„Ja. Eine kleine Festlichkeit. Die Oberen der Stadt sind eingeladen, viele Künstler, Adlige. Kontakte pflegen und knüpfen, ihr kennt dieses Spiel ja.“

Eine Weile trat Schweigen ein. Iangeon wartete – das war ihm anzusehen. Und Alandor erwog genau die Schritte, auf deren Ergebnis der Gast wartete. Es war offensichtlich, worauf nun alles hinaus laufen sollte. Der Geistmagier langweilte sich in Samara zu Tode. Niemand konnte ihm hier das Wasser reichen, niemand seine Neugier fesseln. Ein Ball dagegen wäre zwar nicht ganz seine Kragenweite, bot ihm aber die Möglichkeit, Selina und Vivica wieder zu sehen und sich ein paar weitere Stunden mit Alandor zu beschäftigen, es bot ihm die Chance, sich einen schönen Abend zu machen.

Die Frage war, ob der Bannmagier den Geistmagier wirklich auf seiner Feier haben wollte. Offiziell wäre das so, als würde der Hase den Fuchs einladen – andererseits war so mancher Gast dabei, den er noch weniger leiden konnte und noch mehr zu fürchten hatte. Warum also nicht?

„Ihr seid natürlich herzlich eingeladen, euch unserer bescheidenen Runde anzuschließen.“ eröffnete der Hausherr schließlich. Sein Gegenüber zuckte mit keiner Miene, zumindest vorläufig. Das Schauspiel musste perfekt sein. Für wen auch immer – es ging hier vermutlich einfach ums Prinzip.

„Ich kann unmöglich annehmen. Ihr wisst, ich müsste euch im Falle von Verdachtsmomenten festnehmen und es wäre einfach nicht richtig, eure Gastfreundschaft auszunutzen.“ zierte sich der Geistmagier des Theaters wegen.

„Ich bestehe darauf. Ich bin mir sicher, euch wird der Abend gefallen – es gibt eine kleine Überraschung zur Krönung der Feierlichkeiten.“ frohlockte der Bannmagier und spätestens jetzt hatte er Iangeon am Haken. Nicht einfach nur auf der Bühne ihrer unauffälligen Aufführung, sondern tatsächlich. Der Geistmagier war neu- und wissbegierig, er konnte sich dem Reiz einer Überraschung unmöglich entziehen.

Entsprechend war der Rest schnell abgehandelt. Dem Jäger wurde von der vermeintlichen Beute eine Einladungskarte zugestanden, die am Abend als Eintrittsberechtigung dienen würde. Sie tranken ihren Tee zu Ende, fachsimpelten über ein paar Werke der hiesigen Schriftsteller und Künstler, stellten ein paar Gemeinsamkeiten in ihren ästhetischen Präferenzen fest, ehe Alandor Iangeon schließlich wieder zur Tür begleitete. Wie es sich gehörte, bedankte der sich artig für Tee und Unterhaltung, ehe er durch die Tür schritt und sich seinen Weg suchte. Schon als er einen Fuß über die Schwelle setzte, spürte er das angenehme Kribbeln, das zurückkehrte, als die dünnen, unsichtbaren Fäden des magischen Gewebes ihn wieder durchdrangen, ihn umschlangen und zurück in ihren Schoß führten. Jetzt war er wieder Magier – und dennoch war es ihm unmöglich, Geistmagier der er war, in den Gedanken des Mannes herum zu streunen, der kaum einen halben Meter hinter ihm stand und die Tür schloss.

Ein beeindruckender Schutz, ganz gleich, wie er funktionierte.
 

Die Vorbereitungen für die Festlichkeiten waren schon seit einer guten Stunde abgeschlossen und der Geräuschpegel aus dem Ballsaal stieg allmählich in Relation zur wachsenden Anzahl bereits eingetroffener Gäste. Bereits gegen frühen Nachmittag hatte sich das Haus nach und nach gefüllt – mit Tagelöhnern und Dienstmägden, die Alandor quer über die Stadt verteilt und aus verschiedenen Häusern und Geschäften aufgelesen hatte. Nun trugen sie alle feinste Gewänder, balancierten eifrig und geschäftig Krüge, Tabletts mit kleinen Vorspeisen, schafften Putzeimer aus dem Weg und wirkten dabei, als hätten sie seit Jahr und Tag nichts anderes getan.

Kein Wunder: Sie waren überaus motiviert. Herr Lamerak war ein wohlhabender Künstler und obendrein bekannt dafür, mit den höchsten Kreisen zu verkehren. Außerdem trug er im einfachen Volk der Stadt inzwischen den Ruf, ein recht gönnerhafter Mensch zu sein. Die Bediensteten, die ihm an diesem Abend halfen, durften ihre feinen, handgeschneiderten Kleider behalten und wurden zusätzlich fürstlich entlohnt. Sie durften an Speis und Trank teilhaben, die für die gesamte Gesellschaft gedacht war – aßen also von den gleichen Tellern wie die Gäste. Nur... sollten sie das eben nach Möglichkeit tun, ohne dass diese es sahen. Mit solchen Hinweisen konnten alle gut leben, es war mehr, als man dieser Tage von einem solchen Arbeitgeber erwarten konnte.

Nur eines, das bereitete dem Bannmagier fortwährend Sorge und fast wollte er erleichtert aufatmen, als er die zwei Pagen eiligen Schrittes auf ihn zuhalten sah. Doch schon ihre reumütig gesenkten Blicke machten ihm mehr klar, als sie mit Worten zu erklären fähig waren.

„Herr, wir... wir haben alles abgesucht, wirklich, ich schwör's, aber... wir haben sie... wir haben... sie einfach nicht gefunden.“ stammelte der Erste und zuckte geradezu zusammen, als Alandor ihm sorgenvollen Blickes die Hand auf die Schulter legte. Vielleicht hatte er Schläge und Schelte erwartet, doch obgleich ihm schon ein minutenlanger Monolog über Ehrgefühl, Stolz und Arbeitswürde auf den Lippen lag, hatte der Bannwirker einfach keine Zeit dafür, diesem jungen Burschen die Angst aus- und etwas Stolz einzutreiben.

„Habt ihr auf dem Dach nachgesehen?... In der Wäschekammer?... Draußen?“

„Ja Herr, überall!“

„Auch in der Küche?“

„...“

Noch bevor sie antworteten, wechselten die zwei Diener zweifelnde Blicke. Da waren sie nicht gewesen, aber... warum hätten sie auch dorthin gehen sollen? Die Hausherrin und die Tochter des Herrn waren gut betuchte Leute und die Küche quoll gegenwärtig über vor geschäftigen Mägden, die allesamt das Essen vorbereiteten, das Geschirr herbei schafften, spülten, bereit machten, wieder beluden. Warum sollten sich die Damen dieses edlen Heimes ausgerechnet am turbulentesten Ort dieses Abends verstecken?

Alandor dagegen grinste schelmisch über beide Ohren. „Schon gut, ich danke euch! Geht zu den anderen und helft, wie ihr könnt.“ erklärte der Hausherr, drückte den zwei Ahnungslosen je eine Silbermünze in die Hand und schickte sie davon, während er selbst zunächst sein Zimmer ansteuerte, um etwas abzuholen.

Kurz darauf durchschritt er die Tür zur Küche. Zwei hölzerne Flügel in einem Schnappverschluss, sodass die Tür auf- und zuschwingen konnte – gerade für einen stürmischen Frechdachs wie Selina war das ideal.

Heute Abend herrschte geschäftiges Treiben, in der Tat. Alandors Gegenwart wurde kaum bemerkt und die Mägde, die an ihm vorbei mussten, sahen zwar auf und lächelten, aber bei all den Aufgaben hatten sie kaum Zeit, ihm die eigentlich nötige Ehrerbietung zuteil werden zu lassen. Der Bannwirker störte sich daran jedoch nicht im Geringsten – nicht zuletzt, weil unter einer der Hauben, die die Köchinnen verwendeten, damit keine Haare in das Essen kamen, ein verräterisches Rot hervor funkelte.

„Vi-“ setzte Alandor an, um das Gepolter und Geklapper zu übertonen, da wurde auch schon sein Name gequietscht und eine kleine, wandelnde Mehlstaubexplosion kam auf ihn zugerannt.

Bei den Göttern...! wanderte es dem Magier durch den Schädel, als er seine Tochter erblickte. Kaum war sein Name gefallen, sah auch Vivica auf. In routinierter Manier gab sie ein paar weitere Anweisungen, ehe sie sich für wenige Minuten aus dem Treiben zurück zog und zu Alandor trat, der inzwischen Selina abgefangen und hochgehoben hatte. Sie verteilte eine stattliche Spur Mehl in der gesamten Küche...

„Was tut ihr denn hier?“ erkundigte sich der Bannwirker mit einer leichten Rüge im Ton. Während Vivica geradezu beschämt einen Moment den Blick senkte, kicherte Selina nur vergnügt auf. „Und du kleines Gespenst, hast du vielleicht meine Tochter gesehen? Sie sollte nämlich eigentlich ihr Kleid anziehen...!“ maßregelte er auch Selina, ehe er sie kurz durchkitzelte. Das helle, vergnügte Kichern des Mädchens übertönte ohne Mühe allen Lärm im Raum und ließ manche Magd mit einem Schmunzeln zu der kleinen Familie aufschauen.

Ein reiches Haus, aber der Frieden schien wie aus einer der normalen Familien beschaffen...

„Wenn du jetzt artig hoch gehst, dich sauber machst und dein Kleid anziehst, bekommst du nachher auch eine Überraschung!“ versuchte der Magier zu locken, doch seine Tochter schüttelte breit grinsend den Kopf. Als kleiner Mehlgeist durch die Küche zu spuken, war ihr ganz offenkundig ein viel größeres Vergnügen, als es der Gedanke je sein konnte, hübsch auszusehen und sich in einer Gesellschaft alter Männer und Frauen herum zu drücken und gut benehmen zu müssen.

Als hätte er es nicht geahnt!

„Du hast sie völlig verzogen, merkst du das?“ warf Alandor Vivica in gespielter Manier vor, die entrüstet nach Luft schnappte, jedoch nicht dazu kam, ihm trotzig zu antworten – zu schnell hatte er sich vorgebeugt und unter einem langgezogenen „Iiiihh!“ Selinas der Firnhexe die Lippen aufgedrückt.

Der Bannwirker setzte schließlich das Mädchen auf dem Boden ab – und trat einen Schritt bei Seite. Es war nicht schwer, nachzuvollziehen, was daraufhin geschah. Das kleine Mädchen verstummte, beäugte völlig verwirrt, was es sah, ehe seine Augen groß und größer wurden, ein wunderbar anzuschauendes, glückliches Strahlen annahmen und dann vor stürmten. „Nicht so hastig! Es sind viele Leute hier, es ist laut – er hat Angst. Vielleicht solltest du ihn nach draußen bringen und ihm sein neues Heim zeigen?“ erkundigte sich Alandor bei Selina, während die voller Begeisterung nur noch halb zuhörend nickte und die von Mehl krümelnden Finger durch das weiche, kurze Fell des Hundes streichen ließen.

„Darf ich ihn behalten...?“ fieberte das Mädchen mit einem wehleidig-bettelnden Blick, dem sich der Magier ohnehin nicht hätte entziehen können. Er nickte und sah zufrieden, wie sein Wildfang Nummer eins den Hund auf die Arme nahm und überglücklich strahlend mit ihm durch die Küchentür davon pirschte.

Daraufhin wandte sich Alandor Wildfang Nummer zwei zu.

„Und du? Du solltest doch oben sein, oder nicht?“ erkundigte er sich leise, „Was machst du hier?“

Vivica schlug einen Moment die Lider nieder, ehe sie sich zu dem regen Trubel hinter ihr umblickte. All die Mägde, die hier fleißig arbeiteten, schwere, schwierige Tätigkeiten in Akkord verrichteten... sie fühlte sich ihnen so viel zugehöriger als der fein herausgeputzten Gesellschaft dort draußen.

„Ich... helfe?“ hakte sie geradezu zögerlich nach. Der Bannmagier jedoch kam nicht umhin – sein rügender Blick weichte auf, bis ein zartes Lächeln seine Lippen verzog.

„Das hast du gestern und du wirst es morgen wieder. Ich weiß, wie du dich fühlst, ich weiß, wie... unangenehm dir das ist. Aber ich bitte dich... nur diesen einen Abend...!“ flüsterte er leise. Ein letztes Mal blickte die Rothaarige zurück, ehe sie zögerlich nickte.

Gemeinsam Seite an Seite verließen sie die Küche. Bis zur Treppe brachte er seine Herzdame, wo sie sich schließlich trennen mussten.

„Sie hat sich schon seit Monaten einen Hund gewünscht.“ setzte Vivica an, als wolle sie so lange wie möglich hinaus zögern, die Stufen empor steigen zu müssen.

„Ach naja, ich dachte mir, einen Wachhund brauchen wir sowieso schon lange und ehe sie sich auf dem Empfang langweilt und Streiche spielt...“ hob ihr Liebster an, doch da brachte sie ihn auch schon zum Schweigen. Den Zeigefinger auf seine Lippen gelegt, trat sie zwei Stufen wieder herab, bis die Letzte dafür sorgte, dass sie auf Augenhöhe waren.

„Du brauchst dich nicht rechtfertigen. Nicht vor mir. Du liebst sie über alles und... du glaubst, dass du ihr jetzt endlich das Leben schenken kannst, dass sie immer schon verdient hätte... und bei mir glaubst du genau das Gleiche.“

Es waren kostbare Momente wie dieser, die ihm ein ums andere Mal klar machten, warum er sie so abgöttisch liebte. Vor über einer Dekade hatten sie einander erstmals getroffen und Jebis wusste, es war nicht gut verlaufen. Er hatte sie über den Tisch gezogen, sie hatte ihn belogen, sie waren wie bissige Kampfhunde aufeinander losgegangen, sie hatten ihre Reise gerade so hinter sich gebracht, als ihr Zerwürfnis nicht mehr größer hätte werden können. Sie trennten sich, nur, um zehn Jahre später wieder übereinander zu stolpern – und siehe da, sie verliebten sich. Genauer genommen, gestanden sie einander nur die Gefühle ein, die sie schon früher entwickelt hatten und die noch immer unbewusst in ihren Gemütern geschwelt hatten.

Inzwischen konnte Alandor mit Fug und Recht behaupten, dass kein anderes Wesen auf dieser Welt ihn besser verstand als dieses Weib – und sowohl jene Erkenntnis, als auch das Gefühl, ertappt worden zu sein, ließen ihn am Absatz der Treppe stehend erröten. Vivica lächelte, machte einen kleinen Scherz darüber, dass seine Wangen ihrem Haar bald die Aufmerksamkeit stehlen würden, ehe sie sich abwandte und die Stufen hinauf schritt, um ihm den zugesicherten Gefallen zu tun: Einen Abend lang würde sie das Mädchen aus reichem Hause spielen, die manierlich-sittsame Frau eines wohlhabenden Künstlers, die kokett zu lächeln und ihrem Gatten den Rücken zu stärken wusste. Für Vivica eine schwere Rolle, kam sie doch aus völlig anderen Verhältnissen.

Alandor hingegen begab sich zum Empfang. Es war ohnehin längst Zeit geworden, sich persönlich auf der eigenen Feier blicken zu lassen. Auf dem Weg zum Ballsaal passte ihn ein weiterer Page ab und informierte ihn wie gewünscht darüber, das Iangeon ebenfalls eingetroffen war und sich bereits unter die Gäste gemischt hatte. Nun, dann war wenigstens einer in diesem Raum, dem gegenüber er ein wenig mehr Offenheit und Ehrlichkeit walten lassen konnte.

Als der Bannwirker den Ballsaal betrat, brandete ihm das Geschwätz ausgelassener Gespräche entgegen, zarte Musik legte einen Teppich über das rege Treiben und viele der Gäste waren zweifellos in irgendwelche Absprachen vertieft. Anlässe wie dieser waren selten – wenn mehr als die Hälfte der Oberschicht Samaras zusammen kam, bot das Zunder. Hier wurde die wahre Politik geschmiedet, hier wurden Thronerben gestürzt, Länder befreit oder bezwungen, Allianzen geschmiedet und so manche Ehe beschlossen.

Doch nicht heute.

All das hätte Alandor viel Geduld abverlangt, aber er hätte sich direkt ins rege Treiben geworfen und wäre darin nach ein paar sehr anstrengenden Stunden aufgegangen. Er hätte sich in den Tenor ihres Spieles eingefunden und hätte es als Gewinner verlassen, mit unzähligen neuen Freunden, ein paar wenigen, machtlosen Feinden und Absprachen, wie sie nur ein in Diplomatie und Rhetorik befähigter Zirkelmagier hinbekommen konnte. Heute aber ging es um etwas anderes, etwas völlig anderes!

Er machte zunächst einmal die Runde und begrüßte all seine bisher eingetroffenen Gäste persönlich. Viele Künstler, die ihm nacheiferten, ein paar, zu denen er in oberflächlich-freundschaftlicher Korrespondenz stand und – wie es sich gehörte – natürlich auch ein paar Konkurrenten. Zudem fanden sich einige Kaufleute, die bereits über die neuen Steuer-, Zoll- und Handelsbestimmungen sprachen, die erst nächsten Monat offiziell bekannt werden und in Kraft treten sollten. Die Götter wussten, dass man alles, aber auch wirklich alles kaufen konnte – man musste nur wissen, wo, bei wem und für wie viel.

Auch einige Adlige hatten sich zu kleinen Grüppchen zusammen gefunden. Hier und da wurde über die Inneneinrichtung seines Hauses hergezogen, etwas, das Alandor nicht ernst nahm. Hätten sie über das Wetter gesprochen, hätte es genauso lästerlich geklungen. Er wurde sogar kurz Zeuge, wie an anderer Stelle die Sabotage einer Ehe erwogen wurde, indem man dem Gatten vorschlug, ein Galan – einer der Höflinge, der in der Gesprächsrunde anwesend war – könne sich an seinem Weib zu schaffen machen. Mancher hätte es für tiefste, niederträchtigste Teufelei gehalten. Da fand sich ein Ehemann auf einem Ball ein, ohne sein Weib, und beriet mit anderen, wie er es anstellen könne, seinem Weib Schuld aufzuladen.

Aber auch das war Politik.

Alandor merkte sich so viel davon, wie er konnte, sog die Gesprächsfetzen um ihn herum auf und versuchte dennoch zugleich, konzentriert zu bleiben. Als Magier war das ein leichteres Spiel als für jeden anderen, aber dennoch deshalb längst nicht unkompliziert. Er stellte sich vor, hieß sie willkommen, wünschte einen angenehmen Abend, schlug spezielle Speisen vor – eine Standardphrase, die er jedem Gast in stets leicht abgewandelter Form zuteil werden ließ, bis er auch die letzte Hand im Raum geschüttelt hatte – die von Iangeon Conster.

„Ich bin keiner eurer anderen Gäste, ihr müsst mir nicht die Haifischhäppchen empfehlen!“ flüsterte der Geistmagier mit verschwörerischem Grinsen. Erst da bemerkte der Hausherr, dass er auch das obskur verzerrte Äquivalent eines 'Freundes der Familie' in der gleichen Manier begrüßt hatte, wie alle anderen Gäste auch.

„Verzeiht bitte. Es ist fast wie ein Mantra. Hat man die ersten Fünf hinter sich, kommt der Satz ganz von allein wieder und wieder. Wie in Trance.“ entschuldigte sich Alandor und lud seinen Gegenüber auf einen Trunk ein. Sie genossen einen Becher warmen Met von feinster Qualität, angenehm süß, man schmeckte im Nachgang eine Spur des Alkohols, aber er war nicht aufdringlich. Für Alandor war das Maß an Alkohol für diesen Abend damit bereits erreicht – rein aus Sicherheitsgründen. Er ging lieber kein Risiko ein, schon gar nicht an einem solch gewichtigen Tag.

„Nun rückt schon mit der Sprache heraus!“ forderte Iangeon, während er mit dem Gastgeber einen kleinen Rundgang im Ballsaal machte. Ihr Weg führte sie außen herum, an den meisten Grüppchen vorbei. Sie beobachteten während ihres Spazierganges, wie die Wölfe im Saal die Beute zerrissen – sei es mit Worten, sei es mit Plänen. Immer wieder sah man geschäftige Bedienstete hier und da zwischen den Grüppchen herum huschen, von Zeit zu Zeit wurde ein Tanz angestimmt und die Menge gab sich die Ehre, ihre Künste in einstudierten Schrittfolgen zu beweisen, doch Alandor reizte dergleichen nicht. Er bot hier die Fläche, einander wie eitle Pfauen zu umgarnen, doch daran teilhaben... nicht heute.

„Was wünscht ihr denn zu wissen?“ erkundigte sich der Bannmagier und tat erfolgreich unwissend, sodass selbst Iangeon einen Augenblick verwirrt die Stirn runzelte.

„Na ihr wisst schon! Was eure große Überraschung ist!“ rückte der Geistmagier schließlich mit der Sprache heraus. Als hätte er damit ein geheimes Signal gegeben, trat ein sich aus der Menge lösender Page auf die zwei Herrschaften zu und verneigte sich huldvoll, bis Alandor ihn zum sprechen aufforderte.

„Sie wäre dann so weit.“ erklärte dieser und wurde vom Gastgeber angewiesen, sie zu holen. Daraufhin wandte er sich Iangeon zu. „Seht selbst.“ erklärte er und folgte mit zügigen Schritten dem Bediensteten bis zum Absatz der zweiten Treppe, die direkt vom Ballsaal in die oberen Stockwerke des Hauses führte.

„Werte Damen, meine Herren,“ begann Alandor laut genug, sodass die Musik verebbte und die Mehrheit der Gespräche rasch erstarb – binnen Sekundenbruchteilen war er Zentrum der Aufmerksamkeit, „ich danke ihnen für diesen Moment ihrer Aufmerksamkeit und möchte ihnen nun den Juwel dieses Hauses vorstellen.“

Bei jenen Worten trat die rothaarige Firnhexe an den oberen Absatz der Treppe heran. Hier und da hörte man, wie Luft eingesogen oder hörbar ein Atem angehalten wurde.

„Meine Verlobte, Vivica Aandergast... und in einer Woche, wenn uns das Glück hold ist, Vivica Lamerak.“

Irgendwo im Saal, ein gutes Stück hinter ihm, hörte Alandor ein Glas zu Bruch gehen. Mit Erstaunen und Überraschung hatte er gerechnet, aber das jemand vor Schreck gleich sein Glas fallen ließ...? Er sollte die Sauerei beseitigen lassen, ehe sich jemand Splitter in die Füße trat...!

Vivica schritt die Stufen herab, langsam. Es war ihr unangenehm, so im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Dutzende Augenpaare, die aus dem unverhohlenen Gaffen nicht mehr heraus kamen. Sie war eine zierliche Gestalt, mit ihrer roten Mähne und ihren grün funkelnden Augen eine exotische Schönheit obendrein und das Kleid, obgleich von schlichtem, geradezu puritanischem Schnitt, unterstrich in seiner Form nicht einfach nur die Aspekte, die sie ohnehin auffällig machten, es umschmeichelte zudem, was sie war: Eine junge Frau, voller Reiz und Grazie. Die sanften Grüntöne, vermischt mit der Farbe der Unschuld, bildeten einen perfekten, einen geradezu gekonnt edlen Kontrast zu ihrer Frisur – es konnte keinen Zweifel geben, sie war eine Augenweide, sie war das Juwel dieses Abends.

Als sie die letzte Treppenstufe hinter sich ließ und Alandor sich an ihre Seite gesellte, begann Iangeon damit, ihnen zu applaudieren. Rasch stimmten immer mehr Mitglieder der Gesellschaft ein, Damen nickten Vivica anerkennend und manches Mal auch neidvoll zu, Herren bekamen die Augen kaum von ihr gelöst – die Verlautbarung ihrer Verlobung und die Ankündigung der baldigen Hochzeit waren nach Alandors Einschätzung mehr als gelungen und dürften ohne jeden Zweifel so manches in der Stadt kursierende Gerücht über wilde Leidenschaften und haltlose Polygamie zerstören.

Doch selbst abseits der weiterhin gefestigten eigenen politischen und sozialen Position... war dies ein Schritt, den der Bannmagier schon lange im Sinn gehabt hatte. In Jegurath, nachdem sie nur knapp den dortigen Gefahren entkommen waren und deutlich wurde, dass niemand Lumiél ohne die Einwilligung seiner göttlichen Majestät verlassen würde, hatte er ihr einen Antrag gemacht – und nie hätte er damals auch nur geahnt, dass die Hochzeit im Nobelviertel Samaras stattfinden würde, dass es dazu solche Umstände gäbe.

Mit diesem Schritt... hatte er fast alles erreicht, was ein kleiner Junge, der bei Meister Halon im Erzmagierturm eingesperrt, sehnsüchtig aus dem Fenster starrte, sich einstmals gewünscht hatte. Er war ein großer Magier geworden, mächtig und wissend, er hatte eine stattliche, eigene Bibliothek, ein bezauberndes Mädchen und eine hinreißende Verlobte, ein eigenes Heim und ein gutes Ansehen. War war jemand und viel wichtiger noch – er hatte jemanden an seiner Seite, dem genau das nahezu gleichgültig war.

Für Vivica wäre er noch immer der Richtige, selbst wenn die Flucht wieder beginnen würde. Allein dieses Wissen war ihm kostbar und so kam er nicht umhin, in diesem Moment, da die Hochzeit so greifbar nahe war, so glücklich zu strahlen, wie Selina es vorhin bei Erhalt ihres Geschenkes getan hatte.

Er würde diese Frau heiraten... der bloße Gedanke, dieser harmlose Satz, ließ ihn verzückt lächeln.

Nach und nach fand die Gemeinschaft wieder zu ihren Gesprächen zurück und Alandor konnte nicht anders, als Vivica inbrünstig zu danken. Auch Iangeon trat herbei und verneigte sich huldvoll vor der Firnhexe.

„Es ist mir eine Ehre, der baldigen Braut zu dieser Verlautbarung gratulieren zu dürfen und wenn der Hausherr erlaubt, ohne mich gleich hinaus zu werfen – das Kleid ist eine Zierde an euch!“ erklärte der Geistmagier, ergriff ihre Hand und nötigte der Firnhexe einen Kuss auf Selbige.

Nach Alandors Meinung war der Tag damit ein voller Erfolg gewesen. All der Aufwand, all die Kosten, all die Mühen und Planungen – es hatte sich gelohnt. Allein schon, zu sehen, mit welcher Grazie Vivica die Treppe herab trat, sie in ihrem Kleid zu erblicken, war all das wert gewesen. Er fühlte sich... beschwingt und durchströmt von purem Glück.

Sollte der Abend nun ruhig enden. Am liebsten hätte er sie alle hinaus komplementiert und Vivica die Stufen wieder hinauf gejagt, doch... solch ein Ball verlangte ein gewisses soziales Protokoll. Ein paar Stunden würde nun alles nachwirken, die ausgelassene Stimmung würde abflauen, die Gespräche nach und nach verebben. Der Höhepunkt war erreicht und nun brauchte alles nur noch ein wenig Zeit, bis die Ersten sich zu gehen trauten und rasch der Rest der Meute folgte.

Alandor konnte gut damit leben.

Er hatte alles, was er wollte, alles, was er brauchte und selbst ihr Jäger, Meister Conster, gestand ihnen offenbar neidlos dieses Glück zu.

