.mysterious ways.
Man konnte den Wind bis in das kleine Arbeitszimmer hören, das Theodor sich in seiner Wohnung eingerichtet hatte. Er heulte mit beinahe furchterregender Macht durch die hohen, engen Häuserschluchten und selbst die Straßen, Wege und Plattformen, die sich dazwischen spannten, geboten ihm nicht viel Halt. Im Gegenteil, manchmal verstärkten diese verhältnismäßig engen Kanäle, durch die der starke Luftzug gelenkt wurde, die Kraft der Naturgewalt.
Irgendetwas wurde metallisch klappernd über den Innenhof getrieben, um den die Saint Bridget Church und ihre Nebengebäude sich erhoben, und Fensterläden krachten gegen die Wände und Theodor zuckte heftig zusammen, als etwas mit donnerndem Getöse auf dem gepflasterten Boden landete. Hatte der Wind eben Teile des Daches abgedeckt? Er würde morgen einen der beiden Hausmeister hinaufschicken um nachzusehen – vorausgesetzt, der Wind hatte bis dahin etwas nachgelassen – und solange einfach hoffen, dass bis dahin nichts Wichtiges beschädigt wurde.
Wenigstens regnete es noch nicht. Die regelrechten Sturzbäche, die bei Niederschlägen von oben auf sie herabflossen, weil die Kanalisation hier ungenügend oder einfach nicht vorhanden war, setzten manchmal den gesamten Hof unter Wasser und dann war er froh, dass er wenigstens dichte Dächer hatte. Aber irgendwo musste das Wasser ja hin.
Er hatte deswegen schon öfter Beschwerde eingelegt, aber er wunderte sich nicht, dass bis jetzt noch nichts geschehen war. Nicht jeder in diesem Viertel war so glücklich, ein undurchlässiges Dach oder gar Haus zu besitzen. Auch direkt unter den Straßen und Zwischenebenen zu wohnen war in diesem Fall nicht immer ein Segen und zu den meisten anderen Zeiten sowieso nicht.
Theodor seufzte und richtete seine Gedanken auf die Aufgaben in seiner Hand. Dass sie in keiner perfekten Gesellschaft lebten, war ihm schon lange bewusst, und auch, dass der Aufbau der himmelhohen Städte mit ihren Brücken und Schwebestraßen, ihren Plattformen und Ebenen und Hängebahnen dieses imperfekte Bild widerspiegelte, war ihm klar. Ändern konnte er nichts. Er tat einfach das, was in seiner Macht stand, um seinen Schützlingen so weit wie möglich unter die Arme zu greifen und für ihr Seelenheil zu sorgen.
Und dazu gehörte – leider Gottes – auch die Buchführung. Eigentlich hatte diese Aufgabe etwas Beruhigendes für ihn, eine leichte Arbeit, die seine Aufmerksamkeit jedoch in Anspruch nahm und verhindere, dass seine Gedanken zu sehr abschweiften. Doch heute schien der Wurm darin zu sein, denn er konnte sich einfach nicht konzentrieren.
Kurz richtete er seinen Blick auf das Bild seiner verstorbenen Frau, das auf einem der niedrigen Regale stand. Ihr leuchtendes, schönes Gesicht lachte ihn an, das Grün der Pflanzen um sie herum schien sie zum Strahlen zu bringen und Theodor musste wie jedes Mal lächeln, wenn sein Blick darauf fiel.
Er hatte darauf Wert gelegt, in jedem Zimmer seiner Wohnung mindestens ein Bild von ihr zu haben. Es erinnerte ihn an alles, was er gehabt hatte, an ihre beruhigende Präsenz, ihre stille Stärke, ihr fröhliches Lachen. Auch wenn es den bitteren Beigeschmack des Verlustes trug, an den er sich schon so gewöhnt hatte, dass er nur noch ein dumpfes, kaum schmerzhaftes Pochen in seiner Brust war. Aber er wollte seine Zeit mit ihr ebenso wie das, was auf ihren Tod gefolgt war, um keinen Preis missen. Es hatte ihn zu dem gemacht, was er heute war.
Ein Klopfen an der Tür ließ ihn aufblicken und einen Moment später schob Ava Kron ihren ergrauten Kopf durch den Türspalt. Sie war nicht mehr ganz jung, aber diese halbe Stelle als Haushälterin, die man ihm nach Claires Tod zugestanden hatte, füllte sie so vollständig und ganz aus, dass niemand sie würde ersetzen können.
Jetzt lächelte sie den Pater an und erklärte: „Ich habe dein Essen in die Mikrowelle gestellt. Vergiss es diesmal nicht, in Ordnung?“ Ihr Blick war streng, aber der ansonsten liebevolle Gesichtsausdruck machte ihn zunichte.
Dennoch nickte Theodor ergeben und hob die Hände. „Es war keine Absicht und ich tue mein bestes, dass es nicht wieder vorkommt.“
Ava hob drohend den Zeigefinger, aber sie verlor ihr Lächeln nicht. „Ich werde dir das jetzt erst einmal glauben. Aber nur, weil ich jetzt wirklich gehen muss – Ingrid und Lloyd kommt zu Besuch. Auf Wiedersehen, Pater.“
Theodor lächelte. Ava hatte den ganzen Tag von nichts anderem gesprochen als dem lang erwarteten Besuch ihrer zweiten Tochter und deren Verlobten. „Bis morgen, Ava.“
Die Haushälterin verschwand und der Geistliche hörte noch ihre rasch leiser werdenden Schritte, als sie den Gang hinunterlief. Der Gebäudekomplex fühlte sich plötzlich riesig und einsam an. In Augenblicken wie diesen vermisste er die Gewissheit, dass Claire nur einige Zimmer weiter war, so lebendig und präsent.
Theodor seufzte erneut und schob den Deckel auf seinen Füller. Es sah nicht so aus, als würde er heute noch auf einen grünen Zweig kommen mit seiner Buchführung. Da konnte er es auch gleich sein lassen und zu einem anderen Zeitpunkt darauf zurückkommen.
Vermutlich sollte er sich eine Katze oder einen Hund anschaffen; ein Tier, das ihm Gesellschaft leisten konnte, so wie Ava es ihm ständig vorschlug. Dann hätte er an Abenden wie diesen etwas anderes zu tun als ruhelos durch die Gebäude zu streifen. Aber so seltsam es auch klang, er genoss diese … Wanderungen.
Außer ihm befand sich nur der junge Leonardo DeFiore in dem weitläufigen Komplex, der vor nicht allzu langer Zeit als Hausmeister angestellt worden war. Dennoch kam es hin und wieder vor, dass unerwünschte Besucher sich einfanden und sich für kürze oder längere Zeit einnisteten. Theodor hütete sich stets, sie hinauszuwerfen, aber es war ihm doch lieber, wenn er wusste, dass sie da waren, wer und wo sie waren.
Zu diesem Zweck hatte er einige Räume mit Betten ausstatten lassen, die von Obdachlosen, Vagabunden und anderen Schutzsuchenden genutzt werden konnten. Früher waren es mehr gewesen, aber inzwischen gab es weitere, besser geeignete Orte für solche Leute. Dafür hatte er gesorgt.
Trotzdem verirrten sich hin und wieder Personen in die Kirche oder eines der dazugehörigen Gebäude und nicht alle von ihnen mit guten Intentionen. Theodor fühlte sich sicherer, wenn er wusste, dass es nicht zu viele Schlupflöcher für sie gab.
Der Kirchenkomplex war in einer alten Lagerhalle, die man beinahe komplett überholt hatte, und einigen Anbauten untergebracht. Durch ein hohes Tor konnte man in den Innenhof fahren, von wo ein schmaler Weg in einen relativ großen Garten führte, in dem Theodor Gemüse zog und sogar ein paar Bäume stehen hatte und die Pflanzen gut gediehen.
Der Komplex war relativ alt, eine der ersten Kirchen, die auf den wachsenden Gebäuden errichtet worden waren, als die Städte begannen, in den Himmel zu schießen. Damals mochte es – trotz der ursprünglichen Nutzung des Hauptgebäudes – ein prächtiger Ort gewesen sein. Jetzt lag die Kirche selbst im Schatten der Türme.
