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Einmal ist keinmal

Doch zweimal... [Ivan/Gil]
von

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Kleine Brüder und andere Sorgen

Nahezu verbissen trat Gilbert das Gaspedal seines in metallicschwarz lackiertem BMW Z4 fester durch. Zwar hörte er vom Motor nicht sonderlich viel, doch die Beschleunigung nahm er sehr wohl war. Er wusste, dass es nicht besonders intelligent war mit zu starken Gefühlsregungen zu fahren, doch das war ihm egal. Im Moment brauchte er Ablenkung. Dringend. Und mit seinem Schätzchen mit gut und gerne 240 km/h über die Autobahn zu jagen erschien dem Preußen effizienter als sich die drei Hunde seines Bruders zu schnappen und mit ihnen eine Runde zu joggen. Das beanspruchte ihn nicht ausreichend. Sein Hirn wäre nicht beschäftigt genug. Im Endeffekt würde er nur wieder an das denken, an das er nicht denken wollte. Beim Fahren war das anders. Hierbei musste er sich mehr konzentrieren. Auf andere Verkehrsteilnehmer. Auf Schilder. Auf eventuelle Hindernisse auf der Fahrbahn, die der Verkehrsfunk noch nicht bekannt gegeben hatte. Kurzum: Seiner Meinung nach tat er das Richtige. Zumal dieser Autobahnabschnitt auch keine Geschwindigkeitsbegrenzung aufwies, weswegen er sich ärger mit der Polizei einfangen und seinen Geldbeutel um den einen oder anderen Euro erleichtern konnte. Die einzigen Ausgaben um die er sich gerade Gedanken machen musste waren jene, die das Benzin betrafen; und diese würden sicherlich noch hoch genug ausfallen, da er nicht so bald vorhatte, wieder nach Hause zu fahren; und selbst wenn würde es noch einige Stunden dauern, bis das Auto wieder in der heimischen Garage stehen würde.

Das Radio – oder vielmehr die im integrierten Player befindliche CD – lauter stellend bremste Gilbert seinen Roadster nun doch ab. Er musste es nicht haben, dass ihm am Ende der dunkelgrüne Smart, der vor ihm fuhr, an der Motorhaube hing. Bevor er sich über den Fahrer dieses Spielzeugautos aufregte, weil dieser auf der Überholspur vor ihm her schlich anstatt auf die freie, mittlere Spur auszuweichen, konzentrierte er sich lieber auf die laufende Musik. Russische.

Der Weißhaarige hatte nie aufgehört diese Sprache zu lieben. Zwar hatte er sie schon lange nicht mehr gesprochen, doch er verstand sie noch genauso gut wie damals. Wobei ‚gut‘ in dieser Hinsicht relativ war, denn perfekt hatte er sie nie beherrscht. Um sich zu verständigen hatte es aber ausgereicht. Zumindest wenn sein Gegenüber nicht allzu schnell gesprochen hatte. Und das hatte zumindest Ivan nie getan.

Ein flüchtiges, fast schon verzweifeltes, Lächeln stahl sich auf die Lippen des Preußen. So gut schien ihn eine Spritztour wohl doch nicht abzulenken, denn genau darüber hatte er nicht nachdenken wollen. Er hatte sich nicht daran erinnern wollen, wie es damals mit Ivan war. Nicht etwa, weil es so schrecklich war. Er wünschte, es wäre so gewesen, doch zu seinem jetzigen Leidwesen war es nicht so; ganz im Gegenteil. Obwohl er ihn hätte hassen müssen für das, was er ihm und seinem kleinen Bruder angetan hatte tat er es nicht. Nein.

Resignierend seufzend setzte Gilbert den Blinker; die nächste Ausfahrt würde seine sein. Es brachte nichts noch weiter zu fahren, wenn es ihn ohnehin nicht ablenkte. Er konnte also genauso gut wieder nach Hause fahren. Gilbird vermisste ihn sicherlich schon. Natürlich tat er das, schließlich war Gilbert sowas wie sein Vater. Er musste ihn einfach vermissen. Jeder würde ihn vermissen, wenn er nicht da wäre. Es ging gar nicht anders, so toll wie er war!
 

Knapp vier Stunden später stand der BMW wieder in seiner Garage. Gilbert indes schlich auf leisen Sohlen in sein Zimmer. Es war schon weit nach Mitternacht – fast schon früher Morgen – und Ludwig würde sicherlich im Karree springen, wenn er ihn erwischen würde. Schließlich hatte Gilbert nicht ein Sterbenswörtchen verlauten lassen, dass er vorhatte für mehr als nur ein, zwei Stunden unterwegs zu sein. Wer war hier noch gleich der Ältere? Laut diversen Dokumenten ja eigentlich Gilbert. Und nur weil er etwas kleiner und schmaler gebaut war als Ludwig hieß das ja noch lange nicht, dass er nicht auf sich aufpassen konnte. Sonst hätte er es ja wohl auch kaum geschafft den Blonden alleine großzuziehen. Sicherlich war er auch nur deswegen so ein stattlicher Mann geworden, weil der Preuße sich so ausgezeichnet um ihn gekümmert hatte.

Über seine Gedanken schmunzelnd versuchte er nun so leise wie möglich die Tür zu seinem Zimmer zu öffnen. Dies gelang ihm auch, doch hatte er seine Rechnung ohne seinen kleinen gelbgefiederten Freund gemacht. Dieser wartete nämlich hellwach auf dem Kopfkissen seines Besitzers und fing laut und fröhlich an zu zwitschern, als er diesen erblickte. Dieses blieb wiederrum von Ludwigs Hunden – die das Privileg hatten ebenfalls im Haus zu wohnen anstatt im Garten – nicht unbemerkt, weswegen sie auch postwendend lautgaben. Von wegen ‚bester Freund des Menschen‘. Elendige Verräter waren das! Elendige, elendige, elendige Verräter!

Keine Minute später stand Ludwig dann auch vor seinem großen Bruder.

„Wo um Himmels Willen warst du so lange?“

„Unterwegs.“, Gilbert hatte wirklich keine Lust, jetzt mit dem Jüngeren zu diskutieren.

„Bis halb fünf Uhr morgens?!“

„Ja und?“

„Schon mal dran gedacht, dass ich mir Sorgen mache?“

Genau die Antwort, die Gilbert erwartet hatte. Kein Wunder also, das er auflachen musste, ehe er antwortete.

„Hör mir mal gut zu, Ludwig: Ich kann auf mich alleine aufpassen. Ich bin alt genug! Kümmer dich also um deinen Kram und lass deinen großen Bruder sein Leben leben, okay?“

„Natürlich. Deswegen warst du auch so zugerichtet, als die Mauer gefallen ist und du zurückgekommen bist; weil du so toll auf dich selbst aufpassen kannst.“

Damit hatte der Ältere nicht gerechnet. Er hätte viel mehr erwartet, dass Ludwig sich lediglich wütend grummelnd verziehen würde. Aber das er ihm Dinge von damals unter die Nase reiben würde? Niemals. Das war ja sonst auch nicht seine Art.

So war es nun aber Gilbert, der mit den Zähnen knirschte.

„Rede nicht von Dingen, von denen du keine Ahnung hast.“

„Ich denke, ich habe genug Ahnung um zu wissen, dass man sich um dich sehr wohl sorgen muss. Erst recht wenn du erst spurlos verschwindest und dann erst nach elf Stunden wieder ohne jegliche Begrünung auftauchst!“

„Es ist doch scheiß egal, wo ich wie lange und warum war! Ich bin weder ein kleines Kind, noch bist du meine Mutter oder sowas in der Art! Du bist verdammt nochmal mein kleiner Bruder, also benimm dich auch so!“

„Tu ich doch?! Es ist doch ganz normal, dass ich mir Gedanken um dein Wohlergehen mache!“

„Lass mich doch in Ruhe!“

Seinen Bruder keines Blickes mehr würdigend drehte Gilbert sich auf dem Absatz um, betrat sein Zimmer und schlug die Tür mit fast schon übertriebener Wucht zu. Wenn Ludwig ihn jetzt immer noch auszufragen versuchte, dann würde er ihm wohl oder übel den Kopf abreißen. Oder ihm zumindest einen saftigen Kinnhaken verpassen; umbringen wollte er seinen kleinen Bruder eigentlich nicht, dazu war er ihm zu wichtig. Dennoch ließ er es sich nicht nehmen zumindest wütend zu sein. Was musste dieser dämliche, kleine Blondschopf sich auch einmischen? Hatte er nicht genug eigenen Mist um den er sich kümmern musste?

Schnaubend warf der Weißhaarige sich auf sein Bett. Dass Gilbird aufgebracht tschilpend aufflatterte und dann auf seiner Schulter landete, kümmerte ihn nicht sonderlich. Stattdessen presste er sein Gesicht in das Kopfkissen und schrie. So konnte er seinem Ärger am effizientesten Luft machen ohne etwas zu destruieren. Denn kaputte Gegenstände würden nur weiteren Stress mit Ludwig bedeuten was wiederrum zu noch mieserer Laune führen würde. Die Luft in diesem Haus war ohnehin schon seit geraumer Zeit ziemlich angespannt. Nicht zuletzt deswegen, weil Gilberts Wort nicht mehr wirklich zu gelten schien. Früher, ja, da hatte er noch das Sagen gehabt. Da hatte man auf ihn gehört. Aber jetzt? Fehlanzeige. Maximal Ratschläge oder Anregungen konnte er noch geben, ansonsten hatte er in Sachen Politik nichts mehr zu melden. Auch von den anderen schien er nicht mehr so ernst genommen zu werden wie früher. Zu Meetings und Konferenzen wurde er schon lange nicht mehr eingeladen. Ihn zu provozieren hatte ja auch keine nennenswerten Konsequenzen mehr, schließlich konnte er von sich aus keinen Krieg starten. Dazu brauchte es Ludwigs Entscheidung. Und dieser würde sich in dieser Hinsicht immer gegen seinen Bruder stellen, schließlich sollte ja Frieden gewahrt werden.

Warum eigentlich war Gilbert überhaupt zurückgekehrt? Wieso war er nicht einfach bei Ivan geblieben? Da hätte er zwar auch nichts zu melden gehabt, aber er hätte sich auch nicht so nichtig gefühlt wie hier.

Doch dafür war es zu spät. Er hatte dem Russen den Rücken gekehrt und sich schon seit Ewigkeiten nicht mehr bei ihm gemeldet. Obgleich er es versprochen hatte. Sicherlich würde Ivan nun auch nichts mehr von ihm wissen wollen. Sicherlich hatte er sich schon lange damit abgefunden, dass Gilbert scheinbar nichts mehr von ihm wissen wollte. Sicherlich hatte er ihn schon lange aus seinem Leben gestrichen. Sonst hätte er sich doch gemeldet. Er hatte ja sonst auch immer von sich aus agiert; ob es dem Preußen nun gepasst hatte oder nicht.

Hastig den Kopf schüttelnd stemmte Gilbert sich von der Matratze. Er musste aufhören an vergangene Tage zu denken! Es führte zu nichts und es würde auch nie zu etwas führen. Er hatte es sich selbst vermasselt; nun musste er damit leben.

Aber das wollte er nicht.

Er wollte so nicht weiterleben. Leben wollte er noch, so war es nicht; aber sein Leben erschien ihm kein Leben mehr zu sein. Nichts schien so zu sein, wie es seiner Meinung nach sein sollte. Er liebte seinen kleinen Bruder – keine Frage – aber ihn beschlich von Tag zu Tag ein intensiveres Gefühl, dass diese Wohngemeinschaft alles andere als vorteilhaft für ihre Beziehung war. Zumindest stritten sie inzwischen fast täglich wegen den banalsten Dingen. Hauptsächlich jedoch über die Art, wie Ludwig sich verhielt. Zumindest fing Gilbert immer damit an. Er kritisierte den Jüngeren, diesem platzte Irgendwann der Kragen und dann, spätestens dann, gab es keine netten Worte mehr. Und genau so konnte es eben nicht weitergehen.

Seufzend setzte der Weißhaarige sich auf den Bettrand. Es war kindisch und bescheuert, das wusste er, aber es änderte nichts an seiner Entscheidung zu verschwinden. Wahrscheinlich würde Ludwig ihm das krumm nehmen und mehr als nur wütend auf ihn sein, aber es erschien Gilbert als beste Lösung. Morgen, so wusste er, hatte Ludwig volles Programm und würde sicherlich nur dann aus seinem Arbeitszimmer kommen, wenn es absolut notwendig war. Das wäre die optimale Gelegenheit um seinen Plan in die Tat umzusetzen, ohne das Ludwig etwas mitbekam, ihn zur Rede stellen und somit ungewollt einen neuen Disput anzetteln konnte. Nun musste er nur noch klären wohin er wollte und was er – neben Gilbird – mitnehmen würde.
 

Es dauerte nicht lange, bis Gilbert zumindest die letzte Frage geklärt hatte: Geld, seine Lieblingsklamotten, sein Handy, Essen und Trinken. Allzu viel sollte es nicht sein, schließlich hatte sein BMW nicht sehr viel Stauraum. Außerdem wollte er ja nicht für immer verschwinden. Er wollte lediglich… auf unbestimmte Zeit verreisen. Genau.