Es hätte nicht schöner werden können.

Und genau das war immer schon das Problem mit solchen Momenten.

Wenn man den Höhepunkt der Stimmung erreichte, was blieb dann noch anderes, als das Absinken eben jener? Es hätte der schönste Abend sein und bleiben können, doch dazu war er nicht bestimmt worden. Stattdessen folgte, was früher oder später ohnehin hätte folgen müssen – nur hatte Alandor erwartet, das Iangeon dann der Auslöser dessen sei.

Mehrere schwere Explosionen zerrissen Teile der Hauswand und ließen den Boden erzittern. Gläser stürzten um, überraschte Schreie drangen schmerzhaft schrill aus Damenkehlen und binnen Sekunden brach schiere Panik aus. Das Personal floh, genauso wie die Gäste. Sie drängten und schoben sich in aller Eile in Richtung der Ausgänge, während fremde Gesichter aus allen Türen – und davon führten so Einige zum Ballsaal – Selbigen erstürmten.

Schwerter, Bögen, Armbrüste, schäbige Lederpanzer und ein paar zerzauste Lumpen. „Rebellen!“ erkannte Alandor mehr als überrascht, ehe sein Geist einsetzte und zu schalten begann, „Vivica, bring Selina in Sicherheit!“ forderte er und deutete in Richtung der Treppe.

„Alle raus hier!“ blaffte eine weibliche Stimme. Der Bannwirker und Iangeon sahen einander an.

„Zeit zu gehen, würde ich sagen.“ meinte dieser einladend. Beide zuckten mit den Schultern. Wenn es nur um einen Raubüberfall ging, gut, dann sollten sie doch in aller Ruhe das Haus plündern! Alandor tat genau einen Schritt zum Ausgang, als ein kleines Metallprojektil die Büste direkt neben ihm in einem Regen kleiner Steinsplittern zerfetzte.

„Ihr nicht!“ tönte die Stimme eines Weibes. Alandor sah sich um, fand rasch die Quelle und hätte am liebsten lachen wollen. Was für eine überaus schlechte Parodie einer Piratin sollte das denn bitte werden? Hatte sie zu viele Ammenmärchen über romanische Seefahrten und Freibeuter verschlungen, oder war sie wirklich so närrisch?

Es vergingen einige Minuten, in denen auch die letzten Gäste durch die Türen ins Freie verschwanden. Einzig Selina kehrte zurück, drängte sich zwischen all den Flüchtenden hindurch und wurde von Vivica in die Arme geschlossen, die das Mädchen in Sicherheit brachte – hinter den zwei Magi, die ihrerseits einen Wall zwischen den Damen des Hauses und den sie umzingelnden Rebellen bildeten.

„Wie kommt es eigentlich, dass ihr an meiner Seite steht?“ erkundigte sich Alandor mehr als überrascht, dass Iangeon seine Chance auf Flucht nicht genutzt hatte. Der grinste schelmisch, wie man es von einem frechen Rotzlöffel von vielleicht zehn Sommern Alter hätte erwarten können und zuckte dann mit den Schultern.

„Wenn euch einer zur Strecke bringt, mein Freund, dann werde ich das sein, niemand sonst!“ erklärte der Geistmagier grinsend seinen Beistand und spürte, wie das Gewebe in durchdrang. Entweder hatten die Rebellen absichtlich oder unabsichtlich die Runen beschädigt oder vielleicht sogar zerstört, die ihm seine Kräfte geraubt hatten, oder aber, der Gastgeber der zersprengten Gesellschaft besaß eine Art von mentaler Kontrolle über diesen Schutzmechanismus. Ein weiteres, interessantes Detail, das Iangeon sich für später zu merken gedachte. Falls es denn ein 'später' geben würde.

Oh er zweifelte nicht daran, dass sie das hier überlebten. Alandor hätte sie alle mit einem einzigen Zauber töten können und auch Iangeon wusste, wie er die eine Hälfte dazu bringen könnte, die andere Hälfte zu erschießen und zu erstechen. Nein, die Frage war viel mehr, wie es sich in Samaras Oberschicht wohl darstellen würde, dass die Rebellen, von denen man bisher nur allerlei Gerüchte ins Nobelviertel hatte schwappen hören, ausgerechnet dieses Anwesen an diesem Abend heimsuchten.

Welches Urteil würden sich die Reichen und Schönen da wohl bilden...?

„Ich verlange zu wissen, was ihr in meinem Haus zu suchen habt!“ forderte Alandor diese Parodie einer Piratin auf, die lediglich einen Moment zornig funkelnd versuchte, ihre Lage abzuschätzen. Noch bevor sie sich jedoch tatsächlich zu Wort melden konnte, ertönte von ganz anderer Seite die verlangte Antwort.

„Verlangen? Einen Dreck wirst du!“ blaffte ein anderes Weib.

Erneut wanderten ihre Blicke. Es war überraschend, unter einer Bande von offenkundigen Bauern, denen man nur mit Notdurft erklärt hatte, wie sie sich beim Heben eines Schwertes nicht selbst enthaupteten, eine Elbe zu finden. Noch dazu eine Elbe, die die Statur und Bewegungen eines erfahrenen Kriegers und Kämpfers hatte.

Noch dazu eine Elbe, die nur ein Auge hatte.

Ob sie damit überhaupt noch etwas sehen konnte? Räumlich sehen? Und wie wollte man mit einem Schwerthieb treffen, wenn man die eigene Position in Relation zu der des Gegners falsch einschätzte? Vielleicht sollte er es einfach auf einen Versuch ankommen lassen, um diesem vorlauten Weib zu zeigen, wie überaus dümmlich es war, sich ausgerechnet am Gut und Leben eines Magiers vergreifen zu wollen.

„Die Männer und das Kind brauchen wir nicht.“ erklärte die Elbe ohne Umschweife und funkelte Alandor kalt und boshaft an. Noch bevor die Piratin eingreifen konnte, löste sich von der Armbrust eines Rebellen bereits der Bolzen und Sekunden später spürten alle im Raum, die das Gewebe wahrnahmen, das Kribbeln von Magie.

Eine kleine Bannmauer schloss sich um den Körper des Schützen und schrumpfte in Sekunden dahin – sie zerquetschte den Mann, presste ihn bis auf die Größe einer Fingerkuppe zusammen und als das Bannfeld brach, 'explodierte' der Inhalt sich rasch ausbreitend förmlich. Der Bolzen dagegen wurde von einer weiteren Bannmauer schlicht abgeschmettert.

Vivica hielt Selina weiter an sich gepresst, um zu vermeiden, dass das Kind die Sauerei mit ansehen musste, doch als ihr klar wurde, dass dieses Geschoss das Mädchen im Rücken getroffen hätte, da veränderte sich auch in ihr etwas... und es wurde kalt im Raum, kalt und kälter mit jeder Sekunde.

Magier!“ spukte Ashes angewidert und voller Hass den Begriff aus.

Abschaum!“ erwiderte der Hausherr, während kalte Berechnungen kalkulierten, wie schnell er wie viele dieser Witzfiguren töten könnte – und welche Risiken dabei für Selina und Vivica bestanden.

Alandor!“ spie plötzlich eine weitere Stimme seinen Namen. Verdutzt über den Klang eben dieser, über diesen bekannten, wohlvertrauten und verhassten Einschlag, wechselte die Aufmerksamkeit des Bannmagiers den Besitzer und er gewahrte, dass offenbar nicht alle Gäste des Balles den Saal fluchtartig verlassen hatten.

Es war schwer, die Gesichtszüge nach all den Jahren zu erkennen, doch diese Stimme...

Das verbrochene Glas, als du die Verlobung bekannt gegeben hast...

'Adamant'!“ spottete der Bannwirker zurück und wünschte sich in diesem Moment, da er Peter wieder sah und für den Angriff der Rebellen verantwortlich machte, nichts mehr, als dass er ihm damals nicht die Nase, sondern das verdammte Genick gebrochen hätte...

Langsam begann der Bannmagier seine Kräfte zu sammeln. Das statische Aufladen der Energien, abgezapft aus dem Gewebe, umgab das einstige Zirkelmitglied wie eine bedrohliche Wand, die immer härter wurde, immer stabiler, immer weiter anwuchs.

„Keiner von euch wird diesen Raum lebend verlassen...!“

Einigkeit

Leer und dumpf hallte ein schweres Ächzen in jenem verwaist wirkenden Korridor wieder. Erst Sekundenbruchteile später löste sich eine Gestalt aus dem scheinbaren Nichts der Finsternis und stürzte zu Boden. Die Rüstung der Figur schepperte leicht, das Leder darin knarzte und ächzte. Es war nicht gewohnt, steif gefroren solche Belastungen aushalten zu müssen.

Die Elbe kam nicht auf die Beine – zumindest nicht sofort. Sie stützte sich mit den Ellbogen vom Boden ab und schien zu warten, einen angestrengten Blick in den Gang werfend. Er war direkt vor ihr gewesen, er hatte sie angegriffen, sie in dieses... sie wusste nicht einmal, wohin er sie gezerrt hatte. In etwas hinein, für das sie keine Worte fand. Noch jetzt spürte sie, wie diese grässliche Kälte ihr durch Mark und Bein kroch. Nicht wie der Reif an einem frühen Wintermorgen – dieser Frost kam nicht von außen und sog die Wärme aus der Haut, bis Fleisch und Knochen darunter nach und nach abkühlten.

Es war durchdringend. Als würde sie ohne Widerstand durch jede Faser dringen und die Kälte in allen Schichten zugleich verteilen. Ein widerwärtiges Gefühl, das Ashes in ähnlicher Weise durchaus kannte – es fühlte sich wie sterben an. Bisher war sie Ereshkigal immer von der Schippe gesprungen, aber einen kurzen Moment, zwischen ihrem unfreiwilligen 'Flug' und dem Aufprall am Boden, da wähnte sie, das dies nie knapper war als hier.

Sie erinnerte sich noch zu gut an die Worte, die dieses kleine Flittchen gebraucht hatte. Wie sie ungeniert und zweifellos sogar in bestem Wissen in offenen Wunden bohrte, von denen niemand hätte wissen dürfen. Sie hatte ihren Wachhund von der Kette gelassen – 'um sie zu beschäftigen', wie sie gesagt hatte.

Ashes wusste, wie viel Hohn und Spott allein in diesen Befehlen lag. Beschäftige sie – ich habe Dringlicheres zu tun. Sie konnte nicht sagen, wie dieses Weib und der Magier in Beziehung zueinander standen, doch dergleichen interessierte sie ohnehin nicht. Sie war ihm hierher gefolgt, um Alistair zu finden... und das würde sie auch!

Mit grimmiger Entschlossenheit im Blick richtete sich die Elbe wieder auf. Ihr Auge tastete noch immer den Korridor ab, doch er war leer und schien es auch zu bleiben. Dieser Krieger, den man ihr auf den Hals gehetzt hatte, war stark, stärker als erwartet. Muskeln allein konnten so etwas nicht vollbringen und sie spürte das leichte Kribbeln, wann immer er einfach so 'verschwand'. Magie... oh sie hasste Magie und die Feiglinge, die ihre Kämpfe nicht anders gewinnen konnten, als sich derer zu bedienen!

Es gab kein Geräusch. Die Fackeln an den Wänden flackerten monoton in ihrem stetigen Rhythmus und dem verzweifelten Aufbegehren, nicht von der völligen Schwärze der Obsidianfeste verschlungen zu werden. Hier war nichts, das ihn hätte verraten können – aber sie spürte es. Sie spürte seine Gegenwart, seine... Nähe.

Das Schwert riss sie gerade rechtzeitig empor, noch während sie herum wirbelte. Sie konnte einen schweren Axthieb gerade noch abfangen, sich jedoch nicht verteidigen, als Thorin den gepanzerten Stiefel hob und ihr wuchtig in den Magen trat. Wieder stürzte sie, wurde von den Beinen geworfen. Ihre Finger umklammerten mit aller Macht krampfartig das Schwertheft. Wenn sie ihre Waffe verlor, würde sie gegen diesen Muskelberg noch schlechtere Karten haben als ohnehin schon.

Doch warum beendete er dieses Trauerspiel nicht?

Ashes wusste, das sie gut war. Sie prahlte nicht damit, weil dergleichen Idioten gebührte, die dafür die Rechnung erhielten. Aber sie wusste es. Dennoch – ihm war sie nicht gewachsen. Vielleicht in einem ehrlichen, fairen Kampf. Er mit seiner Lederrüstung und der schartigen Axt, sie mit ihrem Schwert und der Kettenrüstung. Es hätte ein schweres, unsicheres Duell werden können, eines, dessen Ausgang offen war. Aber immer wieder verschwand er, teleportierte sich oder wie immer er das anstellte.

Mit diesem Vorteil und der nötigen Geschwindigkeit hätte er sie ohne Mühe längst niederringen können. Er hatte sie bereits in seine Sphäre entführt, an einen Ort, an dem ihre Sinne völlig überreizt und überlastet waren, unfähig, die Eindrücke zu verarbeiten – und er hatte sie daraus hervor gestoßen, just bevor die Kälte ihr Herz erdrosselt hätte. Er spielte mit ihr, das war der Elbe klar – sie wusste nur noch nicht, warum.

Doch allein der Umstand, das man sie offenbar nicht völlig ernst nahm, reizte sie nur weiter. Ihre Hiebe wurden zu keinem Zeitpunkt von Verzweiflung geführt, dafür umso mehr von Zorn. Sie würde diesem Bastard irgendwann, irgendwie den Arsch aufreißen, wenn er sich weiter so anstellte – und danach wäre dieses Weibsstück dran!

In all dem Durcheinander hatte sie ihre Umgebung aus den Augen verloren. Nur gelegentlich hatte sie bemerkt, das sie beobachtet wurden. Nicht von Augen, die einem Körper aus Fleisch und Blut angehörten. Es war, als würde die Dunkelheit selbst aus den Nischen jedes Raumes mit dutzenden von neugierigen Augen ihnen zusehen. Doch sie hatte nur das Publikum bemerkt, nicht den Pfad. Es fehlte der Festung an Treppenstufen. Schmale Gänge fielen in Wendelpfaden seicht abwärts oder stiegen auf, glatt geschliffen, poliert, aber mit genug Profil, damit Schuhe auch Haftung fanden – es war schwer, inmitten eines Kampfes zu bemerken, wie viele Stockwerke man schon hinter sich gebracht hatte.

Bewusst wurde ihr der Ortswechsel erst, als sie sich einem weiteren Tor näherten.

Erstmals trat Thorin wieder aus den Schatten hervor, ohne sofort die nächste Attacke zu führen. Ashes gönnte sich ein tiefes Durchatmen und kam nicht umhin, zu bemerken, wie erschöpft sie bereits war. Dieser Kampf verlangte ihr alles ab – und dieser Ochse wagte noch zu lächeln!

„Sei nicht beleidigt.“ hob er an, während er mit der Axt hantierte, als wäre sie ein Bestandteil einer akrobatischen Einlage, „Die Kräfte, mit denen du hier spielst, die durch sie fließen, durch mich, durch den Stein unter deinen Füßen... sind nichts, das du mit Schwert und Zorn in die Knie zwingen kannst.“

„Das werden wir sehen.“ spie die Elbe erbost. Obgleich sie versuchte, sich zu sammeln, wieder zu Kräften zu kommen, musste sie noch immer Atem schöpfen.

„Was hast du denn noch, hm? Sieh es dir doch einmal an. Deine Rebellen fliehen als Bettler und Obdachlose nach Süden. Was denkst du, wie weit sie kommen werden? Vielleicht schaffen sie es bis zu den Wüsten – aber hindurch? Vorbei an Amon Selona? Du hoffst auf Sundergrad, auf deine kleine Piratenfreundin. Erinnere dich, wie weit Hoffnung dich in den letzten Jahren gebracht hat.“

Thorin war kein Mann vieler Worte. Es zählte nicht unbedingt zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, mit dem Feind zu reden, eine kleine, schicke Predigt zu schwingen und weitschweifig auszuführen, warum Widerstand nutzlos und dumm gleichermaßen wäre. Doch Ashes war ein Sonderfall. Sie war von Bedeutung, nicht nur für ihn, auch für Ninafer. Sie war... anders.

Und obendrein beschäftigte sie auch jedes Wort, das er sprach. Er wollte sich mit ihr messen. Ein ordentlicher Kampf, das war zu Beginn sein Bestreben gewesen, doch nur zu schnell erkannte er, das dergleichen gar nicht mehr möglich war. Die Kraft, die in seinen Schlägen steckte, die Geschwindigkeit, die seine Beine aufbrachten... gewiss, ein Teil davon entsprang seiner eigenen, körperlichen Konstitution – aber eben nicht alles. Er hätte sich mit ihr nicht fair messen können, selbst wenn er sich redlich bemüht hätte.

Also führte er mit schnellen Schritten alles den nächsten Punkten entgegen. Ihm war klar, das Ashes für Worte nicht empfänglich wäre. Sie war in dieser Beziehung... ihm sehr ähnlich. Hatte er denn auf Ninafer gehört, als sie verlangte, er solle niederknien? Nein. Er hatte gekämpft, bis zum letzten Atemzug, bis Blutverlust und Erschöpfung ihn bezwangen... und ausgerechnet auf die Knie stürzen ließen. Sie hatte es als einen Sieg gewertet.

Ashes würde einen ähnlichen Weg beschreiten müssen. Vielleicht war er nicht ganz so lang wie der Seine. Sturheit, Torheit und Trotz hatten sich über die vielen, vielen Jahre tief in sein Gemüt eingegraben. Ashes war 'nur' restlos verbittert. Man hatte ihr alles genommen, immer und immer wieder. Ihren Geliebten. Ihre Familie. Ihre Wurzeln in Volk und Heimat. Ihre Freiheit. Ihre Freunde. Ihre Rebellen. Und nun, scheinbar als Krönung dieser Serie... Alistair.

„Hör sofort auf!“ mahnte die Elbe an.

Thorin wusste, worum es ihr ging. Er wühlte völlig ungeniert in ihrem Kopf herum und jemand wie sie, mit einem grundsätzlichen Gespür für Magie, bemerkte dergleichen zweifellos. Aber er hatte wiederum keine Veranlassung, auch nur eine Sekunde auf sie zu hören. Was sollte sie schon tun? Ihn erneut angreifen? Früher oder später würde das ohnehin geschehen, sie würde sich selbst damit nur kostbare Zeit zur Erholung nehmen. Er dagegen interessierte sich längst nicht für das, was sie zu beschützen versuchte. Ihre Zeit in den Kerkern Sundergrads, die Stunden mit diesem schmächtigen Nordmann, was war ihm das doch gleichgültig! Nein, er wollte wissen, was sie konnte. Was man ihr gelehrt hatte, was sie in all den Jahren ihres Lebens geleistet hatte. Mit dem, was er auf jener Suche fand, war er durchaus zufrieden, wenngleich die Elbe seine Bemühungen auch vorzeitig unterbrach.

„Schluss!“ keifte sie ihn zornig an und setzte vor. Ihre Klinge fuhr nieder, ins Nichts hinein und durch nichts hindurch, nur, damit sie wenige Augenblicke später von einem kraftvollen Kinnhaken von den Füßen geholt wurde. Der Aufprall am Boden war hart und schmerzhaft, aber nichts im Vergleich mit dem Tritt, der ihr danach in die Magengrube gegeben wurde.

Eine Lache aus Galle und einer Spur Blut keuchend, krümmte sich die Elbe einen Augenblick zusammen, während sie mit aller Macht dagegen ankämpfte, das Bewusstsein zu verlieren. Thorin ließ ihr keine Zeit, sich zu fangen, auf die Füße zu kommen, wieder kampfbereit zu werden. Er trat an sie heran, packte bar aller Zurückhaltung mit der Pranke in ihren Haarschopf und zerrte die Elbe, die einen Moment überrascht aufschrie, durch den Torbogen in eine weitere Halle hinein.

Sie war wesentlich kleiner und tiefer als der Thronsaal Ninafers, diente jedoch auch ganz offensichtlich völlig anderen Belangen.

Wachen fand man hier, wie in der gesamten Zitadelle, nirgendwo. Es gab weder überborderte Teppiche, Selbstportraits oder Büsten, noch Waffenständer oder Rüstkammern. In diesem Saal befand sich das hiesige Äquivalent einer Folterkammer. Unzählige skurrile Kreationen aus Holz und Metall. In mancher kleinen Kuhle brannte ein Feuer, das offenbar irgendetwas warm oder in Bewegung hielt, das leise Klicken und Rattern von Ketten und Mechanismen hielt die Geräuschkulisse monoton am Leben und war damit gewissermaßen zumindest eine Verbesserung gegenüber der Totenstille in den Gängen.

Irritiert bemerkte die Elbe aus dem Augenwinkel heraus, das in einer Ecke des Raumes sogar ein Schrank stand, neben dem ein kleines Bett postiert war.

„Mir ist klar, das du keiner Vernunft zugänglich sein wirst. Nicht jetzt. Aber wir haben Mittel und Wege.“ eröffnete Thorin in geradezu nebensächlichem Tonfall, ehe er harschen Schrittes auf die Elbe zusetzte. Sie versuchte sich aufzurichten, kam jedoch gerade einmal bis auf die Knie, als ein Fausthieb sie direkt an der Schläfe traf und alle Lichter löschte. Sie spürte noch die Erschütterung, die Verschiebung von Gleichgewicht und Wucht, doch schon beim Aufprall am Boden war sie bewusstlos.

„War das wirklich nötig?“ flüsterte die Dunkelheit dem Krieger zu.

Thorin jedoch schnaubte nur verächtlich. Von Notwendigkeiten konnte man nur zu leichtfertig sprechen, um andere zu rügen. Er kannte Ashes auf einer Ebene von Parallelen in ihrem Geist und ihrer Vergangenheit – er wusste, das er bestimmte Dinge klar stellen musste, bevor irgendwelche weiterführenden Schritte unternommen werden konnten.

Eines, was nun deutlich genug in ihrem Kopf herum schwimmen sollte, war die schmerzliche Erkenntnis, ihm im Kampf einfach nicht gewachsen zu sein. Ashes hatte verloren, auf ganzer Linie versagt. Jemanden zu retten, dafür war sie hierher gekommen. Sie hatte weder erfahren, wo Alistair war, noch ihn befreien können. Alles, was sie erreicht hatte, war der Aspekt, diesem Magier eine Eskorte bis hierher gewesen zu sein.

„Bereite alles vor. Ich sehe nach, wie weit sie mit dem Magier ist.“ befahl der Kahlkopf und wandte sich rasch von dem erschöpften, zerschundenen Elbenleib ab. Seine Schritte trugen ihn wieder zurück in die höheren Stockwerke der Zitadelle.
 

„Hier entlang...“ flüsterte man ihm leise ein. Unter all den Lakaien, die Ninafer inzwischen gefunden hatte, unter den gebrochenen, verlorenen, zerschundenen Seelen erkannte er ihre Stimme allzeit wieder, selbst durch die Schleier und Schwaden der Schatten, durch die sie zu ihm sprach. Er folgte ihrer Anweisung zielsicher zurück in die Halle. Schwere Schritte trugen ihn den Teppich entlang und schließlich auch die Stufen zu ihrem Sitz herauf.

So manch anderer wäre für diesen Frevel bereits bestraft worden. Er hielt nicht inne, er erwies ihr keinerlei Respekt, keine Verbeugung, nichts. Doch er war nicht irgendwer. Gewissermaßen war die Herrin dieser Festung mit diesem Klotz vertrauter, auf einer skurrilen Ebene intimer, als mit jedem anderen Geschöpf hier. Und immer wieder gab es Tage, an denen sie das gleichermaßen bedauerte und erfreute...

„Wo ist der Magier?“ erkundigte sich der Krieger ohne Umschweife und ließ seinen Blick wandern. Aulet, die von Ashes Dolch gefällt und die Stufen rückwärtig herab geworfen worden war, war offenkundig verschwunden. Vermutlich wurde sie gerade... behandelt. In ihr unseliges, verfluchtes Leben zurückgerufen. Irgendwo weit über ihnen erklang das rhythmische, schwache Schlagen von Flügeln. Zweifellos schwärmten die Harpyien noch immer um die Zitadelle wie der Krähenschwarm um den Turm der Friedhofskapelle.

„Er führt eine Unterredung. Es wäre mehr als unhöflich, ihn zu stören, findest du nicht?“ eröffnete Ninafer in einem Tonfall, der ihm trotz aller Höflichkeit und Freundlichkeit klar machen sollte, wie unangemessen und töricht es wäre, ihn jetzt aufsuchen zu wollen.

Sie kannte ihn. Es war nicht schwer, aus Thorin zu lesen. Er spürte es, geriet darüber oft in Zorn und griff sie gelegentlich sogar an, wenn er sich einmal mehr zu stark fühlte – dieserlei kleine Kabbeleien gab es von Zeit zu Zeit. Bei einem Menschen wie ihm war das wohl unumgänglich, obwohl es natürlich auch andere, ruhigere und angenehmere Zeiten gab. Er misstraute Drakimh... aber der Kahlkopf misstraute auch Orykene, Aulet, allen anderen. Gerade so, als hätte er sich nunmehr unbemerkt in ihre Gedankenwelt eingeschlichen, hob der schroffe Fels die Stimme an.

„Ich traue ihm nicht. Er ist Magier... keine Gefahr sicherlich, aber er könnte auf dumme Ideen kommen. Irgendwelchen Unfug anstellen. Von all den Lachfiguren in diesem fliegenden Stück Fels hat er noch das größte Potenzial, unbequem zu werden.“

Ich könnte das ändern, dieses 'Problem' lösen...

Er sprach es nicht aus – aber Ninafer brauchte diese Worte nicht aus seinem Geist heraus zu lesen wie die Passage eines alten Buches, es genügte, auf seinen Tonfall zu hören und die Andeutungen in seinem Blick zu erspähen. Er hatte gegen Ashes gekämpft und er hatte sie ohne jede Mühe bezwungen – weil die Elbe ihm im Nahkampf vielleicht ebenbürtig war, es jedoch nicht mit den Mächten aufnehmen konnte, die inzwischen in ihm wüteten und ihn stärkten.

War es so profan? Suchte er einfach nur die nächste Herausforderung?

„Orykene passt auf ihn auf. Vorläufig wird er nirgendwo hin gehen. Er hofft noch immer, sie retten zu können – also wird er auch nichts anstellen. Du bist schon wieder so unruhig... setz dich doch und-“

„Ihr traue ich auch nicht.“ unterbrach der Muskelberg sie schlicht und ging mit keiner Silbe auf ihr Angebot ein. Ninafer seufzte schwach, ein wenig enttäuscht. Sie hatte gehofft, er wäre ihrer Freundlichkeit vielleicht diesmal ein klein wenig zugänglicher, doch er bewies auch diesmal eine unerfreuliche Kontinuität in seinem Verhalten.

„Wie geht es unserem neusten Gast?“ verlangte sie daher schlicht zu wissen. Natürlich war die Frage überflüssig. Wenn sie es wünschte, wäre sie in wenigen Augenblicken selbst in der Folterkammer und könnte sich davon überzeugen. Sie könnte auch einfach in die Erinnerungen des Kriegers einbrechen und sich anschauen, ob er im Kampf gegen sie vielleicht zu weit gegangen war, doch bei all den Möglichkeiten und all der Macht... wollte sie es nicht übertreiben. Und Ninafer wusste, das sie ihren Hoffnungen nie näher kommen würde, wenn sie ihn weiter verprellte.