Aber zumindest sorgte man dafür, dass die UV-Röhren, die eigentlich überall in den bewohnten Teilen der Stadt angebracht sein sollten und im Rhythmus der Sonne an und ausgeschaltet wurden, ersetzt oder repariert wurden, sobald sie ausfielen. Das war mehr, als manch anderer in diesem heruntergekommenen Viertel von sich sagen konnte.
Theodor schob die gut geölte Tür auf, die in den hintersten des inneren Sanktuariums führte. Einige Meter von ihm erhob sich der weiße Marmorblock des Altars, bedeckt mit einem sonnenscheingelben Tuch. Ein gedämpftes, silbernes Licht unter den hohen Fenstern, die über ihm in die Wände eingelassen waren, tauchte den Altarraum in einen schwachen Schein. Es war fast, als würden die Strahlen des von hier unten nicht sichtbaren Mondes durch die Fenster kommen. Der Rest des hohen Kirchenschiffes lag in Dunkelheit gehüllt.
Der Pater ließ kurz den Blick durch den Raum schweifen, in dem nur die Stufen vom Altarbereich hinunter und die ersten Reihen der Bänke noch sichtbar waren, ehe er wieder zum Tisch des Herrn selbst sah. Die Bibel, ein altes schweres Buch, lag dort, wo er sie gelassen hatte. Die Kerzen, die er stets für den Gottesdienst verwendete, waren jedoch umgekippt und einige lagen auf dem Boden verstreut. Zwei oder drei waren sogar zerbrochen.
Theodor runzelte die Stirn. Hatte er die Kerzen nicht richtig hingestellt? Ava und Leonardo – beides tief gläubige Menschen – würden sie niemals so auf dem Boden liegen lassen… Er trat näher, um sie wieder aufzuheben. Oder war jemand anderes hier gewesen? Die Tür stand bis zu einer gewissen Uhrzeit jedem offen, der hereinkommen wollte. Aber er konnte sich niemanden vorstellen, der bei dieser Gelegenheit ein paar läppische Kerzen vom Altar werfen würde.
Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn erschrocken herumfahren. An der Wand standen einige Kommoden, Schränke und Regale, in denen Zubehör für den Gottesdienst aufbewahrt wurde.
Und unter einem dieser Tische kauerte eine Gestalt.
Sein erster Reflex war, zu fliehen und die Polizei zu rufen. Sein zweiter, zu fragen, was die Person wollte. Aber er kam nicht zu einer Reaktion, als die Gestalt aus ihrem Versteck hervorkroch, die Hände zu einer Drohgebärde erhoben, alles an ihrer Haltung drückte Gefahr und Einschüchterung aus.
Aber es war nur ein Kind.
Auf den ersten Blick war nicht auszumachen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war – es war vollkommen schmutzig, das verfilzte, lange Haar völlig verdreckt und vermutlich auch verlaust, ebenso wie die behelfsmäßige Kleidung, die aus einer weggeworfenen Gardine bestehen musste. Die dürren Glieder ragten daraus hervor wie Streichhölzer, wenn auch erstaunlich kraftvolle. Der Gestank, der von dem ungewaschenen Körper ausging, war – wie nicht anders zu erwarten – regelrecht abstoßend.
Das Kind konnte kaum älter als sieben, acht Jahre sein, auch wenn es jünger wirkte, was auf Mangelernährung und Verwahrlosung zurückzuführen war. Die riesigen Augen schienen das schmale, spitze Gesicht zu beherrschen, grün und leuchtend wie die einer Katze und mit einer ebenso geschlitzten, senkrechten Pupille, die im Moment jedoch geweitet war, um das schwache Licht im Kirchenschiff auszugleichen.
Ein abergläubischerer Mensch hätte das Kind für einen Dämon halten können, mit den riesigen Eckzähnen in dem drohend geöffneten Mund und den weit ausgebreiteten, fledermausartigen Schwingen, die die Illusion von Größe erzeugen sollten, aber es doch nicht schafften.
Eine Bewegung lenkte Theodors Blick kurzzeitig auf den matt dunkelgrün geschuppten, langen Schwanz, der in einer gefährlichen Spitze endete, die geformt war wie die Kopf eines Bärenspießes und mindestens ebenso scharf wirkte.
Ein Mutantenkind.
Kein Wunder, dass es in einem solchen Zustand war…
Die Eltern mussten es ausgesetzt haben, als die körperliche Mutation zu Tage getreten war. So viel bekannte Mutanten es inzwischen auch gab, die wenigsten wurden positiv aufgenommen und kaum einer von ihnen hatte körperliche Veränderungen. Theodor selbst, der einige von ihnen zu seinen Schützlingen zählte, kannte nur einen vergleichbaren Fall und dieser hielt sich bedeckt.
Die Wissenschaft würde sich über so etwas freuen, aber bis hier unten in die Slums war sie noch nicht vorgedrungen. Es war nachvollziehbar, warum die Eltern es nicht haben wollten – sie wären Ausgestoßene der Gesellschaft, immer mit schiefen Blicken bedacht, immer auf dem Sprung, vielleicht sogar immer am Umziehen. Die Menschheit war einfach noch nicht bereit für diesen Schritt, den die Evolution für sie bereitgehalten hatte.
Theodor brach dennoch das Herz, als er das Kind ansah. Wer war so grausam, sein eigen Fleisch und Blut auszusetzen? Es einfach seinem Schicksal zu überlassen? Einem Schicksal, das sogar schlimmer sein mochte als der schnelle Tod, das gut und gerne in einem langsamen Verhungern oder in den Händen eines Lynchmobs enden konnte? Wie lange mochte es schon allein sein, auf der Straße leben und sich durchschlagen von dem, was es fand?
„Hallo.“, sagte er freundlich, ehe er überhaupt bewusst wurde, dass er zum Sprechen ansetzte. „Du hast dir aber eine ungewöhnliche Zeit ausgesucht, die Kirche zu besuchen.“
Das Kind zuckte perplex zurück und faltete die Flügel mit einem Ruck zusammen. Er musste es überrascht haben – war es denn nicht gewöhnt, dass man freundlich mit ihm sprach? Theodor versuchte es mit einem breiten Schmunzeln, aber die Antwort darauf war ein knurrendes Zähnefletschen, also regulierte er den Ausdruck hastig zu einem weniger bedrohlich wirkenden Lächeln. „Ich tu dir ganz sicher nichts.“, erklärte er, während er sich fragte, ob das Kind ihn überhaupt verstand. Es wirkte, als hätte es mehr tierische als menschliche Attribute. Wer wusste, wie lange es schon auf der Straße lebte und wie viel es sich noch an sein Leben vorher erinnerte?
„Versprochen.“ Er hob die rechte Hand wie zum Schwur.
Sein Gegenüber antwortete nicht, sondern zog sich noch einen Schritt zurück, aber viel weiter ging es nicht, denn dort waren die Möbel und dahinter die Mauer. Und wie bekam Theodor ihn nun dazu, dass er nicht gleich die Flucht ergriff?
Das Kind sah hungrig und müde aus und vermutlich hatte es hier Schutz vor dem Sturm gesucht, der draußen noch immer um durch die Straßenschluchten tobte. Er ließ kurz seinen Blick nach oben wandern, wo eines der Fenster halb aus der Angel hing. Ava musste es offen gelassen haben… Wenn diese Flügel tatsächlich nutzbar waren, war das die Erklärung, wie es hier hereingekommen war. Und wie bekam er es jetzt dazu, es nicht gleich wieder hinauszujagen? Er konnte doch kein Kind einfach so in diese Kälte lassen…
„Magst du einen Schokoriegel? Ich weiß, das ist nicht so gut für die Zähne, aber was soll’s?“ Er zog den besagten Gegenstand aus der Tasche und öffnete die knisternde Hülle. Schokoladenriegel waren seine Schwäche. Aber das zumindest zog die Aufmerksamkeit des Kindes auf ihn. Anscheinend waren ihm solcherlei Dinge bekannt. Oder vielleicht war es einfach der Geruch von Essen…
Theodor nahm einen kleinen Bissen unter dem gierigen Blick, der zeigte, dass nicht nur das schlechte Wetter sein Gegenüber plagte. Der Hunger war vermutlich sein ständiger Begleiter. „Hier, du kannst den Rest haben.“ Er streckte den Riegel aus, aber was folgte war nur ein kurzes Zucken. Hatte das Kind schon schlechte Erfahrungen gemacht? Vermutlich.