Jetzt stellte sich nur noch die Frage des Wohin. Zunächst dachte er an Frankreich oder Spanien. Francis und Antonio würden sich sicherlich über einen Besuch von ihm freuen. Aber bei ihnen würde Ludwig ihn sicherlich als erstes vermuten. Also mussten seine alten Freunde wohl noch etwas länger auf ihn verzichten. Österreich steckte er sich auch. Auf Dauer war ihm Roderich einfach zu anstrengend. Ebenso Elizabeta, weswegen auch Ungarn ausfiel. Zumal das Verhältnis der drei auch eher fraglich war. Sie konnten sich vertragen, so war es nicht. Aber es dauerte nie lange, bis die ersten Wortgefechte ausbrachen. Und dann flogen auch ganz schnell die ersten Bratpfannen.

Auch die anderen Nachbarländer kamen nicht in Frage. Hauptsächlich weil Ludwig zu schnell rausfinden würde, wenn er dort wäre. Dann noch, weil Gilbert der dort gesprochenen Sprache nicht mächtig war oder sich nicht sonderlich mit ihnen vertrug.

Spontan fiel ihm somit nur ein Land ein, wo er hin konnte, ohne dass Ludwig ihn dort aufsuchen würde. Aber genau da wollte er nicht hin. Es ging nicht. Es ging einfach nicht. Im Leben nicht!

Beinahe resignierend seufzend stand Gilbert auf. Er würde weiter darüber nachdenken, wenn er ausgeschlafen war. Nun war er zu müde, weswegen er ohnehin zu keiner wirklichen Erleuchtung kommen würde. Es war ohnehin schon höchste Zeit zum schlafen. Ganz besonders für seinen kleinen Schützling. Schließlich sollte er mal ein großer, schöner, starker Adler werden; wenn auch wohl nicht mehr sein Reichsadler. Aber das würde der Preuße noch verkraften können. Nun würde er aber erst einmal mit gutem Beispiel voran gehen.

Schnell hatte Gilbert sich des überflüssigen Stoffes – mit Ausnahme seiner Boxershorts – entledigt. Zwar näherte sich der Winter immer mehr, aber sowohl sein Zimmer als auch das ganze Haus waren gut geheizt und die Bettdecke schön kuschelig warm und dick. Unter jener machte es sich der Weißhaarige auch gleich gemütlich. Dieses Bett würde er wohl auch vermissen, wenn er abhau- … verreisen würde. Abhauen klang so falsch. Nach einem Jugendlichen, der es mit seinen Eltern nicht mehr aushielt und ihnen einen Denkzettel verpassen wollte. Aber so war es bei Gilbert ja nicht. Wirklich nicht. Es ging schließlich nicht anders. Normal miteinander reden konnten die Brüder schließlich schon seit einiger Zeit nur noch sehr, sehr selten. Zu selten.

Nun hatte Gilbert aber lange genug darüber nachgedacht. Wenn das so weiterging würde er noch Falten bekommen! Und dafür war er definitiv zu jung! Sich die Decke bis zum Kinn ziehend rollte er sich auf die Seite. Beobachtete Gilbird, der es sich neben ihm auf dem Kopfkissen gemütlich gemacht hatte. So wie das Küken da hockte erinnerte es mehr an einen kleinen, flaumigen Ball als an einen Adler. Besonders wie er versuchte seinen Kopf unter den noch viel zu kurzen Flügelchen zu verbergen. Letztendlich fand nur sein Schnabel Platz darunter. Zu stören schien ihn dies aber nicht, denn er war trotzdem eingeschlafen. Vielleicht war er aber auch bloß zu müde gewesen um sich darüber aufzuregen.

Auf auf und davon

Um die Mittagszeit herum schlug Gilbert seine Augen wieder auf. Trotzdessen, dass er erst so spät ins Bett gekommen war, war er erstaunlich munter. So schenkte er es sich also sich noch einmal umzudrehen um noch fünf Minuten zu dösen sondern schwang sich gleich aus seinem Bett. Gilbird ließ er jedoch noch etwas schlafen, schließlich war Schlaf gerade in dieser Lebensphase wichtig! Gilbird sollte ja schließlich so gesund und munter bleiben wie er war und möglichst lange leben!

Also machte Gilbert sich – mit seinen Klamotten vom Vortag – zunächst auf den Weg ins Badezimmer, denn es gab kaum etwas Angenehmeres als eine heiße Dusche um in einen neuen Tag zu starten. Dieser Tag hatte zwar schon lange begonnen, aber es ging ums Prinzip. Schnell warf er seine Kleidung – inklusive den Boxershorts, in denen er geschlafen hatte – in den Wäschekorb, bevor er das Wasser aufdrehte und sich unter den Wasserstrahl stellte. Das angenehm warm temperierte Nass genießend schloss er die Augen. Ein wenig Zeit zum herumtrödeln sollte eigentlich drin sein. Sicherlich würde Ludwig erst gegen späten Abend mit seinem ganzen Papierkram fertig werden; vielleicht auch erst spät in der Nacht. Selbst wenn Gilbert jetzt eine halbe Stunde und länger im Bad zubringen würde wäre er dann schon lange, lange weg. Ganz sicher.

Dennoch wollte er nicht ganz so viel Zeit vergeuden; schließlich wusste er noch immer nicht so genau wohin er fahren sollte und wo er schlafen würde. Wobei er eigentlich irgendjemanden aufsuchen sollte, von dem Ludwig glaubte, dass er ihn auf den Tod nicht ausstehen konnte. Aber wer käme da in Frage? Sich die Haare shampoonierend dachte der Preuße nach. Feliks vielleicht? Nein, den konnte er wirklich nicht leiden. Da hätte er selber nichts von. Roderich und Elizabeta hatte er am Vorabend – beziehungsweise am frühen Morgen – schon gecancelt. Seine Gesundheit war ihm zu wichtig. Aber dann…

Hastig schüttelte Gilbert den Kopf. Ganz sicherlich würde er n i c h t zu Ivan nach Russland fahren! Dafür war er sich zu sicher, dass zwischen ihnen absolut nichts mehr war, weswegen er einfach so bei ihm vorbeischneien sollte.

Oder?

Sollte er es vielleicht nicht doch versuchen? Wirklich schlimm konnte es doch nicht werden? Ein Krieg würde dadurch sicherlich nicht ausbrechen, weswegen er sich dann auf Ewig schlecht fühlen müsste, oder? Er würde es einfach ausprobieren. Außerdem musste er ja nicht direkt zu Ivan nach Hause fahren. Russland war groß genug, da würde er ihm sicherlich nicht sofort in die Arme laufen. Er würde einfach in den Teil Russlands fahren, in dem Ivan sich am unwahrscheinlichsten aufhalten würde. Der Teil, der zwischen Polen und Litauen an der Ostsee lag. Der Teil, der mal zu seinem – Gilberts – Reich gehörte hatte. Der Teil, der einst Bestandsteil Ostpreußens war.

Es interessierte ihn schon, was aus seinem ehemaligen Land geworden war. Insbesondere aus Königsberg. Er konnte es Arthur immer noch nicht verzeihen, dass er diese Stadt, auf die er so stolz war, die ihm so viel bedeutet hatte, einfach hat angreifen, bombardieren und niederbrennen lassen. Überhaupt verübelte Gilbert es jedem, der diese Stadt angegriffen hatte. Der dafür gesorgt hatte, dass von dieser prächtigen Stadt nichts als Trümmer übrig geblieben sind. Zwar wusste er, dass es unter russischer Herrschaft wieder aufgebaut wurde, aber das Endergebnis hatte er sich nie angeschaut. Allzu viel erwartete der Preuße allerdings nicht; allein schon weil die Russen es gewagt hatten Königsberg umzubenennen. Kaliningrad. Das war doch kein Name für so eine wundervolle Stadt!

Doch der Entschluss war gefasst: Gilbert würde seiner einstigen Lieblingsstadt einen Besuch abstatten. In der Hoffnung, dass Ludwig ihn dort nicht vermuten würde. Wo es doch inzwischen russisches Hoheitsgebiet war und Gilbert immer zeterte, wie wenig er Russen abgewinnen konnte und dass er nie, nie, nie, niemals mehr nach Russland reisen würde.

„Wird schon schief geh’n…“, flüsterte der Weißhaarige leise zu sich selbst.

Dann duschte er zu Ende, trocknete sich ab und huschte in sein Schlafzimmer zurück. Dort angekommen suchte er sich erst einmal frische Kleidung aus seinem Schrank. Am besten etwas Lockeres und Bequemes; schließlich würde er bis zu seinem Ziel gut und gerne acht Stunden fahren müssen. Zuzüglich Pausen. Zu enge Klamotten würden sich also nur als unkomfortabel erweisen. Letztendlich fiel seine Wahl auf ein paar dunkle Jeans im Used-Look und ein schwarzes Longsleeve mit silbernen Kronenprint, welcher nicht zuletzt an jene Krone erinnerte, die damals auf dem Haupt des preußischen Reichsadlers abgebildet war.

„Gilbird würde so eine Krone sicherlich auch ausgezeichnet stehen. Er ist ja immer noch sowas wie ein zukünftiger Reichsadler.“, murmelte Gilbert leise, während er den Print im Spiegel seiner Schranktür begutachtete.

Als nächstes stand Sachenpacken auf der imaginären To-Do-Liste des Preußen. Und wie er es geahnt hatte tat er sich dabei recht schwer. Er hatte einfach zu viele Klamotten von denen ihm zu viele zu gut gefielen. Aus diesen zu selektieren würde sicherlich einige Zeit in Anspruch nehmen. Zumindest, wenn er wirklich jedes Kleidungsstück einzeln durchgehen würde. Doch das würde er sich schenken. In dieser Hinsicht würde er seine Eitelkeit etwas weiter hinten anstellen und lediglich die Klamotten einpacken, die am greifbarsten waren und somit jene darstellten, die er in letzter Zeit am liebsten getragen hatte. Und sollte doch noch etwas Platz im Koffer sein, dann würde er einfach noch das eine oder andere Exemplar dazu packen.

Zuvor ging er allerdings nochmal zurück ins Badezimmer. Shampoo, Duschgel, Deodorant, Zahnbürste und Zahnpasta sowie Bürste durften schließlich auch nicht fehlen! Inklusive eines Waschlappens und zwei größeren Handtüchern. Blieb nur zu hoffen, dass Ludwig nicht allzu bald ins Bad musste. Oder das ihm, wenn er es doch betreten würde, nicht auffiel, dass Gilberts Sachen fehlten.

„Ach was… dem Workaholic fällt meine Abwesenheit frühestens dann auf, wenn ich über die deutsche Grenze bin. Und dann ist’s sowieso zu spät. Als könnte sein kleiner süßer VW mit meinem BMW mithalten!“, gluckste Gilbert zuversichtlich und kehrte abermals in sein Zimmer zurück.

Dort angekommen quetschte er die Utensilien aus dem Badezimmer zu seiner Kleidung in den Koffer. Zu bekam er diesen auch nur, als er den Deckel mittels seines gesamten Körpergewichts runter drückte. Vielleicht hatte er doch das eine Shirt oder die andere Hose zu viel eingepackt. Aber es konnte doch nicht angehen, dass er nur die allernötigsten Klamotten mitnahm und im Endeffekt mehrere Tage in den gleichen Sachen rumlief, weil er nichts Sauberes mehr hatte und auch keine Möglichkeit zum waschen! Das wäre seiner nicht würdig. Da der Koffer nun ja aber zu war brauchte er sich darüber – zumindest fürs Erste – keine Gedanken mehr zu machen. Nun musste nur noch Proviant eingepackt und Gilbird geweckt werden und dann könnte es theoretisch schon gen Osten gehen.

„Frühstücken wäre sicherlich auch keine allzu schlechte Idee. Außerdem würde es West zusätzlich ablenken, wenn ich mein Geschirr wieder in der Küche stehen lasse und er dann aufräumen muss. Dann würde er entweder umso später bemerken, dass ich weg bin, oder aber umso länger brauchen, um mich zu verfolgen. So ‚unordentlich‘ wird er die Küche sicherlich nicht bleiben lassen können.“, murmelte Gilbert grinsend. Seine Pläne waren doch wirklich immer wieder genial!

Gesagt, getan. Allerdings würde er diese Schandtat der Küchenverschmutzung nicht alleine begehen. Gilbird sollte auch seinen Spaß haben. Und natürlich sein Frühstück. Vorsichtig stupste Gilbert das kleine Küken an. Dieses piepste jedoch nur leise, schüttelte sein flaumiges Gefieder auf und schlummerte friedlich weiter. Auch auf abermaliges Stupsen reagierte er nicht anders. Abgesehen davon, dass sein Tschilpen immer verdrießlicher klang. „Sei nicht so ein Morgenmuffel, Gilbird! Ansonsten gehe ich ohne dich frühstücken und dann kannst du zusehen, wann du was zu futtern bekommst.“, flüsterte Gilbert sanft.