„Der Kampf war nicht fair. Sie ist völlig fertig und ich gab den Auftrag, sie zu binden. Sie... ist stark.“ War die Zusammenfassung der Geschehnisse vielleicht noch das erforderte Minimum, so schien der letzte Zusatz keineswegs typisch zu sein. Doch auch dergleichen kannte sie gut – es war ein Ansatz, ein Auftakt. Er begründete oberflächlich, ehe er zu etwas anhob... in der Regel zu einer Bitte.

„Ich will sie haben.“

Einen kurzen Moment lagen diese vier Worte bleischwer in der Luft, ehe das leise, verhaltene und helle Kichern der Herzogin erklang. Oh sie war sich durchaus darüber im Klaren, wie fürchterlich unangemessen und kindisch es war, wegen solcher Dinge derartig amüsiert zu reagieren. Doch es war irgendwie befremdlich, Thorin davon sprechen zu hören, das er etwas – jemanden sogar! - „haben“ wolle. In der Regel waren sie an einem Punkt angelangt, an dem er nichts mehr erstrebte, nichts mehr begehrte und nur noch für die Aufträge zu leben schien, die sie ihm erteilte. Woher also die plötzlichen Ambitionen?

„Willst du das? Nun, du hast sie ohnmächtig zurückgelassen, nicht? War das doch deine beste Chance...“ setzte sie auf ihr Amüsement das Sahnehäubchen und beobachtete wohl unterhalten, wie er mit den Kiefern mahlte. Er glaubte wieder, von ihr vorgeführt zu werden, glaubte wieder, sie würde sich einzig und ausschließlich auf seine Kosten amüsieren, obwohl er es doch so ernst meinte und... ach dieser Mann war manchmal fürchterlich anstrengend. „Du könntest wenigstens lächeln.“ seufzte Ninafer, als sie sich langsam beruhigte und ihre gute Laune im Angesicht der steinernen Miene ihr gegenüber auch ebenso rasch wieder zerfiel.

Was für ein Spaßverderber.

„Sie ist mir an Kraft vielleicht gewachsen. Mit den Fertigkeiten, die mir zuteil wurden, könnte sie unserem Ziel bestens dienen. Vielleicht würden wir dann sogar noch rascher die notwendigen Schritte angehen können und-“

Thorin war kein Mann vieler Worte. Oder guter Worte. Das merkte man schnell – er bemühte sich redlich, vernünftig zu argumentieren und das nun ausgerechnet in einer Situation, in der selbst der weltbeste Rhetoriker schlicht und ergreifend versagt hätte, einfach, weil es von vorn herein keinerlei Chance auf einen Sieg gegeben hatte.

Dementsprechend versuchte sie auch, den Schaden zu begrenzen und hob flink die Hand, um ihn zum schweigen zu bringen, ohne ihm dafür ins Wort fallen zu müssen. Sie konnte sich gut vorstellen, wie er ihr das wieder auslegen würde, obwohl er sich umgekehrt fortwährend dieses Recht heraus zu nehmen schien... daran sollten sie bei Gelegenheit arbeiten.

„Du kannst sie nicht haben.“

„Warum? Mit Schmerz kennt sie sich aus, mit Kampf und Gewalt... ich werde sie zu nichts überreden können. Du aber kramst doch mit Vorliebe in den schmerzhaften Erinnerungen und Gedanken anderer herum... du könntest sie überzeugen.“

Der unterschwellige Vorwurf war geradezu niedlich. Selbst nach der langen Zeit, die sie nun so exzellent zusammen arbeiteten, konnte er es nicht sein lassen, von Zeit zu Zeit immer noch darauf hinzuweisen, wie alles begonnen hatte. Vielleicht war er ja ein wenig nostalgisch und wünschte sich die Zeiten zurück, als diese Pranken sich noch um ihren Hals gelegt und mit der Kraft eines Schraubstockes geschlossen hatten?

„Ashes ist eine zerschundene Seele, sie ist für eine Elbe noch so jung und dennoch im Geiste bereits so schrecklich gealtert. Bitter bis ins Mark und verletzt...“

„Macht es das nicht leichter?“

„Durchaus. Aber es gibt Pläne für sie – die den Deinen im Wege stehen. Thorin, du musst verstehen, ich- nein, warte doch! Thorin!“

Sie hatte den Augenblick genau erfassen können. Den Punkt, an dem er erkannte, das er nicht bekommen würde, was er wollte. Mehr noch. Sie hatte gesehen, wie es in ihm arbeitete, noch bevor er auf der Hacke kehrt machte und einfach wieder aus der Halle verschwand. Er ließ sie zurück, frustriert von diesen abgebrochenen Unterredungen. Sie hätte ihn dafür mahnen können, sie hätte ihn aufhalten können, selbst jetzt noch wäre es in ihrer Macht gewesen, ihn zurück zu bringen... doch wozu? Für noch mehr Streit?

„Ihr könntet unzählige Männer haben. Ich begreife nicht, warum ihr euch mit ihm solche Mühe gebt.“ erklang eine leise flüsternde Stimme. Ein leises Zischeln schien unterschwellig darin zu liegen. Kurz darauf führten lautlose Schritte die Figur Aulets wieder die Stufen herauf, an die linke Seite des Thrones. Ihre reptilienhaften Augen fingen den Schein des Feuers ein und funkelten dem Tor entgegen, durch das der Kahlkopf so rüde verschwunden war.

„Ach das ist... kompliziert.“ erwiderte Ninafer lediglich seufzend. Es war nicht so, das Aulet nicht mit ihren Worten Recht hatte, nur...
 

Thorin!

- Thorin!

Geh nicht!

- Wir verbieten es!

Du hast dort nichts zu suchen.

- Verschwinde!

Lass sie!

- Das geht dich nichts mehr an!

Ein penetrantes und diffuses Gewirr aus Stimmen bemühte sich, ihm die Orientierung zu rauben, ihn die falschen Gänge entlang laufen zu lassen, während der Krieger immer rascher seine eigenen Überlegungen zusammen stellte. Es gab Pläne für Ashes... Pläne... das war das Schlüsselwort. Es war nicht so, das er unbedingt in alles eingeweiht werden wollte, er brauchte keine Kontrolle über die vollständige Situation – diese Zeiten hatte er hinter sich gelassen.

Doch er empfand eine gewisse... Verbundenheit mit diesem Weib. Sie war ihm in mancherlei Hinsicht ähnlich. Welche Pläne es auch waren, selbst Ninafer hatte nicht sonderlich begeistert geklungen... oder hatte er sich das nur eingeredet? Der Krieger ahnte, das er zu spät käme oder in jedem Fall machtlos wäre, doch er wollte es zumindest auf den Versuch ankommen lassen. Das Ziel der Zitadelle, Ninafers, sein Ziel war die Säuberung dieses Landes. Dabei hätte es bleiben sollen. Ashes aber war kein Einwohner Lumiéls, sie war eine Söldnerin mit Wurzeln irgendwo in Übersee und ohne es auszusprechen, formte sich aus allerlei wirren Gedanken heraus allmählich eine Ahnung. Es würde alles passen – nur wäre es für ihn völlig inakzeptabel.

Sein harscher Schritt ging allmählich in einen zügigen Trab über, bis er weiter an Tempo aufnehmend die Korridore der Zitadelle entlang stürmte. In den Treppengängen nahm er drei Stufen auf einmal, wählte damit einen anderen Pfad, als er die Elbe zuvor auf die untere Ebene herab geführt hatte und hoffte, damit etwas schneller am Ziel zu sein. Tatsächlich traf er an der Kammer ein, gerade, als die Tore sich zu schließen begannen.

Noch während er sie wieder aufstieß, zog sein Arm in einer flüssigen Bewegung empor und zückte das scheinbar schartige Blatt der Axt von Neuem.

Ashes lag auf einem Sockel aufgebahrt, einer Art Altar ähnlich scheinend. Die eisernen Ketten um ihre Hand- und Fußgelenke hielten – noch. Doch es war deutlich, das die Ohnmacht sie nicht lange halten konnte und die blanke Sturheit und der Trotz sie dazu brachten, gegen das Metall zu arbeiten. Sie hatte sogar bereits einen recht ansehnlichen Effekt erreicht – die Schrauben lösten sich langsam aus dem Stein und je mehr Freiraum sie bekam, umso schneller kam sie voran.

Thorin störte sich daran herzlichst wenig, er hatte andere Sorgen. Dieses Mal würde er von Angesicht zu Angesicht gegen sie kämpfen. Nicht, weil er es unbedingt und um jeden Preis wollte, sondern, weil die Schatten ihm jegliche Hilfe verweigerten. Sie ließen ihn nicht mehr ein, sie stärkten ihn nicht – er handelte wider ihres Willens, also straften sie ihn ab... oder versuchten es zumindest, in dem sie sich nicht einmischten. Er hatte es schon bemerkt, als er die Thronhalle verließ und versuchte, sich in den Schatten schneller zur Kammer zu bewegen, als ihm im Laufschritt möglich gewesen wäre.

Gerade, als er den Sockel erreichte, riss sich die Elbe mit einem Arm los. Thorin holte aus und schlug zu, doch sie vermochte es, sich auf die Seite und damit nah an den Rand des Altars zu rollen. Kleine Steinsplitter rieselten durch die Luft, als die Axt auf blanken, soliden Stein traf. Findige Finger öffneten die einfachen Riegelverschlüsse und noch vor seinem zweiten Angriff hatte sich Ashes völlig befreit.

„Du wirst die Zitadelle nicht verlassen!“ fuhr der Krieger sie an, während er sich in einer bereit machte, ihr erneut im Kampf zu begegnen. Ashes jedoch, so zornig ihre Augen auch funkelten, hatte auch nicht vor, zu gehen. Sie hatte durchaus begriffen, das sie ihm vielleicht nicht gewachsen war, doch sie war nicht bis hierher gekommen, um jetzt aufzugeben und einfach abzuziehen. Sie würde finden, weshalb sie gekommen war – und dieser Klotz am Bein würde sie zweifellos nicht davon abhalten können, außer er brachte sie um. Das jedoch, so vermutete sie, lag außerhalb seiner Interessen – sonst wäre sie nach dem ersten Kampf nicht wieder aufgewacht und hätte sich in der Lage einer Gefangenen wiedergefunden. Ein Gefühl, das gleichermaßen bekannt wie verhasst war.

Der Worte waren genug 'gewechselt' worden.

Ashes sprang unter seiner ersten Attacke hindurch und vollbrachte es, mit wenigen Schritten einen der Waffenständer zu erreichen. Es war nicht unbedingt ihre favorisierte Waffe, aber sie hatte nicht alle Zeit der Welt. Rasch packte sie zu und wirbelte geschickt herum. Der Hüne entkam in seinem Ansturm nur knapp der Klinge der Hellebarde und sah sich einen Augenblick in die Defensive gedrängt, als die Elbe ihn geschickt und flink auf Distanz hielt.

Das sie damit nicht wirklich zu kämpfen vor hatte, war offensichtlich. Zu oft schweifte ihr Blick ab, musterte den Raum, durchsuchte ihn... nach einer Waffe, mit der sie besser umzugehen wusste. Thorin wiederum passte einen solchen Moment ab, preschte vor und packte die Lanze knapp hinter der Klinge. Er schlug mit der Axt die Waffe entzwei und wollte schon nachsetzen, schlug die Elbe mit dem zersplitterten Holzstück zu, als hätte sie eine Trollkeule in der Hand. Tatsächlich war ihr Hieb überraschend stark und das gesplitterte Ende hinterließ ansehnliche Kratzer auf seiner Wange. Nichts, was seine Kampfbereitschaft beeinflusste, aber es verschaffte ihr die nötigen Sekunden, sich eines der Schwerter anzueignen.

Nunmehr schien der Kampf deutlich ausgeglichener – sehr zu Thorins Unwillen.

Hoch oben über ihren Köpfen arbeitete die Zitadelle längst. Die Schatten, die die Festung belebten, in der Luft hielten, sie bewachten und jeden Stein passgenau auf dem Anderen hielten, hatten erkannt, das der Krieger sich durch dezente Nichteinmischung nicht bremsen ließe. Doch das Werk war noch nicht vollbracht, er war noch nicht... 'fertig'. Unruhige Bewegung herrschte an der Raumdecke. So, wie Drakimh fähig war, eine Kugel gleißenden Lichtes zu beschwören, schienen sich dort ihre völligen Gegenteile zu tummeln. Kleine Punkte, Singularitäten, die jegliches Licht in sich einzusaugen schienen, die eine finstere, lichtlose Spur hinter sich her zogen. Dutzende, Hunderte, die knapp unter der Decke aufgeregt wirbelten und immer schneller wurden, das Chaos ihrer Bahnen vergrößerten, je rascher der Kampf unter ihnen vonstatten ging.

Ninafer hatte sie zur Eile angetrieben, sah sie doch noch immer eine Möglichkeit, das alle mehr oder minder heil aus dieser Situation heraus kommen konnten. Einstmals war Diplomatie ihre Stärke gewesen – vielleicht war es an der Zeit, das von Neuem zu beweisen.

Metall scharrte über Metall, als Thorin den Streich der Elbe nur knapp parieren konnte. Sein Panzerstiefel hob sich, er rammte sein Knie in ihre Richtung, doch die Elbe entkam flink genug, wich zur Seite aus und zog die Schneide schon zum nächsten Hieb seitlich heran. Immer häufiger erklang das Geräusch der Waffen und Paraden, beide Kämpfer waren mehr als warm gelaufen und hoben ohne jede Gnade aufeinander ein. Nur einen einzigen Schwachpunkt bräuchte es, nur einen Augenblick der Unachtsamkeit, um all das zu beenden, doch... bisher war keiner dieser Augenblicke ausreichend gewesen.

Ashes blutete aus einer kleinen Schnittwunde am Oberschenkel, noch immer rang sie mit der Erschöpfung und den Schmerzen des vorherigen Gefechtes und ihre Schulter fühlte sich von einem Fausthieb leicht lahm an, doch auch Thorin war bislang nicht ohne Spuren davon gekommen. Sein Rücken brannte wie Feuer von einem Streich, den sie erfolgreich quer darüber geführt hatte. Sein alter Lederpanzer hatte die Schneide abfangen, die Wucht jedoch nicht bremsen können.

Schließlich zog der Kahlkopf seine letzte Trumpfkarte.

Er verlagerte sich deutlich in die Defensive, beschäftigte sich damit, Ashes Angriffe abzuwehren, während er sich selbst in seine Erinnerungen zurück fallen ließ. Ninafer und ihre Schatten hatten zahllose Bilder und Begebenheiten rekonstruiert, nachdem man ihm den Alkohol erst einmal großteilig ausgetrieben hatte. Alles, was zerstört und vergessen worden war, war zu ihm zurückgekehrt. Es waren schreckliche Momente gewesen, doch gerade hier und jetzt nützte ihm die damals durchlittene Pein.

Vor vielen Jahrzehnten hatte der Krieger von einem seiner besten und engsten Freunde gelernt, was es mit zwergischen Berserkern auf sich hatte. Krieger, die gelernt hatten, einen unbändigen Zorn zu entfesseln und dennoch ansatzweise Herr ihrer Sinne zu bleiben. Er hatte gelernt, es ihnen gleich zu tun – und nichts schürte seine Wut mehr als die Erinnerungen, die Ninafer ihm zurückgegeben hatte.

Bilder von Kriegern in blutroten Rüstungen, die er unter widrigsten Bedingungen und trotz besseren Wissens in die Schlacht gegen die grüne Flut geführt und dort auf dem Feld verloren hatte, Männer und Frauen, die unter seinem Kommando gestorben waren, all die Gefährten, die bei dem Versuch ihr Leben ließen, gegen seine Majestät vorzugehen, all die Freunde, die er verloren hatte. Ein Marathon schlechter Erlebnisse und scheinbarer Schicksalsschläge, eine sich stetig steigernde Kette von Fehl- und Tiefschlägen, von Gesichtern, von Blut und letzten Worten, die an Geschwindigkeit aufnahm, bis die letzten Bilder geradezu quälend lange in seinem Geist verweilten.

Er kehrte heim... grünes Gras, weite Äcker in voller Blüte... alles wirkte so unberührt. Nur die Haustür, die offen stand, verwunderte ihn... die schlammigen Spuren von Stiefeln auf der Schwelle...

Die Erinnerungen an jenen schicksalhaften Tag, als er Weib und Tochter geschändet und nieder geschlachtet in seinem eigenen Heim fand, die Stunde, als das Schicksal eines Mannes neu geschrieben wurde – sie weckte noch heute, Jahrhunderte später, schiere Raserei in ihm.

Thorin brach so abrupt aus der Starre hervor, das Ashes die nötige Zeit fehlte, zu kontern. Hatte er eben noch in scheinbarer Trance ihren Hieb pariert, so packte er plötzlich ihr Handgelenk, zerrte sie ruppig und überraschend schnell hervor und rammte seine Stirn gegen die Ihre. Schmerz blitzte in seinem Kopf auf, doch nährte er nur, was in seinen Venen brannte. Die Elbe taumelte ein Stück zurück, versuchte sich wieder zu sammeln, da war der Kahlkopf auch schon direkt vor ihr.

Sie riss gerade noch rechtzeitig die Klinge empor, als die Axt mit ungemeiner Wucht nieder fuhr. Sie konnte gerade noch zurück setzen, war ihre Parade doch gescheiterte – weit genug zurück, damit sein Stiefel sie hart im Bauch traf. Mit einem Schlag war die Erschöpfung wieder da und rang damit, sie in die Knie zu zwingen, doch trotzig wie eh und je, stellte sie sich erneut. Als der nächste Schlag kam, riss sie abermals die Klinge empor. Nun wissend, worauf sie sich einließ, fasste sie die Spitze ihrer Linke in ihre Hand, um dem Metall mehr Widerstandkraft zu bieten. Es gelang ihr, den Schlag abzufangen, doch die Kraft hinter jener Attacke trieb ihr die Klinge schmerzhaft, wenn auch bislang ohne Wunde, in die Hand. Zudem wollten ihre Knie einen Moment nachgeben.

Immer schon hatte sie viel ausgehalten, ihre Kondition war der ihrer Feinde oft überlegen gewesen, doch hier nun stieß sie an ihre Grenzen. Zwei so schwere Gefechte direkt aufeinander überstand selbst Ashes nicht. Sie fand nicht mehr die Zeit zu kontern, sie kam nicht einmal mehr aus ihrer Parade heraus. Thorin hob mit vor Hass glühenden Augen auf sie ein, wieder und wieder und wieder, seine schiere Kraft zwang sie auf die Knie, die Klinge trieb sich in ihre Hand hinein, Blut rann ihren Arm herab, bis der Krieger die Monotonie durchbrach. Seine Faust durchbrach die Parade und erwischte die Elbe unvorbereitet. Sie wurde zurückgeworfen, landete unsanft auf dem Rücken – und konnte nur einmal mehr gerade rechtzeitig die Klinge heben.

Der letzte Hieb, den der Kahlkopf austeilte, entschied den Kampf.

Die Wucht dieses Schlages übertraf noch, womit er zuvor die Elbe und ihr Schwert traktiert hatte. Wie in Zeitlupe sah Ashes die Klinge beben, zittern, sah die haarfeinen Risse sich ausbreiten. Die Klinge zerbarst unter der Kraft des Schlages, das Heft entglitt ihrer Hand, das Klingenstück dagegen schnitt sich noch tiefer in ihre Wunde und eine Reihe von Splittern sauste wie Geschosse umher. Sie bohrten sich in Thorins Oberschenkel, der sich kaum dafür zu interessieren schien, sie fraßen sich in den Boden – und in Ashes Schulter. Sie wurde erneut zurück geworfen.

Sie wusste, das ihr Leben davon abhing, dem nächsten Schlag zu entgehen. Sie könnte sich zur Seite rollen, ihm gegen die Knie treten und... nein. Sie könnte nichts dergleichen. Ihre Kräfte waren schlicht erschöpft. Sie lag am Boden, sie war besiegt – einmal mehr – und spürte, das sie sich vielleicht noch zur Seite hätte drehen können, aber was hätte ihr das schon gebracht, außer einem kleinen Aufschub? Sie wäre zu fliehen gezwungen gewesen und dazu besaß sie nicht die Kraft. Sie bezweifelte, das sie sich überhaupt gegenwärtig eigenständig auf den Beinen hätte halten können.

Die Axt hob sich ein letztes Mal und erstarrte, während der Krieger auf sie herab spähte.

Just in jenem Augenblick beendeten die Schatten ihr Werk.

Eine kleine Kugel, jene physische Ausprägung der Abwesenheit von Licht, schnellte von der Decke herab, aus dem Wust des chaotischen Wirbelns heraus.

„Das war nicht der Handel!“ wurde ihm vorgeworfen. Doch der Krieger war völlig unzugänglich für Vernunft und Worte. In seinem Kampfrausch sah er nur noch den Feind vor sich, der ausgelöscht werden musste. Handel? Was für ein Handel? Die Klinge rückte in Richtung der Elbe hervor und erstarrte nach einem kurzen Zucken bereits wieder, als unzählige Schlingen sich um den Leib des Kriegers banden. Binnen Sekundenbruchteilen war der Hüne völlig fixiert und die Szenerie erstarrte.

Die Kugel schwebte vor ihm – und damit über Ashes. Der Glatzkopf schnaufte wie ein Stier in der Arena, während seine Augen noch immer voller Inbrunst die Elbe fokussiert hielten. Nur leise, aber durchdringend erklang die Stimme vom Tor der Halle her.

„Thorin... hör auf.“

Langsam schritt Ninafer über den schwarzen Obsidian der Halle bis zu ihrem Getreuen herüber. Sein Blick wanderte, langsam, träge. Er hatte sich so tief in diesen Rausch hinein gesteigert, das in seinem Kopf ein kreischendes, zorniges Chaos herrschte. Kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen – fast bemitleidete sie ihn dafür, in diesem Zustand am stärksten zu sein.

Ihre zarten, schlanken Finger legten sich auf seinen Unterarm und eine Reihe der Fesseln aus Schwärze und Schatten löste sich von ihm. Längst nicht alle – jeder im Raum war zu vorsichtig, ihm mehr Freiheit einzuräumen, als gut war.

„Beruhige dich.“ bat die Herzogin ihren Leibwächter mit sanftem Tonfall, und so zuwider ihm ihre Gegenwart und ihre Anwandlungen von Nähe zumeist auch waren... er bemühte sich, zu gehorchen. Es war schwierig, etwas einzufangen und zu beherrschen, das man entfesselt hatte, weil es unbezähmbar war. Fast wäre er ihr dankbar dafür gewesen, das sie sich in seinen Kopf eingrub und ihm half. Fast. Denn sie hatte dort trotzdem nichts zu suchen, sie...

Sein Blick fiel auf Ashes herab und obgleich es schwer war, das einzugestehen... fiel es ihm nicht mehr so leicht, Ninafer zu grollen.

„Ich weiß das zu schätzen, wirklich. Und nun komm... wir haben noch zu tun.“

Auch die letzten Schatten zogen sich langsam zurück. Sie war umsichtig genug, die Hand von seinem Arm zu nehmen und wies ihm stattdessen den Ausgang. Ein letzter Blick auf die Bezwungene herab, ehe die Axt auf den Boden fiel und ein Scheppern hinterließ, dessen Echo mehrfach im Raum auf und ab wallte, von den Säulen und glasglatten Wänden reflektiert. Das Duo ließ die Kammer hinter sich und nun, wie schon vor dem Erscheinen des Kriegers angedacht, schlossen sich die Tore hinter ihnen.

Zurück blieb Ashes, die sich ächzend am Boden wand und versuchte, wieder zu Kräften zu kommen. Sie begriff nicht, was eben geschehen war. Zuerst hatte er sie nur fern halten sollen und sie hierher geschafft, wo er sie ohnmächtig schlug und anbinden ließ. Als er dann zurückkehrte, nahm er den Kampf wieder auf – und diesmal ganz offensichtlich bemüht, sie zu töten, bis dieses Flittchen auftauchte und ihren Köter zurück pfiff.

Was ging hier eigentlich vor sich?
 

„Sie ist kein Flittchen.“ eröffnete eine leise Stimme ihr.

Ashes versuchte die Quelle zu erkennen, doch mit der Kraft, die sie fand, um ihren Kopf zu heben, erkannte sie lediglich, das der gesamte Raum leer war. Mit purem Willen zwang sie sich, ihren Körper bis zur nahe gelegenen Wand zu schleifen, an der sie sich halb aufsetzte und mit dem Rücken gegen den angenehm kühlen Stein lehnte.

Noch mehr Feinde? Noch mehr Schatten, die sich mit ihr prügeln wollten?

„Wo... ist Alistair?“ brachte sie erschöpft hervor. Wenigstens eine Antwort. Nach allem, was hier geschehen war, wollte sie wenigstens eine verdammte Antwort haben!

„Näher als du glaubst.“ erwiderte die Stimme lediglich. Die kleine Sphäre, die von der Decke herab gerauscht war, um in den Kampf einzugreifen, begann nun Ashes Aufmerksamkeit zu erregen. Obgleich es klang, als würde die Stimme von allen Seiten zugleich kommen, wähnte ihr gutes elbisches Gehör die Quelle darin gefunden zu haben.

Just in diesem Moment expandierte die Kugel, wuchs heran, vergrößerte sich, bekam Arme, Beine, Kopf. Nachdem die Konturen ausgeprägt waren, schienen die schwarzen Schaden wie die Reste eines nicht länger benötigten Kokons abzufallen – und gaben frei, weshalb die Elbe hierher gekommen war.

Es gab keine Wörter für den Schmerz, den sie empfand, als ihr dieser Anblick zuteil wurde.

Blass war er, wie immer. Seine Beine gerade, der rechte Arm ohne irgendeine Verletzung. Er hatte zu ihr gesprochen, mit einer Stimme, die von den Schatten verzerrt worden war – nun aber stand er dort, lächelte milde und war zweifellos in der Lage, ihr alles zu erzählen, was immer er erzählen wollte.

Er hatte schon immer eine geschwätzige Ader gehabt.

Der Blick der Elbe wurde glasig und hart zugleich.

„Was haben sie dir angetan...?“

Alistair seufzte leicht und das Lächeln verlor sich. Er trat einen Schritt auf Ashes zu, nur um den Widerwillen in ihrem Blick wachsen zu sehen. Also zog er es vor, sich vor ihr im Schneidersitz auf den Boden zu begeben. „Es ist einiges schief gelaufen, nicht wahr? Ich habe es mir von Ninafer erzählen lassen. Während ich schlief... suchte ich nach dir. Nach Kat, nach... irgendwem, den ich kannte. Die Rebellen sind tot, Ash. Die Zentauren haben sie abgefangen, bevor sie Sundergrad erreichten. Vielleicht eine lächerliche Rache dafür, was die Harpyien ihrem Volk antaten. Von Kat fehlt jede Spur. Wenn sie klug ist, sorgt sie dafür, dass das so bleibt. Oder sie hat Lumiél bereits verlassen, vielleicht ist sie nach Anadyr zurück...“

Erklärungen. Fakten. Beobachtungen. Aber nichts, was die Elbe wirklich interessierte. Nicht jetzt. Wichtig war im Moment eher...