Nun gut, vielleicht sollte man so etwas langsam angehen? Er warf den Riegel vorsichtig hinüber. Gierige, schmutzstarrende, klauenbewehrte Hände fingen die Süßigkeit geschickt und blitzschnell auf. Theodor war vorhin gar nicht aufgefallen, dass seine Finger in regelrechten Krallen endeten, lang, spitz zulaufend und schwarz.
Der Schokoladenriegel verschwand so schnell in dem Mund des Kindes, dass er überrascht blinzelte. Doch bevor er noch etwas tun konnte, war es herumgefahren und auf die Kommode gesprungen, von der es einen schweren Kerzenständer und einige frisch gewaschene Altartücher hinunterwarf.
Es kletterte die Wand in einer Geschwindigkeit hoch, die beinahe unvorstellbar war, nutzte jeden noch so kleinen Spalt und jeden Riss, um sich mit Händen, Füßen und den beiden Spornen, die aus dem Gelenk seiner Flügel herauswuchsen wie Daumen, hochzuziehen. Einige Augenblickte später hatte es das offene Fenster erreicht und der Pater musste tatenlos zusehen, wie es sich hindurchschlüpfte.
Das letzte, was er von dem Kind sah, war die Spitze des Schwanzes, als es aus dem Fenster sprang.
Rockige Musik drang aus dem Gastraum in die geräumige, hell beleuchtete Küche hinüber, so dass Elisa wieder einmal mitsingen musste. Ray hatte die Anlage laut aufgedreht, da seine Kneipe im Moment sowieso geschlossen war. Darum stand auch die Tür zur Küche sperrangelweit auf, gehalten von einem gefüllten Putzeimer, damit der Luftzug durch die offenen Fenster durch das gesamte Erdgeschoss ziehen konnte.
Mit einem angewiderten Gesichtsausdruck warf Ray den Lappen, mit dem er soeben den hohen Tresen aus rötlichem Holzimitat geputzt hatte, in das Waschbecken direkt dahinter, und ließ kurz den Blick durch das große Zimmer schweifen. Die teilweise offen stehenden Milchglasfenster ließen das Licht der Sonnenlampen hindurch, so dass der Gastraum in ein freundliches Licht getaucht war. Auch die Sauberkeit trug dazu bei, dass die Kneipe mehr Gemütlichkeit ausstrahlte als andere Einrichtungen dieser Art, vor allem hier in der Gegend.
Das Renegade war sein ganzer Stolz. Vielleicht war er selbst nicht der Typ, den man hinter einer solchen Kneipe vermutete, aber es steckte doch etwas sehr befriedigendes darin, die Schenke zu betrachten, zu sehen, wie gut sie trotz der miesen Nachbarschaft ging, und zu wissen, dass es sein Verdienst war. Dass er das hier aufgebaut hatte.
Einige Stufen führten von der Tür in den mit Dielen ausgelegten Gastraum hinunter. Rechts davon zog sich der Tresen über die gesamte Länge der Wand. Gegenüber befand sich eine winzige Bühne, auf der es manchmal sogar Liveauftritte und vor der es eine kleine Tanzfläche gab.
Der Rest war vollgestellt mit Tischen, Stühlen, Bänken und Sofas. Einige robuste Pflanzen und hölzerne Paravents dienten als Raumteiler, so dass ein paar Nischen separat und isoliert wirkten. Die Wände wurden von Plakaten diverser Shows und Kinofilme, die teilweise schon Jahrzehnte alt waren, geziert und hinter dem Tresen hing ein breiter Spiegel.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass seine Aufgabe im Gastraum erfüllt war, kehrte Ray ihm den Rücken und wanderte in die Küche hinüber. Es war eine typische Küche für so ein Lokal. Ablageflächen, Spülbecken, -maschinen und Herdplatten waren an strategisch klugen Orten verteilt. Boden und Wände waren weiß gekachelt und an der Decke zogen sich lange Neonleuchten entlang. In einer Ecke gab es einen Kühlraum und zwei weitere Türen führten hinaus – eine in den Hinterhof, eine in die Hinterzimmer.
Elisa stand an einer der spiegelnden Schneideflächen und fuhr ein letztes Mal mit dem Handtuch darüber. Obwohl sie keine sonderlich gute oder gar begeisterte Köchin war, hielt sie die Küche selbst blitzblank. Aber das Renegade war sowieso kein Ort, in den man zum Mittagessen kam, und die meisten Besucher aßen neben den allgegenwärtigen Salzbrezeln und Nüssen, wenn überhaupt, meistens die angebotenen Sandwiches und belegten Brötchen.
Die ‚Köchin‘ selbst war eine kleine, sehr zierliche Frau, die auf der Straße Blicke anziehen würde, wenn sie gekleidet wie jetzt – in einem Top und Hotpants – hinausgehen würde. Nicht, weil sie so außerordentlich schön war, sondern weil ihre Mutation derartig deutlich war.
Der größte Teil ihres Körpers war bedeckt von samtig aussehendem, leopardenfleckigem Fell. Ihre Füße endeten in pfotenartigen Tatzen, so dass sie von Natur aus auf Zehenspitzen ging, und auch ihre Hände endeten in schwarzen Krallen, die sie fein säuberlich zurechtfeilte. Ein langer Schwanz ragte über dem Bund ihrer Hosen und ihre Ohren waren pelzige Leopardenohren, die sich jetzt in seine Richtung drehten. Das lange, gelbbraun und schwarz gesträhnte Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten.
„Wir müssen mal wieder an Geschirr aufstocken.“, bemerkte sie ohne sich umzudrehen. „Was hier alles zu Bruch geht, ist schon verrückt.“
Ray zuckte mit den Schultern. „Haben wir von vorn herein gewusst. Das hier ist halt nicht die Gegend für Meißner Porzellan und Silberlöffel. Machst du die Bestellung?“
„Ich gebe dir eine Liste.“, war ihre spröde Antwort und sie beförderte ihr Handtuch in den Karton, den sie als Wäschekorb missbrauchten, ehe sie sich die Hände wusch. „Außerdem hat gestern Kaleb angerufen. Du sollst dich heute Abend melden.“
Kaleb war ein alter Freund, ein weiterer Mutant. Ray kannte ihn schon lange, er war einer der ersten gewesen, die er getroffen hatte, damals, als er noch beim Militär gewesen war und normal. Er nahm kurz die blickundurchlässige Sonnenbrille ab und rieb sich die Nasenwurzel. „In Ordnung.“
Ein Klopfen auf dem Tresen zog die Aufmerksamkeit von beiden in den Gastraum und auf die massige Gestalt, die dort aufgetaucht war. Es war ein großer, breiter Mann mit einem kleinen Bauchansatz. Sein kurzes, hellbraunes Haar war sauber frisiert und die grauen Augen in dem freundlichen Gesicht waren scharf und intelligent. Er trug einfache Kleidung und gab im Allgemeinen den Eindruck eines freundlichen, gemütlichen Bären.
„Pater!“ Elisas erfreuter Ausruf schnitt jede Begrüßung, die Ray auf der Zunge lag, im Ansatz ab. Die Leopardenfrau flankte mit einer lässigen Bewegung über den Herd und huschte hinüber, um den Geistlichen kurz in den Arm zu nehmen. „Wie schön, Sie mal wieder zu sehen. Wie geht es Ihnen?“
„Gut, danke, Elisa. Wie ich sehe, geht es euch hier auch noch ziemlich gut.“ Der Pater blickte sich mit anerkennendem Blick im Raum um. „Ich wundere mich ja immer noch, dass der Laden so gut läuft.“ Er schmunzelte leicht. „Wenn man sich die Gegend so ansieht…“
„Wir haben halt unsere Geschäftsgeheimnisse.“, erklärte Elisa grinsend.
Ihr Gegenüber lachte. „Ja, Neutralität in jeglichen Ganggeschichten und eine Flinte und ‘ne Halbautomatische unter dem Tresen. Ich kenn eure sogenannten Geheimnisse.“
Ray gesellte sich zu ihnen und stützte sich auf den Tresen. „Und der beste Alkohol in der Gegend.“, fügte er zu der Aufzählung hinzu. „Hat dein Besuch einen besonderen Grund oder bist du einfach zum Spaß hier, Theodor?“
„Traust du mir nicht zu, alte Freunde einfach mal zu besuchen?“
Ray zog eine Augenbraue hoch und legte den Kopf schief. „Zur Zeit?“
„Du hast doch so viele Projekte laufen.“, erklärte Elisa und glitt auf einen der mit weinrotem Lederimitat bezogenen Barhocker. Manche ihrer Bewegungen wirkten, als hätte sie keinen Knochen im Leib, die natürliche, mühelose Eleganz der Raubkatze. „Du bist doch so beschäftigt.“
Theodor winkte ab. „Eigentlich sollte ich dennoch freie Zeit für meine Freunde erübrigen, denke ich.“ Er seufzte und wuchtete sich auf einen der Hocker. „Aber du hast Recht, ich hatte einen bestimmten Grund für meinen Besuch.“ Nachdenklich rieb er die Hände zusammen und schien zu überlegen, wie er am besten anfangen sollte.