Doch auch davon schien der kleine Adler unbeeindruckt. Seelenruhig döste er weiter vor sich hin. Erst als der Preuße seinen kleinen Schützling so fest an stupste, dass er vom Kissen kullerte reagierte er. Fast schon hilflos lag er auf dem Rücken und zappelte wie ein Rohrspatz zeternd mit seinen Beinchen. Leise lachend setzte der Weißhaarige ihn richtig auf die Bettdecke. Das beleidigte Zwitschern ignorierte er.

„Na los, mein Kleiner. Wir haben noch ein bisschen was vor!“, kommentierte er belustigt, ehe er zur Tür ging.

Gilbird schüttelte noch einmal seine Federn auf, bevor er seinem Herrchen hinterher flatterte; und kaum dass er den Preußen eingeholt hatte, machte er es sich auch schon auf dessen Schulter – dicht an seinem Hals – bequem. Zusammenrotten war zwar etwas für Feiglinge und Weicheier und alleine käme Gilbert mehr als nur ausgezeichnet klar, aber sein kleines Küken hatte er doch gerne bei und um sich. Ohne Gilbird würde etwas fehlen. Ludwig würde ihm zwar sicherlich auch irgendwie fehlen, aber das war irgendwie etwas ganz anderes. Gilbert hatte schließlich schon festgestellt, dass sein Bruder auch wunderbar ohne ihn auskommen konnte. Dass er gar nicht mehr auf ihn achtgeben brauchte. Entsprechend fest stand auch sein Beschluss gleich nach dem Frühstück zu fahren. Komme was wolle.
 

Drei Tassen Kaffee, zwei Brötchen und einige fürsorglich kleingeschnittenen Stückchen Fleisch für Gilbird später konnte es auch schon so gut wie los gehen. Lediglich das nötige Gepäck und etwas Wegproviant mussten noch ins Auto geladen werden. Der Koffer war schnell und ohne dass Ludwig etwas bemerkte verstaut, aber bei der Essens- und Getränkeauswahl für unterwegs tat Gilbert sich schon schwerer. Darüber hatte er sich schließlich noch nicht allzu große Gedanken gemacht. Fest stand nur, dass er zumindest einen Kasten seines Lieblingsbieres mitnehmen würde. Man wusste ja schließlich nie, ob man dieses auch dort bekam, wo man hin wollte. Die restlichen Entscheidungen waren da schon kniffliger. Also wurde erst einmal der Bierkasten neben seinem Koffer im Kofferraum untergebracht. Dazu gesellte sich noch ein schwerer Wintermantel, falls es doch kälter werden würde als erwartet. Auf dem Beifahrersitz verstaute der Preuße dann noch eine Jacke, falls es zwar kühl, aber nicht winterlich kalt werden sollte. Außerdem würde Gilbird es sich darauf bequem mach können, wenn er müde werden würde oder einfach keine Lust mehr haben sollte auf der Schulter des Weißhaarigen zu sitzen.

Nachdem er mit dem beladen seines Autos soweit fertig war trottete Gilbert wieder in die Küche, öffnete den Kühlschrank und starrte hinein. Langsam ließ er seinen Blick schweifen um auch ja nichts von dem, was sich innerhalb des Kühlschrankes befand zu übersehen. Dennoch fand er nicht sehr viel, was für Unterwegs geeignet war. Lediglich das restliche rohe Fleisch fand seinen Weg in die Kühltasche, die der Preuße noch aus der Abstellkammer gekramt hatte. Gilbird brauchte schließlich auch ausreichend Futter für unterwegs.

Schulterzuckend griff Gilbert auf die restlichen Brötchen zurück, schnitt sie auf und belegte – beziehungsweise – beschmierte sie mit allem Möglichen was er finden konnte und was er mochte. Danach kochte er sich noch einen knappen Liter Kaffee, welchen er zwecks Transportes und Warmhaltung in eine Thermosflasche abfüllte. Diese wanderte dann inklusive der Brötchen und zwei Litern Wasser in einen Kunststoffkorb. Auch diverse Süßigkeiten gesellten sich dazu. Ein bisschen was zu naschen wäre sicherlich nicht verkehrt.

Bevor er auch den Korb und die Kühltasche in seinem Wagen verstaute, machte Gilbert sich allerdings noch einmal auf den Weg zurück in sein Zimmer. Sein Portemonnaie und sein Handy wollte er schließlich auch mitnehmen. Wobei er letzteres abschätzend anschaute, als er es in der Hand hielt. Sicherlich würde es Ludwig einfacher fallen, ihn zu finden, wenn er es bei sich trug. Es gab genügen Technologien dafür. Aber es hier liegen zu lassen wäre sicherlich nicht schlauer, schließlich konnte man ja vorher nicht sagen, ob er es nicht vielleicht doch brauchen würde. Was wäre, wenn er irgendwo in der Pampa liegenbleiben würde? Oder auf der Autobahn; zu weit von einer Notrufsäule entfernt? Dann würde er dort lange warten können, bis er Hilfe bekommen würde. Nein. Das Handy musste mit. Er würde es einfach ausgeschaltet lassen, wenn er es nicht zwingend brauchte.

Also wanderten sowohl Handy als auch Portemonnaie in seine Hosentaschen. Das Ladekabel seines Mobiltelefons legte er, als er wieder in der Küche war, zu den Nahrungsmitteln in den Korb. Sich noch einmal kurz vergewissernd, dass Ludwig nicht gerade aus seinem Arbeitszimmer kam und ihn eventuell entdeckt schlich er zur Haustür. Dort tauschte er seine Hausschuhe gegen das paar schwarze Springerstiefel ein, das er so gerne trug und schlich sich mit Gilbird auf der Schulter, seinem Schlüsselbund in der einen und dem Korb und der Kühltasche in der anderen Hand zum letzten Mal zu seinem Auto. Korb und Tasche platzierte er vor dem Beifahrersitz, während Gilbird auf seiner Schulter sitzen blieb.
 

Bevor er in den BMW einstieg wanderte Gilberts Blick noch einmal zum Haus zurück. Er weinte nicht. Er fragte sich nicht, ob es anders gegangen wäre. Fragte sich nicht, ob er einfach mit Ludwig hätte reden sollen. Gilbert wusste genau, dass es nur kurzzeitig etwas gebracht hätte; dafür kannte er Ludwig und sich zu gut. Gerade sich.

Schweigend stieg er also in seinen Roadster ein, schnallte sich an und startete den Wagen. Es hatte wirklich seinen Nutzen, dass sein Auto so leise war, denn so würde sein Bruder nicht gleich hellhörig werden. Langsam fuhr er seinen Wagen aus der Garage, stieg dann nochmal aus um diese wieder zu schließen, ehe er mit Schrittgeschwindigkeit und somit so leise wie möglich auf die Straße fuhr. Erst als er sich einige Meter vom Haus entfernt hatte wagte der Preuße es aufs Gaspedal zu treten. Ein Blick aufs Armaturenbrett verriet ihm, dass es zwanzig vor zwei war. Wenn die Straßen frei sein und es nicht zu außergewöhnlichen Zwischenfällen kommen sollte, dann würde er gegen circa zwanzig vor elf – mitteleuropäischer Zeit – in Kalinin-… Königsberg sein. Pausen inklusive. Aber zunächst einmal würde er sich durch den Berliner Stadtverkehr kämpfen müssen. Für ihn sollte das zwar eigentlich nur halb so wild sein – schließlich fuhr Gilbert nicht zum ersten Mal durch diese Straßen – aber man wusste ja nie genau, ob nicht noch was dazwischenkam. Wobei seine Sorge in erster Linie nicht bei den deutschen Straßen lag. Vielmehr graute es ihm vor Polen. Nicht etwa, weil er beunruhigt wegen dem Verkehr dort war oder dergleichen, sondern weil er sicherlich mit dem Drang zu kämpfen haben würde, nicht einfach nach Warschau zu fahren um Feliks einen ‚kleinen Besuch‘ abzustatten. Die Gelegenheit war schließlich mehr als nur optimal.

Déjà vu

Es hatte keine Zwischenfälle gegeben. Er war nicht die nächstbeste Straße nach Warschau gefahren. Er hatte Feliks nicht ‚besucht‘. Gilbert hatte es wirklich vollbracht stur durch Polen in den nun russischen Teil seines einstigen Imperiums zu fahren. Bis darauf, dass die Außentemperatur stetig gefallen war und es irgendwann vor der polnisch-russischen Grenze begonnen hatte zu schneien verlief die Fahrt auch wirklich ereignislos. Fast schon langweilig. Trist. Aber nun war er so gut wie am Ziel. Zwei, drei Minuten nur noch, dann sollte er angekommen sein.

Gilbert konnte sich selbst nicht genau erklären wieso, aber aus irgendeinem Grund war er aufgeregt. Sein Herz schlug schneller als sonst. Eine innere Unruhe machte sich in ihm breit. Entsprechend kam er nicht um rum das Gaspedal ein klein wenig fester zu treten. Dann; endlich. Das ersehnte Ortsschild. Калининград; Kaliningrad.

Der Preuße schnaubte abfällig. Nein, diesen Namen würde er sicherlich nicht akzeptieren. Er würde diesen Ort auch weiterhin mit Königsberg titulieren. Egal wie unbeliebt er sich damit eventuell machen würde. Aber vermutlich würde ihn sowieso niemand verstehen. Wieso sollte er auch russisch sprechen, wenn er sich nicht gerade unbedingt mit jemandem unterhalten musste? Maximal mit Gilbird würde er vielleicht reden – dies jedoch auf Deutsch –, aber ansonsten? Gut, vielleicht wenn er sich ein Hotelzimmer oder dergleichen buchen würde. Aber dann würde er wahrscheinlich nicht unbedingt über diese Stadt reden müssen.

Wo sein Gedankengang nun aber schon mal in diese Richtung floriert war: ‚Hotelzimmer‘ war eine ausgezeichnete Idee. Schließlich war es nun wirklich mehr als nur zu dunkel um eine Erkundungstour zu starten. Außerdem war Gilbert müde; und Gilbird hatte es sich inzwischen auch schon – wie geplant – auf der Jacke des Weißhaarigen bequem gemacht und schlummerte selig vor sich hin. Der Preuße würde es also seinem gefiederten Liebling gleichtun. Sobald er ein Hotel gefunden hatte. Doch als allzu schwer stellte sich dies nicht heraus. Gilbert war der kyrillischen Schrift noch mächtig genug um die Wegweiser und Hinweisschilder lesen zu können; wenn auch etwas stockend. Nichtsdestotrotz hatte er nach nicht ganz zwanzig Minuten ein Hotel gefunden, in dem er nächtigen konnte. Es erwies sich sogar als ganz annehmbar für den geringen Preis. Umso besser!
 

Als Gilbert am nächsten Morgen aufwachte und sich genüsslich streckte, bevor er einen Blick aus dem Fenster warf, stellte er fest, dass es draußen noch stockdunkel war. Eigentlich nicht weiter verwunderlich, schließlich war es so gut wie Winter und da wurde es nun mal erst spät hell und umso früher wieder dunkel. Etwas denkwürdiger war dann aber schon, dass er trotz der Zeitverschiebung von immerhin einer Stunde bereits um sechs Uhr morgens wach und wirklich munter war. Das waren immerhin gerade mal knapp sechs Stunden Schlaf; trotz der vorherigen, viel zu kurzen Nacht. Aber wenn sein Körper der Meinung war, nun bereits fit genug sein zu müssen, dann sollte es Gilbert recht sein.

Dennoch verweilte er eine gute viertel Stunde länger unter der wärmenden Daunendecke und beobachtete den neben ihm auf dem Kissen schlafenden Gilbird. Es war zu niedlich, wie er da lag; ja, lag. Er hockte nicht so, wie es für einen Vogel üblich sein sollte, sondern lag – beinahe menschlich – auf dem Rücken, die Flügel ausgebreitet. Der Preuße konnte bei dem Anblick nicht anders als leise zu lachen. Er wusste schon, warum er so vernarrt in dieses kleine Küken war. Nichtsdestotrotz quälte er sich nun doch aus dem gemütlichen Bett. Schlurfte gemächlich in das kleine Bad des Hotelzimmers. Er hatte am Vorabend schon festgestellt, dass es eher nüchtern eingerichtet war. Sowohl das Bad als auch das restliche Zimmer. Aber allzu sehr störte ihn dies gerade nicht. Hauptsache war dieses Mal gewesen, dass er die Nacht über nicht frieren musste, sondern es warm hatte. Und das hatte er ja nun gehabt. Ob er die nächste Nacht aber auch hier verbringen würde wusste er noch nicht. Vielleicht würde er es vom Frühstück abhängig machen. Vielleicht davon, was es hier in der direkten Umgebung gab oder ob er weitere Wege auf sich nehmen musste, um an interessantere Orte innerhalb dieser Stadt zu kommen. Vorausgesetzt es gab hier sowas wie ‚interessante‘ Orte.
 

Nachdem Gilbert geduscht, sich angezogen und Gilbird geweckt hatte blickte er auf die Uhr. Bis das Frühstück beginnen würde hatte er noch gut eine halbe Stunde Zeit. Irgendwie würde er die Zeit schon totzuschlagen wissen.