„Warum?“

„Sie hat eine recht überzeugende Art. Denke nicht so schlecht von ihr – es waren weder Folter noch Verlockung nötig. Das zweite Mal in meinem Leben wurden mir Wunden beigebracht, die ich unmöglich ohne Folgen hätte überstehen können. Schon nach dem ersten Mal war ich... zerstört und... nun, du hast ja gesehen, wie ich in Sundergrad hauste und lebte, du hast erlebt, wie ich... war. Ich hätte das nicht noch einmal überstanden. Sie bot mir an, all das rückgängig zu machen. Sie bot mir mehr an, als ich je wollte. Rache an Aedan – das war mir gleich. Rache an den Wächtern aus Sundergrad, selbst nach ihrem Tod – ich war nie sehr nachtragend. Geschehen ist geschehen, sie zu quälen brächte mir meine Hand und meine Zunge nicht zurück, es würde mir nicht die Schmerzen nehmen, die ich jeden Tag empfand. Also bot sie mir genau das: Gesundheit. Jetzt und so lange ich lebe. Ich... habe dich nie vergessen. Ich handelte mit ihr, so gut ich es konnte, ich... Ash, bitte... sieh mich nicht so an.“

„Und was jetzt? Soll ich für sie arbeiten und wir spielen heile Welt?“ fuhr die Elbe den Mann an, den sie liebte. Sie war sich nicht darüber im Klaren, ob er überhaupt noch dieser Mann war...

„Nein. Ich weiß, du traust mir nicht mehr. Wir dürfen gehen... ich habe meinen Teil des Paktes erfüllt und sie erfüllt den Ihren. Ich möchte... dich begleiten. Wir könnten Lumiél verlassen, endlich fort aus diesem verdammten Land, das uns nur Ärger gebracht hat. Irgendwo neu anfangen... uns wieder etwas aufbauen und vielleicht... schaffe ich es sogar, dein Vertrauen ein Stück weit zurück zu gewinnen, ich meine... du erinnerst dich doch, das wir...“

Hatte Alistair eingangs noch recht sicher und überzeugt geklungen, so musste die Elbe mehr und mehr die alten Züge ihres Liebsten in ihrem Gegenüber wiederfinden. Sie hörte, wie die Verzweiflung seine Stimme für sich einnahm, wie er leiser wurde, um zu verbergen, das seine Stimme erstickt klang, belegt. Sie sah ihm die Nervosität an, die... Angst. Er fürchtete sich schrecklich davor, allein zu sein, all dies auf sich genommen zu haben und nun keinen Platz mehr in ihrem Leben zu haben, er fürchtete sich... vor viel zu vielen Dingen, wie immer schon. Und dennoch steckte in jeder Zeile diese hoffnungslose Romantik und der Idealismus, der sie an so vielen Tagen bis aufs Blut gereizt hatte.

Wenn diese Gestalt nicht Alistair war, dann war es der beste Schauspieler, den sie in ihrem Leben je gesehen hatte.

Doch wie sollte es weiter gehen? Würden sie wirklich einfach die Segel streichen und dieses Atoll hinter sich lassen können? War Alistair überhaupt wieder oder noch ein Mann aus Fleisch und Blut? Wollte sie überhaupt gehen und alles hier hinter sich lassen? Sie könnten Kathryn folgen... und endlich den vor über zehn Jahren geschlossenen Pakt einlösen, ihre Heimat von einer Hochstaplerin zu befreien. Sie könnten viel, wenn die Welt ihnen erst einmal wieder offen stünde...

„Wir sollten erst einmal von hier verschwinden.“ fasste die Elbe ihre Überlegungen knapp zusammen. Sie wusste es schon vorher und sah sich nur bestätigt, als sie einen Blick in sein Gesicht warf. 'Wir' war das Schlüsselwort. Sie hatte ihm nicht seine Ängste genommen, aber sie zumindest ein kleines Stück weit beschwichtigt...

„Los, hilf mir hoch.“ forderte sie. Eine kühle Hand schloss sich um die Ihre, kühl – aber nicht kalt. Sie griff nicht durch ihn hindurch, er war keine wandelnde Leiche, er war... 'echt'.

Während sie die Halle und kurz darauf auch die Zitadelle verließen, wagte Alistair zaghaft zu hoffen. Um Lumiél war es geschehen – das hatte Ninafer ihm gesagt. Dieses Land würde keine Rettung mehr erfahren. Wie viele Königreiche zuvor, würde es unter der Macht eines Gottes erzittern und zerbrechen. Aber die Welt war groß und vielleicht, nur vielleicht, würden Ashes und er noch eine zweite Chance bekommen.

Mehr wollte er doch gar nicht. Nur eine zweite Chance...

Auf- und Abstieg, Teil 1

Dumpf hallten die schweren Schläge in der Eingangshalle wider.

Thorins Knöchel schmerzten einen Moment. Mit einem kaum deutbaren Blick bedachte er eben jene, musterte seine Hand. Er streckte die Finger, zog sie zur Faust zusammen. Auch so ein Aspekt, an den er sich einfach schwer wieder gewöhnen konnte. Das selbst so kleine Dinge… schmerzten. Es war nur eine Tür. Einfaches Holz. Keine Steineiche oder dergleichen, nein. Dennoch schmerzten seine Knöchel.

Eine Weile schien es zu dauern, ehe Regung in das Haus kam. Er nutzte die Zeit, ließ seinen Blick schweifen. Lauter Trubel schallte hinter ihm, von allen Seiten schien er auf ihn einzudringen. Das Treiben einer lebendigen Stadt. Samara ging es gut, besser als jemals zuvor - keine Frage. Der König tat, was er konnte, um die Blüte seines geschundenen Landes zu fördern. Es war… eine Wohltat, all die Menschen zu sehen, all die Zwerge, ja selbst über die Elben hätte er sich freuen können - oder sollen? Man bemerkte viel häufiger Gelächter, kichernde Kinder, ein sonniges Lächeln hier und da. Aber all das berührte ihn nicht. Für genau diesen Anblick hatte er so bitter gekämpft, aber jetzt, da der Moment gekommen war… da er sich nur umzudrehen brauchte, um den Preis anzunehmen, um mit vollen Zügen seinen Sieg anerkennen zu können und sich im Ruhm zu sonnen - da tat er es nicht.

Dieser Sieg war falsch wie eine Schlange.

Und niemand wusste es.

Niemand außer ihm.

Als endlich die Tür geöffnet wurde, betrachtete er einen Moment das Gesicht. Es wirkte vertraut und doch fremd. Er hatte Alandor Lamerak schon weit früher kennen gelernt, als dieser sich zu erinnern glaubte. Ein Magier, blasiert, arrogant, wie alle Magier eben so waren. Aber ein begnadeter Künstler auf seinem Gebiet. Damals hieß ‚sein Gebiet‘ noch, das er hervorragend eine defensive Zauberschule verwenden konnte, um mit einem Dutzend Männer die grässlichsten Dinge anzustellen. Es war Krieg gewesen… und hatte daher seine Berechtigung und seinen Nutzen gehabt. Heute… heute war Frieden. Alle lächelten. Kauften Gemüse für abendliche Suppen und Brühen, erwarben an den vielen Ständen Samaras Schreibfedern für ihre literarischen Ergüsse, Eisen für ihre Schmelzen und besprachen in den zwielichtigeren Winkeln der schäbigen Gasthäuser, wen es als nächstes zu bestehlen galt. Allen ging es besser. Selbst den Diebes- und Assassinengilden.

Heute war Alandor Lamerak ein anderer. Einer dieser sorglosen Grundbesitzer. Er hatte die Schmiede längst in ein Wohnhaus umbauen lassen. Es gab noch genug Grund und Boden, auf dem Lamerak als Besitzer eingetragen war. Eben dieser, einmal vermietet an ein halbes Dutzend geschäftstüchtiger Männer und Frauen, brachte ihm mehr Geld ein, als er auszugeben fähig war. Selbst für einen Magier, die in Thorins Vorstellung ständig alchemistisches Allerlei und magischen Tand kaufen mussten. Kräuter, merkwürdige Steine und solches Zeug eben - er hatte sich nie dafür interessiert. Magie war feige… ein vernichtendes Urteil, das sich selbst im Angesicht des maßlosen Nutzens Alandors nie geändert hatte.

„Thorin? Welche Überraschung! Komm doch herein, bitte.“

Die Höflichkeiten, die Floskeln, es war ihm zuwider. Dieser Mann behandelte ihn, als wären sie gute alte Freunde. Saufkumpane, die schon ihre Lieder aus gemeinsamen Schlachten im Chor durch die Tavernen der Stadt gegröhlt hatten. Vielleicht erinnerte er sich sogar, dass dem so gewesen sei. Prüfen ließ sich das natürlich schwerlich. Der Krieger aber sah nur einen Mann vor sich, dessen er sich anders erinnerte. Mit hartem Gesicht und kaltem Blick. Der den Tod so vieler befohlen hatte, ohne Skrupel. Es hatte ‚der Sache‘ gedient. Keine Frage - auch an seinen Händen hatte viel Blut geklebt.

Aber er hatte Alandor zweimal kennen lernen müssen. Es war verwirrend gewesen, damals, als er plötzlich… die gleiche Person mit einem identischen Namen vor sich stehen hatte. Beide nebeneinander, beide ungehalten - aber nur einer von ihnen war über den Aspekt verwirrt, im wahrsten Sinne des Wortes neben sich zu stehen.

Frei heraus folgte er der Einladung, betrat das ausladende Haus. Der Geruch von Holz schwang ihm entgegen, frisch poliert wohl. Ein paar Duftöle hier und da, nette Wandbehänge, Dekoration, wohin das Auge sah. Blumensträuße in kunstvoll gewundenen Vasen - er kannte diese Blumen. Sie wuchsen nur um Norwingen herum. Vermutlich ein kleiner Tribut an Vivicas Herkunft. Möglicherweise wäre es höflich gewesen, irgendetwas zu sagen. Wie schön doch alles eingerichtet sei. Oder sollte er eine Frage stellen? Eine von diesen Belanglosen, deren Antworten ihn eh nicht interessierten? Etwas wie „Wie geht es Vivica? Und Peter?“ Nein, sicher nicht. Er war nicht hier, um mit solchem Unsinn seine Zeit zu verschwenden. Er war der grobe Klotz, der geistlose Krieger. Alles beim Alten. Er konnte es sich leisten, mit der Tür barsch ins Haus zu fallen.

„Ich brauche deine Hilfe.“

Ein Satz, der einen Moment bleischwer in der Luft hing. Alandor vergaß vor Schreck wohl, die Tür zu schließen. Das Brett fest im Griff, blickte er ihn an, während die Stirn des Magiers sich langsam in Falten legte. Erst dann erwachte er, schloss die Tür und trat an ihm vorbei. Thorin Eichenschild war ein Bär von einem Mann. Kräftig wie zwei, breit wie ein Schrank, voller Muskeln und von rundum imposanter Erscheinung. Man sah ihm an, dass er nicht nur stark war, sondern auch, dass diese Stärke in Erfahrung gestählt worden war. Er hatte die Ausstrahlung eines mies gelaunten Trolls - roh, angriffslustig, gefährlich. Die meisten Menschen hielt das immer auf Abstand. Ein Detail, für welches der Kahlkopf überaus dankbar war.

Doch gerade diesen Mann, der mit seiner ‚Kopf durch die Wand‘-Taktik bisher so viel erreicht und so viele Bollwerke durchbrochen hatte, stand nun hier und… bat um Hilfe. Nun - genau genommen hielt Alandor es ihm zu Gute. Er legte es ihm so aus, das er darum bitten würde. Thorin bat nicht, nie. Sein Tonfall war eine Anweisung, ein Befehl - doch der Magier glaubte ihn lange genug zu kennen, um ihn nie anders sprechen gehört zu haben.

Der Krieger wusste es besser.

Sie hatten einander mit dem Wort ‚Hilfe‘ erstmals kennen gelernt. Er lag in Räumlichkeiten des Königs. Tagelang. Wie viele, das wusste niemand. Vielleicht waren es vier, vielleicht zehn. In einer dicken, trockenen Lache seines eigenen Blutes hatte er dort gelegen, bemüht tief und flach geatmet und wann immer er Laut jenseits der Tür gehört hatte, hatte er gerufen. Um Hilfe. Tagelang. Doch dieser Flügel des Schlosses wurde kaum noch benutzt und eben jener Raum beinhaltete nur eine Abstellkammer. Niemand hatte gewusst, wie er dorthin gelangt war - und der Hüne hatte es ja auch nie erzählt. Man hatte ihn, unterernährt, völlig dehydriert und schwer verletzt, sofort zu einem Heiler gebracht. Drei Wochen war er an ein Bett gefesselt gewesen, ehe er überhaupt erst wieder hatte aufstehen können.

Jene, die sich als seine Freunde bezeichneten, hatten ihn besuchen wollen. Sie waren überrascht, ihn in Lumiél anzutreffen. Er war doch fortgegangen, zurück nach Kruk! Wie kam er ausgerechnet nach La Coeur? In dieses Zimmer - und in diesen Zustand? Doch er hatte geschwiegen, er hatte sie alle angeschwiegen. Und danach den Heiler angewiesen, niemanden mehr zu ihm zu lassen.

Drei Wochen. Sie waren nicht so quälend gewesen wie die Tage in der Kammer, aber auch sie waren… zu viel Zeit gewesen, über die Dinge nachzudenken. Er hätte fragen können, doch die Ahnungen waren zu dunkel, zu schwerwiegend, um es der Stimme eines Fremden zu überlassen. Er hatte sich selbst davon überzeugen müssen. Aufstehen durfte er, kurz ein paar Schritte gehen, zur Probe. Das waren die Anweisungen des Heilers gewesen, bevor Thorin ihn bewusstlos geschlagen hatte. Er hatte seine Sachen gepackt, seine alte Rüstung angelegt und das Haus verlassen. Und sich umgesehen. La Coeur, Zadiora, Samara, Herothing. Er hatte einige Orte bereist und sich nirgendwo erkennen lassen.

Eine harte Lektion seiner ersten Station. Zadiora. Alle dort hatten ihn… ja was? Wie einen Helden gefeiert? Menschen, deren Namen er nie gehört hatte und deren Gesichter ihm fremd waren, hatten ihn gebeten, ihre Kinder zu segnen, hatten ihn beglückwünscht oder verwirrender noch, auf die Hilfe angesprochen, die er ihnen früher gewährt hatte. Es hatte viele Tage gebraucht, all das zu begreifen. Und mit jedem Teil, das sich in das Mosaik einfügte, wurde seine Laune düsterer.

„Was benötigst du denn?“ erkundigte sich Alandor und führte seinen Gast in die Wohnstube zum Kamin, „Setz dich nur. Ich bin überrascht, dass du wieder in Samara bist. Man hörte so wenig von dir in letzter Zeit.“

„Musste nachdenken“, gab der Hüne einsilbig zurück und nahm Platz. Das Feuer prasselte in der Stelle, warm, angenehm. Ein besänftigendes, rotes Flackern, irgendwie einlullend. Selbst die Wärme schien ihn nicht zu erreichen. Das Gefühl von Gemächlichkeit, von Bequemlichkeit - es zog einfach vorbei. Zu tief saß… etwas. Er konnte es nicht einmal benennen. Es war keine Frustration. Es war kein Hass. Es war keine Resignation. Mit all diesen Dingen kannte er sich so verdammt gut aus, dass er sagen konnte, dass es sich nicht darum handelte.

Aber Rastlosigkeit, die kannte er auch - und die bildete einen guten Teil dessen, was ihn wie ein Schildwall umgab.

„Ich muss das Orakel finden.“

Als würden die Botschaften nicht merkwürdiger werden. Zumindest für Alandor war diese ganze Situation überaus bizarr. Sie fanden ihn, mehr tot denn lebendig, in einer Kammer in der Feste in La Coeur, er wies alle von sich, sprach kein Wort, verschwand mit Gewalt und wortlos, nur um… jetzt wieder vor seiner Tür aufzutauchen, ausgerechnet vor seiner, und nach dem Orakel zu fragen? Und überhaupt…

„Welchem?“

Die sonst ausdruckslose, steinerne Miene des Hünen bröckelte einen kurzen Moment. Sie verzog sich, zu einem Anblick, den man nie gerne an solchen Menschen sah: Zorn. Vermutlich, so stellte Alandor für sich fest, war der Krieger ungeduldig. All dies ließ sich an jemandem wie ihm stets schwer ablesen, woher also hätte er es wissen sollen? Die Frage selbst war indes nicht völlig unsinnig. So dumm sie auch klingen mochte, hatte sie ihre Berechtigung. Zumindest konnte der Krieger wohl froh sein, dass er überhaupt bar aller Höflichkeiten sofort auf sein Anliegen einging, statt sich noch über dessen barsche Art zu beschweren.

Dem Orakel. Es gibt nur eines. Das eine Weib, das noch heute wehklagend und voller Kummer bedauert, Kaleran Sturmfürst je die Hand gereicht zu haben.“

Ehrliches Erstaunen packte den Magier. Erstaunen… und Neugier. Das Orakel war existent, es war real. Viele aus dem einfachen Volk - selbst unter Elben und Zwergen - hielten es für eine Mär. Er als Magier der Zirkel wusste es besser. Doch das Orakel zu finden, war ausgeschlossen. Sie lebte mit ihrer Qual, so gut sie es konnte. Doch sie litt so sehr, dass sie sich von der Welt und all ihren Fragen über die Zukunft zurückgezogen hatte. Sie wechselte stets den Ort, war nie zu erkennen, versteckte sich als einfache Reisende, quartierte in Höhlen, verlassenen Festungen und an Orten, die die ganze Welt vergessen hatte. Sie kannte sie alle, ihre Geschichte, ihre Zukunft. Man fand sie nicht. Schon wenn man sie suchte, dann wusste sie davon - und würde nicht gefunden werden, wenn sie das nicht auch wollte.

Thorin, der Krieger, der Magie hasste - er saß hier in seiner Wohnstube und forderte von ihm, dieses Wesen zu finden. Wenn er von ihr wusste, was schon überraschend genug war, dann musste er auch wissen, dass es unmöglich war, seiner Forderung nachkommen zu können. Doch gerade, als Alandor ansetzen wollte, ihm zur antworten, ihm die völlige Nichtigkeit seiner Bitte zu erklären, erhob sich der Krieger wortlos wieder. Er trat an ihm vorbei zur Tür, noch lange bevor er ihm auch nur einen Tee hätte anbieten können.

„Ich bin für drei Tage im Gasthaus zur goldenen Rose. Liegt südöstlich, knapp außerhalb der Stadt. Der Wirt kennt meinen Namen nicht, beschreib mich.“

Kein ‚bitte‘, kein ‚danke‘, kein ‚es war schön, dich mal wieder gesehen zu haben‘ und erst Recht keine Erklärungen. Eine Forderung hatte es gegeben, völlig unmöglich, und der Hüne zog wieder seiner Wege. Er zog die Tür auf, trat in das Straßengewirr hinaus und noch während er sie ins Schloss zog, warf er eine alte, staubgraue Kapuze über, die so tief ins Gesicht hing, das nichts und niemand ihn erkennen könnte. Alandor hatte ihn gesehen. Er hatte die Ansätze der Lederrüstung erkannt, der alte Harnisch seines Vaters. Die Axt war nicht zu sehen gewesen - nicht in der Hand, nicht am Gurt, nicht auf dem Rücken. Vielleicht lag sie im Gasthaus. Aber dieses Gewand, diese Lumpen… warum war er noch immer so bemüht, nirgendwo erkannt oder gesehen zu werden?

Alandor blieb mit Fragen zurück. Mehr als er in seinem verwirrten Geist stellen konnte und mehr, als er Antworten je würde einfordern können. Aber er kannte Thorin. Ein rauer Gesell, übellaunig gegen jeden Elb, Magier und jedes Blaublut, aber im Herzen ein guter, gerechter Bursche. Jemand, der loyal war, der jede Unterstützung verdient hatte. Vor allem, nachdem er so maßgeblich zum Sturz Phillipe des Dritten beigetragen hatte. Damals hatte man Thorin krönen wollen… doch er hatte abgelehnt. Seine Reise hatte er fortsetzen wollen.

Unsicher schüttelte der Bannwirker den Kopf. Er würde Antworten nur bekommen, falls er Thorin wieder aufsuchte. Und sobald er das tat, hätte er wohl besser etwas dabei. Irgendetwas. Würde der Krieger durch den Mangel an Informationen frustriert sein, würde er kein einziges Wort aus ihm heraus bekommen.

Etwas ging mit dem Kahlkopf vor sich. Er… hatte sich verändert. In kurzer Zeit. Keiner der vielen, die ihn kannten, konnte es recht benennen. Aber als sie an seinem Krankenbett gestanden hatten, als seine Besucher und er einander angestarrt hatten… Alandor hatte es gesehen. Wie er Gesichter, alt vertraut und liebgewonnen, anstarrte als würde er sie zum ersten Mal erblicken. Etwas ging hier vor sich - und es war die Natur aller Magier, solchen Mysterien auf den Grund gehen zu wollen.

Rasch ließ er einen Boten kommen, sandte eilig aufgesetzte Schreiben in alle Himmelsrichtungen und packte seine Sachen, um für zwei Tage in die Bibliothek zu ziehen. Er würde dort essen und schlafen müssen, Stunde um Stunde im Eiltempo arbeitend, würde er etwas Vorzeigbares aufwerfen wollen.

Thorin selbst kehrte zurück in die Schenke. Zur goldenen Rose. Der malerische Name wurde dem Gasthaus nicht wirklich gerecht, wie es so oft der Fall war. Aber eine schöne Geschichte steckte dahinter - wie so oft. Sie interessierte ihn nicht. Die Betten waren frei von Wanzen und die Keller frei von Ratten. Selbst wäre das Bett aus Stein gewesen, er hätte damit leben können. Es galt zu warten und warten, das hatte er gelernt. Tagelang im eigenen Blute liegend und wochenlang wie ein hilfloser Krüppel vegetierend… warten hatte er gelernt.
 

Die Sachen waren längst gepackt. Viel gab es nicht, das zusammen geräumt hätte werden müssen. Der Lederharnisch, den trug er längst. Eine alte Eisenaxt, schartig - ein Geschenk. Er hatte den Schmied gefragt, wie viel das Stück kosten solle. Er hatte es von dem Wenigen bezahlen wollen, was er bei sich trug, doch als dieser ihn erkannte, ließ er nicht mehr mit sich reden. Thorin konnte wohl froh sein, dass es nur die Axt war, die man ihm aufgedrängt hatte. Obwohl er gerne mehr genommen hätte. Eine bessere Waffe vielleicht, in besserem Zustand. Doch die Zeiten, da er schamlos nahm, was er wollte… waren vorbei. Denn es herrschte Frieden, nicht wahr? Die Zeiten des Sonnenscheins und Überflusses, der lachenden Kinder und der lächelnd gackernden Marktweiber. Die Zeit, in der viele den Bund schlossen, Kinder zeugten oder aufzogen und in der sich jeder über alles freute, was er besaß oder erwarb oder geschenkt bekam.

Ihm wurde schlecht beim Gedanken daran.

Die Dämmerung war längst herein gebrochen. Der Himmel dunkelte zusehends ab und die letzten Tagesstunden verstrichen. Es war Zeit, zu gehen. Aber irgendwie musste er es wohl geahnt haben. Als es an der Tür klopfte, verhalten, leise - als wolle der Ruhestörer keinen Schlafenden wecken -, da atmete der Krieger erleichtert auf. Er wusste nicht, wie viel Zeit ihm blieb. Nun, da das Alter doch zuschlug und seinen Tribut forderte, nun… da hätte es schmerzlich werden können, Spuren und Gerüchten nachzujagen, bis seine Knochen alt und morsch genug geworden waren, damit ein Bär oder ein paar Wölfe ihn würden reißen können. Alandor war ein guter Anhaltspunkt gewesen, wobei der Weg schrecklich einfältig gewesen war, der ihn an dessen Tür geführt hatte.

Magier waren kluge Menschen mit unzähligen Büchern - und was sie nicht wussten, konnten sie von anderen Magiern oder aus deren Büchern binnen kürzester Zeit erfragen. So stellte sich der Kahlkopf Arbeiten auf der Ebene des Zirkels vor. Tatsächlich kam das der Wahrheit überraschend nahe.

„Komm rein“, forderte er schlicht.

Wie erwartet - nein, erhofft! - trat Alandor ein. Der Bannmagier lächelte und brachte einen Gruß hervor, halb gestammelt. Seine Augenringe hätten sich mit dem Graben von Quentloas messen können und waren so rot wie das Blut in seinen Adern. Er hatte sich zu Tode geschuftet in den vergangenen Tagen. Für den Kahlkopf war das einerlei - wichtig waren nur die Ergebnisse. Es waren immer nur die Ergebnisse wichtig… nicht wahr?

„Was hast du?“ verlangte er sofort zu wissen. Alandor aber schloss in Ruhe die Tür, besann sich einen Moment und trat dann, noch immer schweigend und damit die Geduld Thorins auf die Probe stellend, näher. Schließlich zog er sich einen kleinen Schemel nahe des Bettes herbei und nahm dem Hünen gegenüber Platz.

„Zuerst…“ hob er an und hielt dabei, wie dem Krieger jetzt erst auffiel, ein kleines Notizbuch an sich gepresst, „wirst du mir Rede und Antwort stehen. Ich will Erklärungen. Von dem Moment an, als wir dich in La Coeur fanden!“

Ein ungeduldiges Seufzen drang aus der Kehle des Hünen. Irgendwann, so hatte er befürchtet, hatte dieser Punkt ja einmal kommen müssen, nicht wahr? Das Problem war… der zeitliche Rahmen, den der Bannmagier gesetzt hatte. Nichts anderes. Der Moment, in dem sie ihn fanden - und alles weitere - waren nur die Symptome. Deren Wurzel aber verbarg sich im Schatten… und reichte viel, viel tiefer, viel weiter zurück.

„Was glaubst du, ist in den letzten Jahren geschehen?“ verlangte der Krieger zunächst zu hören. Eine Frage, die Alandor mehr als nur aus dem Konzept brachte. Was geschehen war? Er wusste es doch selbst am besten, oder nicht? Er hatte schließlich all diese Dinge ins Rollen gebracht, er allein hatte… aber gut - sein gegenüber wusste vermutlich all diese Dinge selbst am besten. Er wollte auf etwas hinaus und der Bannwirker war gewillt, das Spiel mitzuspielen. Immerhin war er der Antworten wegen hierhergekommen.

„Wie weit soll ich zurückgehen?“

„Bis zum Anfang.“

Alandor seufzte. Die Nacht würde lang werden, das hatte er befürchtet. Hätte Thorin ihm nicht einfach sagen können, er suche nach einem legendären Schatz oder dergleichen? Überhaupt war es erschreckend, was er schon bis jetzt gehört und gesehen hatte. Thorin war immer schon ein Tavernengast gewesen. Kannte man den Krieger näher, hätte man nur zu gerne seine Witzchen darüber gerissen, dass er bei der Geburt über den Schanktresen direkt ins Schnapsfass gerutscht sei. Er trank gerne und viel, er raufte gerne und er ging in den Gasthäusern als gerne gesehener Gast ein und aus. Aber der Wirt unten… dem hatte er Fragen gestellt. Nicht nur, ob der von ihm beschrieben Gast hier ein Quartier hätte und welches es sei. Nein, er hatte mehr wissen wollen. Der Wirt war mit seinem Gast unzufrieden. Er aß wenig und er trank nur Säfte. Keinen einzigen Schluck Bier oder Schnaps, er saß allein und schweigsam in seiner Ecke und starrte auf den Tisch herab. Das alles passte so wenig zu Thorin wie der Blick, mit dem er die Krankenbesuche gemustert hatte - oder die Frage, die er ihm nun stellte.