„Wollen Sie etwas essen?“, half Elisa ihm über die Stille hinweg, aber der Pater lehnte dankend ab. „Ich bin nachher noch eingeladen. Und lasst uns zu meinem Thema zurückkommen.“ Er warf einen Blick zu dem hochgewachsenen, schwarzhaarigen Mann hinter dem Tresen. „Aber bitte nimm vorher diese Brille ab, ich sehe meinem Gegenüber gern in die Augen, wenn ich mit ihm spreche.“
Zögerlich folgte Ray der Aufforderung. Die blickdichte Sonnenbrille wirkte wie ein Schutz, den es für Elisa nicht gab. Er hatte Glück – bei ihm hatten sich nur die Augen verändert, waren sie im Moment doch nur scheinbar bodenlos und völlig schwarz, Pupille, Iris und sogar die Sklera.
Oder vielleicht war es Pech. Bei anderen Mutanten hatte sich der Körper überhaupt nicht verändert; sie lebten nur in ständiger Furcht, dass sie ihre besonderen Fähigkeiten preisgaben. Für Ray selbst wurde die dunkle Brille daher zu einer Selbstverständlichkeit, einem obligatorischen Accessoire, für das er oft genug schräge Blicke bekam, aber über das sich selten jemand zu beschweren wagte.
Darum war es für ihn jedes Mal seltsam, die Welt so plötzlich ohne die schützende, verdunkelnde Barriere der Gläser zu sehen und in ein paar Farbtönen heller. Aber in diesem Zustand war die Welt für ihn sowieso grau und weiß und schwarz – Farbe gaben diese schwarzen Augen nicht mehr her.
Doch Theodor ließ sich von dem durchdringenden Blick aus den rabenfarbenen Augen nicht verunsichern, sondern nickte zufrieden und setzte an: „Ich bekomme seit einigen Tagen immer wieder Besuch. Es ist eines der Straßenkinder.“
„Und was interessiert uns das?“, wollte Ray wissen. „Da draußen gibt es Horden von solchen Kindern. Diese Banden sind eine Plage.“
Theodor warf ihm einen missbilligenden Blick zu, aber er sagte nichts auf die abfälligen Worte. „Dieser Junge ist anders. Erstens ist er keine zehn Jahre alt und ich glaube nicht, dass er einer der Gangs angehört. Außerdem ist er Mutant. Ich … habe selten eine so starke körperliche Mutation gesehen und noch nie bei einer so jungen Person. Ich vermute, die Eltern haben den Jungen vor einigen Jahren bereits ausgesetzt und natürlich hat ihn niemand anderes aufgenommen. Ihr könnt euch sicher vorstellen, in welchem Zustand der Junge jetzt ist.“
„Oh mein Gott.“, murmelte Elisa. „Wer kann so etwas seinem eigenen Kind antun?“
Theodor lächelte müde. „Es erstaunt mich gar nichts mehr. Die menschliche Furcht ist genauso endlos wie der menschliche Mut. An was du gerätst, das ist allerdings immer die entscheidende Frage. Eine andere Familie hätte ihn vielleicht geschützt.“
„Können wir etwas tun? Wie geht es dem Kind? Kann ich es vielleicht untersuchen auf irgendwelche Krankheiten oder so?“
„Vielleicht zu einem andere Zeitpunkt. Bis jetzt lässt er sich noch nicht einmal von mir berühren und der Weg zum Vertrauen des Jungen scheint definitiv durch seinen Magen zu führen. Aber das spielt keine Rolle – kommt Zeit, kommt Rat und ich werde ihn sicher nicht weiterhin sich selbst überlassen.“
„Aber in der Kirche kann er nicht bleiben, nicht wahr?“, wandte Ray ein. Elisa mochte besorgt um das Kind sein, wer immer es auch war, ihm dagegen gefiel gar nicht in welche Richtung das Gespräch lief. „Wir sind hier keine Auffangstation für hilflose Mutanten.“, knurrte er darum.
„Es ist ein Kind, Ray!“, begehrte der Pater auf. „Und ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden könnte.“
„Ist das mein Problem?“
„Ray!“, fauchte Elisa. Wenn es um Kinder ging, wurde die normalerweise so sanfte Frau zu einer Furie. Anscheinend selbst bei Kindern, denen sie noch nie persönlich begegnet war.
„Hör zu, Ray“, begann der Pater. „ich werde nichts verlangen was du – ihr – nicht zu leisten bereit oder im Stande seid. Aber ich bitte dich, gib der Sache wenigstens eine Chance.“ Er räusperte sich kurz. „Wenn der Junge es überhaupt zulässt. Momentan erinnert er mich eher an ein wildes Tier denn einen Menschen.“
Gegen die Macht der vorwurfsvollen, bittenden Blicke Elisas und Theodors hatte Ray keine Chance. Außerdem… Außerdem wusste er wie es war, in einer Welt wie dieser Mutant zu sein.
„Also gut. Ich schau mir das mal an. Aber ich mache keine Versprechungen.“
Die Kirchenbänke, entschied Ray, waren ein Beweis für Theodors überragende Fähigkeit, seinen Gottesdienst aufregend und interessant zu gestalten. Durch ihre Ungemütlichkeit schlugen sie jeden in die Flucht, der nicht aus Überzeugung, Freude und eigenem Antrieb hier war. Es erstaunte ihn jedes Mal aufs Neue.
Er war schon öfter hier gewesen, eher selten zu einem Gottesdienst selbst, da er der Religion nicht viel abgewinnen konnte, sondern eher zu einem Gespräch mit dem Pater. Theodor Carlton war eine der wenigen Personen, die er als einen echten Freund bezeichnen würde.
Aber noch nie war es mitten in der Nacht gewesen, mit beinahe dem gesamten Kirchenschiff in Dunkelheit gehüllt. Nur über dem Altar leuchtete ein einzelnes, silbernes Licht, das jedoch nicht weit reichte.
Doch Ray störte sich nicht daran. Seine Mutation befähigte ihn dazu, zwischen verschiedenen ‚Sichtweisen‘ zu wechseln. Die, die er für jetzt gewählt hatte, erlaubte ihm, in der Dunkelheit zu sehen, was ihn stark an die Nachtsichtgeräte erinnerte, die sie im Militär verwendeten. Alles war gut zu erkennen, aber mit einem dunklen Grünschimmer überzogen. Er hatte die dunkle Sonnenbrille neben sich liegen, da sie im Moment nur stören würde und außerdem sowieso niemand da war, der über den Anblick seiner Augen schockiert sein würde.
Und das dunkle Grün, das seine Augäpfel angenommen hatten, war in der Dunkelheit der Kirche kaum zu sehen. Direkt neben der dunkel getönten Brille lag eine zusammengefaltete Decke, die für den nächtlichen Gast gedacht war.
Außer ihm und dem Pater selbst hatte sich das Kind eingefunden, von dem der Geistliche gesprochen hatte. Theodor hatte nicht übertrieben, als er gesagt hatte, dass der Junge verwahrlost war und eher einem Tier denn einem Menschen ähnelte.
Allerdings deuteten die Kleidung, so behelfsmäßig sie auch war, und der zweibeinige Gang darauf hin, dass er die ersten Jahre seines Lebens in menschlicher Gesellschaft zugebracht haben musste und nicht von irgendwelchen Tieren großgezogen worden war, wie man öfter hörte. Ob solche Geschichten wahr waren, konnte Ray nicht sagen, aber das spielte keine Rolle. Die Frage war nur, wie viel von der Menschlichkeit überhaupt noch übrig war…
War es dem Kind überhaupt möglich, in ein ‚normales‘ Leben zurückzukehren? Wie lange war der Junge schon auf der Straße? War er überhaupt noch zu retten oder wäre es gnädiger, ihn einfach sich selbst zu überlassen oder ihm gar die Kugel zu geben?