„Was meinst du, Gilbird? Wollen wir mal nachschauen, ob West schon bemerkt hat, dass wir weg sind?“

Fröhliches Piepsen als Antwort. Eigentlich wie immer. Dennoch sah der Preuße es als ein Ja an. Natürlich war es ein Ja. Als würde das Küken ihm widersprechen!

Also nahm Gilbert das Handy von dem kleinen Nachttisch neben dem Bett und schaltete es an. Gab die PIN ein. Wartete ab.

„Was zum…? Nicht ein Anruf? Keine SMS? Na schönen Dank auch! Der wird doch wohl nicht ernsthaft noch nicht geschnallt haben, dass ich weg bin?!“, zeterte der Weißhaarige aufgebracht, worauf Gilbird erschrocken von seiner Schulter flatterte und auf die Decke plumpste, in welche er gleich ein gutes Stück einsank.

Mit den Zähnen knirschend schaltete Gilbert das Mobiltelefon wieder aus und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden. Unglaublich. Da hatte er seine wertvolle Zeit damit verbracht Ludwig großzuziehen und wie dankte er es ihm?! Gar nicht! Warum nochmal war er zu ihm zurückgekehrt, als die Mauer gefallen ist? Ach ja, weil er so ein verdammt guter großer Bruder war und sich um den Jüngeren gesorgt hatte. Aber das war nun vorbei. Jetzt war das wichtigste im Leben des Preußen wieder er selbst; Gilbert, Gilbert und nochmal Gilbert! Sollte das Blondinchen doch bleiben, wo der Pfeffer wächst!

Um die in ihm lodernde Wut zumindest einzudämmen und nicht letztendlich das Hotelzimmer kurz und klein zu schlagen – was er eigentlich nur zu gerne machen würde; und zwar auf Ludwigs Rechnung! – schnappte er sich seine Wertsachen, zog sich seine Jacke über und stapfte aus dem Raum. Der Vorteil daran, dass es noch so früh war, war, dass er alleine auf den Gängen des Hotels war. Selbst vom Personal war noch nicht sehr viel zu sehen. So musste wenigstens kein Unbeteiligter unter ihm leiden. Lediglich Gilbird flatterte ihm hektisch hinterher. Er wollte nich schon wieder alleine gelassen werden.
 

Auf der Straße vor dem Hotel angekommen blies dem Preußen ein eisiger Wind ins Gesicht. Und mit ihm eine ganze Salve großer, kalter Schneeflocken. Es musste die ganze Nacht geschneit haben, denn der Schnee lag sicherlich schon dreißig, wenn nicht sogar vierzig Zentimeter hoch. Auch die Temperatur schien immer weiter gefallen sein, denn im Gegensatz zum Vorabend, als er aus seinem Wagen gestiegen war, wärmte seine Jacke ihn nun nicht mehr ausreichend. Seinen Mantel jedoch hatte Gilbert mit ins Zimmer genommen; und dahin wollte er jetzt eigentlich nicht zurücklaufen.

„Was soll’s… Das bisschen Kälte wird m i c h so schnell nicht unterkriegen.“, murmelte der Weißhaarige, vergrub seine Hände tief in den Taschen seiner gefütterten Lederjacke und stapfte die Straße entlang.

Gilbird hingegen schien das kalte Wetter schon mehr auszumachen, denn kaum dass er zu Gilbert aufgeschlossen hatte landete er auch schon auf dessen Schulter. Schmiegte sich eng an seinen Hals. Plusterte dann sein flaumiges Gefieder auf. Zauberte dem Preußen damit wieder ein leichtes Lächeln auf die Lippen.
 

Trotzdessen, das Gilbert in ständiger Bewegung war, fror er. Ziemlich sogar. Wohl nicht zuletzt deswegen, dass die Stahlkappen seiner Springer stark abgekühlt waren. Aber der Preuße wäre nicht er selbst wenn er sich davon kleinkriegen lassen würde. Es würde mehr brauchen als nur kalte Füße – im wahrsten Sinne – um ihn in die Knie zu zwingen! Er hatte doch nicht umsonst Kriege geführt, überlebt und gewonnen. Er hatte sich doch nicht umsonst für seinen kleinen Bruder aufgeopfert. Geopfert. Sicherlich würden das bisschen Schnee und die dazugehörige Kälte ihn nicht einmal ansatzweise fertigmachen. Wo käme man denn da sonst hin?

Selbstsicher in sich hineinlachend stapfte Gilbert weiter durch den Schnee. Dass es inzwischen weit nach elf Uhr morgens war und er somit das Frühstück verpasst hatte, kümmerte ihn nicht. Obwohl er davon eigentlich mit abhängig machen wollte, ob er in seiner jetzigen Unterkunft bleiben würde oder sich ein günstiger gelegenes Hotel suchen würde. Zu groß war der Drang geworden, sich die wohl einst wichtigste Stadt seines Lebens anzuschauen. Auch wenn dies mit einem komischen Gefühl in der Magengegend verbunden war.

Einerseits fühlte er sich in die Zeit zurückversetzt, als dieser Ort quasi ihm gehörte. Die Straßen, die Gebäude, die ganze Struktur schien so vertraut. Und doch so fremd, dass er sich fühlte, als wäre er zum ersten Mal hier. Ein wirklich befremdliches, wenn nicht sogar einschüchterndes Gefühl. Sogar für einen Mann mit einem Ego, das für einen ganzen Kontinent reichte. Doch dem war so. Er – Gilbert Beilschmidt, einst Preußen, nun nicht viel mehr als ein Bestandteil Deutschlands – fühlte sich mehr als nur unwohl, während er diese Straßen durchquerte. Er mochte dieses Gefühl nicht. Wirklich nicht. Es war grauenhaft in eine Straße einzubiegen, zu wissen, was sich einem offenbart und es dann – wenn auch etwas anders – vorzufinden.

Auch wenn Gilbert es sich eigentlich nur ausgesprochen ungerne eingestand: So schlechte Arbeit hatten Ivans Leute beim Wiederaufbau dieser Stadt gar nicht geleistet. Es war noch immer anschaulich. Wenn auch nicht mehr in dem Ausmaß wie damals, als der Preuße hier noch das Sagen gehabt hatte. Dennoch fühlte er sich allmählich doch etwas wohler hier. Beinahe wohl genug um einfach hier zu bleiben. Aber konnte er das? Konnte er seinen Bruder einfach so alleine lassen?

„Natürlich kann ich. Die dämliche Kackbratze hat ja sicherlich bis jetzt noch nicht gemerkt, dass ich weg bin. Oder er freut sich darüber, alleine zu sein und hat sich deshalb noch nicht gemeldet. Pah. Und für sowas Undankbares reißt man sich den Arsch auf!“, zeterte Gilbert bei dem Gedanken an Ludwig leise drauf los; auf Deutsch, versteht sich.

Dennoch machte er auf dem Absatz kehrt und suchte sich seinen Weg zurück zum Hotel. Diese Stadt war doch zu groß, als dass er sich weiterhin zu Fuß umschauen konnte. Außerdem taten seine Füße dank der Kälte nun doch ziemlich weh.

Er würde dann auch gleich auschecken. Seine derzeitige Bleibe lag für seinen Geschmack doch zu weit abseits, als dass er es lange dort aushalten würde. Auch wenn es sicherlich teurer werden würde, würde er sich ein zentraler gelegenes Hotel suchen. So würde sich diese altbekannte und doch so fremde Metropole zumindest in der Hinsicht schneller erkunden lassen, dass die zu fahrenden – oder laufenden – Strecken in etwa gleichlang sein sollten.
 

Kaum dass der Preuße wieder bei seinem Hotel angekommen war, setzte er seinen Plan auch schon in die Tat um. Schnell war jenes Gepäck, welches er mit auf sein Hotelzimmer genommen hatte, wieder im Auto verstaut und fast ebenso schnell hatte er auch wieder ausgecheckt. Erst als er abermals zu seinem Auto zurückkehrte und einsteigen wollte, stockte er. Nicht, weil ihm eingefallen war, dass es sich vielleicht als schwierig erweisen könnte, so kurzfristig in einem zentral gelegenen Hotel noch ein Zimmer zu ergattern. Nicht, weil er etwas vergessen hatte. Nicht, weil sein Handy, welches er gerade wieder eingeschaltet hatte, nun doch klingelte und ein aufgebrachter, vielleicht auch besorgter Ludwig am anderen Ende der Leitung war. Nein. Gilbert stockte, weil er etwas sah, was er hier nicht erwartet hätte. Was er allzu bald nicht mehr zu sehen geglaubt hätte. Was er nicht sehen wollte. Was ihn dennoch glücklich stimmte. Auf die gleiche, merkwürdige Art und Weise wie diese Stadt. Und ihm auf der anderen Seite das Herz in die Hose rutschen ließ…

Wiedersehen

Gilbert rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her. Auch Gilbird, der auf seiner linken Schulter hockte, wirkte nervös. So hatte er das gelbe Gefieder aufgeplustert, das kleine Köpfchen eingezogen und war ganz still. Wäre der Preuße nicht schon von alleine so nervös gewesen, so wäre er es spätestens dank dem Verhalten seines kleinen Freundes. Schließlich war er sonst ein aufgewecktes Kerlchen und hielt der Schnabel nur, wenn er schlief oder fraß. Oder, wie jetzt, wenn etwas in der Luft lag.

„Du solltest nicht so schnell fahren.“

„Schnauze. Ich fahre wie ich will.“

Lächeln als Antwort.

Dieses immer gleiche, aufgesetzte Lächeln. Dieses verdammte Lächeln, für das Gilbert ihm am liebsten ins Gesicht gesprungen wäre. Springerstiefel voran, damit es auch ordentlich schmerzen würde. Aber er hat es nie getan. Damals nicht. Jetzt nicht. Und auch in Zukunft würde er es wohl nicht wagen. Nicht aus Angst; bestimmt nicht!

„Bist du so erpicht darauf, dich, deine kleine Federkugel und mich in den Tod zu stürzen?“

„Allein weil du draufgehen würdest wär’s mir das wert.“

„Aber, aber. Sowas sagt man doch nicht zu einem alten Freund?“

Gilbert schnaubte lediglich. Nicht so verächtlich wie er es gewollt hätte. Auch nicht übermütig. Nicht hochnäsig.

Warum, verdammt nochmal, hatte er es eigentlich so kommen lassen? Warum war er nicht einfach in sein Auto gesprungen und mit Vollgas weggefahren? Das wäre zwar mehr als nur peinlich und alles andere als seiner würdig gewesen, aber immerhin wäre er dadurch um diese Misere herumgekommen. Aber nein, er war ja einfach nur stehen geblieben und hatte diesen dämlich lächelnden Kerl angestarrt, als wäre er ein Außerirdischer. Oder sowas ähnliches. Und nun saß er neben ihm im Auto. Den Korb mit dem restlichen Essen auf dem Schoß. Immer noch lächelnd.

„Möchtest du mir so langsam nicht mal auf meine Frage antworten, Gilbert?“

„Welche meinst du?“, murrte der Preuße; unterdrückte dabei ein Schaudern.

„Warum du hier bist. Ohne mich vorher in Kenntnis zu setzen.“

„Wieso sollte ich dir Bescheid sagen, wenn ich hier her komme?“

„Weil es mich interessiert? Zumal ich dir eine viel hübschere Unterkunft hätte besorgen können.“

„Sicherlich. Vermutlich mit einer hübschen Mauer inklusive Selbstschussanlagen drum herum, damit ich nicht verschwinden kann, wann ich will, was?“

Das hatte gesessen. Zumindest glaubte Gilbert das, denn Ivan sagte nichts mehr. War auch besser so. Sonst würde der Preuße sich noch um Kopf und Kragen reden. Er wollte schließlich nicht zeigen, dass es nicht Wut und Hass waren, die die Gegenwart des Russen beschworen hatte. Er wollte nicht offenbaren, was er eigentlich empfand.

„Weißt du, Gilbert…“, begann Ivan: „Du solltest besser auf dein loses Mundwerk achten. Oder Nützlicheres damit machen. Andernfalls könntest du es sehr schnell bereuen.“

Bitte was? Ungläubig schaut der weißhaarige aus dem Augenwinkel zu dem Russen. Nur flüchtig, schließlich musste er sich auf die Straße konzentrieren. Denn auch wenn er das Gegenteil behauptet hatte, so war er nicht scharf drauf allzu bald das Zeitliche zu segnen.

„Du hast mich schon verstanden, Gilbert.“

Dann herrschte wieder Stille. Bedrohliche Stille. Das würde was werden können. Warum auch hatte Gilbert sich nicht vehement dagegen ausgesprochen Ivan nach Hause zu fahren, weil dessen Wagen eine hübsche Panne hatte? Warum zum Henker hatte er nicht nachgedacht?!

Weil er sich insgeheim doch darüber gefreut hatte, Ivan zu sehen. Weil es ihn glücklich gestimmt hatte. Weil es ihn hat vergessen lassen, wie unzufrieden er ursprünglich war. Weil er immer noch etwas für den großgewachsenen Mann empfand.