„Du bist nach Lumiél zurückgekehrt. Heimweh, vermute ich. Du hast uns nie erzählt, warum. Du hast dich umgehört, dich am Hof eingefunden und vom neusten Wahnsinn seiner Majestät gehört. Du hast… dich entschlossen, dagegen vorzugehen. Ein Ball war der Beginn deiner Rebellion gewesen. Dort hast du damals erste Kontakte zum Adel geknüpft. In Samara schließlich hast du dich der Rebellion angeschlossen und rasch das Ruder übernommen. Mehrere Kämpfe hatte es gegeben, du hast über zwei Jahre hinweg die Kräfte gesammelt. Willige, die dir und der Sache nutzen konnten, hast sie um dich geschart und wie deine Familie zu hüten gewusst. Du hast Samara aus dem Untergrund regiert, mit Ashes und Alistairs Hilfe Sundergrad befreit und als Verbündeten gewonnen. Du… ach Thorin, du kennst diese Geschichte besser als jeder von uns! Du hast all das initiiert, du allein hast das Heer schließlich von der Kreuzwegfeste nach La Coeur marschieren lassen und es war deine Hand, die die Axt führte und den Kopf von den Schultern dieses miesen kleinen Cholerikers schlug. Was soll das hier?“

Thorins Blick hatte sich nicht verändert. Während der ganzen Erzählung nicht. Die steinerne Maske blieb und erst jetzt, da Alandor selbst die Geduld ausging, schüttelte er vage erkennbar den Kopf. Langsam nur hob er sich vor, stützte sich mit den Ellbogen auf die Knie und blickte, so vornüber gebeugt, dem Magier wie ein lauerndes Raubtier entgegen.

„Du irrst. Alles, woran du dich erinnerst, ist eine Lüge.“

Hatte der Magier zunächst geglaubt, sich verhört zu haben oder einem Scherz aufzusitzen, dessen Pointe an ihm vorbei zog, so bemerkte er doch nachträglich den Ernst in der Stimme seines Gegenübers. Wie aber konnte er das nur ernst meinen? Hatte er vielleicht irgendetwas entdeckt? Gerade als er sich erkundigen wollte, hob der Kahlkopf von alleine an.

„Wir wurden alle betrogen…“
 

Es begann, wie es sein sollte. Ich kehrte zurück nach Lumiél, zurück zum Hof und vernahm die neusten Befehle seiner Majestät. Aber ohne es zu wissen, wurden wir erwartet. Wir alle. Es war ein abgekartetes Spiel. Eine Hand voll entkam, als er den Befehl gab. Nicht der König, nein. Der war längst nur noch eine Marionette. Sein Handlanger, sein… ‚Berater‘. Duncan. Du kannst dich nicht erinnern. Du kennst diesen Namen nicht einmal mehr, ich sehe es in deinen Augen.

Er war Chronist. Ein Mensch, gesegnet von den Kräften der weißen Halle. Er beherrschte die Zeit. Etwas, das wir schmerzlich zu spüren bekamen, ohne es zu wissen. Er hatte den Befehl gegeben, uns alle zu erschießen. Armbrustbolzen zerfraßen Dutzende Leiber. Ich entkam. Ich weiß bis heute nicht, ob er mich entkommen lassen wollte, oder ob er einfach keine Option gefunden hatte, bei der ich starb. Als mir der Irrsinn klar wurde, versuchte ich, einen Widerstand aufzubauen.

Ich hörte Gerüchte von Rebellen in Samara. Du kannst dir das nicht vorstellen. Hunderte Rebellen. Zehn Jahre strichen ins Land. Nicht zwei - zehn. Wir zogen von Gefecht zu Gefecht. Wir bekamen keine Unterstützung. Alle, die diese hätten leisten können, waren tot. Ersetzt worden. Verschleppt, bestochen. Und wir verloren. Er hatte seine Männer immer gut instruiert. Wartet dort, hinter dem Hügel. Genau dort. Versteckt euch an diesen Bäumen - nicht an jenen. Wo wir glaubten, einen Hinterhalt zu legen, wurden wir stets bereits erwartet und selbst zur Beute. So viele Jahre… und wir verloren viele Leben. Mitstreiter… Bekannte… Freunde. Die Liste ist lang.

Aber bei den Toten hört es nicht auf. Es genügte ihm nicht, und Mann für Mann auszurotten. Er verhinderte, dass wir überhaupt erst zur Bedrohung wurden. Vielen Leuten bin ich nie begegnet. Diese… diese Ashes? Ja, ich hörte von ihr. Sie war eine Elbe, nicht wahr? In Sundergrad. Mit ihrem Freund hatte sie versucht, die Stadtwache zu beklauen. Es wäre ihnen fast gelungen. Aber eben nur fast. Drei Jahre, nachdem alle Welt sie zur persönlichen Hure gemacht und sich an ihr bedient hatte, war man ihrer ständigen Widerworte überdrüssig. Nach den ganzen Bälgern, die man ihr hatte rausschneiden müssen, war eh nichts übrig geblieben, das man noch begehrte.

Du und dein Freund… Drakis? Ihr wart dort. Zehn Jahre, nachdem der Niedergang der ganzen Welt begonnen hatte. Die Dunkelheit breitete sich aus, die Götter schwiegen, starben im Stillen und Lumiéls Heere packten die Welt im Würgegriff. Land um Land brach ein… und stärkte den Gottkönig. Wir waren ein kleiner Haufen, vielleicht noch ein Dutzend. Nicht viel übrig von einigen Hundert. Wie die Welle sich am Felsen bricht, wollten wir im Kampf sterben. Ein letztes Mal aufbegehren. Wir wollten La Coeur angreifen, uns bis in den Palast vorkämpfen. Von Duncan… wussten wir noch immer nichts.

Dann kamt ihr zwei. Aus dem Nichts, um uns zu erzählen, dass ihr aus einer… einer anderen Zeit kommen würdet. Einer anderen, aber gleichen Welt. In der alles seinen Weg genommen hätte, wie es vorbestimmt war. Ihr erzähltet uns von Duncan, dem Zeitstromlenker, der uns um unser Schicksal betrogen hatte. Wie er die Jahre der Welt, der ganzen verdammten Welt, nach Belieben vor- und zurückgedreht hatte. Um all die Ereignisse vorher zu sehen und uns ein ums andere Mal in offene Messer rennen zu lassen. Ihr habt behauptet, ihr wärt gekommen, um uns zu helfen.

Mit eurer Hilfe griffen wir an. Wir befreiten sie aus dem Kerker. Ninafer. Noch ein Name, an den du dich nicht erinnern kannst. Du hast ihn nie vernommen. Wie Ashes in Sundergrad, war sie ein Spielzeug geworden. Früh gefangen genommen, hatte sie mehr auszustehen gehabt als die Elbe. Sie war… des Königs Liebling. Als ich sie erstmals sah, war sie ein zitterndes, verwirrtes Bündel Fleisch, das widerlich nach zu vielen schmutzigen Händen und dem Samen zu vieler Männer stank. Sie erinnerte mich an mein Weib, an das, was mit ihr geschehen war.

Ich hielt es nicht aus. Ihre Gegenwart, euer närrisches Gefasel von einem Sieg, einer Perspektive, ich musste fort. Ich betrank mich, wie so oft. Mehr als je zuvor. Aber sie folgte mir… immer, überall hin. Erst sehr viel später erkannte ich, was sie war, was sie… zu werden drohte. Aber da war es schon zu spät.

Wer ist Ceteus, frage ich dich. Und ich weiß, was du mir antworten wirst. Ich habe die Schreine und Altäre gesehen. Die Tempel. Schwarze Roben auf offener Straße. Kennst du eine Delilah? Sie war eine Dryade, eine Dienerin des natürlichen Gleichgewichtes… eine Vertreterin des Willens Phylias, der Göttin der Natur. Du runzelst die Stirn - ich kanns dir nicht verdenken. Phylia? Ceteus allein gewährt den Dryaden doch ihre Macht!

Magier beten zu Jebis, damit er ihnen Weisheit schenkt. Aber nein, wartet - ihr betet zu Ceteus, damit er euch das Wissen schenkt, eure Feinde zu zermürben.

Es gab ein ganzes Pantheon von Göttern.

Damals begann es. Ninafer ging einen Pakt mit Ceteus ein. In ihrem Fleisch wandelnd, würde sie seine Macht nutzen können. Sie… wollte Lumiél helfen. Auf die einzige Art, die verblieben war. Es wie ein Geschwür heraus schneiden, ehe die ganze Welt daran erkrankte und starb. Du und dein Kumpane, ihr habt versucht, uns zu erzählen, dass alles enden würde, wenn wir nur Duncan töten könnten.

Er, der die Zeit manipuliert hätte. Gegen den die Bewahrer der weißen Halle machtlos gewesen seien. Sie hätten euch geschickt, ihre Drecksarbeit zu erledigen. Ich konnte euch diese wilde Geschichte nicht abkaufen… Ninafer aber tat es. Sie wusste jedoch auch, dass ihr euch das zu einfach vorgestellt habt. Duncan war kein Dummkopf, der ungeschützt über die Straße schlenderte.

Sie sammelte Kräfte. Die Harpyien aus dem Süden, Untote aus hunderten Kriegen und dutzenden Schlachtfeldern, sie sammelte die Rebellen aus Samara ein, alles, was sie finden und unterwerfen konnte. Ich war stets an ihrer Seite, ihre rechte Hand, ich… teilte ihre Vision. Als es so weit war, schlugen wir zu. Ein einziger, präziser Schnitt - so hatte sie es genannt. Wir brannten ganz La Coeur nieder. Jedes Herz, das darin schlug, war verdorben. Die Mauern, die Häuser… ich erinnere mich an das Geschrei, an so viel Blut und Qualm, an die Feuer. Ich erinnere mich, wie ich ihr voran die Tore erstürmte, wie diese Marionette reglos zu Boden fiel. Unser Ziel war ein anderes.

Sie hatte diesen Pakt geschlossen, um Lumiél zu retten. Das, was sich noch retten ließe… was zu retten noch wert war. Den Rest hatte sie Dunkelheit und Feuer überantwortet - und ich gab ihr Recht. Sie hatten es verdient, sie alle. Jahrelang hatten sie uns im Stich gelassen, wenn wir um Nahrung, Unterschlupf, Unterstützung bettelten und nun mussten sie brennen für ihren Verrat, für ihre Untätigkeit. Aber der Pakt gab ihr nicht nur die Macht, eine Armee um sich zu scharen und die Zitadelle zu errichten, von der aus sie alles kontrollierte.

Er forderte sie ein. Als Duncan und Ninafer ihre Kräfte maßen… wurde ich überflüssig. In diesen wenigen Augenblicken wurde alles entschieden. Das Schicksal der Götter, das der ganzen Welt. Meine Dienste wurden nicht länger benötigt… und er nahm mir alle Geschenke, die ich erhalten hatte, ihm besser dienen zu können. Er nahm mir die Unsterblichkeit, die schnelle Heilung, die Dunkelsicht, die Kraft - alles. Die Kräfte, die in diesem Raum wüteten, richteten mich binnen weniger Augenblicke so zu, wie ihr mich vorgefunden habt.

Ninafer konnte Duncan nicht töten. Das… war vielleicht ihr Ziel gewesen - aber nie das Seine. Ceteus schwächte den Chronisten, bis er unvorsichtig wurde… und schlüpfte in ihn hinein. Während diese verräterische Schlange hatte, was er wollte - und nahezu sofort verschwand - stürzte Ninafer. Sie war schon so oft gestorben, aber Ceteus‘ Gegenwart hatte sie immer gerettet.

Jetzt war er fort… und all die Wunden aus den Jahren taten sich wieder auf. Duncan verschwand und kurz darauf… veränderte sich die Welt. Ich kann es nicht in Worte fassen. Häuser wuchsen, Brände verebbten, unzählige Male sah ich Sonne und Mond einander jagen, fast im Takt meines Herzschlages. Er manipulierte alles, wie es ihm gefiel und als es endlich aufhörte, da forderte er seinen Teil des Paktes ein. Seine Bezahlung dafür, ihr diese Macht gegeben zu haben.

Er holte sie zu sich.

Du kennst sie nicht, hast sie nie getroffen… und ich will jede Wette eingehen, dass ihr einander hättet kennen müssen. Ihr alle erinnert euch an einen Thorin, der ich nicht bin und nie war. Vielleicht war das seine Strafe für mich, vielleicht auch nur Gehässigkeit… aber während er die ganze Welt veränderte, Häuser, Städte, Kontinente, bis hin zum Gedächtnis jedes einzelnen Lebewesens… blieb ich davon verschont. Ich erinnere mich an all das Blut, an die hässlichen Notwendigkeiten, an die unglaublichen Kräfte, die ich wirken sah… und an die lange Dunkelheit.

Doch es war mehr als das, nicht wahr? Er erinnerte sich nicht nur dieser Dinge. Sie allein waren es nicht, die ihn so rastlos anspornten, hier zu sitzen und doch aufspringen zu wollen. Sie allein trieben die Gedanken nicht voran, Alandor einfach nieder zu schlagen und sein Buch zu nehmen. Sie allein hatten ihn auch nicht an die Türschwelle des Magiers getrieben.

Da war mehr.
 

Während Alandor das Gesprochene auf sich wirken ließ, es überdachte, versank der Krieger in Gedanken. Erinnerungen, genauer gesagt. Er sah sie noch immer so deutlich und klar vor sich. Sein Blick hing an den Händen, mit denen er ihre Haut berührt hatte. Er hatte ihren Kopf gehalten, feucht vom Blut, eine Wunde an ihrem Bauch abzudrücken versucht. Alles war hoffnungslos, er hatte es gewusst. Der Tribut des Paktes war fällig geworden.

So oft hatten sie gestritten und sich gehasst, einander angeschrien und angefaucht, sie hatten oft gegeneinander gearbeitet und nur selten akzeptiert, aus der Not heraus Alliierte zu sein. Sie hatte ihre Spielchen mit ihm zu treiben versucht und er hatte ihr dafür das Leben schwer gemacht. Gemeinsam hatten sie Großes vollbracht, aber hatten doch immer den Anschein von tief empfundener Feindschaft bewahrt.

Als sie aber dort lag, in seinen Armen, und starb… zerbrach etwas.

“Ich hatte nie die Gelegenheit, dir zu sagen… ich-“ hörte er sich noch einmal flüstern. Doch ehe er den Satz hatte beenden können, riss die Niederhölle selbst auf. Eine Kraft, die er nicht in Worte fassen konnte, riss ihn von Ninafer fort, warf ihn wütend gegen die Wand. All die gebrochenen Rippen, all die tief klaffenden Wunden schmerzten schrecklich und ließen ihn fast das Bewusstsein verlieren. Nur sein eiserner, zäher Wille ließ ihn sich daran klammern und er sah, wie der brennende, schwarz wirbelnde Schlund Ninafers Leib in sich zerrte, wie die abgemagerten, rissigen Arme und Hände der Verdammten sie hinein zerrten.

Er wusste, was sie dort erwarten würde. Niemand, der in Ceteus‘ Reich eintrat, hatte es dort mit einem Ort ruhiger Entspannung zu tun. Qual und Marter in alle Ewigkeit, denn die Verdammten hatten ihre Sünden zu zahlen. Er hatte mit dem Gedanken nicht leben können, ihr diese wenigen Worte nicht zuteilwerden zu lassen. Und dann, plötzlich, hatte er damit leben sollen, sie dieses Schicksal erdulden zu lassen. Wenn er zu dem einen schon nicht fähig war… wie hätte er sich zum anderen in der Lage sehen können?
 

„Dir ist bewusst, wie… wirr, lückenhaft und abwegig das alles klingt, oder?“ erkundigte sich Alandor. So, wie der Bannmagier endlich aus seinen Gedanken erwacht war, riss er auch Thorin aus der Starre der Erinnerungen hervor, die ihn seither marterten.

Er trank nicht mehr. Ninafer hatte es ihm abgewöhnt. Stattdessen meditierte er, um die Bestie, die so sehr Feind wie notwendiges Übel war, bezähmen zu können. Hätte er es Alandor erzählt, vielleicht hätte er unterstreichen können, wie wenig er mit dem Mann gemein hatte, den dieser zu kennen glaubte. Doch es war nicht nötig, ihn zu überzeugen.

Alandor würde es nie begreifen, nie akzeptieren können. Er war Skeptiker, er brauchte Beweise, die aufzubringen unmöglich war. Zumindest das sah der rationale, kühle Verstand des analytischen Magiers ein. Er vermutete mehr hinter alledem, er vermutete eine andere Geschichte, vielleicht etwas Einfacheres, vielleicht nicht einmal das. Es war einerlei - Thorin war nicht bereit, mehr zu sagen. Nicht mehr als das wenige Wirre, was er schon berichtet hatte. Alternative Zeitlinien noch und nöcher, mehrere Alandors, fehlgeschlagene Raubzüge und Hinterhalte, die zu Hinterhalten wurden - so sehr sich der Magier seines brillanten Verstandes rühmte, gingen diese Dinge doch weit über sein Verständnis hinaus. Er begriff nur, wie schrecklich ernst dem Krieger alles war. Seine Geschichte… sein Anliegen… und was immer daraus resultieren mochte.

Tatsächlich fiel es Alandor mit am schwersten, zu glauben, dass Ceteus selbst je ‚Konkurrenz‘ gehabt haben könnte. Es gab nur den einen, wahren Gott - und er geizte nicht mit Beweisen seiner Existenz. Wo waren all diese anderen Götter verblieben? Wo waren… Phylia und Jeb? Es war kaum vorstellbar, dass eine solch mächtige Existenz, ein Gott, sich vom Treiben eines mit der Zeit spielenden Magiers oder Hexers oder Chronisten beeindruckt zeigen würde. Oder gar davon niederringen ließ. Aber selbst wenn Sterbliche oder die Mächtigen Götter hätten töten können, hätte es doch Spuren geben müssen. Irgendwelche. Die Götter wurden seit Jahrtausenden verehrt. Wenn Thorins Geschichte stimmte, hätten all diese Jahrtausende manipuliert werden müssen, oder nicht?

Während der Kopf des Magiers zu rauchen begann, erkundigte sich der Krieger nach dessen Ergebnissen.

„Es gelang mir nicht, das Orakel zu finden. In keiner Bibliothek gibt es einen Verweis darauf, der zu einem aktuellen Versteck führen könnte. Tatsächlich war es der Bibliothekar, der darauf aufmerksam wurde, das ich immer wieder Werke zum selben Thema erfragte. Er erzählte mir von einem Burschen, der wohl vor einigen Tagen vorbei gekommen sei. Dieser hätte ebenfalls nach solchen Werken gefragt und das damit begründet, dass eine Räuberbande in Kal Terrika ihr Unwesen treiben würde. Ständig würden sie Karawanen überfallen, Reisende für horrende Lösegeldforderungen als Geiseln nehmen und der Wache entwischen. Angeblich rühmen sich die Räuber sogar, niemand könne sie unvorbereitet treffen - weil das Orakel ihnen dienlich sei. Ver-… versteh mich bitte nicht falsch. Ich habe mich wirklich bemüht und wünschte, ich könnte dir mehr präsentieren als die Gerüchte aus dritter Hand. Aber es ist die einzige Spur, die ich überhaupt habe. Es könnte auch sein, dass dort nicht mehr ist als ein Haufen Halsabschneider mit viel Glück.“

Alandor hatte so inständig gehofft. Er hatte die Enttäuschung in Thorins Gesicht gesehen, trotz der steinernen Fassade, und hatte zu hoffen gewagt, dass er sein irrsinniges Unterfangen aufgeben würde. Doch kaum von diesem Gerücht begonnen, das er aus reiner Gründlichkeit und seinem eigenen Gewissen heraus nicht hatte unterschlagen können, da keimte neuerlich Hoffnung in den Augen des alternden Kriegers auf. Und nun war ihm klar, was der Hüne zu tun beabsichtigte.

„Thorin, ich bitte dich… lass das sein. Du selbst hast mir gerade erzählt, diese… diese Geschenke von Ceteus oder was auch immer seien alle fort. Ich weiß nicht, was das für dich bedeutet, aber auch du wirst nicht mit einer ganzen Gruppe fertig - nicht, wenn sie so gut organisiert sind und eine Festung für sich eingenommen haben.“

Der Hüne ließ nicht mit sich reden. Ganz wie erwartet, wedelte er die Einwände, Hinweise, Ratschläge und Mahnungen hinfort wie einen Schwarm lästiger Fliegen. Egal, wie oft, wie eindringlich der Magier ihm nahe legte, es zu überdenken - der Krieger packte seine sieben Sachen. Erst, als es fast zu spät war, eilte Alandor mit wenigen, hastigen Schritten zur Tür und stieß diese - bereits halb geöffnet - wieder zu.

Er ertrug das zornige Funkeln in den Augen des Mannes mit Geduld.

„Das ist ein Himmelfahrtskommando… zumindest, wenn du so gehst. Gib mir zwei Tage. Nur zwei weitere Tage. Ich will… mein Möglichstes tun, das du dort wenigstens heil wieder hinaus gelangen kannst.“ Es war ein Strohhalm, das war Alandor klar. Und mehr noch, wusste er schmerzlich einzusehen, dass der Krieger über alle Dächer verschwunden wäre, sollte er auch nur wagen, jemanden hinzu zu ziehen. In Alandors Erinnerungen hatten sie stets ein rein professionelles Verhältnis gepflegt. Keine Freundschaft oder dergleichen, der Krieger war ihm gegenüber stets etwas barsch und unterkühlt gewesen und hatte ihn spüren lassen, wie hoch Magier der Zirkel in seiner Meinung standen. Es musste einen Grund gegeben haben, warum er ausgerechnet zu ihm gekommen war. Möglicherweise, weil er eben diese Professionalität gesucht hatte. Keinen warmen Händedruck und freundliche Fragen von weiteren Personen, an deren gemeinsame Geschichte er sich nicht erinnern konnte.

„Zwei Tage“, bekräftigte der Kahlkopf, zog die Tür auf und bat Alandor hinaus, um ihm das Holz vor der Nase zuzuschlagen. Nicht in Hast, wohl aber in gewisser Eile wandte sich der Bannwirker ab und schritt davon. Er würde jede Stunde davon brauchen. Bei Ceteus, wenn diese Tage erst einmal vorbei wären, würde er in sein Bett fallen und mindestens einen Tag durchschlafen, ganz gleich, was Vivica dazu sagen würde.
 

Die Zeit verstrich. Angesichts der Umstände wohl eine bemerkenswert mehrdeutige Anmerkung. Auf den Morgen folgte der Mittag, der Nachmittag, der Abend - die lange, dunkle Nacht. Träume gab es keine. Thorin träumte schon seit vielen Jahren nicht mehr. Er war dankbar dafür - so ließ ihn zumindest ein Teil der Dämonen zufrieden, die ihn plagten. Erst als Ninafer seinen Geist wieder erschütterte, heraufbeschworen aus unwillkürlich aufsteigenden Erinnerungen, konnte er sich sicher sein, wirklich zu schlafen. Die Erinnerungen hatten seine Träume ersetzt - sie waren der andere, der verbliebene Teil seiner Marter.

Zwei Tage und keine Stunde mehr. Alandor hielt sein Wort und brachte ihm, was er in der kurzen Zeit hatte auftreiben können. Er überreichte dem Kahlkopf ein kleines Amulett, welches die Sicht von Bogenschützen verschleiern sollte. Zwei Fläschchen eines Trankes, die ihn durch Wände laufen lassen sollten, allerdings jeweils nur wenige Herzschläge hielten - sie sollten seinen Weg hinein und heraus sichern. Das letzte Stück war ein kleiner Stein, der - sobald anderes Licht erlosch - einen grellen Blitz von sich geben würde. Ein kleines Geschenk Drakimhs an den Hausstand Lameraks und zweifellos ein Scherz - denn er hatte ihn in einer lichtdicht verpackten Box erhalten und sein blaues Wunder erlebt, als er die Box geöffnet hatte. Thorin dagegen würde er nützen… vielleicht… irgendwie. Mehr war für diese kurze Zeit aufzutreiben nicht möglich gewesen, sodass der Bannwirker auch wahrlich nicht zufrieden mich sich war, als er den Hünen doch ziehen lassen musste.

Ein letztes Mal versuchte er sich daran, auf ihn und sein Gewissen einzureden, doch all die Finten, all die Zugänge, die seine Erinnerungen ihm nahe legten… scheiterten. Mehr und mehr schien er sich darüber klar zu werden, dass etwas an der Geschichte des Kriegers wahr sein könnte - das dies eben doch nicht der Thorin Eichenschild war, den er kannte. Dieser war ein rauer Mann, selten froher Laune, doch selbst diese Beschreibung spottete dessen, was er hier sah.

Der Kahlkopf ließ sich nicht umstimmen - riss sich aber zumindest so weit zusammen, sich für die Dreingaben zu bedanken. Er wollte sie bezahlen und Alandor hätte sein Geld gerne abgelehnt. Als der Krieger jedoch mit jenem gewichtigen Unterton erklärte, er könne sein Geld dort nicht verwenden, wohin er zu gehen gedachte… nahm der Magier es schweren Herzens doch an. Sein Freund - ob sie einander nun kannten oder nicht, woher und wie auch immer - schickte sich an in den Tod zu ziehen. Er wusste es, ganz offensichtlich, und wollte dennoch aufbrechen. Was sollte er dazu sagen? Was konnte er schon noch anderes tun, als ihm in das Gewissen reden zu wollen, zu dem er plötzlich keinen Zugang mehr zu haben schien?

Als der Hüne das Gasthaus verließ, war es plötzlich der Bannmagier, der mit einem Becher Apfelsaft in der Hand am hintersten Tisch in der Ecke saß. Er konnte nicht zurückkehren. Noch nicht. All die Geschehnisse der letzten Tage wühlten ihn zu sehr auf. Das Orakel, die Dinge, die er darüber gelesen hatte, die Geschichte dahinter, die Gerüchte über die Räuber in Kal Terrika, nicht zuletzt aber die Worte Thorins. Alles, woran er sich erinnerte… eine Lüge? Gesponnen und konstruiert von Ceteus. Dem einzigen Gott, den diese Welt noch kannte. Wer Kampfesglück wünschte, betete zu ihm. So wie jeder, der Wissen suchte, Liebe oder Erlösung, Diebesglück oder reiche Beute beim Gräberplündern. Sie alle kannten nur seinen Namen. Nur seine Priester.

Konnte ein Gott selbstsüchtig sein? Wie maß man eigentlich die Motive eines Gottes? Hatte er überhaupt welche, die man rational und mit dem Verstand eines Sterblichen nachvollziehen konnte? Wieder und wieder stellte er sich ohne jeden Ansatz von Erfolg die immer gleichen Fragen. Alles eine Lüge. Er und Drakimh, die in eine hoffnungslose, dunkle Zeit kamen, von der weißen Halle geschickt, um einen abtrünnigen Chronisten zu stoppen. Wie sie es sich zu einfach vorstellten, wie Ninafer den Pakt einging, eine Armee aufstellte, gegen die Hauptstadt zog, wie Duncan nicht getötet wurde, sondern man die ganze Welt betrog. Zwei Personen, deren Schicksal nicht wie versprochen ‚zurückgesetzt‘ wurde. Der Gott erhob sich über die Zeit und den Willen dessen, der sie manipuliert hatte. Zum eigenen Vorteil?