Ray fand derartig moralische Fragen immer schwierig, aber wenn es sein musste, würde er es tun ohne den Pater oder Elisa damit zu belasten. Momentan wies allerdings nichts auf diese Notwendigkeit hin, denn der Junge verhielt sich ziemlich vernünftig, trotz der bizarren Geschwindigkeit, mit der er gierig das Essen in sich hineinstopfte, das Theodor ihm mitgebracht hatte.
Der Pater hockte neben ihm am Boden und unterhielt sich leise mit ihm, während das Kind dem Fremden im Raum misstrauische Blicke zuwarf. Allerdings rührte es sich nicht, was vielleicht auch daran lag, dass Ray seinen Abstand hielt und keine bedrohlichen Bewegungen machte. Doch der saß nur da und sah zu, während das Kind sein Mahl herunterschlang und Theodor ein Stück daneben saß und mit ihm sprach.
Es waren belanglose Kleinigkeiten, die er sagte, aber Ray schätzte, dass es weniger auf den Inhalt ankam – von dem sowieso nicht abzusehen war, ob der Junge ihn verstand – sondern eher auf den Klang der Stimme und den Tonfall. Aufzuregen schien es ihn jedenfalls nicht.
Oder vielleicht lag die misstrauische Ruhe des Kindes auch nur darin, dass Theodor es Ray sofort vorgestellt hatte, dass er ihn mitgebracht hatte und Ray kein Überraschungsgast war. Und die einfarbigen Augen waren ebenfalls besonders genug, dass sie einen zweiten Blick wert gewesen waren.
Der Junge war wirklich ein jämmerlicher Anblick. Die Verwahrlosung stand ihm nicht gut zu Gesicht und seiner Familie noch weniger. Ray erwischte sich dabei, sich die Frage zu stellen, die Elisa schon früher in Worte gefasst hatte: Wer konnte zulassen, dass mit seinem eigenen Kind derartiges geschah?
Das war fast, als würde man ihm selbst die Pistole an die Stirn setzen und abdrücken. Ein weniger freundlicher oder ein ängstlicherer Mensch als der Pater hätte den Jungen einfach erschossen, wenn er ihn in seiner Wohnung gefunden hätte, und niemand hätte ihn dafür belangt. Der Junge war nur ein Mutant und auch noch dazu eines von den zahlreichen Straßenbandenkindern, über die sich jeder beschwerte, aber gegen die niemand etwas tat.
Zumindest nichts Wirksames, Dauerhaftes – eingesperrt und verjagt wurden sie immer, aber niemand kümmerte sich um die Ursachen, warum sie überhaupt da waren. Niemand weinte ihnen eine Träne nach, wenn ihnen etwas geschah, und jede Gerichtsverhandlung um sie geriet zu einer Farce. Bei Mutanten war es noch schlimmer – ein solcher Fall würde niemals im Gerichtssaal enden.
Theodor dagegen war ein kluger, verständiger Mann. Es war schon ein seltsamer Zufall, dass der Junge ausgerechnet in die Saint Bridget Church gestolpert war und keinen der zahlreichen anderen, scheinbar sicheren Unterschlüpfe gewählt hatte. Auch wenn Ray und der Pater sich nicht immer einer Meinung waren, bei manchen Dingen stimmten sie überein. Dass ein Kind kein solches Leben haben sollte, war eines dieser Dinge.
Ray seufzte und fuhr sich durch das Haar. Hatte er sich gerade selbst verpflichtet, sich des Kindes anzunehmen? Verdammt… Dass es nicht hier in der Kirche bleiben konnte, war ihm klar, selbst wenn Theodor alles versuchen würde. Und jemand anderes würde sich wohl kaum finden lassen, der sich die Sache überhaupt ansehen würde. Da blieb nur noch er.
Wenigstens hatte er Elisa. Die würde schon wissen, was zu tun war. Immerhin fielen derartige Dinge doch genau in ihre Expertise. Warum war Theodor damit überhaupt zu ihm gekommen und hatte sich nicht gleich an die Frau gewandt? Sie hätten ihn vor vollendete Tatsachen stellen können, dann wäre jeder Einwand von seiner Seite aus müßig.
Aber wahrscheinlich war genau das der Grund. Theodor war niemand, der einfach Leute ignorierte, über ihren Kopf hinweg entschied und lieber den schwereren Pfad wählte, wenn es der richtige war. Vermutlich steckte jedoch noch ein weiterer, wichtigerer Grund dahinter. Oder er hatte gewusst, dass Ray, wenn eine Chance da war, den Jungen niemals sich selbst überlassen würde?
Ray seufzte und blickte auf, als der Pater zu ihm kam. In Theodors Augen stand ein forschender Blick und Ray wusste genau, was die Frage dahinter war. Aber im Moment hatte er nur eine Antwort darauf. Er zuckte die Schultern und hob die Decke hoch, um sie zu dem Geistlichen zu werfen.
Dann nahm er seine Brille wieder an sich und erhob sich, um den Mittelgang hinunterzugehen und die Kirche zu verlassen. Kam Zeit, kam Rat. Im Moment mussten sie einfach Geduld haben und hoffen, dass der Junge sich in der Zwischenzeit nicht irgendwie umbrachte.
Seltsamerweise ließ der Junge ihn nicht mehr los. Ray hätte gedacht, dass er wieder in seinen Alltag zurückfallen würde mit sporadischen Updates über das Kind, die er von Theodor bekommen würde. Aber er fand sich jeden Abend vor den Toren der Saint Bridget Church wieder um einige Stunden dort zu verbringen.
Schließlich war er es, dem der Pater einfach das Tablett mit dem Essen in die Hand drückte und in den Altarraum schickte. Am zweiten Abend hatte Ray sich gefragt, warum der Pater zuließ, dass es ausgerechnet dieser Ort war, der heiligste im gesamten Komplex. Doch er hatte nicht gefragt – Theodor hatte seine Gründe.
Der Junge sprach nie ein Wort und Ray fand es überflüssig, die Stille zu brechen, die über dem Kirchenschiff lag. Er war nicht Theodor, er hatte andere Methoden. Und der Junge schien ihn inzwischen ebenso zu akzeptieren wie den Pater. Er hatte ihm sogar einmal, vor kurzem erst, erlaubt, den Kopf zu scheren – vermutlich, weil ihm das Ungeziefer in dem verfilzten Haar gestört hatte – und jetzt hatte sich schon wieder die Anfänge von braunen Stoppeln gebildet, beinahe wie Flaum.
Aber schon allein die Tatsache, dass ihm das wichtig war, bereitete Ray Sorgen. Er war kein Menschenfreund aus Prinzip, er war Realist, er war Pragmatist und er hatte keine falschen Illusionen über die Güte und Schönheit der Welt. Die Welt war ein hässlicher, grausamer Ort, vor allem durch die Mithilfe der Menschheit, und dass das Leben so weit gekommen war, war an sich schon ein Wunder. Oder ein Zufall, ganz wie man es nennen wollte.
Ray verzog die Lippen zu einem dünnen Grinsen – er und Theodor waren sich in diesem Punkt nicht einig – und schob sein Sandwich in die Manteltasche. Er duckte sich unter einem alten Torbogen durch und sprang einen Meter nach unten auf den Pfad dort. Die Stadt war im Laufe der Jahrzehnte gewachsen, beinahe wie ein lebendiges Wesen, und manche Straßen oder Ebenen waren verlassen und links liegen gelassen oder überbaut worden.
Einige davon waren noch als Abkürzungen nutzbar, so wie dieser schmale Durchgang, der in eine Hintergasse führte. Die Lampen funktionierten hier nicht mehr, weswegen sie in einem düsteren Dämmerlicht lag, und sie stellte einen Abstellplatz für einige Müllcontainer am anderen Ende dar.
Ray machte sich nicht die Mühe, in eine andere Sicht zu wechseln, sondern schob sich nur die Sonnenbrille in das wirre, schwarze Haar. Es war sowieso niemand da, den das Aussehen seiner Augen stören würde. Die Gebäude links und rechts waren höchstens von Obdachlosen und Junkies bewohnt, die sich, wenn es nicht um bares Geld ging, nur um ihre eigenen Sachen kümmerten. Und so, wie die Fenster hier vernagelt waren, war ein Blick nach draußen nur schwer möglich.