Gilbert schüttelte den Kopf. Trat das Gaspedal trotz Ermahnung Ivans durch. Stellte den Scheibenwischer auf die höchste Stufe um trotz den unzähligen Schneeflocken, die auf die Windschutzscheibe fielen durch eben diese sehen zu können. Diese mehrstündige Fahrt würde sicherlich zur Tortur werden, wenn er den Russen weiter so provozierte. Aber er konnte nicht anders. Er konnte nicht gestehen, was in ihm vorging. Noch nicht.

„Habe ich dir eben nicht gesagt, dass du nicht so schnell fahren sollst?“

„Kopf zu. Sauf lieber deinen dämlichen Vodka.“

Das hätte er besser nicht gesagt. Man konnte von Glück reden, dass die Straße, auf der sie sich derzeit befanden, unbefahren war. Ansonsten wäre es garantiert blutig geworden. Denn Ivan zögerte nicht auf diesen Kommentar hin nach der Handbremse zu greifen und diese mit einem kräftigen Ruck anzuziehen. Grässliches Quietschen und Motorgestotter waren die Antwort des BMWs, als dieser von fast hundert Stundenkilometern so abrupt abgebremst wurde.

„Sag mal, spinnst du?!“, keifte Gilbert sogleich wutentbrannt los, nachdem er Gilbird, der um ein Haar von seiner Schulter geschleudert wurde, abgefangen hatte.

„Ich glaube viel eher, dass du es bist, der spinnt.“, gab Ivan unnatürlich gelassen und lächelnd zur Antwort.

„Nein?! Ich schrotte mein Auto wenigstens nicht!“

Der Preuße bereute diese Worte postwendend. Denn ehe er sich versah lehnte der hellblonde Russe schon bedrohlich über ihm. Hatte mit einer Hand seinen Kiefer fest im Griff. Sah ihm bedrohlich in die Augen.

„Gilbert, mein Lieber… So langsam geht mir die Geduld mit dir aus, weißt du? Also entweder hältst du jetzt hübsch deine viel zu große Klappe, oder aber ich sehe mich gezwungen, sie dir zu stopfen. Verstanden?“

Natürlich verstand Gilbert. Sowohl sprachlich als auch die von der Bedeutung her. Er hatte Ivan immerhin gut genug kennen gelernt um zu wissen, was ihm bevorstehen würde, wenn er seine Geduld weiterhin überstrapazierte. Aber er konnte es nicht bleiben lassen.

„DAS würde ich nur zu gerne sehen, alter Saufkopf!“, kommentierte er daher die Drohung süffisant grinsend.

Erntete jedoch lediglich ein leises, dafür aber durch und durch finsteres Kichern.

„Und ich dachte, du hättest aus der Vergangenheit gelernt, Gilbert. Da habe ich mich aber wohl getäuscht, nicht wahr?“

Diesmal konterte der weißhaarige Preuße nicht. Ivans Stimme bewies ihm, dass er bereits zu weit gegangen war. Ebenso das Handeln des Älteren. Dieser hatte nämlich sowohl sich selbst als auch den Kleineren von den Sicherheitsgurten befreit und war nun daran versucht den zuletzt Erwähnten zu sich, auf seinen Schoß, zu ziehen. Doch auch wenn Ivan es womöglich anders sah, so war Gilbert sicherlich kein lebloses Ding, das man behandeln konnte wie man gerade lustig war. Nein, nein und nochmals nein. Solange der Preuße auch nur einen Funken Leben in sich trug würde er sich zur Wehr setzen! Hatte er immer. Würde er immer. Ende.

So zögerte der Weißhaarige nicht lange, sondern begann recht fix damit, sich gegen den festen Griff des blondhaarigen Russen zu wehren. Doch trotz all seiner mobilisierten Kraft – welche dank des mangelnden Frühstücks ohnehin nicht so hoch war wie gewöhnlich – war die Lage doch recht aussichtslos. Nichtsdestotrotz kam Aufgeben nicht in Frage; auch dann nicht, wenn Ivan die Schläge, die er ihm zukommen ließ, nicht zu registrieren schien. Zumindest zuckte er nicht ein einziges Mal mit der Wimper, als Gilbert ihn wieder und immer wieder ins Gesicht, gegen die Brust oder in die Magengrube schlug. Entweder war der Preuße im Laufe der Zeit und aufgrund mangelnder Kriege schwach geworden, oder aber der Russe war komplett schmerzfrei. In Gilberts Augen war wohl eher letzteres der Fall, denn nie und nimmer würde er schwach werden. Egal ob er nun eine eigenständige Nation war oder nicht. Nicht umsonst hatte er sich geschworen stärker zu werden. Nicht umsonst trainierte er regelmäßig.

Doch es schien umsonst. Jetzt gerade. In diesem Augenblick. Ganz und gar umsonst. Denn Ivan scherte sich wahrhaftig einen feuchten Dreck um die Schläge und das Meckern und Zetern, welches von Gilbert ausging. Auch das kleine gelbe Vögelchen, das auf seinen Kopf geflattert war und ihm nun scheinbar aus Leibeskräften an einzelnen Haarsträhnen zog und zwischenzeitlich auf den Kopf pickte, kümmerte ihn herzlichst wenig. Gilbert war nicht der einzige Dickkopf in diesem Auto.

Und doch hielt er inne als Gilberts Wehrversuche abebbten, seine – wohl gemerkt auf Deutsch formulierten – Flüche und Beschimpfungen verstarben und er ihm lediglich stur aus rubinroten Augen tief in seine amethystfarbenen schaute. Seine Lippen aufeinander presste, sodass sie noch heller erschienen als sie ohnehin schon waren. Sie dann langsam wieder entspannte; dann öffnete.

„Lass mich meinen Wagen wenigstens irgendwo hinfahren, wo uns niemand reinfahren kann. Und uns am besten auch keine Menschenseele sieht.“

„Wo willst du dafür denn hinfahren, Gilbert? Hier wird sicherlich so schnell niemand vorbeikommen.“

„Das ist mir Latte. Hier lass ich mich sicherlich nicht auf ein Stelldichein mit dir ein.“

„Und wie willst du das verhindern? Hast du nicht eben schon festgestellt, dass du mir unterlegen bist, Gilbert?“

„Wer sagt denn, dass ich schon alles gegeben habe?“

„Du selbst. Dein Körper. Ich kenne dich gut genug um zu wissen, wann du dich wirklich wehrst und wann nicht. Das Theater hatten wir vor einiger Zeit schon lange genug.“

Damit hatte Ivan recht. In der Hinsicht kannte er Gilbert wirklich. Er wusste in der Tat, wie er agierte, wenn er sich mit allem was in seiner Macht stand wehrte, wann er sich noch einen Trumpf aufheben wollte, wann er bluffte und wann er lediglich ‚spielte‘.

„Dann… Sag ich dir eben nicht, warum ich hier bin, wenn du es wagen solltest noch weiter zu gehen.“

Nun war es an Ivan zu stutzen. Doch fand er die Sprache schon nach nicht ganz einer viertel Minute wieder: „Kindskopf.“

„Aber es interessiert dich doch?“

Natürlich tat es das. Natürlich wollte der Russe wissen, was seinen ehemaligen Kriegsgefangenen in sein Land zurückführte. Warum er urplötzlich und ohne jegliche Erklärung wieder hier aufgetaucht war. Sicherlich war es nicht nur die Sehnsucht nach der einstigen Hauptstadt Ostpreußens, die der Weißhaarige doch immer so geliebt hatte. Sicherlich hatte er noch andere Gründe gehabt.

„Du bist nicht weniger Kindskopf als ich, Ivan.“, kommentierte Gilbert eindeutig amüsiert, als der Angesprochene Tatsächlich von ihm abließ und ihm somit gestattete, sich wieder auf den Fahrersitz zu setzen, sich anzuschnallen und den Wagen erneut zu starten um die Fahrt gen Moskau fortzusetzen. Im nächsten Augenblick hätte er sich aber schon die Zunge für seine Betonung abbeißen können. Schließlich wollte er es weiterhin so aussehen lassen, als hasste er den Russen aus tiefstem Herzen.

Doch diesem schien Gilberts Belustigung nur wenig bis gar nicht zu interessieren. Zumindest zeigte Ivan keine Regung sondern schnallte sich nun ebenfalls wieder an. Richtete den Blick dann wieder geradeaus und betrachtete schweigend die vor ihnen liegende Straße.
 

Litauen und Weißrussland passierten sie weitestgehend schweigend. Ivan, weil es ihn mehr interessierte als er zugab, was Gilbert so weit in den Osten geführt hatte. Gilbert, weil Ivan ihm keine Möglichkeit für Provokationen und andere unüberlegte Aussagen bot. Lediglich wenn es um die zu fahrende Richtung ging sprachen sie miteinander. Mehr oder weniger. Denn eigentlich was es immer nur Ivan, der knapp angab wo es langging. Auch bei kurzen Rasten um Notdurften zu verrichten oder etwas mehr als eine Kleinigkeit aus dem Proviantkorb zu schnabulieren – denn Gilbert war doch ein klein wenig pingelig, was seinen BMW anging – herrschte überwiegend Stille. Doch irgendwie war es eine angenehme Stille. Eine Stille, bei der man sich wohl fühlen konnte. Obwohl Ivan und Gilbert alles andere als im Grünen miteinander waren. Davon gingen beide aus. Auch Gilbird schien inzwischen entspannter. Saß mittlerweile auf der rechten Schulter seines Herrchens; näher an dem Russen. Eine Tatsache, die bei Gilbert für etwas mehr Entspannung sorgte.

Dennoch begann ein Gespräch zwischen den beiden Männern erst kurz bevor sie Moskau erreicht hatten.

„Die nächste musst du-„

„Links; ich weiß.“

„Daran erinnerst du dich noch?“

„Bitte, ich erinnere mich auch noch an die guten, alten Zeiten, die ich mit dem Alten Fritz hatte. Außerdem hast du mich regelrecht gezwungen, mir Moskau einzuprägen. Und so extrem viel wird sich ja in den paar Jährchen die ich nicht hier war auch nicht geändert haben, oder? Königsberg sieht ja auch noch fast aus wie damals.“

„Kaliningrad.“

„Hä?“

„Es heißt Kaliningrad. Nicht mehr Königsberg, Gilbert.“

„Für mich ist und bleibt es Königsberg.“

„Dann wirst du damit leben müssen, dass kaum einer weiß wovon du redest.“

Ivans Tonfarbe war keineswegs provokant. Auch nicht von dieser fast schon kindlichen Naivität, die Gilbert mindestens genauso reizen würde. Dennoch knirschte er mit den Zähnen. Er wusste selbst zur Genüge, dass Preußen – und alles, was dazu gehörte – langsam aber sicher in Vergessenheit geraten würde. Bereits geriet. Früher oder später ebenso er persönlich. Bis selbst Ludwig sich nicht mehr an seinen eigenen großen Bruder erinnern würde.

„Nun zieh nicht so ein Gesicht, Gilbert. Was ist schon eine Stadt? Oder deren Name?“

„Das kannst auch nur du sagen. Du hast ja noch alles.“, grollte der Kleinere zähneknirschend, doch Ivan antwortete nicht darauf.

Einsamkeit

Nichts war zu hören. Kein hastiges Poltern hinter Ecken oder aus der oberen Etage. Kein verschrecktes Tuscheln. Absolut gar nichts. Lediglich die alten Heizkörper polterten leise, weil sich zu viel Luft in ihnen befand. Ob es nur an dieser in den Heizkörpern befindlichen Luft lag, dass es selbst hier drinnen kalt war, weil die Heizungen so nicht richtig aufheizen konnten, konnte Gilbert nicht sagen.

Auch wenn alles so aussah wie früher, auch wenn der Preuße sich vermutlich blind in diesem Haus orientieren konnte, so wirkte es doch fremd. Der Staub, der hier und da auf den Möbeln zu finden war. Die stellenweise ausgeblichenen Tapeten, Teppiche und Bilder. Diese einem auf die Ohren drückende Stille. All das wirkte befremdlich. Unwirklich.

„Überrascht?“, kommentierte Ivan unbeeindruckt, während er sich die dicken Winterstiefel auszog und sich aus seinem Mantel schälte. Lediglich den rosafarbenen Schal, den er seit Dekaden sein Eigen nannte, behielt er um den Hals geschlungen.

Gilbert war sich nicht ganz sicher, wie die Frage gemeint war. Weil es hier aussah, wie damals vor nunmehr rund zwanzig Jahren, als er gegangen war? Weil es so still hier war? So verlassen? Doch Ivan schien zu sehen, weswegen sein weißhaariger Gast stutzte.