Thorin hatte gesagt, er sollte Ninafer kennen. Wenn nur zwei Menschen auf der ganzen Welt ‚fehlten‘, wie weit konnten diese Kreise reichen? Diese eine Frage beschäftigte ihn mit am Meisten. Ein Mann konnte Bettler, Handwerker und König sein. Er konnte in der Gosse erfrieren, unbemerkt, oder einen Würdenträger zum Nachdenken bringen. Es gab so viele Möglichkeiten, so endlos scheinende Variationen - nur zwei Menschen und doch war es denkbar, dass die ganze Welt mit ihnen eine andere wäre.

Für Alandor gab es keine Ruhe. Nicht in dieser Nacht, in der er vor Erschöpfung auf dem Tisch einschlief und nicht in den Tagen und Wochen darauf.
 

Thorin aber zog nach Kal Terrika. Oh er kannte die Gegend gut und er kannte auch die Festung. Er erinnerte sich daran. Ninafer war ihm nachgelaufen, wie ein getretener Hund, der nicht wusste, wohin er schon sonst sollte. Sie war ihm nach Zadiora gefolgt, nach Bruchberg, nach Varakas. Dort hatte er sie los zu werden versucht, als Ceteus‘ Präsenz in ihr noch schwach gewesen war. Nur ein Teil ihrer Selbst, den sie bis dahin bekämpft hatte. Er hatte sie betäubt und in ihre Heimat heim zu schicken versucht. Erst sehr, sehr viel später hatte er erahnen können, was er ihr damit angetan hätte. Beste Absichten schützten nicht davor, Katastrophen einzuläuten.

Sie war zurückgekehrt… und gestorben. Irgendwo auf einer Straße, niedergeschossen von einfachen Wegelagerern. Weil der Schatten nicht gewusst hatte, wann er besser den Mund halten sollte. Er war schließlich der große Gott, den niemand anzurühren und dem niemand etwas zu befehlen hatte - Thorin erinnerte sich noch an die große Wunde auf ihrer Brust, als er sie in den Armen gehalten hatte. Wie sie plötzlich wieder aufgerissen war und zu bluten begonnen hatte. Der Schnitt in ihrer Kehle… all das Blut überall, ihres, vermischt mit dem Seinen…

Wenige Tage war er nach Varakas allein unterwegs gewesen. Erst in Nephilim hatten sie einander wieder gesehen. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits nicht mehr nur Ninafer gewesen. In den Tagen dazwischen jedoch hatte er die alte Feste ‚besichtigt‘. Das traf es wohl. Er hatte eine tiefe Verbundenheit mit dem Gemäuer verspürt. Es war alt, verwittert. Es hatte seine besten Tage lange hinter sich und obwohl es dem Zahn der Zeit noch immer trotzte, konnte man seinen Mauern ansehen, dass es nicht mehr lange dauern würde. Es hatte viele Gemeinsamkeiten gegeben.

Als er diesmal in die Nähe der Festung kam - er war querfeldein marschiert, um die Gesellschaft der lästigen Spitzohren in Nephilim umgehen zu können -, da wurde er bereits… nun, ‚erwartet‘. Es war merkwürdig, wie man ihm abseits der Wege einen gut ausgedachten Hinterhalt stellte. Offenbar hielt man drei Mann für völlig ausreichend. Sie forderten Geld, das er nicht mehr besaß und zeigten sich mit seiner offenherzigen Antwort ebenso unzufrieden, wie sie ihm nicht glauben wollten. Seine Taschen selbst kontrollieren, das schlugen sie vor - und er meinte, sie könnten es gerne versuchen. Der Kampf war kurz gewesen, kurz aber schmerzvoll. Er selbst hatte lediglich von einem Sterbenden einen unangenehm harten Ellbogen in die Rippen bekommen, doch mit diesen drei Halunken machte er kurzen Prozess.

Vielleicht nicht mit allen dreien. Einer, den Rücken bereits von der Axt gespalten, ließ er noch leben, bis dieser ihm alles gesagt hatte, was er wissen wollte. Tatsächlich handelte es sich bei dieser Räuberbande um zwei Dutzend Mann - drei lagen hier schon vor ihm. Verblieben zwanzig Mann und ihr Anführer.

Der Krieger erreichte Kal Terrika bei Nacht - wie er es erhofft hatte. Es war nicht schwer, die ahnungslosen Wachen zu überrumpeln. Zumindest die am äußeren Tor. Er hatte sich lediglich durch eines der vielen Löcher in der Wand schleichen müssen, immer an der Wehranlage entlang, damit die Bogenschützen oben auf dem Wehrgang ihn nicht zu Gesicht bekamen. Seine Axt war schartig, stumpf und nicht im Ansatz mit seiner früheren Waffe zu vergleichen - aber sie reichte, um den zwei Wächtern am Eingang den Schädel einzuschlagen. Leider ging das nicht ganz so leise vonstatten, wie er sich das erhofft hatte. Letztlich wurden die vier Bogenschützen doch noch auf den Eindringling aufmerksam und eröffneten sofort das Feuer.

Das Amulett bewies seinen Wert, das ließ sich nicht abstreiten. Es war dunkle Nacht und der Krieger in seinen Lumpen schwer auszumachen, doch einen sich bewegenden Schemen dieser Größe konnte man als geübter Schütze dennoch schwer verfehlen - so konnte er nur das Amulett vorschieben, als die Pfeile als Querschläger an Steinen um ihn herum abprallten. Tatsächlich wagte er sogar, einen faustgroßen Stein aufzugreifen und mit aller Wucht zu schleudern. Danach schmerzte ihm zwar die Schulter, doch er traf einen der Schützen. Wo, das sah er nicht - er sah nur, wie dieser taumelte, um Gleichgewicht bemüht und letztlich doch vornüber die Mauer herab stürzte. Als er Aufschlug, brauchte es nicht einmal das Krachen der Knochen, damit der Krieger wusste, dass nur noch siebzehn und ihr Anführer verblieben.

Doch selbst das war noch wahrlich genug, nicht?

Er stürmte so eilig er konnte in Richtung der Tore und schaffte es, auf halbem Wege zu einem Seiteneingang abzudrehen, der auf die letzten Meter aus dem Augenwinkel heraus erspäht hatte. Dort eingetreten, sah er sich der nächsten Hürde gegenüber. Die Bogenschützen würden nur wenige Minuten brauchen, ehe sie von der Mauer herab gekommen wären. Sie würden sich vermutlich kurz absprechen - einer würde nach den Toten am Tor sehen, ob sie noch zu retten waren, einer würde den Rest der Bande warnen und der Letzte ihm wohl nachsetzen. Zumindest wäre das klug gewesen.

Wie sich herausstellte, wurden die Räuber ihrem Ruf gerecht - sie waren nicht klug. Alle drei stürmten dem Krieger nach, der ihnen, ein paar Quergänge und Räume als leer und sicher abgesucht, eine Falle stellte. Als sie im Gebäude ankamen, lehnte er sich nur kurz aus dem Türbogen eines Raumes, der ihnen wohl eigentlich als Wachstube hätte dienen sollen und warf die Axt. Sie konnte vielleicht nicht durch Rüstungen oder gar in Fleisch dringen, aber sie brach dem Burschen mehrere Rippen, sodass er heulend zu Boden ging. Pfeile surrten daraufhin in seine Richtung, doch Thorin war bereits wieder verschwunden. Vorsichtig schlichen ihm die Verbliebenen nach - von einer Misere in die Nächste. Die Tür offen stehend, flog direkt bei ihrem Eintreten zu. Der Zweite bekam sie gegen den Schädel gedonnert, hatte er doch anders als sein Mitstreiter nicht schnell genug zurück weichen können. Taumelnd senkte er den Bogen, griff nach der Stirn, hinter der der Schmerz explodierte. Der Hüne aber war längst hervor geschossen, packte den im Nahkampf ungeübten dritten Mann am Handgelenk. Mit dem Dolch, den dieser gezogen hatte, erstach er den Zweiten, jagte ihm die Klinge in die Kehle, ehe der Krieger seine Pranke auf das Gesicht des Dritten legte und ihn drei Mal mit großer Kraft gegen die Wand hinter ihm donnerte. So lange, bis sein Hinterkopf matschige Flecke am Stein hinterließ.

Dem Ersten, der die Axt abbekommen hatte, brach er schlicht das Genick.

Vierzehn und Anführer.

Die Taktik erwies sich noch einmal als tauglich, als er einen weiteren, diesmal besetzten Wachraum passierte. Beide saßen, offenbar in Kartenspiele vertieft. Dem weiter Entfernten warf er die Waffe entgegen, während er sich auf den Ersten stürzte. Er schlug ihn halb besinnungslos, ehe sein Kumpan dazu kam, das Schwert zu ziehen. Thorin wurde zwar mit einem langen, unschönen Schnitt am Unterarm getroffen, schaffte es jedoch im nahen Gerangel, dem Gegner die Waffe abzunehmen - und beide damit zu töten. Das Schwert in der Linken, die Axt in der Rechten, bahnte er sich weiter seinen Weg und platzte - irgendwann hatte ihn das Glück wohl zwangsläufig verlassen müssen - unabsichtlich in den Speisesaal.

„Alarm!“ brüllte sofort jemand und fast der gesamte Rest der Truppe sprang auf. Acht Mann und ein Ruf, der zweifellos Echos in jedem Gang und jedem Raum warf. In aller Eile zog der Krieger den Stein hervor. Aus dem Dunkel seiner Tasche kommend, brach sich das Licht unbeugsam Bahn - ehe er kurz darauf in den Fingern des Kriegers zu kleinen Splittern barst. Ein verirrter Bolzen, wie der Krieger blinzelnd gewahrte. Mit aller Hast und Eile warf er sich auf die Gegner, hackte und stach, so oft er nur konnte - doch nur vier gingen nieder, ob tot oder schwer verletzt war ihm gleich, ehe sie sich von der Blendung erholten. Als der Rest die Situation begriff, kehrte unliebsame Ordnung ein. Zwei Mann, mit Rundschilden und Breitschwertern, postierten sich vor den verbliebenen Zweien, die ihrerseits Armbrüste luden.

Rasch hatte der Krieger eine der kleinen Flaschen gezückt - und verschwand. Nicht unsichtbar, nein, er sank schlicht durch den Boden ein wie ein Gespenst und stürzte. Er befürchtete schon, er würde weiter fallen und irgendwann mitten im Erdreich ‚stecken bleiben‘, doch der Bannmagier hatte über die Kurzlebigkeit der Tränke nicht gelogen - noch während er durch das untere Stockwerk fiel, verebbte die Wirkung und er landete hart auf dem Untergrund. Ächzend erhob er sich und gewahrte rechtzeitig eines Mannes, der nackt aus dem Bett sprang und sofort zum Dolch auf dem Nachttisch griff. Er konnte die Attacke abwehren und obwohl ihn dies beide Waffen kostete, vermochte er doch auch seinem Gegner die Klinge zu entreißen.

„Wer bei Ceteus seid ihr?!“ fauchte sein Gegenüber. Der Räumlichkeit nach, reich verziert und dekoriert, zweifellos das beste Zimmer in der ganzen Anlage, wähnte sich der Krieger wohl dem Anführer dieser Räubertruppe gegenüber. Wenn jemand wusste, ob das Orakel hier war - und wo - dann er.

„Das Orakel, wo ist es?“ erwiderte der Krieger kurz angebunden und blickte sich bereits um. Es gab zwei Türen. Eine führte vermutlich zu einem Treppengang aufwärts, die andere möglicherweise… abwärts? Die Waffen waren allesamt zu weit verteilt, um ohne große Mühen an sie heran zu gelangen - es würde also entweder auf einen Nahkampf mit Fäusten hinaus laufen, bis einer in die Nähe einer Klinge käme und der andere damit unweigerlich in Probleme geriete, oder aber sie würden sich vielleicht einigen können. Obwohl der Kahlkopf es vorzog, sich nicht mit Halunkenpack einigen zu müssen. Leute wie diesen Bock hatte er oft genug getötet - meist, nachdem sie Ninafer gegeben hatten, was sie verlangte. Nur eines war für ihn von Relevanz: Das Grinsen im Gesicht dieses Hurensohnes. Er verstand ihn, er wusste sofort, wovon er sprach. Der Krieger hoffte inständig, dass das daran liegen mochte, weil das Orakel tatsächlich hier war. Und er sah sich bestätigt, als das Narbengesicht mit einem „Ach ihr seid das also“ begann. Was er danach auch immer hatte sagen wollen, beide sahen sich in ihrem philosophischen Diskurs unterbrochen, als Getrappel laut wurde. Kurz darauf stürmten die verbliebenen Männer der Bande das Quartier ihres Hauptmanns, schwer gerüstet, voll bewaffnet und mit gespannten Armbrüsten und Bögen. Dieser wiederum, den Vorteil nun zur Gänze auf seiner Seite, wandte sich wieder grinsend um - doch der Krieger war längst verschwunden.

Keiner hatte ihn das zweite Fläschchen trinken sehen.

Die Anlage von Kal Terrika erwies sich als riesig. So groß, das der Hauptmann mit seinen verbliebenen Männern Tage brauchen würde, jeden Winkel abzusuchen. Ebenso erging es aber Thorin, der nun jeder Waffe beraubt - außer seinen Fäusten, verstand sich - weiterhin auf der Suche nach seinem Ziel war. Im Verlaufe zweier weiterer Tage, in denen die Besetzer und der Gejagte Katz und Maus miteinander spielten, tötete der Krieger zwei weitere Männer und eignete sich einen Dolch an, ehe er endlich sein Ziel fand.

Wer etwas suchte, sollte stets dort beginnen, wo er zuletzt nachzuschauen gedachte.

Kal Terrika besaß einen tief gelegenen, verzweigten Kerker.

Warum das Orakel hier war, wusste er nicht. Er trat vor die Zelle und wollte seinen Augen nicht trauen. Sie saß dort, auf einer Bank. Direkt hinter den Gittern ein Teller mit Essen - nicht angerührt. Sie starrte ihn an, weder fuhr sie zusammen, noch schien sie überrascht. Erst nach einigen Minuten wanderte ihr Blick, wie ein Hinweis. Er folgte ihm - und fand den Zellenschlüssel. Als er eintrat, ging sie nicht auf ihn los. Nur leise raschelten ihre Flügel.

„Du bist meinetwegen hier, Thorin“, hauchte ein dünnes, zerbrechliches Stimmchen in einer Melancholie, die sich nicht in Worte fassen ließ. Der Kummer der Welt und die Trauer aller Menschen schienen in diesen wenigen Worten zu liegen.

„Du wirst mir antworten!“ verlangte er harschen Tones. Sie brauchte nicht versuchen, an sein Mitleid zu appellieren. Viele hatten das getan, allesamt umsonst. Wer mit der Spinne paktierte, konnte sich Mitleid nicht leisten. Das Orakel aber… überraschte ihn.

„Ich werde es dir zeigen. Und danach… wirst du dem ein Ende setzen“, konstatierte sie schlicht, erhob sich von ihrer Bank und schritt völlig hüllenlos, wie sie war, an ihm vorbei. Was sie hier erlebt hatte, wollte er nicht wissen. Er hatte zu viele traurige Schicksale gehört, gesehen, herbeigeführt oder selbst erlebt. Es war ihm völlig gleich geworden. Vermutlich war sie wie so oft als unscheinbare Reisende unterwegs gewesen, diesmal aber auf der falschen Straße. Möglicherweise hatte sie diese Straße sogar gewählt, weil sie wusste, dass er sie suchen würde. Was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Sie war hier und wollte Erlösung. Er wusste es - weil sie schon viel zu lange danach suchte. Jede Legende berichtete davon. Das Orakel, die Geliebte Kalerans, die jeden, der sie enttarnte, vor eine einfache Wahl stellte. Sie könne ihm die Zukunft vorher sagen - wenn er sie danach töten möge. Doch alle hatten sich immer dafür entschieden, sie am Leben zu lassen, sie weiter zu benutzen, immer mehr wissen zu wollen. Bis ihr Schicksal sie alle ereilt hatte.

Nun war er an der Reihe. Diese eine Frage würde sie ihm beantworten - doch Thorin trachtete nicht nach Weisheit. Es verlangte ihm nicht mehr nach Macht, Genugtuung, Reichtum oder Folgschaft. Er wollte nichts mehr für sich erringen und die Welt nicht mehr verändern. Alles war ihm gleich geworden mit Ausnahme dieser einen Sache.

Auf einer Karte Lumiéls, die zwischen einem Stapel billiger Schundromane versteckt lag, deutete sie ihm auf einem Tisch ausgebreitet auf einen Ort, der von aller Zivilisation so weit entfernt lag wie Kal Terrika selbst. „Gehe dorthin. Grabe zwei Tage lang und du wirst finden, was du suchst.“

Der Krieger nahm den Dolch zur Hand und ritzte ein kleines Kreuz in die Karte, ehe er sie faltete und in einer Tasche verschwinden ließ. Das Messer wog plötzlich so schwer in seiner Hand. Jenes Weib, wissend und sehend und zermürbt unter eben dieser Last, wandte sich ihm zu. Sie sagte nichts… nur ihre Augen zeugten von einem hoffnungsvollen Glanz. Als seine Finger sich fester um den Schaft schlossen, alle Möglichkeiten, alle Verlockungen Lügen und Nichtigkeiten straften, da deutete sich auf ihren kummerschweren Lippen ein Lächeln an.

„Ist es nicht merkwürdig? Wärst du der Mann, dessen sich alle erinnern, hättest du eine Unbewaffnete nicht einmal töten können, hätte sie dich angebettelt.“

Er zog das Weib an sich, drückte ihren Leib gegen den Seinen - und stieß zu. Die Lippen nahe an ihrem Ohr, sprach er die letzten Worte, die sie je hören würde. „Ich bin nicht dieser Mann.“ Mit einem seligen Lächeln sank sie, bis sein Arm sie stützte. Er bettete sie in ihrer Zelle, die Arme verbargen die tiefe Wunde, während ihre Hände sich über ihrem Bauch falteten.

Es galt nur noch der Festung zu entkommen. Keine große Hürde, bedachte man, wie zerstreut die Männer des Räuberhauptmanns waren. Überhaupt war es eine Frage der Zeit und nicht mehr. Thorin allein - ein alternder Söldner mit einer stumpfen Axt - hatte seine Truppe überrumpelt und fast halbiert. Nun aber, da die Seherin auch noch tot war, da das Orakel nach so endlos langen Jahrhunderten ihrer Pein diese Welt endlich in Frieden hatte verlassen können, würde sein Glück rasch schwinden. Verpatzte Überfälle, Gerüchte über ein Schwächeln ihrer Glückssträhne und es wäre nur noch eine Frage der Zeit, bis ein stattlicher Trupp Soldaten hier aufmarschieren und die kläglichen Reste dieses Packs zusammenfegen würde.

Für Thorin aber war nur eine erste Station geschafft.

Was er von Alandor mit auf den Weg bekommen hatte, hatte sich als nützlich erwiesen - doch jetzt blieb ihm nichts mehr davon. Die Kette hatte ihren Nutzen erfüllt und ob sie das weiterhin könnte oder auch nur würde, war fraglich. Wichtig war… nun - er war pragmatisch veranlagt. Wichtig war nun, eine Schaufel aufzutreiben. Die Karte war groß und grob. Er wusste weder, wonach er grub, noch, wonach er dabei eigentlich suchen sollte. Das Orakel aber, so war er sich sicher, würde ihn nicht grundlos irreführen. Woher er diese Sicherheit nahm… vielleicht waren es diese Augen gewesen, die ihn so sehnsüchtig willkommen geheißen hatten, die so dankbar glänzten, als sie von dem Menschen sprach, der er nicht war.

Als der Hüne Kal Terrika hinter sich ließ, einen aufgescheuchten Haufen Banditen und Halsabschneider zurück ließ mit den Überresten der ‚Waffe‘, die ihnen bisher ihre Siege garantiert hatte, befiel ihn erstmals seit langer, langer Zeit so etwas wie… Geschäftigkeit. Er hatte ein Ziel gehabt, aber nicht gewusst, ob es überhaupt erreichbar war. Jetzt aber war er seinem tatsächlichen Ziel schon einen guten Schritt näher gekommen, indem er die erste Hürde genommen hatte. Das Unmögliche vollbringen… es schien sich allmählich zu dem zu entwickeln, womit er fortwährend seine Zeit vertrieb.

Ganz gleich, ob man ganze Königreiche aufhalten und niederbrennen wollte, ob es eine legendäre Person zu finden galt oder… mehr noch als ‚nur‘ das - er packte die Aufgaben an und rückblickend war sein Schnitt bei der Lösung solcher Aufgaben bisher wohl recht stattlich.

Vielleicht war es ja Zuversicht, die sein Herz beflügelte und seine Schritte beschleunigte, als er dem neuen Tag entgegen marschierte…

Auf- und Abstieg, Teil 2

Man hätte eine epische Geschichte daraus spinnen mögen, nicht wahr? Der einsame Wanderer, ein Bär von einem Mann, stattlich, kräftig und mit der Ausstrahlung eines unerbittlich standhaften Felsens, der mit bloßen Händen den ausgehungerten Wolf bezwang. Oh gewiss, so wurden Helden geschmiedet - im tratschsüchtigen Maul von Weibern und Säufern.

Es war nichts Heldenhaftes daran gewesen. Thorin hatte sich über eine Woche, selbst dem Hunger unterworfen, durch die Wildnis Lumiéls gekämpft. Vielleicht war es verkehrt, das Grünland als ‚Wildnis‘ zu beschreiben. Doch wer einmal versucht hatte, unter den gleichen Umständen wie der Krieger von Kal Terrika zu seinem Zielort zu gelangen, der musste feststellen, dass selbst das in Überfluss ertrinkende, grüne Herzland des Atolls seine Gefahren aufzubieten wusste.

Er hatte keinen Proviant mehr. Von einer Waffe ganz zu schweigen. Den Wolf, der ihm stattliche Kratzer und sogar ein paar Bissspuren auf seinem Panzer eingetragen hatte, diente ihm nun Stückchenweise über dem Lagerfeuer rotierend als Ersatz für zumindest das Eine. Beide waren sie keine Feinde aus persönlichen Gründen gewesen, beiden ging es nur um das Stillen eines existentiellen Bedürfnisses. Doch als der Krieger das Tier zu packen bekam, seine Kehle mit dessen muskulösem Arm abpresste, als er den Todeskampf des Wesens sah, das mit den Krallen in weichem Boden scharrte und zu entkommen, sich zu befreien, ja selbst jetzt noch nach ihm zu schnappen versuchte… es musste kein Mitleid sein. Möglicherweise aber ein gewisses Gefühl der… Verbundenheit?

Schon vor langer, langer Zeit hatte er fast alles verloren, was ihn an sein altes Leben erinnern konnte. Die Karte, uraltes Leder bedruckt mit dem Atoll selbst, eingetragene Städte und Pfade, die längst nicht mehr existiert hatten, war fort. Vielleicht existierte sie nun, um staunende Reisende an Ruinen heran oder verwilderte Schleichwege entlang zu führen. Vielleicht auch, um einem dieser verflixten Zirkelmagier zu zeigen, wo er nach Schätzen buddeln musste. Auch seinen Kompass besaß er nicht mehr. Das kleine, schlichte Holzkästchen, in dem sich die Nadel so unermüdlich bewegt hatte. Irgendwann war er nach all den Gaben, die man ihm verliehen hatte, überflüssig geworden. Und Thorin, pragmatisch wie er war, hatte keinen unnützen Tand tragen wollen. Jetzt orientierte er sich am Verlauf der Sonne, am Ort ihres Auf- und Niederganges.

Es gelang ihm, in den weiten, sich wellengleich wiegenden Grasebenen nicht die Orientierung zu verlieren. Es gelang ihm sogar, den Bruchberg großzügig zu umgehen. Ganz gleich, in welcher dieser verdammten Zeitlinien man sich bewegte, Goblins und Gnome waren nie freundlich, nie feindlich - und nie ungefährlich. Diese kleinen Winzlinge wollten das vielleicht nicht einmal unbedingt, aber man konnte ihnen und vor allem ihren herzlichen Dreingaben einfach nicht trauen. Ständig kochte, ätzte, brannte oder explodierte irgendetwas, das laut seinem Schöpfer gar nicht dafür vorgesehen war. Man hätte sie für ein gewaltiges Volk von Stümpern halten können - und wären die Goblins allein für sich gewesen, vielleicht hätte man sogar Recht behalten. Die Gnome aber, obgleich nicht mit diesem technischen Genie gesegnet, wussten mit ihrem messerscharfen Verstand all die Merkwürdigkeiten irgendwie immer zu reparieren oder sogar einem tatsächlichen Nutzen zuzuführen. Einer der Gründe, warum eine einzige Goblinhöhle, ob bewohnt oder nicht, gefährlicher war als eine ganze Zwergenlegion. Fallen, eigenständig laufende Apparaturen, elektrische, aber ungesicherte Leitungen, Dampfkessel - genug Möglichkeiten, sich um Leib und Leben zu bringen.

Irgendwo im Norden errichte er schließlich sein Ziel. Kein nennenswerter Ort. Wie das so häufig war, wenn man etwas suchte, das vermutlich sehr alt und längst vergessen galt: Es war Meilen und Meilen von der nächsten Lokalität entfernt, die man auch nur als ‚nennenswert‘ hätte titulieren können. Mitten im Nirgendwo, zwischen der nächsten Feste, ein gutes Stück im Osten, Audron weit im Norden. Die Ausläufer der gewaltigen Wälder waren bereits sichtbar, welche sich südlich der Frost- und Eisgrenze an Lumiéls Städte schmiegten. Er musste sie zu seiner Erleichterung nicht betreten - an den südöstlichen Ausläufern befand sich sein Ziel, knapp außerhalb eben jener gewaltig aufragenden, uralten Bäume.

Wie das Orakel es ihm gewiesen hatte, grub er. Was hätte er sonst tun sollen? Erst am Ort des Geschehens eingetroffen, bemerkte er sein Dilemma: Es gab tatsächlich nicht nur auf der Karte keinerlei Anhaltspunkte. Er hatte auf etwas gehofft. Irgendetwas. Vielleicht einen besonders hohen Baum, vielleicht eine merkwürdig verzerrt gewachsene, knorrige Birke, vielleicht auch ein Steinmahl mitten in der Graslandschaft.

Irgendetwas eben.

Doch hier war nichts. Nur Gras und Gras und noch mehr Gras. Der Gedanke, das Orakel mochte ihn vor seinem Tod um die erbetene, nein, schlicht abverlangte Antwort betrogen haben, war durchaus gegenwärtig. Doch er wagte nicht ihm Raum zu lassen, um auch nur aufzukeimen. Stattdessen setzte er sich nieder, mitten im Grasland, fernab aller Straßen und Dörfer, in Niemandsland, und aß die letzten Reste Wolfsfleisch. Eine Schaufel hatte er inzwischen. Sie prangerte, wo einstmals die Waffen des Kriegers ihren Platz hatten finden müssen: Auf seinem Rücken, mit einem Ledergurt festgeschnallt. Er hatte sie unterwegs… gefunden.