Ray schob einige Steine mit dem Fuß beiseite und stieg über einige Metallstangen, ehe er sich auf den Weg zum anderen Ende der schmalen Passage machte, zwischen Abfall und Trümmern hindurch. Anscheinend wurde auch das tote Ende der Gasse inzwischen als Müllablageplatz verwendet. Wie nett.
Ein nasses, platschendes Geräusch ließ ihn überrascht aufblicken. Es kam von den Mülleimern… Ein Obdachloser auf der Suche nach einem hinausgeworfenen Stück Kleidung, ein Straßenkind, das darauf hoffte, ein paar essbare Reste von Mahlzeiten zu finden, ein Junkie, der sich in einem der Container ein Loch baute, in das er sich verkriechen konnte? Am besten machte er einfach einen so großen Bogen wie möglich um die großen Müllbehälter. Er wollte keinen Ärger und er machte keinen Ärger, dann bekam er in der Regel auch keinen Ärger. So einfach war das.
Das laute, wütende Quieken einer Ratte ließ ihn abrupt innehalten, keine fünf Meter von dem Container entfernt. Ein lautes Fauchen folgte und etwas krachte gegen die metallene Wand des Behälters und das Geschrei der Ratte brach abrupt ab. Kurz darauf ertönte das Kratzen von Krallen auf Metall und dann kletterte jemand auf den oberen Rand des Containers.
Es war der Junge und er hatte das tote Tier im Mund wie eine Katze ihre Beute. Frisches Blut zeichnete leuchtend rote Flecken auf sein schmutziges Tuch und ein ebenfalls rotes Rinnsal lief sein Kinn hinab.
Ray zog eine Augenbraue hoch. Er hatte sich manchmal gefragt, ob der Junge sich wie die anderen Straßenkinder von Abfällen und Diebesgut ernährte oder von was er sonst lebte. Jetzt hatte er seine Antwort. Vermutlich sollte er sich nicht wundern, höchstens darüber, dass sie beide sich so zufällig über den Weg liefen.
„Das sieht nicht sonderlich schmackhaft aus.“, erklärte er dem Kind, das ihn anstarrte. Doch der Blick war nicht misstrauisch oder erschrocken, eher … überrascht. Als hätte es nicht erwartet, hier ein bekanntes Gesicht zu treffen.
Bei dieser Verwunderung war es allerdings nicht alleine. Ray hatte sich immer gefragt, wo es sein Revier hatte und lebte. Irgendwo musste es ja sein, aber hier war es ihm noch nie aufgefallen. Vielleicht war es neu hier. Vielleicht hatte jemand es aus seinem alten Revier vertrieben. Vielleicht war es deswegen zu Theodor in die Kirche gekommen, damit der Pater sich ihm annehmen konnte. Vielleicht waren das ein wenig zu viele Zufälle.
Auf der anderen Seite hatte Ray schon Verrückteres erlebt und war manchmal tatsächlich so weit, an eine lenkende Hand zu glauben. Wie sagte Theodor immer? Gottes Wege sind unergründlich.
Ein lauter Ruf von der Straße riss die Aufmerksamkeit des Kindes auf sich und es starrte für einen Moment die kleine Gasse hinunter, ehe es vom Container sprang und sich dahinter in Sicherheit brachte. Kluger Junge – lieber keine Aufmerksamkeit von feindlich gesinnten Leuten auf sich ziehen. Aber er lief nicht weg und das wertete Ray als gutes Zeichen. Denn es gab nur einen Grund, warum er hier bleiben würde: weil Ray hier war.
Der Mann lehnte sich neben ihm an den Container und zog die Plastiktüte mit seinem Sandwich aus der Tasche. „Willst du ein Stück?“, fragte er das Kind, das die Augen sofort darauf heftete. „Ist bestimmt schmackhafter als die Ratte.“ Er riss das Sandwich in der Mitte auseinander.
Ein Stück blassrote Tomate fiel dabei auf den Boden, aber so schnell konnte nicht einmal Ray schauen, wie es aufgelesen und gegessen wurde. Ray hätte beinahe angemerkt, dass es sicher nicht gesund sein konnte, etwas, das auf diesem Boden gelegen hatte, zu schlucken. Aber das Kind aß frisch erlegte Ratten und wie es aussah, machte er sich nicht die Mühe, sie vorher zu kochen. Und auch daran hatte er sich noch nicht den Magen verdorben. Vermutlich kam mit Krallen und Reißzähnen und Raubtieraugen auch diese Fähigkeit.
„Weißt du, vielleicht ist es jetzt langsam an der Zeit, dass du mir deinen Namen verrätst. Ich meine, wir teilen hier brüderlich mein Essen und ich glaube, den Pater nervt es inzwischen, dass er sich mit jemanden unterhält, der genauso gut aus Stein sein könnte, was Antworten angeht.“ Das war nicht ganz wahr, aber auch nicht ganz gelogen. Theodor nervten sehr, sehr wenige Dinge. Aber langsam frustrierte er an dem stoischen Schweigen des Kindes. Doch Zweifel hatte er noch immer nicht an seiner Überzeugung.
Doch der Junge antwortete nicht auf die Bemerkung und Ray zuckte einmal mit den Schultern. Ein Versuch war es wert gewesen. Er reichte dem Kind die eine Hälfte des Sandwiches und biss in die andere. Trotz, dass sein Teil schon angegessen war, war sein ‚Tisch’nachbar schneller fertig, was ihn aber nicht sonderlich verwunderte. Glücklicherweise machte der Junge sich nicht gleich im Anschluss über die Ratte her.
„Seit wann bist du hier in der Gegend?“, wollte Ray schließlich im Plauderton wissen und blickte auf das Kind hinunter. Es hatte die Beine an den Körper gezogen und malte mit einem Finger im Straßendreck herum. Jetzt blickte es auf, das Gesicht nachdenklich verzogen. Dann hob es die Finger, als würde es daran die Tage abzählen wollen.
Ray hob verblüfft eine Augenbraue. Das war eine der größten Reaktionen, die er oder Theodor je aus dem Kind herausgekitzelt hatten. Anscheinend verstand es sie doch. Wenn es jetzt auch noch die Tage zählen konnte, würde Ray den Jungen jetzt sofort ins Renegade mitnehmen und ihn Elisa in die Hand drücken.
Aber die einzige Antwort war ein verwirrtes und gleichzeitig indifferentes Achselzucken. Also doch nicht.
„Naja, ist ja auch egal.“ Er wandte die Augen von dem Kind ab und ließ den Blick durch die Straße schweifen. Jemand hatte eine der Hauswände mit vulgärem, aber äußerst einfallsreichem Graffiti beschmiert und Ray grinste über die Worte, ehe er das einseitige Gespräch fortführte. „Und wo warst du so davor?“
Es dauerte eine Weile, in der Ray drei Bissen nehmen konnte, aber schließlich hob der Junge eine Hand und deutete in eine vage Richtung. Eigentlich spielte die Antwort auch keine Rolle. Dass er antwortete, das war wichtig.
„Mh-hm.“, machte Ray, schob sich das letzte Stück seiner Mahlzeit in den Mund und wischte sich die Hände an seiner Jeans ab.
„Kerish.“ Die wenig genutzte, raue, aber dennoch so verdammt junge Stimme ließ ihn beinahe zusammenzucken. Für einen Moment war ihm nicht klar, wer gesprochen hatte und was das Wort bedeuten sollte. Das Kind blickte zu ihm auf und dann wieder weg. Außer ihnen beiden war niemand da.
Und es war so logisch.
Ray gestattete sich ein Lächeln, kurz nur, aber … erleichtert? Erfreut? Er konnte das Gefühl nicht zuschreiben. Der Junge – Kerish, das war sein Name – nahm seine Ratte auf und rappelte sich hoch, während der Mann sich von dem Container abstieß, an dem er gelehnt hatte. „Wir sehen uns, Kerish.“, verabschiedete Ray sich und schaute kurz zu, wie der Junge sich in die Richtung eines besonders großen Haufens Müll davonmachte. Ein Unterschlupf? Ein Durchgang?
Doch Ray wandte sich ab und ging die Straße hinunter. Er sah nicht zurück. Das Kind konnte eigentlich ziemlich gut auf sich selbst aufpassen.