„Wie war es damit, dass ich noch alles habe?“

„Also… haben sie dir wirklich allesamt den Rücken gekehrt?“

„Da.“

„Selbst Natalia?“

„Da.“

„Aber die hat doch sonst auch immer an dir geklebt wie ‘ne Klette und auf Stalker gemacht?“

„Siehst du sie hier denn irgendwo? Sie ist schon vor Jahren wieder in Weißrussland. Wo sie hingehört.“

Wieder stutzte Gilbert. Das die drei Balten – Eduard, Toris und Raivis – gegangen waren wunderte ihn nicht. Sie hatten schon immer fürchterliche Angst vor Ivan und nur darauf gewartet, in ihre jeweilige Heimat zurückzukehren. Auch das Yekaterina, Ivans große Schwester, nicht mehr hier war, überraschte den Preußen wenig. Er wusste um ihre Probleme bezüglich des Gases, welches Yekatarinas Land von Ivan bezog, aber nicht zahlen konnte, bescheid. Eigentlich wusste er auch, dass Weißrussland wieder ein eigenständiges Land war, doch er hatte erwartet, dass das Natalia nicht davon abhalten würde bei ihren großen Bruder zu bleiben. Feliciano war schließlich auch mehr als nur oft bei Ludwig und ihm in Deutschland gewesen, obwohl er sich um sein Land zu kümmern hatte. Aber vielleicht hatte Lovino ihm das auch nur abgenommen.

„Du hättest netter sein sollen. Das hab ich dir doch immer gesagt.“, antwortete er jedoch knapp.

„Ich war nett.“

„In deinen Augen vielleicht. Aber was glaubst du, warum sich so gut wie die ganze Welt einscheißt, wenn du in der Nähe bist?“

Das ging unter die Gürtelline. Aber dessen war Gilbert sich durchaus bewusst; es war beabsichtigt gewesen. Er konnte einfach nicht… nett und… verständnisvoll sein. Es ging nicht. Es würde sich falsch anfühlen, da war der Preuße sich sicher.

Ivan schien von dem schnippischen Kommentar der einstigen Nation jedoch nur bedingt gestört. Er wusste selber, wie die anderen Länder sich benahmen, wenn er da war und wie, wenn nicht. Schon oft hatte er einige Minuten vor den Türen der Konferenzsäle oder hinter Ecken und Nischen ausgeharrt und die anderen heimlich beobachtet und belauscht. Er wusste genau, wie ausgelassen sie ohne und wie angespannt sie mit ihm waren.

Es kümmerte ihn nicht. Es war ihm egal.

Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden ging der Russe in sein Wohnzimmer. Gefolgt von Gilbert. Natürlich. Was hätte er auch sonst machen sollen? So war er doch noch nie der Typ gewesen, der ratlos und eingeschüchtert irgendwo rumstand und abwartete, bis man ihm Anweisungen gab. Selbst dann, wenn es schlauer wäre einfach abzuwarten hatte der Preuße einfach gehandelt. Und dafür mehr als nur oft die Konsequenzen tragen müssen. Ohne daraus zu lernen, denn nur wenige Tage später hatte er sich wieder in ähnliche Situationen gebracht. Ja, Gilbert war schon immer eine Sache für sich gewesen. Trotz der Zeitspanne, die er und Ivan sich kannten hatte er es doch immer und immer wieder geschafft den größeren aufs Neue zu überraschen. Und doch war Ivan der Meinung, ihn besser zu kennen als viele andere; vielleicht sogar besser als Ludwig seinen eigenen großen Bruder kannte. Abstrus. Aber das war es wohl, was Gilbert war: Ein Paradoxon.

Aufgrund dieser Gedanken und Erinnerungen anders lächelnd als sonst tätschelte Ivan mit der rechten Hand neben sich auf die Chaiselongue, auf die er sich soeben niedergelassen hatte. Gilbert, dem diese Geste gegolten hatte, dachte jedoch nicht im Traum daran der Aufforderung nachzukommen. Was war er denn? Ein dressiertes Schoßhündchen, das Kunststücke aufführte, wenn Herrchen es wollte? Oh nein, sicherlich nicht. Erst recht nicht, wenn der Russe sich selbst noch als Herrchen ansah. Den Zahn würde er ihm schon noch ziehen.

Statt auf die ausladende Couch setzte Gilbert sich somit also in den, zur Sitzecke gehörenden, Sessel; die Beine fast schon provokant übereinander geschlagen. Beinahe so, als wollte er sagen „Ey, ich steh nicht mehr unter dir. Du kannst mir nicht mehr sagen, was ich zu tun und zu lassen habe. Ich steh auf einer Stufe mit dir. Wenn nicht höher, denn im Gegensatz zu d i r habe i c h Freunde.“

Der selbstgefällige Ausdruck auf dem fast weißen Gesicht des Preußen untermalte diese unausgesprochene Aussage zusätzlich. Ivan würde ihn nicht mehr herum schupsen können wie es ihm gefiel.

Doch auch das schien den sandblonden Russen wenig zu scheren.

„Sag mir jetzt, was dich hierher verschlagen hat. Noch dazu alleine.“

„Zuerst einmal bin ich nicht alleine“, begann Gilbert und deutete auf den noch immer auf seiner Schulter sitzenden Gilbird: „Und hier bin ich nur, weil ich dich ja nach Hause fahren musste.“

„Stell dich nicht dümmer als du bist, Gilbert. Ich will wissen, warum du allgemein in Russland bist.“, kommentierte Ivan, ohne auf die Aussage bezüglich Gilbird einzugehen.

„Urlaub.“, war daraufhin die knappe Antwort des Weißhaarigen.

Das stimmte ja auch. Zumindest ansatzweise. Urlaub machte man schließlich zum entspannen und genau aus diesem Grund hatte er sich doch heimlich davongestohlen.

„Ohne deinen geliebten kleinen Bruder?“

„Er… hat halt mit seinem ganzen Papierkram zu tun.“

„Aha? Und weswegen hast du dich nicht angekündigt?“

„Weswegen hätte ich das machen sollen?“

„Weil es sich so als Nation – oder zumindest als Teil einer solchen – gehört?“

Nun vollbrachte Gilbert es doch, verächtlich zu schnauben. Anders als vor einigen Stunden im Auto. In Punkto Nation war er noch immer empfindlich. Auch wenn er es nicht offen zugab, so hatte er es noch nicht ganz verkraftet, dass sein geliebtes Preußen als solches nicht mehr existent war. Die Landstriche des einstigen Landes gab es zwar noch, doch standen sie nun alle unter verschiedenen Herrschaften. Waren anderen Zuteil geworden, nachdem Preußen offiziell aufgelöst wurde. Aber das tröstete Gilbert nun wirklich nicht, auch wenn ein wenig Preußen in deutscher Hand – und somit doch ein wenig unter seinem Einfluss – weiterlebte.

„Schmollst du jetzt etwa, weil du nur noch Fragment und kein Ganzes mehr bist?“

Da. Da war es wieder. Dieses Lächeln. Diese Stimmfarbe. Kindlich. Unschuldig. Und doch so brutal und grausam, wie nur Ivan sein konnte. Dieser Schlag ins Gesicht; nur wegen einer bestimmten Mimik und einer bestimmten Betonung. Wie Gilbert ihn dafür doch hasste. Wie er ihn dafür in Stücke reißen könnte.

Könnte…

Die Wut wie Galle hinunterwürgend zwang Gilbert sich jedoch zur Ruhe.

„Kann dir egal sein. Morgen bin ich wieder weg.“, grollte er; die Versuchung, Ivan an die Gurgel zu springen weiterhin unterdrückend.

„Aber ich dachte, du wolltest Urlaub machen?“

„Sicherlich nicht bei dir und auch allgemein nicht in Russland!“

„Kaliningrad gehört auch zu Russland.“

Wie er doch hätte kotzen können. Es hatte Königsberg zu heißen, verdammt! Königsberg, Königsberg, Königsberg! Seinetwegen konnte sich die Region ja gerne ‚Oblast Kaliningrad‘ schimpfen, aber diese Stadt hatte gefälligst weiterhin den Namen Königsberg zu tragen!

„Gewöhn‘ dich endlich dran. Königsberg gibt es nicht mehr. Wird es nicht wieder geben. Nie mehr. Es ist – wie Preußen – gestorben. Ein für alle Mal.“, kommentierte Ivan den verbissenen Gesichtsausdrück des ihm gegenüber sitzenden Albinos. Lächelnd aber dennoch mit ernster Stimme.

„Preußen ist nicht tot. Oder warum bin ich noch da? Wenn Preußen nicht mehr existent ist, dann dürfte ich es doch auch nicht mehr sein?“

Da hatte Gilbert recht. Zumindest in gewisser Weise. Wie konnte er denn noch am Leben sein, wenn es das Land, das er repräsentierte, nicht mehr existierte? Und wenn er schon nicht mit seinem Land untergegangen war, warum war er dann noch immer wie die anderen Nationen? Warum war er nicht ‚menschlich‘ geworden? Nicht gealtert?

„Vielleicht lebst du noch, weil wir dich zur Deutsch Demokratischen Republik gemacht haben, Gilbert?“

„Welche es aber auch nicht mehr gibt. Spätestens seit der Wiedervereinigung hätte ich doch eigentlich tot sein müssen, oder etwa nicht? Sag, Ivan: Welche Länderpersonifikation außer mir lebt noch, obwohl das dazugehörige Land nicht mehr existiert, hm? Keine, oder? Es gibt kein Rom mehr. Kein Heiliges Römisches Reich deutscher Nationen. Sie alle sind mit ihren Ländern untergegangen.“

Auch das waren wahre Worte. Worte, die es sogar schafften Ivans scheinbar eingemeißeltes Lächeln von seinen Lippen zu wischen. Aber…

„Aber was ist mit den beiden Italienern? Soweit ich weiß ist Italien e i n Land, aber beide Leben. Norden und Süden. Meinst du nicht, es könnte mit Deutschland genauso sein?“

Nun war es Gilbert, der lächelte. Daran hatte er, obwohl er doch regelmäßig mit zumindest einem der beiden Italienern zu tun hatte, nicht gedacht. Auch wenn ihm sein Dasein als Teil eines Landes nicht behagte, so begründete es doch seine Existenz und erlaubte ihm weiterhin am Leben zu sein. Rechtfertigte, warum er nicht gestorben war.

Auch Ivans Lächeln war zurückgekehrt. Nicht zuletzt, weil es das erste Mal war, seit Gilbert zurückgekommen war, dass er lächelte. Ernsthaft lächelte. Glücklich, nicht überheblich oder provokant.

Doch als der Weißhaarige selbst seine Mimik registrierte verschwand das Lächeln wieder. Bloß keinen falschen Eindruck entstehen lassen.

„Und wo gedenkst du mich schlafen zu lassen?“

„In deinem alten Zimmer?“

„Natürlich. Immer wieder gerne.“

„Gästezimmer? Oder in dem, das die drei Balten bewohnt haben? Das Bett reicht deinem Ego bestimmt.“

„Als würde es nur darum gehen… Weißt du, ich finde die Temperatur hier im Wohnzimmer schon unangenehm genug. Willst du als so ein schlechter Gastgeber dastehen, Ivan? Denn genau das scheinst du mir zu sein.“

Dem Angesprochenen war dieser verbale Angriff schlichtweg egal. Es lud sich ohnehin niemand zu ihm ein. Zumindest nicht zu ihm nach Hause. Wenn doch mal eine der anderen Nationen in Russland zu tun hatte, dann bevorzugten sie doch möglichst zentral gelegene Hotels. Zum einen eben, weil sie sich vor Ivan fürchteten, zum anderen, weil sein Anwesen ziemlich abseits lag und man außer Schnee und Eis selten etwas sah. Da waren die Moskauer Straßen doch wesentlich interessanter.

„Meinetwegen schlaf in meinem Bett.“

„Und du auf der Couch?“

„Wieso sollte ich?“

„Weil ich meinen Platz brauche.“

„Damals hat es dich auch nicht gestört, mit mir zusammen in einem Bett zu schlafen. Ich bin der Meinung, dass es dir sogar ziemlich gefallen hat.“

„‘Damals‘ ist einundzwanzig Jahre her. Selbst für uns ist das nicht gerade wenig Zeit.“

„Aber du hast es genossen.“

„Ja. ‚Damals‘ , Ivan, ‚damals‘.“

Es darauf beruhen lassend erhob Gilbert sich und verließ das Wohnzimmer. Holte den Koffer mit seiner Kleidung und den Hygieneprodukten aus seinem Z4. Schleppte ihn hoch in die obere Etage, wo Ivans Schlafzimmer lag. Stellte ihn dort ans Fußende des ausladenden Himmelbettes. Altes Teil. Aber verdammt bequem. Und mit den vielen Kissen und Decken würde sich ein wunderbarer Schutzwall aufbauen lassen, falls Ivan aufdringlich werden sollte.

„Was meinst du, Gilbird?“, wandte er sich an das auf seiner Schulter sitzende Küken: „Eine Nacht sollte doch zu überstehen sein, oder? Eine einzige, läppische Nacht?“

Der kleine Reichsadler legte zur Antwort lediglich den Kopf schief. Piepste leise.

„Das ist keine Antwort, Gilbird…“

„Reden wir wieder mit kleinen Vögelchen?“

Besagtes flatterte verschreckt auf, als Ivan näher kam und erst dicht hinter dem Preußen stehen blieb. Kauerte sich auf einem der Bettpfosten zusammen und beobachtete die zwei Männer aufmerksam. Skeptisch.