Geld besaß er keines mehr. Er hatte alles Alandor gegeben, fest überzeugt, es nicht mehr zu benötigen. Allerdings war er zu diesem Zeitpunkt auch davon ausgegangen, nicht graben zu müssen. Der Wanderhändler hatte versucht, ihm bestmöglich entgegen zu kommen. Er war kein schlechter Mensch gewesen. Genau genommen, war er gar kein Mensch gewesen. Ein rüstiger alter Zwerg, der sich mit seinem Vornamen vorstellte. Ein Kruti also, keine Frage, ein Ausgestoßener seines Volkes. Er hatte sich dennoch mit einem Stolz präsentiert, mit einem erhobenen Kinn und wohlgeflochtenem Bart, ganz so, als sei dergleichen nie geschehen. Vielleicht war er ein Revolutionär, der sich gegen die Traditionen aussprach, vielleicht diente er als Verbindung zwischen seinem Clan und der Oberwelt - was spielte es schon für eine Rolle, woher der Stolz rührte? Sie hatten einander nicht unsympathisch befunden, doch hatten sie ebenso feststellen müssen, dass der Krieger, dem die Not des Besitzes des Werkzeuges regelrecht auf die Stirn geritzt stand, einfach nichts besaß. Nichts zum Bezahlen, nichts zum Eintauschen, gar nichts.

Am Ende hatte es nur eine Lösung gegeben. Als guter, aufrechter Händler hatte der Zwerg ihm die Schaufel ja schlecht schenken können. Und als jemand, der keine Zeit zu haben glaubte, nicht wusste, wann er das nächste Mal eine Menschenseele - einen Händler zudem! - überhaupt treffen würde und ob er dann etwas von Wert besäße, hatte Thorin den Zwerg auch ebenso schlecht einfach weiterziehen lassen können.

Zumindest hatte er es kurz gemacht. Ein einziger, völlig unerwarteter Hieb streckte den Zwerg, so kräftig er auch gebaut war, schlicht nieder. Händler blieb Händler, ein Krieger hätte vielleicht nur keuchend auf die Knie brechen müssen. Der Hüne sah sich um, erblickte aber weder andere Reisende noch Bedrohungen sonstiger Art. Keine Bären, keine Wölfe, keine Zentauren, Harpyien oder Trolle. Nichts und niemand, weit und breit. Der Kurze könnte also seine Ohnmacht überwinden und in aller Ruhe wieder aufwachen und sich sammeln, ohne bis dahin gefressen oder zumindest getötet worden zu sein. Der Kahlkopf selbst indes nahm schlicht die Schaufel und ging. Es hätte mehr gegeben. Vielleicht würde er auf hartes Gestein stoßen? Dann hätte er die schwere Spitzhacke gebrauchen können.

Oder wie wäre es mit neuer Kleidung? Einem wärmenden Hut? Möglicherweise ein paar neuen Stiefeln, die seine zugegeben nützlichen, weil beim Tritt schwer austeilenden Wanderstiefel hätten ersetzen können, die inzwischen so schrecklich durchgelaufen und abgetragen waren? Allerlei Tand und Krimskrams, der möglicherweise irgendwann irgendwie Wert besessen hätte. Nicht für andere Händler, sondern für sein Vorhaben. Doch… Thorin war genügsam. Er hätte sich nicht sich selbst gegenüber damit heraus reden müssen, dass er schlicht auf seinen Ballast achtete - tatsächlich war er schlicht genügsam.

Noch so ein Punkt, welcher Alandor Lamerak erstaunt die Augenbrauen hätte heben lassen. Ein Eichenschild, so wollten dessen Erinnerungen ihm weiß machen, hatte nie genug. Gab es eine Prügelei, war er immer mittendrin und selbst, wenn er blutend und mit unzähligen Treffern sich gerade so wackelig auf die Füße stemmen konnte - selbst hätte er alle besiegt! - hätte er nach mehr verlangt. Und am Tische, bei Ceteus, da doch sowieso! Er konnte nie genug essen, trinken, nie genug Vergnüglichkeiten in sich aufsaugen und war um eine dralle kleine Hure nie verlegen gewesen.

Sie würden diese Diskussionen nie wieder führen. Er würde sie mit niemandem mehr führen müssen - eine Erkenntnis, die ihm, wann immer sie sich wieder einschlich, ein mildes Lächeln abrang. Als er sein Mahl schließlich beendet hatte, schnallte der Hüne endlich die Schaufel von seinem Rücken, erhob sich unter einem Ächzen und drückte, die Hände auf den Hüften, das Kreuz durch. Es ließ sich einfach nicht länger leugnen… er wurde alt. Jetzt erstmals und sogleich endgültig. Ein merkwürdiges Gefühl.

Vielleicht hätte er etwas sagen sollen. Ein ‚Na dann wollen wir mal‘ oder dergleichen. Aber es war ja ohnehin niemand hier, der es hätte hören können. Also hob er schlicht die Spatenkante an die Grasnarbe, setzte den Stiefel auf und rammte sie tief hinein. Vier Mal, dann hob er das erste Stück Erde aus. Das Gras bildete eine dicke, dicht verflochtene Decke, die mit der Schaufelkante zu durchbrechen weit mehr Kraft kostete, als es das eigentliche Ausheben tat. Der Boden war, wie es sich für das Grünland gehörte. Reich an allem, was Pflanzen zum Wachstum brauchten. Zwischen dem Gras fanden sich dutzende Kräuter. Inzwischen wusste der Hüne auch, welche davon sich für heilende Salben eigneten… und dank ihr wusste er auch ein paar davon, sollte je die Notwendigkeit bestehen, in absolut tödliche Salben und Tränke umzusetzen.

Doch er achtete sie nicht. Stattdessen rammte er das Werkzeug wieder und wieder in den fruchtbaren Boden und hob im Verlaufe vieler Stunden eine ansehnliche Kuhle aus. Schweiß trat ihm auf Stirn und Leib, doch nur selten gönnte er sich Pausen. Nicht, weil das Alter sie nicht gefordert hätte - er hatte keine Zeit. Nicht eine Minute, die er sich tatsächlich lassen wollte. Je schneller er vorankäme, umso besser.

Wie das Orakel ihn angewiesen hatte, grub er. Tagelang. Die Nächte waren kühl, aber nicht unangenehm. Sie sorgten dafür, dass er tief schlafen konnte, zugleich aber früh erholt erwachte und weiter machen konnte. Sein Magen dankte es ihm gewiss nicht, fortwährend ignoriert und auf ein diffuses ‚später‘ vertröstet zu werden, doch er musste graben. Weiter und weiter.

Je mehr Stunden verstrichen, wie die Tage dahin flogen, musste er einfach Raum geben. Eben diesem einen Gedanken, das Orakel hätte ihn betrogen. Hatte sie sich ihre Erlösung etwa nur erkauft? War sie es leid gewesen, anderen zu helfen und hatte ihn daher in aller Absicht in diese Gegend geschickt? Gab es hier, irgendwo, überhaupt etwas zu finden? Die Zweifel waren da und mit dem Stand der Sonne erstarkten sie mehr und mehr. Doch was verblieb ihm anderes? So sehr er es sich auch gerne anders eingeredet hätte, er hatte nur diese eine Spur, nur diese eine Chance.

Frustriert saß er an diesem Abend am Rande einer überraschend großen Mulde. Ein stattliches Gebiet, welches er umgewühlt und ausgehoben hatte. Die Arbeit von vier Mann hatte er in gleicher Zeit erledigt - und so fühlte er sich auch. Seine Hände, obgleich durch Kampf und Jahre der Arbeit und Erfahrung von Horn geschützt und gestählt, brannten wie Feuer. Kleine, blutige Blasen hatten sich daran gebildet. Sein Kreuz drohte ihn umzubringen. Es würde einfach aus dem Fleisch heraus springen und ihn mit seiner eigenen Wirbelsäule erschlagen, jawohl! Und dann war da noch immer… der Hunger.

Am Rande seiner nutzlosen Arbeit sitzend, blickte er zum Himmel auf. Eine Pause, so sagte er sich. Er machte hier nur eine Pause. Dann würde er weiter graben. Vielleicht weiter in Richtung Wald. Vielleicht auch tiefer.

Neugier war es weniger, eher eine Art von fast kaum vorhandenem Interesse, das sich einschlich, als er in der Ferne jemanden Bemerkte. Der Gestalt nach ein Mensch - oder zumindest etwas Menschengroßes. Die Silhouette kam näher und näher, im schwindenden Tageslicht einen wehenden Umhang tragend. Ein Wanderer wie er? Ein einfacher Reisender? Es galt eine einfache, wenn auch unschöne Entscheidung zu treffen.

Er saß hier am Rand der Kuhle, in welcher er nichts Nennenswertes gefunden hatte, die Schaufel neben sich und am Ort, den das Orakel ihm gewiesen hatte. Er könnte weiter graben. Tage. Wochen. Jahre. Er würde sich vielleicht etwas Wild erjagen können, dann müsste er nicht einmal verhungern. Nur graben. Er würde irgendwann sterben und hätte das größte Loch Lumiéls ausgehoben… vermutlich, ohne irgendetwas gefunden zu haben. Nun ja, nichts außer das da.

Ein abfälliger Blick streifte kurz seinen einzigen Fund, ehe er mit einem Seufzen seinen Körper in Bewegung brachte und sich auf die Füße stemmte. Er würde gehen. Das hier… das machte keinen Sinn mehr. Das Orakel hatte ihn betrogen, wussten die Götter, warum. Ja - die Götter. Nicht dieser eine, hinterhältige kleine Bastard, der sich nun feiern ließ als hätte er selbst die Welt und alles darin erschaffen. Thorin, der in alten, furchtbar lange zurück liegenden Zeiten immer nur einer Stimme gefolgt und willentlich oder nicht nur einem die Treue gehalten hatte, hätte nie gedacht, irgendwann einmal so trotzig auf das ganze Pantheon zu schwören.

Die Schaufel… ließ er liegen, als er sich dem Wanderer entgegen bewegte. Je näher er der Gestalt kam, umso mehr Details erkannte er auch in der einsetzenden Dämmerung. Man hatte sich im Grünland immerhin schon aus weiter Ferne sehen können. Der Umhang war löchrig und ausgefranzt, zweifellos uralt - und obendrein aus einfachsten Leinen. Ohnehin weniger ein Umhang, eher ein großes, breites Leinentuch, das sich der Wanderer wie ein Beduine umgewickelt hatte.

Als sie auf ein paar Meter aneinander getreten waren, lag es an Thorin. Er war derjenige, der schweigend, skeptisch und abschätzend starrte, unverhohlen und bar aller Höflichkeit - während sein Gegenüber ihn nur kurz musterte, ehe ein Lächeln auf seine Lippen zog.

„Wer hätte das gedacht! Noch ein Reisender in dieser gottverlassenen Gegend!“ grüßte der Wanderer ihn, „Was treibt euch hierher?“ erkundigte er sich und warf einen Blick vorbei an der bulligen Gestalt des Kriegers, hinüber zu dem kaum übersehbaren Loch im Boden, „Schatzsuche?“ hakte der Reisende nach und schmunzelte angesichts der offenkundig ziellosen und obendrein erfolglosen Graberei.

„So ähnlich“, gab der Hüne lediglich unter einem tiefen Seufzen zurück, „Wohin zieht ihr?“

„Ich? Hmmm. Die Frage ist… schwieriger zu beantworten, als sie vielleicht wirken mag. Ich sag euch was… wir ziehen ein Stück zusammen. Es wird ohnehin bald dunkel, dann können wir uns ein schönes Feuer machen, einen Happen essen und ich erzähle es euch. Ich… gebe zu, ich könnte vielleicht sogar etwas Hilfe gebrauchen.“

Hilfe?

Das Wort schallte in Thorins Geist wieder und wieder von den Wänden seines Kopfes zurück. Hilfe. Die konnte er ebenso gebrauchen, nur war nichts und niemand mehr fähig, ihm zu helfen. Die einzige Macht, die das vermocht hätte, war durch seine Klinge gestorben. Aber warum? Warum abseits all der Wege, warum jenseits jedes Dorfes, warum mitten im Nirgendwo, warum gerade jetzt, gerade hier?

Warum war dieser Wanderer dort vor ihm hier? Es konnte ein Zufall sein. Natürlich konnte es das. Aber wer so alt wurde wie der Kahlkopf, der begann irgendwann zu zweifeln. Sobald die Zweifel nicht mehr genügten, begann man unweigerlich den Glauben zu verlieren. Daran, dass es Zufälle denn überhaupt je gegeben hätte. Ceteus Wille? Nein, sicher nicht. Aber irgendjemandes wohl.

Der Hüne antwortete nicht, ein einfaches Nicken gereichte völlig. Zusammen und allem voran schweigsam zogen sie ein gutes Stück an der Kuhle vorbei, die sein Tagewerk bedeutet hatte und bogen schließlich in den Wald hinein ab. Die Wälder Nordlumiéls. Sie waren gewaltig, viel größer als der Stille Wald zwischen Zadiora und La Coeur, viel größer und älter als die Sumpfwälder im Osten, hinter und in denen sich die Elben von Esgaroth versteckten. Und doch schienen diese uralten Bäume nie eine Dryade besessen zu haben. Man munkelte stets, woran das läge. Geschichten gab es darüber zuhauf und manche selbsternannte Erklärung war spannender als die andere. Thorin selbst glaubte keiner davon - einfach weil keine davon gute Beweise aufbieten konnte. Nur Vermutungen und Indizien.

Als sie ihr Lager auf einer kleinen Lichtung aufschlugen, hatten sie sich bereits tief genug in den uralten Forst gewagt, um nicht mehr so einfach zwischen den Baumreihen hindurch auf das weite Grasland hinaus blicken zu können. Ebenso bildeten die gewaltig aufragenden Stämme auch einen guten Sichtschutz für sie selbst. Der König bemühte sich nach Kräften, das Land zu sichern und stabil zu halten. Politisch war vermutlich gegenwärtig ein großer Tumult ausgebrochen, Bündnisse wurden gekündigt, Neue geschlossen, die ganze Welt geriet in Unordnung, doch… auch das zählte zu den Dingen, die Thorin nicht länger interessierten. Nichts tat das mehr. Die Welt wollte unbedingt vor die Hunde gehen? Sollte sie doch. Sie wollte es nicht? Na dann sollte sie etwas dagegen unternehmen. So einfach war das… so einfach war das immer schon gewesen.

Der Reisende nahm endlich dieses vergilbte Bettlaken ab. Er lächelte entschuldigend, erklärte den Aufzug damit, dass die Kälte ihm nicht gut täte. Erst, als das Leinen fiel, erkannte der Krieger die Wahrheit darin. Sein Gegenüber war kein gewöhnlicher Reisender, er war eher… ein Großväterchen. Eine aufrechte Gestalt von durchschnittlich-gutem Bau, aber sah man das Gesicht erst einmal entblößt, so bemerkte man unweigerlich ein paar Narben, tiefe Furchen auf Stirn, um die Augen und Lippen herum. Er litt zweifellos noch weit mehr unter dem, was Thorin erst zu plagen begonnen hatte - dem Alter. Und auch erst jetzt, im Schein des Feuers und einmal darauf aufmerksam geworden, bemerkte er die Hände seines Reisegefährten. Dünner gewordene Haut, von Altersflecken gezeichnet, spannte sich über mager werdenden Fingern.

Als der Wanderer sich endlich setzte, lächelte er dem Hünen zu, kramte weiter in seinem Rucksack herum und zog ein kleines Paket hervor. Eingeschnürt und eingepackt in ein dünnes Leder, entwickelte er seinen Proviant. Wohlduftender, herzhafter Käse, ein gut abgehangener, salziger Schinken. Brot, ein Stück Fisch, aus dem Rucksack kamen ein paar Früchte hinzu. Äpfel, eine Orange, zwei, drei Tomaten. Ein kleines Festmahl. Schon beim Anblick dessen rebellierte der Magen des Kriegers, der sich viel zu lange ignoriert und vertröstet fühlte, lautstark vor sich hin. Obwohl dem Kahlkopf nichts so schnell peinlich wurde… musste er doch den Blick senken. Es grämte ihn eher, zu betteln, ohne das bewusst getan zu haben.

Einzig sein Gegenüber erlöste ihn aus dieser Zwickmühle. Einen Moment blickte der Ältere seinen Landsmann an, ehe ein mildes Lächeln die faltigen Lippen glatt zog. „Seht, ich habe einfach kein Gefühl mehr. Früher stand ich in der Küche und habe für drei Personen gekocht. Ein Vergnügen, das sage ich euch, aber man gewöhnt sich so schlecht um. Noch immer packe ich mir ständig viel zu viel ein. Wollt ihr mir nicht vielleicht helfen? Es wäre doch schade, wenn das gute Zeug verdirbt!“

Der Hüne blickte auf und fühlte sich… überrascht. Überrumpelt von der Güte, die aus den Augen dieses Alten strahlte wie das Licht der Sonne vom Himmel. Mit einem wortlosen Nicken stimmte er zu, akzeptierte die Mildtätigkeit. Es nützte niemandem etwas, hier zu diskutieren und sich unnötig zu sträuben. Zumal er tatsächlich würde bei Kräften bleiben müssen. Das Orakel war vielleicht ein Fehlschlag gewesen, aber im Namen aller Dinge, die noch heilig galten - er würde nicht aufgeben! Gut, dann würde er eben andere Wege finden. Aber es gab sie. Und er würde sie finden.

„Wer seid ihr?“ erkundigte sich Thorin, während er einen großen Bissen Brot mit einem weiteren, großen Bissen des herzhaften Käses in seinem Mund vermischte und so nur noch zuzuhören fähig war. Er versuchte, die Gier zu zügeln. Er wollte dem Alten schließlich bei aller Güte auch sein Mahl nicht gänzlich davon schlingen, „Und was treibt euch hier raus?“

„Nun ja“, hob der Wanderer unter einem leisen Auflachen an, „ich hatte es euch ja versprochen, nicht wahr? Zunächst einmal… ich heiße Wilbert. Ich bin… also nein. Ich war eigentlich Viehzüchter, drüben in Lairuinen.“

Ein Viehzüchter aus dem Norden. Der Hüne musterte den Alten erneut. Das dünne, wenige Haar, das auf dem runden Schädel verblieben war, wirkte tatsächlich, als könne es lange vor seinem Ergrauen einmal blond gewesen sein. Die Augen wirkten trotzig und eher rot - was allerdings dem Lagerfeuer zuzuschreiben war. Aber die Statur passte vielleicht zu den bärenhaften Hünen Lairuinens. Ein Viehzüchter also. Aber was trieb den hierher? Dennoch wollte der Krieger, trotz seiner sonstigen Art, nicht sofort mit der Tür ins Haus fallen. Nicht zuletzt als Dank dafür, an den Reisevorräten des Wanderers Anteil haben zu dürfen.

„War?“ brachte er daher kräftig kauend hervor.

Wilbert nickte und ein kummervoller Glanz legte sich langsam in seine Augen, die bis gerade eben noch vom Lächeln seiner Lippen erfasst waren. „“War“, wiederholte er leiser, „Seht, ich verstehe all diese Dinge ehrlich gesagt auch nicht ganz recht. Ich erinnere mich daran, wie schlecht es allen ging. Es waren dunkle, grässliche Zeiten, die wir viel zu lange erduldet hatten. Furchtbar, einfach furchtbar. Aber Lairuinen hat überlebt, das tut es in solchen Zeiten meistens. Dann aber kamen die Männer des Königs. Eine Abteilung des Heeres… ich weiß nicht, wie man so etwas nennt. Eine Kompanie? Soldaten in ihren blitzeblanken Rüstungen, mit Schwertern, Speeren, Bögen, Armbrüsten… und Katapulten. Sie hatten Magier dabei. Die Ältesten des Dorfes verweigerten, was auch immer die Soldaten eigentlich gefordert hatten und binnen eines Herzschlages brach Chaos herein. Plötzlich waren die Soldaten überall. Sie schlachteten einfach alle nieder. Aber… wenn ihr je in Lairuinen wart, kennt ihr die Einwohner wohl. Sie leisteten Gegenwehr. Selbst das einfachste Waschweib, die Küchenmagd und die Schwangere in ihrem Bett, sie alle packten Äxte, Schwerter, Küchenmesser - was immer sie greifen konnten. Wenige Stunden und der Boden war gepflastert mit den Leichen beider Seiten, während das halbe Dorf durch den Beschuss der Katapulte in Flammen stand. Dann erst kamen die Magier. Sie sollten aufräumen. Ich hatte den Wahnsinn losbrechen gesehen, ich wusste, dass wir keine Chance hätten. Also versteckte ich meine Frau und meine Tochter im Schlafzimmer, schloss die Tür ab und hielt davor Wache. Als der Magier eintrat, warf er einen Zauber gegen mich. Ich spürte Hitze und Kälte und unglaubliche Schmerzen. Ich… ich erinnere mich noch, wie ich auf die Knie brach und sah, wie sich plötzlich alles veränderte. Etwas erfasste den Magier, es riss ihm die Haut vom Fleisch… dann das Fleisch von den Knochen, ehe selbst die irgendwie einfach abgetragen wurden. Wie Staub, den der Wind verweht. Das Haus blieb bestehen, aber ich sah Vasen samt der Blumen darin verschwinden, ich sah draußen das Licht verrücktspielen, als könne sich die Welt nicht zwischen Tag und Nacht entscheiden. Als dieser Zauber endlich aufhörte, hatte sich das ganze Haus irgendwie… verändert. Tische standen anders herum, die Stühle sahen nicht nach den Meinen aus und Gemälde, die ich gekauft und aufgehängt hatte, waren verschwunden oder durch andere ersetzt worden. Ich wusste nicht, was für fauler Zauber das war. Aber es war mir einerlei, solange ich nur hatte beschützen können, was mir wichtig war. Ich erhob mich, tastete mich ab - unverletzt, wie ihr sehen könnt. Rasch zog ich den Schlüssel aus meiner Tasche, wandte mich um und schloss, noch dabei den Namen meines Weibes rufend, die Tür auf. Aus dem Bett aber sprangen zwei Gestalten auf. Ein Weib, welches nicht das Meine war. Als sie mich erblickte, als ihr Mann meinen Namen mit solchem Entsetzen aussprach, da kippte sie einfach in Ohnmacht. Er selbst schien leichenblass kurz davor, wusste sich aber zu beherrschen. Er… er tippte mich an, hier an der Schulter. Als würde er glauben, ich sei ein Nachhang eines bösen Traumes. Erst nach und nach, als er sich um seine Frau gekümmert hatte, brachte er die Geduld auf, meine Verwirrung, meine Wut, mein Zetern und Fluchen und meine Fragen zu beantworten. Ihr… werdet mich für verrückt halten, fürchte ich. Falls ihr das nicht längst tut. Er brachte mich in sein Speisezimmer. Ja - seines. Das Haus, so erzählte er mir, gehöre seit sieben Jahren ihm. Seit die Familie, die davor dort gewohnt hätte - meine Familie - von den Truppen Phillipe des Dritten deportiert und hingerichtet worden sei. Als Verräter an der Krone, als Verschwörer. Man… man erzählte mir, das mein Heim, das noch vor wenigen Stunden mir gehört hatte, seit Jahren nicht das Meine sei. Dass das Weib, mit dem ich noch letzte Nacht das Bett geteilt hatte, tot wäre. So wie meine Tochter. Und das auch ich es eigentlich sein sollte.“

Unglaublich.

Ein Wort, das viele Bedeutungen besitzen konnte. Es war die erste und schließlich auch durchgängigste Reaktion, die sich im Geist des Hünen manifestierte, während er der Erzählung des Viehzüchters lauschte. Schon als er hörte, das Soldaten vor Lairuinen aufmarschiert wären, schwante ihm Übles - denn in dieser Welt hatte es diesen Angriff laut den Überlebenden, laut den Älteren und den Büchern der Geschichte, nie gegeben.

Und hier nun saß ein einfacher Viehzüchter, ein alter Wanderer, der seine von Alter geplagten Hände am Feuer wärmte, und erzählte ihm vom Massaker von Lairuinen. Von einer verlorenen Schlacht, die er unmöglich hatte erleben können. Von einem Geschehnis, das nicht in seinem Kopf hätte existieren dürfen. Überhaupt hätte er, seinen Worten nach, selbst gar nicht hier sitzen können. Natürlich war die Erklärung all dessen naheliegend, nicht wahr? Magie war im Spiel. Magie machte immer alles kompliziert und wirr und undurchschaubar. Der Zauberer hatte einen Spruch gegen den Viehzüchter geworfen und während er selbst den Veränderungen zum Opfer fiel, die die Zeitmagie mit sich brachte, war er von diesem Zauber, der ihn quälen und wohl auch hätte töten sollen, beschützt worden. Ein zweifelhafter Schutz, bedachte man sich das unschöne Erwachen.

Er kannte sich gut damit aus, wie es war, Weib und Kind zu verlieren. Eine Tochter vor allem. Eine Parallele in ihrer beider Leben. Der Zauber hatte ihn also geschirmt, so musste es ja sein. Welche Erklärung gäbe es sonst?

Thorin ließ die Geschichte eine Weile sinken und ignorierte dabei den ungeduldigen und zugleich hoffenden Blick des Älteren. Dessen Augen bettelten regelrecht darum, nicht für wahnsinnig erklärt zu werden und tatsächlich hatte der Kahlkopf das auch nicht vor. Nein, nichts lag ihm ferner. Er hatte diese Gräuel gesehen. Nicht, als sie geschahen… aber er war über das Feld der Leichen gelaufen. Die Straßen waren gepflastert mit den Toten beider Seiten? Der Ausdruck hatte wortwörtliche Berechtigung gehabt!

Nach einer ganzen Weile bemerkte der Hüne, wie er unabsichtlich begonnen hatte, das letzte Käsestück zwischen seinen Fingern zu zerdrücken. Die schmierige Masse wurde rasch von den Fingern genommen, ehe er sich zu einer Antwort auf diese Geschichte erhob, die jedem wüst und unglaublich vorgekommen wäre.

„Was genau habt ihr nun vor, zu tun?“ erkundigte sich der Krieger lediglich. Thorin war kein Dummkopf. Ob die Geschichte sich nun genau so zugetragen hätte oder eben auch nicht, spielte am Ende keine Rolle. Wichtig war nur, dass dieser Alte sie für wahr hielt, „Und wobei soll ich euch helfen?“ Hilfe, ja. Darum hatte er gebeten. Aber wobei sollte er ihm schon helfen? Wollte er die Gräber seiner Familie finden? Die Särge ausgraben, um hinein zu schauen, ob die geliebten Wesen darin verwesten und von Würmern zerfressen wurden? Eine schlechte Idee. Der Anblick beim Öffnen der Särge würde ihm nicht einfach nur das Herz brechen.

Wilbert nickte dankbar. Er war nicht für irre erklärt worden, Thorin war nicht panisch aufgesprungen um ihn zu erschlagen. Nein, stattdessen nahm er seine Geschichte hin. Er bestätigte sie nicht, zweifelte sie aber auch nicht an - stattdessen erkundigte er sich nach dem Naheliegenden. Ein Pragmatiker, durch und durch, daran konnte wohl kein Zweifel mehr bestehen. Abermals trat ein mildes Lächeln auf die alten Lippen, auch wenn es ob der bitteren Erinnerungen etwas schief hing.