Wasser floss in kleinen Bächen über den Hof und ergoss sich in regelrechten Fällen, die hart auf den Asphalt platschten, von den Ebenen über der Saint Bridget Church. Diesmal war der Sturm mit Regen, Blitzen und Donner gekommen, die durch die Stadt grollen wie biblische Bestien.
Theodor hatte sich wieder in seine Buchführung vergraben, aber heute kam er deutlich besser voran. Er saß, wie ein prüfender Blick auf die Uhr verriet, schon über zwei Stunden konzentriert an dieser Aufgabe.
Die großen UV-Lampen, die den Ebenen Helligkeit spendeten, hatte man ausgeschaltet, dafür gaben einige kleinere Straßenlaternen Licht. Theodor fragte sich manchmal, was das für einen Zweck hatte – wollten die Oberen der Stadt so sehr die Natur imitieren, dass sie selbst auf solche Dinge Rücksicht nahmen? Sein kleines Büro war in goldenes Licht von der Deckenlampe getaucht und leise Jazzmusik dudelte aus der kleinen Anlage, die im Regal stand.
Theodor blickte noch einmal auf die Uhr über der Tür, unterstrich die letzte Bilanz und klappte seine Bücher zu. Für heute hatte er genug getan – Morgen war auch noch ein Tag. Jetzt würde er erst mal nachsehen, was Ava für ihn gekocht hatte und dann, ob er dieses Essen mit einer gewissen Person teilen konnte. Und diese Mahlzeit würden sie ganz sicher nicht im Altarraum einnehmen. Heute würde er den Jungen – Kerish, ermahnte er sich; Ray hatte ihm von dem Treffen in der Gasse erzählt – ganz sicher nicht mehr nach draußen lassen. Nicht bei diesem Wetter.
Theodor war erstaunt gewesen, wie stark der sonst so distanzierte Barbesitzer auf den Jungen reagierte. Er hätte sich nie zu hoffen gewagt, dass da tatsächlich so ein starkes Band entstand und schon gar nicht so schnell. Eigentlich hatte er trotz allem eher auf Elisa gebaut als auf Ray.
Aber vielleicht sah der Mutant mit den einzigartigen Augen eine Verbindung zu Kerish, die sonst niemand sah. Ray hatte immerhin viel aufgegeben, als seine Augen ihr Aussehen verändert und diese Fähigkeiten angenommen hatten und er untergetaucht war. Theodor wusste nichts genaues, aber Ray hatte für einen so jungen Mann einen relativ hohen Grad im Militär innegehabt, mit einer glänzenden Aussicht auf eine weiterhin steile Karriere und mit dem Willen, diese auch durchzuziehen.
Die Mutation hatte ihm alles genommen.
Dem Jungen ging es nicht anders, auch wenn es nicht seine Entscheidung gewesen war, gewesen sein konnte. Vermutlich hatte er nicht einmal verstanden, warum seine Eltern, die ihn bis dahin geliebt und umsorgt haben mussten, ihn ausgesetzt und verstoßen hatten. Wie konnte er? Er war doch jetzt noch ein Kind und nach allem, was sie herausgefunden hatten, lebte er schon Jahre auf der Straße.
Und er hatte es nicht geschafft, sich wieder aufzurappeln, nicht wie Elisa, die sich im Verborgenen hielt, aber dennoch ihrer Berufung nachgehen konnte. Nicht wie Ray, der sich das Renegade aufgebaut hatte, an dem inzwischen sein Herz hing. Nicht wie all die anderen, die gekommen waren und Hilfe von Theodor bekommen hatten.
Nein, der Junge war auf der Straße gelandet und Theodor sollte verdammt sein, wenn er ihn da nicht rausholte. Ray ging es vermutlich nicht anders – vielleicht wollte er, trotz aller harten Worte, Kerish nur die helfende Hand reichen, die ihm selbst niemand entgegengestreckt hatte.
Der Pater schob den Gedanken beiseite, jetzt war nicht der Zeitpunkt, darüber nachzudenken. Er schaltete die Anlage um, dass die Musik jetzt in der Küche spielte, knipste das Licht aus und steuerte auf seine Küche zu. Ava hatte ihm, wie ein kurzer Blick zeigte, Gulasch mit Kartoffeln und grünen Bohnen gekocht und wie es aussah, reichte die Portion für zwei.
Er schob das Essen in die Mikrowelle, holte Geschirr heraus und stellte nach kurzem Überlegen auch noch Brot auf den Tisch. Danach machte er sich, bewaffnet mit einem Handtuch und einer Decke, auf den Weg in den Altarraum.
Wie er vermutet hatte, kauerte die kleine Gestalt des Kindes bereits vor dem Altar. Kerish zitterte am ganzen Körper und hatte seine Decke um sich geschlungen, jene, die Theodor ihm gegeben hatte. „Gut, dass du den Weg hereingefunden hast, mein Junge.“, erklärte der Pater und erwiderte den Blick aus den grünen, in der Dunkelheit beinahe glühenden Augen. „Hier ist ein Handtuch, trockne dich damit ab.“ Damit hielt er dem Jungen besagten Gegenstand unter die Nase.
Nach kurzem Zögern griff Kerish danach, aber er schien nicht zu wissen, was genau er damit anfangen sollte. Erst, als Theodor den lang herunterhängenden Zipfel nahm, und ihm damit durch das kurze Haar rieb und die Nässe aus seinem Gesicht, schien er zu verstehen, was von ihm verlangt wurde. Dann begann er, sich das Regenwasser aus den Haaren und dem Gesicht zu reiben.
Auf dem weißen Handtuch blieben Schmutzflecke zurück, aber das hatte Theodor erwartet. Die Schmutzschicht, die an dem Jungen haftete, musste mit jedem Tag dicker werden, denn in dieser Hinsicht war Kerish wie jedes andere Kind – es kümmerte ihn einfach nicht. Und da er niemand hatte, der sich um ihn kümmerte, hatte er sicher seit Jahren kein Bad mehr genommen.
„Hier ist eine warme Decke.“, erklärte er dem Jungen, nachdem er ihm das Handtuch wieder abgenommen hatte. „Und ich habe auch essen. Was hältst du davon?“
Kerish blickte ihn ernst an, dann zupfte ein leises, unsicheres Lächeln seine Mundwinkel nach oben und das ließ das Herz des Paters aufgehen. Als er die Hand ausstreckte, nahm der Junge sie bereitwillig an, um sich ins Innere des Kirchenkomplexes führen zu lassen.
Als Theodor an diesem Abend ins Bett ging, tat er es mit einem Lächeln, kurz nachdem er noch einmal nach der kleinen, ruhigen Gestalt geschaut hatte, die unter einer dicken Decke wie ein Ball zusammengerollt in einem der Gästebetten lag und friedlich schlief.
Die Hände tief in den Taschen seiner Jeans vergraben wanderte Ray durch die schmalen, niedrigen Gassen, die in diesem Teil der Stadt ein verwirrendes Labyrinth bildeten. Seine Augen waren konzentriert auf die Umgebung gerichtet, aber er versuchte, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu ziehen.
Das war nicht unbedingt leicht, er setzte sich allein schon durch die Kleidung von den wenigen Leuten ab, die sich in dieser heruntergekommenen Gegend herumtrieben und in den verfallenen Häusern wohnten, zerlumpte, abgewrackte Gestalten so verwahrlost wie die Gebäude um sie herum. Kaum etwas Licht filterte durch die Straßenbögen und Plattformen über ihnen und die meisten der Lampen waren zerstört oder kaputt. Nur noch vereinzelt gaben einige einen zu grellen Schein ab, der in den Augen brannte. Hier war nichts mehr von den vorgeschriebenen UV-Lampen zu sehen.
Ray duckte sich unter einer aus der Wand ragenden Eisenstange weg, alle Sinne auf die Umgebung gerichtet. Er wollte kein Risiko eingehen, selbst wenn er nicht mit ernsthafter Gefahr rechnete. Trotz dass er hier herausstach wie ein Löwe in einem Rudel wilder Hunde, würde ihm niemand Ärger bereiten. Denn wie der Löwe war er die gefährlichste Kreatur hier, nicht nur wegen der Pistole, die er in einer der Manteltaschen trug, bereit, sie innerhalb von einem Augenblick zu ziehen.