„Gilbird ist nicht einfach ein ‚Vögelchen‘ sondern mein kleiner Reichsadler.“

„Im Ernst: Das glaubst du doch selber nicht, oder? Schau dir den Federball doch mal an. Er hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Adler. Das einzige, was er mal wird, ist ein Chicken Nugget.“

„Ich geb dir gleich Chicken Nugget! Du wirst schon noch sehen, wie sehr Gilbird Adler ist, wenn er erst mal ausgewachsen ist!“

„Und wann soll das sein? Die kleine Flauschkugel sieht noch genauso aus wie damals.“

„Pah! Leck mich doch!“

Gesagt, getan. Kaum, dass Gilbert seinen Mund wieder geschlossen hatte spürte er auch schon Ivans Zunge knapp unter seinem Ohr. Ein Schaudern nicht unterdrücken könnend schalt er sich mental selbst, wie er nur vergessen konnte, wie wörtlich Ivan solche Aufforderungen nahm.

„Vorsicht mit deinen Wünschen, Gilbert. Sie könnten wahr werden.“, raunte besagter Russe leise in das minimal gerötete Ohr seines vorübergehenden Gastes.

Dieser sah sich zu keiner Antwort bereit. Stand lediglich stillschweigend da. Malträtierte seine Unterlippe zwischen den Schneidezähnen. Erst als er langsam den Kopf wandte um Ivan ansehen zu können, öffnete Gilbert seinen Lippen etwas, wobei seine Mundwinkel leicht zuckten und sich zu einem schiefen Grinsen verzogen.

„Du kannst mich mal, Ivan. Kreuzweise.“

Falsch verbunden

Trübes Licht erhellte das Zimmer etwas, als Gilbert langsam und mühselig seine bleiernen Lider anzuheben versuchte. Auch seine Glieder waren dermaßen schwer, dass er es nicht fertigbrachte sie zu bewegen. Aber lag es nur daran, dass er sich kaum regen konnte? Verschlafen grummelnd versuchte er sich umzusehen, doch auch sein Kopf wollte nicht gehorchen. Schwer, viel zu schwer fühlte er sich an.

Aber es störte den Preußen nicht. Es kümmerte ihn nicht, dass er so bewegungsunfähig dalag. Woran auch immer es lag, aber er fühlte sich wohl. Um nicht zu sagen geborgen. Infolgedessen ließ sich ein leises, wohliges Seufzen nicht unterdrücken. Verbarg seine roten Iriden entspannt wieder unter seinen Lidern.

Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass er noch nicht realisiert hatte, wo er sich befand. Bei wem. Was vorgefallen war.
 

Erst eine dreiviertel Stunde später, die er in leichtem Dämmerschlaf zugebracht hatte, schien der entsprechende Schalter in Gilberts Hirn umgelegt worden zu sein. Wohlgemerkt auch nur, weil er Bewegungen hinter sich wahrnahm und sein Körper sich von jetzt auf gleich deutlich leichter anfühlte. Und als er dann noch das verschlafene Grummeln nahe hinter sich wahrnahm schien der Weißhaarige gänzlich auf den Boden der Tatsachen zurückgekehrt zu sein.

Jäh schlug er die Augen wieder auf. Wandte sich um und erblickte – eigentlich doch selbstverständlich – Ivan, der sich gerade, sich aus der Decke kämpfend, aufsetzte. Wobei es vielmehr dessen nackter Rücken war, den er sah. Das reichte allerdings, um ihm zu verdeutlichen, was vorgefallen war. Dass der Rücken des Russen vernarbt war, war zwar eine altbekannte Tatsache, aber die frischen – teils mit geronnenem Blut dekorierten – Kratzspuren sprachen schier Bände. Ivan hatte ihm nur zu genau verdeutlicht, dass er mit seiner Wortwahl aufzupassen hatte.

Das erklärte nun natürlich auch, warum er nicht mehr den kleinsten Hauch von Kleidung trug. Und den leicht ziehenden Schmerz in seinem Rektalbereich.

„Ah, du bist wach, Gilbert?“, kommentierte Ivan, als er das Rascheln der dicken Decke gehört hatte.

Und natürlich tat er es in diesem Tonfall, den Gilbert am meisten hasste. Der Tonfall, der ihm zu sagen wollen schien, dass er verloren hatte. Nicht ansatzweise so großartig war, wie er es wohl gerne wäre. Dieser unschuldige, bald kindliche Tonfall, der es dessen ungeachtet bewerkstelligte, sein Ego so präzise zu treffen und seinen Geduldsfaden so flugs zu durchtrennen wie nichts anderes, was dem Preußen bekannt war. Selbst Feliks, den Gilbert nun wirklich nicht ausstehen konnte, provozierte ihn kaum so sehr wie Ivan es mit dieser Stimmfarbe tat.

Der Russe indes schien die zunehmend mürrischer werdende Miene seines weißhaarigen Gastes nicht zu bemerken. Oder aber er ignorierte sie nur. Dafür schien er ohnehin eine Art Talent zu besitzen, denn schon seit Gilbert Ivan kennengelernt hatte, hatte dieser es wohl wie kein zweiter verstanden, Tatsachen und Fakten, die ihn nicht scherten, zu verkennen. Folglich änderte er die Betonung seiner Worte auch nicht, als er sich erkundigte, ob und was der Preuße frühstücken wollte.

So war es Gilbert nur allzu recht, als Ivan das Schlafzimmer verließ. Nun war er es, der sich allmählich aufsetze. Seine Hände locker in seinen Schoß legte. Nachdenkend auf die Decke schaute.

Er war sich nicht ganz sicher, warum er sich so merkwürdig fühlte. Des Sexes wegen? Aber da war doch nichts bei? Zumindest hatte er noch nie Probleme gehabt, mit jemanden zu schlafen. Seinem Erachten nach brauchte es auch nicht zwingend Liebe dafür. Sex und Liebe waren zweierlei Paar Schuhe. Aber vielleicht war das nun zum Problem geworden. Weil er Ivan mal geliebt hatte. Ihn insgeheim sogar noch immer liebte. Aber nicht wusste, wie Ivans Gefühlswelt aussah. Nicht wusste, ob es ihm auch noch so ging, oder ob er ihn bereits abgeschrieben hatte.

Stumm seufzend hob er seinen Blick etwas, als Gilbird von dem Bettpfosten, auf dem er genächtigt hatte, auf sein Knie geflattert war. Schaute ihm in die tiefschwarzen Knopfaugen.

Diese Unwissenheit war fürchterlich. Ebenso dieses bindende Gefühl der Liebe. Gilbert hatte sich nie an jemanden gebunden, sich nie binden wollen. Die einzige Verantwortung die er jemals verspürt hatte war – neben der gegenüber sich selbst und der gegenüber Gilbird – die gegenüber Ludwig gewesen. Aber der war sein kleiner Bruder und somit doch etwas anderes, oder? Jemanden auf familiärer Basis zu lieben war doch vollkommen anders als jemanden so zu lieben, wie er Ivan nach über zwanzig Jahren noch immer liebte?

Kopfschüttelnd ließ der Preuße sich wieder rücklings in die Laken fallen. Wieso grübelte er eigentlich so viel? Es hatte doch keinen Zweck. Vermutungen waren das Einzige, was er aufstellen konnte. Entweder musste er mit dieser Situation leben, oder, wenn er das nicht konnte, sich zusammennehmen und mit Ivan darüber reden; Punkt.

Und wie es nun mal so war, wenn man vom Teufel sprach, kam Ivan auch just in diesem Augenblick zurück in sein Zimmer; ein vollbeladenes Tablett balancierend. Darauf befand sich wohl so ziemlich alles, was zu einem vernünftigen Frühstück dazu gehörte: Brot und Brötchen zuzüglich diverser Aufstriche und –schnitte, Kaffee inklusive Milch und Zucker sowie heißes Wasser und eine reichliche Auswahl an Teebeuteln.

„Erstaunlich, wie zuvorkommend du sein kannst. Kennt man ja so gar nicht von dir, Ivan.“, kommentierte der Weißhaarige fast schon gehässig, als er das erhebliche Angebot näher betrachtet hatte.

„Red‘ nicht so einen Mist. Du weißt genau, dass ich gut für dich gesorgt habe.“

„Nicht immer.“

„Nachdem sich unsere Beziehung geklärt hatte schon. Was bist du überhaupt so garstig? Was habe ich dir denn getan, Gilbert?“

Als Antwort Gilberts erfolgte lediglich ein leises Schnauben.

Ivan brauchte seine Beweggründe nicht zu erfahren. Sollte sie nicht erfahren. Sollte nicht erfahren, dass er, Gilbert, der immer behauptet hatte, niemanden außer sich selbst zu brauchen, in Wahrheit mehr oder weniger von ihm, Ivan, demgegenüber er sich geradezu auf kindische Art abweisend aufführte, abhängig geworden war.

Sich auf die Innenseite seiner Unterlippe beißend wandte der Preuße den Kopf ab. Wollte nicht riskieren, dass der sandblonde Russe aus seiner Mimik lesen konnte, was in ihm vorging. Denn auch wenn Ivan in gewisser Weise fast schon autistisch wirkte, so hatte er doch gelernt Gilbert zu verstehen. Und es wäre nicht weiter verwunderlich, fand Gilbert, wenn er dessen immer noch mächtig wäre.

Dem war auch so. Denn diese kleine Geste des Weißhaarigen reichte vollkommen aus um Ivan die Lunte wittern zu lassen. Die Brauen skeptisch anhebend blickte er demzufolge den Kleineren an. Wollte gerade seine Hand auf dessen Schulter legen, als er sich eines Besseren besann und sie zurückzog. Stattdessen zu einem der bereits halbierten Brötchen griff und es großzügig mit Marmelade bestrich. Zwanzig Jahre waren noch nicht lang genug, um ihn vergessen zu lassen, wie Gilbert reagieren würde. Solange er nicht reden wollte konnte man ihn nun mal nicht dazu bringen, das wusste Ivan noch zu genau. So war es gewesen, als er den Preußen als Kriegsgefangenen zu sich geholt hatte, als sie sich näher gekommen und als sie wieder auseinander gegangen waren. Und sicherlich hatte sich das bis heute nicht geändert. Ganz bestimmt nicht, davon war Ivan überzeugt. Also aß er nun sein Brötchen, anstatt Gilbert auszuquetschen zu versuchen. Vielleicht würde er ja doch noch von sich aus reden.

Während des Frühstückes war dies aber schon mal nicht der Fall. Sie schwiegen. So wie es am Vortag im Auto der Fall gewesen war. Einzig Gilbird schien die Stille nicht zu stören. Er pickte mal hier, mal da kleine Stückchen aus den Brötchen seines Besitzers und gurrte dabei recht zufrieden.
 

Eine gute dreiviertel Stunde später war dann das meiste Verzehrt. Ivan brachte gerade das Tablett samt Besteck, Geschirr und dem, was übergeblieben war, zurück in die Küche, während Gilbert sein Tagebuch und einen Stift aus seinen Sachen suchte. Schnell war beides gefunden und auf seinem Schoß ausgebreitet. Ebenso schnell flog im Anschluss darauf auch der Stift über die aufgeschlagenen Seiten. Schwungvoll folgte Wort auf Wort, Satz auf Satz und ehe man sich versah war bereits die dritte Seite mit ansehnlichen Lettern gefüllt. Auch die vierte Seite war fix vollgeschrieben, doch bei den nächsten zwei strauchelte der Preuße zunehmend. Immer langsamer tränkte die silbrige Feder seines Füllfederhalters die naturweißen Seiten des Heftes mit ihrer königsblauen Tinte, bis Gilbert schlussendlich gänzlich inne hielt. Das Geschriebene betrachtete; nochmal durchlas. Seinen Kopf schüttelte und die Doppelseite an der Falz aus dem Buch heraustrennte, zerknüllte und beiseite warf. Nein, solcher Schwachsinn hatte definitiv nichts in einem Buch verloren, das von seiner einzigartigen Großartigkeit erzählen sollte. Zumal diese Zeilen absolut gar nicht mit dem restlichen Eintrag zusammenhingen. Wieso hatte er sie überhaupt verfasst? Aus einem spontanen Anfall geistiger Umnachtung heraus? Das war als Erklärung doch wunderbar geeignet, oder? Natürlich! Also war das Problem geklärt und er konnte sich wieder den wichtigeren Dingen des Lebens widmen.

Duschen, zum Beispiel.

Das konnte er jetzt nämlich ziemlich gut gebrauchen. Eine schöne, warme Dusche. Alleine. Damit er ausschalten konnte. Sich durch Ivans Anblick, wenn er zurückkommen würde, nicht an die vergangene Nacht erinnert sehen. Stattdessen würde er darüber nachdenken, wohin er weiterfahren könnte. Denn hierbleiben oder wieder zurück nach Deutschland fahren wollte er unter keinen Umständen. Beide Situationen würden ihn nicht glücklich werden lassen, davon war er überzeugt. Lediglich sein Handy würde er eventuell wieder einschalten. Vielleicht hatte Ludwig ja nun endlich bemerkt, dass sein großer Bruder fort war.