„Ich war schockiert und entsetzt, als ich eine Schwarzkutte auf der Straße sah. Ich traute mich nicht, einen Stein zu packen und nach ihm zu werfen… was gut war. Vermutlich hätte man mich dafür eingesperrt. Ceteuspriester lehren in den Tempeln lesen und schreiben und… die Anbetung des Gottes. Des einen. Ich… erkenne diese Welt nicht wieder. Sie wirkt vertraut, aber so absurd anders. Es hat mich viel Zeit und Mühe gekostet, alles Vermögen, was ich noch besaß und jeden Gefallen, der noch offen stand. Und natürlich viele Erklärungen, warum ich noch lebte. Aber ich fand ein Buch, völlig verbrannt, auf dem auf einer Seite das Gesuchte war. Ein Hinweis auf einen Schrein unbekannter Herkunft und unbekannter Verwendung. Als ich das Symbol sah, wusste ich es einfach. Vielleicht ist es der letzte Altar in Lumiél, vielleicht der Letzte dieser Welt. Aber er ist Arimasper geweiht, dem einzigen Gott des Krieges, den es geben sollte. Ich werde ihn finden, ich werde auf meine alten, starren Knie brechen und ich werde ihn anschreien. Bis er mir antwortet, womit ich dieses grausame Spiel verdient habe.“

Arimasper.

Es verwunderte den Krieger über alle Maßen, diesen Namen zu hören. Er ließ sich äußerlich nichts anmerken, doch allein, dass der Viehzüchter wusste, wie der Kriegsgott hieß… der einzig Wahre, ganz wie er es gesagt hatte… war doch wohl mehr als genug Bestätigung für seine furiose Geschichte, nicht wahr? Dennoch ließ sich ein Punkt einfach nicht von der Hand weisen:

„Ihr schreit da den Falschen an“, wandte der Krieger gegen das Vorhaben ein. Er wollte Wilbert keineswegs von seinem Plan abbringen, im Gegenteil. Hilfe oder nicht, er würde ihn begleiten. Oder notfalls alles Nötige an Wissen aus ihm heraus prügeln, alt und gebrechlich und hilfesuchend oder nicht. Nachdem das Orakel ihn betrogen hatte, war dieser Schrein der letzte verbliebene Hinweis auf die alte Zeit, die er noch hatte. Vielleicht eine Spur. Vielleicht hatte das Orakel ihn nicht einmal betrogen. Möglicherweise sollte er nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, damit er diesem Alten hier begegnen konnte? Vielleicht würde der ihn ja zu seinem Ziel bringen. Wer konnte das schon wissen - man hatte dem Orakel ja stets nachgesagt, das seine Aussagen vielfältig deutbar waren und obgleich eben schwer verständlich, doch meist zum Ziel führten.

Als Wilbert auf seinen Einwand hin merkwürdig drein sah, hob der Krieger die Hand und winkte ab. Es war einerlei, er war nun wirklich nicht erpicht darauf, in einer ‚Hallo, ich bin Thorin und habe folgende schreckliche Dinge erlebt‘ - Runde damit anfangen zu müssen, seine Version ebenso darzulegen. Es ging niemanden etwas an, kein einziges Detail davon. Entsprechend lauschte er, wofür der Viehzüchter nun eine Hilfe wünschte. Sie war denkbar einfach: Er war allein und er war alt. Vor allem aber war er quasi unbewaffnet. Sicherlich, er hatte einen Dolch dabei, aber den verwendete er eher zum Schneiden des Käses und des Schinkens. Mit nahezu allem, selbst mit Häkelnadeln, ließen sich am Ende schreckliche Wunden verursachen - aber er war kein Kämpfer, ihm fehlte schlicht Wissen und Übung für dergleichen.

Beides konnte Thorin aufbieten und so hatten sie rasch ein Arrangement geschlossen. Der Hüne stellte sich nachträglich ebenso mit seinem Namen vor und reichte seinem Landsmann die Hand. Er würde für ihn kämpfen, sollte es notwendig werden und ihn bis zum Schrein eskortieren. Im Gegenzug reisten beide gemeinsam und der Kahlkopf würde sich an den Vorräten des Wanderers mit bedienen dürfen. Gegenseitiger Nutzen, wie beide mit einem zufriedenen Lächeln befanden.

Eine Weile kehrte Schweigen ein, wärmten sie sich und entspannten ihre Glieder. Erst deutlich später, als in beiden Köpfen schon der Wunsch nach Rast und Ruhe eingekehrte, erhob Wilbert noch einmal das Gespräch zur Kür. „Und ihr? Was trieb euch in diese Gegend?“

Ein verächtliches Schnauben war die erste Reaktion, die Thorin von sich gab. Ja, was trieb ihn denn hier her? Irrsinn? Dummer kleiner Kinderglaube? Ammenmärchen? Die sogenannte Hilfe eines stümperhaften Dummkopfes von Magier? Ein gedehntes Seufzen ließ ihn all die verschwendete - möglicherweise verschwendete - Zeit Revue passieren.

„Ich suche etwas. Jemand, der schwer zu finden war und von dem ich mir klare Antwort erhoffte, schickte mich hierher und sagte, ich solle graben und würde finden, was ich suche. Ich kam hierher und grub.“ So einfach war das. Wie immer.

„Und habt ihr gefunden? Ist es das dort?“ erkundigte sich der Viehzüchter mit einem Ton, den der Krieger gallig als völlig unberechtigt hoffnungsvoll befand. Was ging es ihn überhaupt an? Schlafen sollte er! Trotzdem wollte der Hüne das frische Bündnis nicht gefährden, indem er seine maulfaule Art wieder zum Strahlen brachte. Also hob er schlicht sein einziges Fundstück und warf es dem Wanderer vor die Füße. Ein schlichtes Stück Holz. Länglich, gut gearbeitet, aber von der feuchten Erde angegriffen. Morsch, brüchig, vermutlich mit einem ganzen Wurm- und Madenstaat darin. Es hätte ein Tisch- oder Stuhlbein sein können, das ließ sich kaum noch sagen.

„Das ist mein glorreicher Fund. Und nicht, was ich suchte“, erwiderte der Krieger etwas harscher, als es vielleicht nötig gewesen wäre. Wilbert nickte verstehend, hob das Stück Holz und kratzte hier und dort etwas Erde davon herab, ehe er es drehend und wendend begutachtete und Thorin schließlich zurück reichte. Der spielte einen Moment mit dem Gedanken, es ins Feuer zu werfen… doch bemerkte er während dieser Überlegung den Blick des Wanderers. So… lauernd und… ernst?

Als er das Stück wieder ablegte, schien sich Wilbert wieder zu entspannen.

„Warum geht ihr nicht zurück und fragt erneut? Nach etwas Konkreterem? Und… wenn das nicht das Gesuchte ist, warum nehmt ihr es mit?“

Das waren alles verdammt gute Fragen, nicht wahr? Abermals seufzend streckte sich der Krieger zur Gänze aus und bettete den Kopf auf seinen hinter eben diesem verschränkten Händen. „Sie ist weg. Ich kann sie nicht mehr fragen“, erörterte er zunächst, wobei er offenließ, ob sich jenes ‚sie‘ nun auf eine Frau oder schlicht auf ‚die Person‘ bezog, „Und ich schleppe es mit mir herum, weil ich töricht bin. Ich will mir nicht eingestehen, dass die Tage des ununterbrochenen Grabens, die Schwielen an meinen Händen und der unausstehliche Hunger dieser Stunden völlig für umsonst gewesen waren.“

Eine Ehrlichkeit, die den Kahlkopf selbst mindestens so sehr überraschte und beeindruckte, wie sie das auch mit Wilbert tat. Der Wanderer nickte anerkennend, ehe auch er sich, ohne weitere lästige Fragen oder ach so gut gemeinte Ratschläge, endlich zur Ruhe bettete. Thorin hielt die erste Wache dieser Nacht und das größte Übel, welches ihm begegnete, war ein Waschbär, der Wilberts Vorräte gerochen hatte und sich bedienen wollte. Irgendwann kam der Wachwechsel und der Krieger schlief binnen weniger Herzschläge tief wie ein Stein.
 

Mehrere Tage lang durchstreiften die zwei Alternden gemeinsam die Wälder. Mal mehr, mal weniger wirr. Thorin hatte längst jegliche Orientierung verloren. Hier im Wald, verborgen unter dem gewaltigen Blätterdach der hoch aufragenden, uralten Baumgiganten konnte er den Sonnenlauf schlecht einschätzen und Wilbert schien sich weniger an einer Karte, als vielmehr an rasch dahin gekritzelten Notizen zu orientieren - die sie, wie der Hüne mit Frustration bemerkte - auch manchmal zum selben Ort zurück führten.

Erst nach einer ansehnlich großen Zeit erreichten sie endlich ihr scheinbares Ziel. Sie kämpften sich gerade zwischen Büschen hervor und der Krieger wollte Wilbert schon anfahren, ob es wirklich nötig gewesen war, sich in dieses Dornengestrüpp zu werfen, als ihm die Frage prompt quer im Halse stecken blieb. Gemeinsam traten sie, ein paar letzte lästige Zweige zur Seite schiebend, auf eine Lichtung hervor. Sonnenlicht flutete durch eine scheinbare Wachstumslücke im Blätterdach diesen Ort, der ausgetreten wirkte. Als hätte hier reger Verkehr geherrscht. Es gab keine Fuß- oder Wagenspuren, aber dennoch wagte hier seltsamerweise kein Grashalm zu wachsen. Ebener, weicher Boden. Zu weich, um fortwährend von der Sonne ausgetrocknet worden zu sein. Man merkte schnell, schon an der Ausstrahlung dieses Ortes, das er… besonders war.

„Sind wir da?“ hörte sich der Krieger fragen und hätte sich dafür gut schelten können. Natürlich waren sie da. Selbst hätte er es nicht an Wilberts freudigem Gesichtsausdruck bemerkt, so stellte sich doch unweigerlich die Frage, über wie viele heilige Orte man in einem Wald wohl stolpern konnte - vor allem auf so kleinem Gebiet verteilt. Entsprechend überraschte ihn die Antwort nicht, dass dem so war. Gemeinsam schritten sie auf den Eingang einer aus dem aufsteigenden Hügelkamm ragenden Höhle zu. Massiver Granit formte kleine Quader, die einen schlicht behauen wirkenden Schlund bildeten. Der Schrein Arimaspers war also… unter Tage? In einer Höhle?

„Es reicht“, konstatierte Thorin trocken und zog den Dolch hervor. Wilbert hatte ihn Thorin überreicht, als dieser sich in einer Nacht mit einem hungrig herum streifenden Bären konfrontiert gesehen hatte und scheinbar ‚vergessen‘, ihn wieder zurückzufordern. Hier und jetzt aber, da gewahrte der Hüne keinerlei Überraschung in den Augen des Wanderers. Und er konnte selbst nicht behaupten, dass er diesen Umstand nicht erwartet hätte. „Ich bin der Spielchen überdrüssig“ schob er nach und wartete auf Antwort.

Wilbert aber neigte kurz das Haupt, abschätzend, so schien es. „Ich weiß nicht, wovon ihr redet“, gab er zurück und stachelte damit einen Moment den Zorn des Kriegers an, der aus eigentlich längst vergessenem Mangel an Beherrschung heraus einen drohenden Schritt näher trat, die Klinge weiter auf den Reisenden gerichtet.

„Sie lehrte mich gut und glaubt mir, ich habe mit ihr oft und lange genug diese Art von Spielchen getrieben! Man weiß nie, wer Katze und wer Maus ist, bis einer zum letzten Stoß ausholt. Ihr seid kein einfacher alter Viehzüchter aus Lairuinen! Ihr habt auch das Massaker nie erlebt und wisst nichts von Arimasper, ihr könnt von alledem nichts wissen. Ich bin mit Magie vielleicht nicht vertraut, aber ein Dummkopf, das bin ich auch nicht. Ich wurde von den Veränderungen ausgenommen, weil ich ein Teil der Sache war, die Ceteus diente. Dieser hinterhältige Bastard hat mich ‚verschont‘, wissen die Teufel, warum, aber einfache Magie hätte euch niemals vor einem Zeitmagier beschützt - der Zauber wäre ebenso rückgängig gemacht worden. Wer also seid ihr wirklich? Woher wisst ihr all diese Dinge? Warum sind wir hier und was ist wirklich dort drinnen?“

Die Muskeln bis zum Zerreißen gespannt, war der Krieger bereit, sein altes Handwerk aufzunehmen. Mit Blut und Geschrei würde er diesem Tag seinen Höhepunkt verleihen, sollte es notwendig werden. Er bezweifelte, das ‚Wilbert‘, sollte er wirklich so heißen, so harmlos und gebrechlich war, wie es den Anschein erweckte. Nein, er war etwas oder jemand anderes. Vielleicht ein Dämon, vielleicht ein Zirkelmagier, wer konnte das schon sagen? Das spielte auch alles keine Rolle.

Der vermeintliche Viehzüchter dagegen wirkte einen Moment verunsichert, rang sich ein verzerrtes, vages Lächeln ab, ehe sich abrupt alles… veränderte. Seine Miene erschlaffte, wurde reglos, starr. Emotionslos. Seine Haltung dagegen richtete sich auf, das Kreuz breit gestrafft. Ja, wahrlich - jetzt erkannte man einen Mann aus Lairuinen ohne große Mühe in ihm! Nur wirkte jetzt wiederum das hohe Alter völlig unpassend.

„Er ist Wilbert aus Lairuinen, Viehzüchter und eigentlich tot“, bekräftigte der Wanderer plötzlich von sich selbst in der dritten Person redend. Für Thorin dagegen war das das ohnehin erwartete Eingeständnis. Etwas oder jemand hatte sich also dieses Körpers bemächtigt. Vielleicht auch eines alten, halb zerfallenen Leichnams, der nun regeneriert worden war. Oder es handelte sich um eine Illusion - wen scherte das schon?

„Und du bist?“ verlangte er zu wissen, erntete jedoch nur ein breites Grinsen und ein leichtes Kopfschütteln. Stattdessen setzte der Reisende unter dem strengen, wachsamen Blick des Hünen den Rücksack ab und… zog den Stock hervor. Das morsche, madige Stück Holz, welches er vor Tagen jenseits des Waldes ausgegraben hatte. Thorin hatte es in der ersten Nacht nicht ins Feuer geworfen, nein - aber er hatte es eines Morgens, als sie aufbrachen, schlicht liegen lassen. Mit Absicht, denn er war überdrüssig geworden und seine Ansicht hatte sich verschoben. Statt nicht länger eingestehen zu wollen, dass er umsonst gegraben hatte, war er zu der Einstellung gelangt, dass er das Zeichen seines Scheiterns mit sich herum schleppte. Ein morsches Stuhlbein.

Aber hier nun stand Nicht-Wilbert und hielt ihm das Stück entgegen, als wäre es der Schlüssel zur Weisheit. „Kein morsches Stuhlbein?“ erkundigte sich der Krieger ahnend. Das Grinsen wurde noch eine Spur breiter und diesmal nickte sein Gegenüber. Vorsichtig reckte der Hüne die Hand, das Messer immer zur Vorsicht hoch gehalten, griff zu und entzog dem Fremden das Stück Holz. Der angebliche Viehzüchter machte keine Anstalten, sich auch nur zu rühren. Er griff nicht an, aber er gab auch keine rechte Antwort darauf, wer er war oder was all dies hier sollte.

„Die Antworten, die du suchst - alles, was du suchst - findest du dort drinnen, Thorin Eichenschild, Ehemann, Vater, Herzträger, König der Könige, Führer der Roten Legion, Laufbursche des Ceteus. Ich werde hier warten.“

All das Wissen brandete über ihn hinweg. Er hörte, er vernahm die Worte. Doch statt sie zu begreifen, schienen sie ihn zu erschlagen. Ehemann… Vater… Herzträger? Die Rote Legion?

Thorin war es nie klar geworden. Wie sollte man sich auch des Fehlenden erinnern. Als der Schatten sie alle betrogen und Ninafer aus seinen Armen gerissen hatte, war weit mehr geschehen als nur das Offensichtliche. Er hatte ihn von ihr gestoßen, ihn gegen die Wand geschmettert und ihm Rippen gebrochen, aber der körperliche Schaden war mit nicht mit dem vergleichbar gewesen, was seinem Geist angetan wurde. Wissen und Gaben, die Ninafer ihm im Dienste der Spinne übertragen hatten, wurden brutal aus seiner Persönlichkeit heraus gerissen. Hatten sie sich anfangs gut eingefügt und viele Lücken einer versoffenen Persönlichkeit nach und nach aufgefüllt, so packte der Schatten sie nun an der Wurzel und versuchte, so viel Schaden wie möglich anzurichten, als er sich zurück nahm, was ihm allein gebührte. Viele Erinnerungen waren zerstückelt und zerrissen oder gänzlich verloren worden und hinterher… hinterher hatte sein Gedächtnis schlimmer ausgesehen als je zuvor. Während Ceteus sich seine Kräfte zurück nahm, hatte der Krieger das Vorgehen gespürt. Er hatte sich an alles geklammert, er hatte alles festzuhalten versucht und es war ihm unter der Hand hinfort gezerrt worden. Er hatte es nicht aufhalten können, also hatte er in den wenigen Sekundenbruchteilen eine Auswahl getroffen. Er hatte das Wenige erkoren, das zu schützen ihm wichtig war… während so Vieles vom Rest verloren ging.

Nun stand er hier, einem namenlosen fremden Wesen im Körper eines längst verstorbenen Mannes gegenüber und eben diese Kreatur, die ihn geblendet und mit ihm gespielt hatte… schien so viel mehr über ihn zu wissen, als er sich erinnern konnte.

Gerne hätte er gefragt. Wo wurde ich geboren? Wer waren meine Eltern? Lebte ich in einem Haus? Auf einem Hof? Was hat es mit diesem ‚Herzträger‘ auf sich? Und was war die Rote Legion?

Alle Antworten - alles was er suchte - befände sich dort drinnen.

Mit unsicher wankenden Schritten bewegte sich der Krieger voran. Der Dolch fiel achtlos zu Boden, blieb im weichen Erdreich stecken. Wilbert oder was immer er nun war, folgte ihm bis zum Eingang der Höhle und betrachtete zufrieden, wie Thorin Eichenschild, einem Traumwandelnden so ähnlich, in der gähnenden Leere verschwand.

Lange Minuten in völliger Lichtlosigkeit tastete sich der Krieger voran. Er stürzte über einen Widerstand am Boden, orientierte sich am Klang des davon klimpernden Holzstückes und fand es, auf allen Vieren kriechend und tastend, in der Finsternis wieder. Dann, just als er aufsah und sich zu orientieren versuchte, woher er gekommen war und wohin er gehen sollte, sah er Licht. Kein Tagesicht - oder zumindest nicht das der davon gefluteten Lichtung.

Er rappelte sich auf, schritt sich an der Wand entlang tastend vorwärts, bis er plötzlich aus der Wand heraus trat und sich auf einer Brücke befand. Ein steinerner Gang, kaum breit genug für zwei Mann nebeneinander, der sich in einem sanft erhobenen Bogen empor krümmte und wieder abfiel. Auf der anderen Seite hob sich eine dürre Säule aus dem nicht sichtbaren Boden der Kammer in der schwarzen Tiefe. Sie stieg empor, verschlankte sich bis zur Hälfte, verbreiterte sich danach wieder und trug direkt im Zentrum des kreisrunden Raumes eine Plattform, ein völlig ebenes Steinkonstrukt von der Fläche eines Hauses. Doch ehe er sich eben diesem Zentrum widmen konnte, fing der restliche Raum seine ganze Aufmerksamkeit ein… und sein Staunen.

Lange war es her gewesen, das Thorin über irgendetwas hatte Staunen können… doch nun begriff er. Ein Altar, ein Schrein - wahrhaftig. Moose und Farne wucherten an den glatten Wänden. Löwenköpfe - das Wappentier Arimaspers, sein Symbol - spien, das Maul weit aufgerissen, gewaltige Sturzbäche in die schwarze Tiefe unter ihm. Dort unten, irgendwo in hunderten Metern wohl, musste es einen ganzen See geben. An den Wänden aber, kreisrund verteilt im ganzen Raum, brannten gewaltige, fest in die Wand gelassene Schalen. Kohlen, Öl, was immer darin war - es hätte nie brennen dürfen. Nicht mehr. Hier war niemand sonst, wer also hatte die Feuer entzündet? Wer also gab den Flammen neue Nahrung, wenn sie alle Grundlage aufgezehrt hatten? Doch er kannte solche Flammen. Die Schreine der Götter waren immer beleuchtet gewesen. Ihr Schein strahlte weithin… und hatte nie mehr bedurft als die bloße Existenz einer Person, die an die Gottheit glaubte. Hier nun stand er - der seinen Glauben schon vor langer Zeit verloren und auch nie wiedergewonnen hatte - und starrte auf Flammen, die nicht hätten existieren dürfen.

Das flackernde Feuer beleuchtete die Löwenköpfe, beleuchtete die gewaltigen Wassermassen, die sie spien und beleuchtete den kunstvoll geschlagenen Stein der Brücke, über die er sich mit träumerisch-wandelnden Schritten bewegte, während er sich an der Glorie dieser Halle einfach nicht satt sehen konnte.

Als er die Brücke überquert hatte, blickte er erstmals auf das eigentliche Zentrum der Halle. Eine Figur aus massivem Granit ragte vor ihm auf. Arimasper selbst, gepackt in seine mächtige Plattenpanzerung, eine gewaltige Streitaxt in beiden Händen haltend, zum mächtigen Schwung erhoben. Das Gesicht, so ehern und doch zornig. Es wirkte fast lebendig.

Unter der Statue, zu Füßen ihres Sockels, lag ein kleiner Altar für Opfergaben und Spenden. Ob es hier irgendwann einmal ein Kloster gegeben hatte? Die Diener und Priester Arimaspers, so erinnerte sich Thorin vage, waren kampfgestählte Söldner gewesen, aber auch sie hatten eine tief religiöse Seite gehabt. Er hätte das nie gekonnt. Er diente Arimasper sein Leben lang durch das Vergießen von Blut und das Bringen von Tod, aber er hatte selten gebetet und ihm nie wirklich gedient. Sein Blick fiel auf das Holzstück in seiner Hand, wanderte zu dem kleinen Altar. Dort ruhten Splitter. Einen wagte er vorsichtig von der Steintafel zu nehmen. Fast hätte er sich an der Kante geschnitten - sie war noch immer messerscharf.

Dann plötzlich, in einem Moment der vagen Erkenntnis, begann er zu begreifen und ein mildes, ja fast schon erfreutes Lächeln zog auf seinen Lippen auf. „So stehen die Dinge also“, flüsterte er leise. Die Worte im Angesicht des rauschenden Wassers kaum hörbar. „Hier nun kehrst du zu mir zurück, alter Freund.“

Er senkte das morsche Holz, von Maden und Würmern zerfressen, vollgesogen von der Feuchte viel zu kühler Erde, senkte es auf den Altar mit den zahllosen Metallsplittern, die plötzlich zu leben schienen. Sie ruckelten, zuckten, vibrierten und begannen sich zueinander zu bewegen. Das Stück in seiner Linken wollte folgen, so gab er es frei - und mit einem Schlag jagten alle Bruchstücke aufeinander zu. An der Spitze des vermeintlichen Tischbeines formten sie ein altvertrautes Klingenblatt. Rote Glut ließ gleißendes Licht aus den Bruchstellen brechen, die die Kanten verschmolz, spurlos, und die Klinge erneuerte. Von seinem Arm tropfte das Wasser, welches aus dem Holz gepresst wurde, als sich der Schaft seiner alten Kriegsaxt erneuerte. Doch es endete nicht bei der Waffe.

Unter einem Aufschrei brach der Krieger in die Knie. Die Waffe ließ er nicht los, doch stützte er sich mit beiden Händen auf den Altar auf. Ein erneuter Schrei zog sich in die Länge, ließ ihn brüllen, dass man von einem furchtbaren Monstrum hätte ausgehen müssen. Seine Finger krampften gegen den Stein und die Veränderung erfasste auch seinen Körper. Etwas bewegte sich über ihn hinfort, er konnte es spüren, senkte sich auf ihn herab und noch bevor er sich versah, fegte ein Sturm alles hinfort. Die Fragen… die Zweifel… die Lücken in seinem Gedächtnis.

Gleißendes Licht barst aus den Augen des Kriegsgeborenen, als dieser sich langsam erhob. Nur langsam ließ die Intensität des Scheines nach. Thorin Eichenschild… gab es nicht mehr. Den Schild hatte er schon vor langer Zeit verloren. Es gab Thorin… nur noch Thorin.

Er blickte sich um und erkannte zufrieden diese gewaltige Kammer wieder. Alt und vertraut. Er hatte zugesehen, als sie errichtet worden war. Zu seinen Ehren.

Der Hüne wandte sich um und verließ die tiefe Kammer wieder über die Brücke. Im Zentrum des Schreines stand eine gewaltige Statue auf einem Sockel aus Stein. Ein bärbeißiger Mann mit kahlem Schädel, gerüstet in einem abgewetzten Lederharnisch und bewaffnet mit einer Streitaxt. Er stand ehern dort, das Gesicht von Zorn geprägt, während er die Klinge zum Schlag erhoben seinen Feind nieder brüllte.

Und an den Wänden der Kammer spien die Zähne fletschende Wolfsköpfe unablässig einen großen Wasserstrom in die schwarze Tiefe.
 

„Die Welt wurde um ihr Sein und ihr Schicksal betrogen. Lange habe ich gewacht und die Fäden gezogen, habe die Unwägbarkeiten zu umgehen versucht. Viel musste geopfert, manches gerettet werden und am Ende habe ich doch versagt. Es kann Tage dauern, Thorin, oder auch Jahre, aber…“ Wilbert hatte gewartet, ganz wie versprochen. Er wirkte ernst und doch drückte sein Gesicht eine gewisse… Zufriedenheit aus. „… die Welt ist bereit für ein neues Pantheon.“

„Ich habe keine Jahre“, erwiderte der Krieger lediglich starr und schritt an dem Viehzüchter vorbei, die Axt in seiner Hand fest umschlossen.

„Thorin, sei kein Narr! Niemand weiß, was jetzt geschehen wird! Wir wissen nicht einmal, was diese Veränderungen mit ihm gemacht haben, wir wissen nicht, ob er dich begrüßen, dulden oder bekämpfen wird, wir wissen zu wenig!“ ereiferte sich Wilbert in dem Versuch, seinem vermeintlichen Schützling Vernunft einzubläuen. Der Hüne aber wandte sich um, ein blutgieriges Lächeln in den Augen, welches seine Lippen nicht erreichte.

„Hüte deine Zunge, Kaleran Sturmfürst. Nichts davon ist von Belang.“

Zurück blieb der Seher der Zeiten. Machtlos gegen die Pläne desjenigen, der in den Wald schritt und seines Weges zog. Thorin wollte nicht hören und würde es auch nicht. Es hatte keine Zeit für Erklärungen gegeben und derer waren doch eigentlich so viele nötig, oder nicht?

So verblieb ihm nur das Eine: dem starrsinnigen Hünen Erfolg zu wünschen bei seiner… Suche.

Auf- und Abstieg, Teil 3

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Katz und Maus

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Der Dolch im Rücken

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