Gedacht, getan; schon hatte er das schwarze Mobiltelefon aus der Tasche seiner neben dem Bett auf dem Boden liegenden Hose gefischt und es eingeschaltet. Doch wie zuvor in seinem Hotelzimmer in Kaliningrad schien Ludwig noch nichts gemerkt zu haben. Auf dem Display war weder ein kleiner Telefonhörer abgebildet, der einen versäumten Anruf symbolisierte noch ein Briefchen, das ihm sagen sollte, dass er eine SMS erhalten hatte.

Zähneknirschend und mit finsterer Miene legte er das Handy unsanft auf den Nachttisch. Hievte sich dann aus dem Bett. Zunächst noch seine Pflegeprodukte und frische Kleidung aus seinem Koffer fischend schlurfte er dann hinaus in den Flur. Dass das Badezimmer direkt gegenüber von Ivans Schlafzimmer lag, wusste er noch allzu genau. Ebenso, dass es klüger war die Tür abzuschließen, wenn er wirklich alleine bleiben wollte. Denn Scham schien Ivan ein Fremdwort zu sein. Gilbird hingegen konnte sich des Privilegs erfreuen, dem Preußen etwas Gesellschaft zu leisten. Es wäre aber auch zu riskant gewesen, den kleinen Flattermann alleine zu lassen. Am Ende hätte Ivan seine Chicken Nugget-Drohung noch in die Tat umgesetzt. Und dieses Risiko konnte und wollte Gilbert nicht eingehen; dafür liebte er seinen treuen gefiederten Begleiter einfach zu sehr. Er gehörte einfach zu ihm wie das Amen in die Kirche gehörte.
 

Im Bad hielt Gilbert einen Moment inne. Schaute sich kurz um. Wenn er heute wieder aufbrach, warum sollte er sich dann nicht ein kleinwenig Luxus gönnen? Warum duschen, wenn man genauso gut auch baden konnte? Zumal Gilbert kaum voraussagen konnte, wann er das nächste Mal die Gelegenheit dazu hätte. Außerdem wirkte sich ein gut temperiertes Vollbad wesentlich entspannender auf ihn aus als eine läppische Dusche.

So war die Entscheidung schnell getroffen, Shampoo und Duschgel auf den Rand der Wanne abgestellt, der Stöpsel in den Abfluss gestopft und das Wasser aufgedreht. Bis das klare Nass allerdings warm und die Wanne voll genug war, um sich bereits hineinzusetzen vergingen dank der alten Wasserleitungen jedoch eine gepflegte Anzahl an Minuten. Doch diese wusste Gilbert recht sinnvoll zu nutzen. Aufmerksam studierte er die Auswahl an Badezusätzen, die Ivan besaß. Sehr viele waren es nicht, aber die, die da waren wurden beschnuppert und die Etiketten gelesen. Nicht, dass Gilbert irgendwelche Allergien gegen bestimmte Inhaltsstoffe – seien es natürliche oder chemische – hatte, aber es interessierte ihn, welche Wirkungen die verschiedenen Schaumbäder auf Leib und Seele haben sollten. Letztendlich griff er auf das Lavendelbad zurück, goss knapp einen Verschlussdeckel voll in das langsam steigende, aber inzwischen angenehm warme Wasser und beobachtete wie sich weißer, im Licht schillernder Schaum bildete. Aufgrund dessen, dass der Weißhaarige nackt – wenn auch nur bedingt auf freiwilliger Basis – geschlafen hatte, konnte er sich das Ausziehen sparen und gleich in das warme Nass steigen, als er die Badewanne für voll genug erachtete. Ein wohliges Seufzen konnte – und wollte – er dabei nicht unterdrücken.

Die Augen schließend lehnte er sich zurück. Genoss die überaus angenehme Wassertemperatur. Lachte leise auf, als er merkte, dass Gilbird es sich – wie so oft – auf seinem Kopf gemütlich gemacht hatte.

Es verging gut und gerne zwanzig Minuten, die er so verweilte. Das Lavendelaroma des Schaumbades hatte in der Tat eine entspannende Wirkung. Dennoch vollbrachte es nicht, ihn vom Grübeln abzuhalten. Es wurmte Gilbert zutiefst, dass Ludwig sich noch nicht gemeldet hatte. Dass es ihm egal zu sein schien, dass er fort war. Aber was sollte er daran ändern? Er würde damit leben müssen.

Den Kopf leicht – damit Gilbird nicht herunterfiel – schüttelnd setzte der Preuße sich wieder auf. Er hatte für seinen Geschmack genug Zeit vertrödelt. Dementsprechend wurde Gilbird nun also sanft auf den Wannenrand abgesetzt, damit sein Herrchen sich flugs waschen konnte.
 

Wenige Minuten später machte der Weißhaarige sich – inklusive Gilbird auf seinem Kopf – auch schon wieder auf den Weg zurück ins Schlafzimmer seines – wenn man so wollte – Gastgebers. Dieser saß – wie immer lächelnd – auf der Bettkante. Schien schon auf ihn gewartet zu haben.

„Dein kleiner Bruder hat angerufen.“, kommentierte er leichtfertig, als Gilbert den Raum betreten hatte.

„Woher willst du wissen, dass er es war?“

„Bin drangegangen.“

„W-was?! Und was hat er gesagt? Was wollte er?!“

Ivan zuckte schlicht mit den Schultern. So unschuldig er auch gerade dreinsah, so genau wusste er, wie erpicht sein Gegenüber auf eine Antwort war.

„Ich weiß es nicht. Hab ihn nicht verstanden. Du weißt doch, dass ich kein Deutsch kann.“

„Du wirst doch wohl irgendwas gesagt haben, wenn du schon die Dreistigkeit besitzt einfach an mein Handy zu gehen?!“

Auch wenn Gilbert nur zu genau wusste, dass es ihm nichts brachte lauter zu werden, so konnte er dennoch nicht anders. Er wolle – musste – einfach wissen, was sein Bruder gewollt hatte. Auch wenn er sich denken konnte, dass es sich lediglich um die Fragen handelte warum er wohin einfach so abgehauen war. Insgeheim war es aber wohl auch eher die Impertinenz Ivans, einfach so an sein Handy zu gehen, die ihn aufregte und lauter werden ließ.

„Habe ich. Aber dann war er kurz still, murmelte wieder irgendwas, was ich nicht verstanden habe und hat einfach aufgelegt.“, antwortete der Russe, trotz des Wissens, dass er Gilbert damit reizte, leger wie zuvor.

Darauf wusste der Preuße nichts zu erwidern. Das musste er – seiner Meinung nach – aber auch eigentlich gar nicht. Er wollte doch ohnehin heute wieder abreisen, warum also noch ein großes Theater daraus machen, wenn er Ivan anschließend sicherlich nicht wiedersehen würde? Stattdessen schnappte er sich also sein Handy, das inzwischen neben dem Russen auf dessen Bett lag. Schnell war die erste Nummer – die des Haustelefons – gewählt. Doch das einzige, was zu hören war, waren fast zwei Minuten Freizeichen.

Dann eben anders.

Den amüsierten Blick Ivans ignorierend wählte Gilbert erneut. Versuchte es dieses Mal über Ludwigs Handy. Doch auch hier wurde er enttäuscht. Es gab nicht einmal ein Freizeichen, sondern es war gleich die Mailbox, die sich meldete.

Zähneknirschend sah Gilbert sich gezwungen sich fürs Erste geschlagen zu geben. Er konnte sich ausmalen, was ablaufen würde. So gefasst Ludwig – egal in welcher Situation – auch war: Dass sein großer Bruder ohne ein Wort verschwunden war und dass Ivan sich nun an dessen Handy gemeldet hatte würde er sicherlich falsch auffassen.

„Was hast du denn, Gilbert? Du wirkst so zerknirscht?“, gluckste Ivan geradezu; doch das einzige, was er sich mit dieser Frage einhandelte, war ein wütender Blick seitens des Angesprochenen.

Dieser hätte ihm eigentlich am liebsten noch einen gehörigen Kinnhaken verpasst, wenn er es nicht besser wüsste. Nicht wüsste, dass Ivans eventuelle Retourkutsche die Lage im Endeffekt nur verschlimmern würde. Zumindest dann, wenn Gilbert mit seiner Vermutung, dass Ludwig sich auf den Weg nach Moskau gemacht hatte, recht behalten sollte.
 


 

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Ich hoffe, ihr killt mich nicht für das Kap... |"D

Aber tröstet's, wenn ich verspreche, dass es noch definitiv 'nen Lemon-Part geben wird? x"D



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Kommentare zu dieser Fanfic (19)
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Von: abgemeldet
2011-08-28T20:36:31+00:00 28.08.2011 22:36
Ich fand es jetzt, in dieser Situation nicht schlimm, dass es keinen Lemon gab. :)
Muss ja nicht immer sein... xD
Mir hat das Kapitel gefallen und das Ivan kein Deutsch kann ist natürlich scheiße.
Man muss sich mal das 'Gespräch' zuwischen ihm und Ludwig vorstellen.
Genial! xDD
Naja, ich freu' mich auf's Nächste!
MFG Katja
Von: abgemeldet
2011-08-25T13:05:13+00:00 25.08.2011 15:05
Haha etwas mehr Leidenschaft hätte wirklich nicht geschadet :DD
Aber so eine "der Morgen danach Szene" lässt Platz für die eigene Fantasie... ^.^

Ich freu mich schon wieder auf mehr :)
Von:  Aka_Samurai_Kurogane
2011-08-22T21:27:24+00:00 22.08.2011 23:27
Wie kein Sex xD keine romantische, leidenschaftliche Bettzene? du enttäuscht mich Grundtief!!
da habe ich mich doch so darauf gefreut!! dann will ich aber was saftiges zu lesen bekommen Freundchen wenn es dazu kommt ò___Ô

aber war dennoch schön wieder was zu lesen ^^ hätte nur etwas mehr sein können T__T

aber yatta auf das nächste Chapter :D hau rein!!
Aka
Von:  Gokiburi
2011-08-22T07:01:04+00:00 22.08.2011 09:01
HAette gerne gewusst was Gilbert da in sein TAgebuch gesschrieben hat :D

Wieso fuer das Kapitel killen ?
Ich finde das gar nicht schlecht , ich finds sogar gut.

Gilbert hat mir jetzt auch Lust aufs Duschen gemacht .
Also ich bin dann mal :3

Freu mich auf die Fortsetzung ^^
Von: abgemeldet
2011-08-17T15:47:15+00:00 17.08.2011 17:47
Oh Mann ich liebe deine FF :D Du hast die Charaktere so gut getroffen und die letzte Aussage ist einfach DER HAMMER^^
Mehr davon ;)
Von:  Jiho_
2011-07-27T18:01:23+00:00 27.07.2011 20:01
*sich wegschmeiß*
Ich kann nicht mehr vor lachen. XD
Du hast Russland so gut getroffen!
Die letzte Aussage von Preußen, war natürlich der Oberhammer.
Und dann noch was Ivan gesagt hat, mit den Wünschen.
Wie genial. ;DD

Echt gutes Kapitel.
Freue mich auf weitere Kapitel. (:
Von:  East
2011-06-29T18:19:30+00:00 29.06.2011 20:19
Ich bitte drum! 8D

Ich hoffe das nächste Chapter kommt demnächst mal aus der Beta raus >D
Von:  Aka_Samurai_Kurogane
2011-05-01T11:12:27+00:00 01.05.2011 13:12
Awww ich habe gar nicht mitbekommen das es weiterging^^ musste ja eben alles nachholen
*lach*
aber es ist wie immer total gut, Ivan gefällt mir und es kribbelt jetzt schonx D schreib schön weiter~ ich hoffe die Intizene zwischen den beiden funkt richtig xDDD ich freu mich schon richtig drauf~
*schnurr*
und Ivan ist so schön zweideutig xD und Gilbert~ gefällt mir~ ich frage mich nur noch ob Ludwig ihn wirklich irgendwann mal vermisst ^^

Mach weiter so

lg

Aka_Samurai_Kurogane
Von:  Gokiburi
2011-04-25T19:05:20+00:00 25.04.2011 21:05
Oho xD

Der letzte Satz ist eine verdammt deutliche Aussage !


Super Kapitel :>
(genau wie die davor ;D)
Von:  8thDeadlySin
2011-04-25T09:53:37+00:00 25.04.2011 11:53
Nachdem ich ja gestern schon wusste, dass ein neues Kapitel kommt und ich es eh kaum erarten konnte:

Das Kapitel ist Mal wieder richtig toll *____*
Man kann sich das richtig vorstellen, dass die jeweiligen Charaktere genau so handeln würden.
[und ich liebe Gils schnippische Art <D]
Ich will wissen, wie's weitergeht D:
Weißt du eigentlich, dass deine Cliffhanger immer voll mies sind? xD

Also kurz: wieder toll geschrieben, jede Zeile :3
Freu mich auf die weiteren Kapitel.

Ps: Ist deine Schreibfähigkeit bei unserem Op-Händetausch eigentlich einbegriffen? XD


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