Er hatte allerdings kein Interesse an irgendwelchen Machtdemonstrationen, er wollte in Ruhe gelassen werden und hoffte, dass die wenigen Menschen, die ihm begegneten, sich genügend von ihm und seiner abweisenden Ausstrahlung einschüchtern ließen. Er wollte nur den Jungen finden, doch das war leichter gesagt als getan. Theodor hatte ihn darum gebeten, denn auch wenn sie bisher immer warteten, dass Kerish auftauchte, irgendwann mussten sie diese Situation ändern. Vor allem wenn sie wollten, dass er bei Ray und Elisa bleib. Bis jetzt war der Erfolg jedoch nur mäßig.
Denn auch wenn es ihm gelungen war, das ungefähre Gebiet abzustecken, in dem Kerish sich in der Regel aufhielt, so war es doch groß und weitläufig genug, dass man tagelang suchen konnte – und dann immer noch nichts fand. Ganz zu schweigen davon, dass das Kind auch anwesend sein musste, wenn er vorbeikam. Eine Nadel im Heuhaufen, wie man so schön sagte. Man brauchte schon einen Magneten, um sie zu finden. Oder – wie Theodor später sagen würde – Gottes Hilfe.
Das wütende Geschrei, das in lautes Fauchen überging, riss sofort seine Aufmerksamkeit an sich. Gab es hier noch jemand anderen, dem Ray solche Geräusche zutraute? Er beschleunigte seine Schritte und fuhr mit einer Hand in die Tasche, in der er nach dem vertrauten Griff seiner Pistole tastete. Vielleicht würde er sie doch brauchen.
Ein Schmerzensschrei ertönte aus einer Nebengasse hinter ihm und er drehte abrupt um, ließ sich von dem Fauchen leiten, das nun nicht mehr bedrohlich und angriffslustig klang, sondern eher verstört und schmerzerfüllt, und dem Gelächter. Einige Satzfetzen mischten sich darunter und Ray fing an zu laufen. Kurz darauf hatte er sie erreicht.
Es war eine Gruppe Jugendlicher hatte Kerish in eine Ecke gedrängt. Über ihm befand sich das Fundament eines Gebäudes, gestützt durch von Rost angefressenen Metallsäulen und so niedrig, das Ray nur die Hand auszustrecken brauchte, um sie zu berühren. Kerishs Pupillen waren in der diffusen Dunkelheit, die hier herrschte, so stark geweitet, dass sie beinahe schwarz wirkten.
„…Freak wie das da?“, sagte gerade einer der Teenager, ein großer Junge mit dunklem Haar und Kleidung, die vor Schmutz von allein stehen würde, wenn er sie ausziehen würde. Ray schob seine Brille nach oben und ließ das Grün seine Augen färben, so dass aus schattenhaften Silhouetten tatsächlich Menschen wurden.
Die anderen Jugendlichen lachten auf dem Bemerkung und einer, ein langer, schlaksiger Kerl, der aussah, als würde er zu schnell wachsen, schlug mit seinem Baseballschläger gegen eine der Metallsäulen, die das Haus stützen. Das Geräusch hallte bedrohlich von den Wänden wieder und Ray bemerkte, wie Kerish heftig zusammenzuckte und noch ein Stück zurückwich.
„Vielleicht sollten wir es einfangen und zu einem Zoo bringen – die geben uns ganz sicher Geld dafür.“ Der wieselartige Sprecher grinste und schwang das Ende der schweren Eisenkette in seinen Händen vor und zurück. Dabei wirkte er, als würde er schon ausrechnen, wie viel seines Erachtens dabei herausspringen sollte. Ray konnte die Dollarzeichen in seinen Augen beinahe sehen. Er hatte jedoch seine Zweifel, dass der Plan tatsächlich aufgehen würde, aber er hatte nicht vor, sie ihn ausprobieren zu lassen. Vorsichtig schob er sich nach vorn – er wollte die Aufmerksamkeit der Gang noch nicht auf sich ziehen.
Kerish zuckte bei dem hässlichen Klang der Stimme zusammen und versuchte, in die Wand zu kriechen. Einer seiner Flügel hing nutzlos hinunter, aber ob er gebrochen war, war nicht zu sehen. Quer über seine Brust bildete sich bereits ein Bluterguss, den er vermutlich der Eisenkette zu verdanken hatte, und Blut lief sein Bein hinab. Er kauerte in der Hocke, die Hände vor sich aufgestützt, das Gesicht zu einer knurrenden Fratze verzogen, die scharfen Zähne entblößt. Über seiner linken Schulter zuckte die Spitze seines Schwanzes hin und her, beinahe wie eine Klinge, auf jeden Fall ebenso bedrohlich.
„Meinst du?“, fragte einer der anderen Jungen und drehte das Messer in einer Hand. „Wir sollten die Missgeburt gleich hier abstechen.“
„Und wenn es doch Geld bringt?“, schnappte Wiesel und hob seine Kette um das Ende in der Luft schwirren zu lassen. Kerish fauchte. Er verstand dem Anschein nach genau, von was diese Teenager sprachen. Verstand, was sie über ihn sagten.
Ray zog die Pistole aus der Tasche und hielt sie locker an der Seite. „Das ist jetzt genug.“, unterbrach er mit fester, ruhiger Stimme. „Ihr hattet euren Spaß, jetzt verschwindet.“ Mit mehr oder weniger erschrockenen Geräuschen fuhren die Jugendlichen herum und starrten ihn an, zwei sogar mit weit offen stehenden Mündern.
Ray rückte seine Pistole etwas mehr ins Blickfeld und zog die Augenbrauen finster zusammen. Er hatte keine Lust auf Geplänkel. Er war gefährlich und er wollte, dass diese … Kinder es sahen. Vermutlich könnte er sie selbst ohne Waffe in die Flucht schlagen, aber er wollte kein Risiko eingehen.
„Sag mal, seit wann wimmelt es hier so von euch Freaks?!“, fauchte der Kerl mit dem Baseballschläger und hob seine zweckentfremdete Keule drohend.
Ray zog eine Augenbraue hoch und richtete seine eigene Waffe auf die Brust seines Gegenübers. „Willst du das wirklich riskieren?“ Die reale, tödliche Bedrohung der Pistole ließ den Jugendlichen zögern und der eiskalte Blick aus den durchdringenden, unleserlichen Augen stoppte ihn unvermittelt in jeder Bewegung.
„Hey, Mann, wir haben nichts getan.“, jammerte einer der anderen und hob beide Hände.
„Du musst hier nicht gleich die großen Kaliber rausholen.“, schnaufte Wiesel, aber er wich bereits zurück.
Ray antwortete nicht, sondern machte eine Bewegung mit der Pistole. „Ich sagte, verschwindet.“
„Okay, okay, Mann, alles easy.“, versuchte der Messerschwinger sich herauszureden und sie traten langsam den Rückzug an. Ray ließ sie dabei keinen Moment aus den Augen, die Pistole beständig und sicher in ihre Richtung haltend. Als sie alle einige Meter von ihm entfernt waren, fuhren sie herum und rannten davon.
Ray sah ihnen nach und fragte sich, ob sie besser ausgerüstet zurückkommen oder Verstärkung holen würden. Vielleicht. Vielleicht nicht. Aber er wollte nicht mehr hier sein, wenn das geschah, also drehte er sich um und wandte sich an das Kind.
Kerish starrte ihn aus großen Augen an, hoffnungsvoll und freudig, beinahe wie ein gottgesandtes Geschenk – oder besser, einen Schutzengel, geschickt, um ihm zu helfen. Als Ray ihm die Hand entgegenstreckte, nahm er sie einfach und ließ sich davonführen. Seine Finger klammerten sich an die größeren mit einem harten Griff, der zu stark für diese kleine Hand wirkte. Als hätte er Angst, der andere Mutant würde verschwinden, wenn er ihn loslassen würde, oder einfach gehen und ihn ablegen wie ein altes Kleidungsstück.
Aber Ray hatte nicht vor loszulassen. Nicht jetzt, nicht später.
„Und was jetzt?“ Rays Stimme klang dumpf und so, als ob er tatsächlich einfach nicht wüsste, welchen Weg er jetzt einschlagen sollte. So kannte Theodor ihn gar nicht – er war immer selbstsicher, geradeausschauend, auch wenn es vielleicht die falsche Entscheidung gewesen war, die er getroffen hatte. Aber er fragte selten um Rat oder Führung.
Theodor warf einen Blick in das kleine Krankenzimmer der Kirche, in dem Kerish auf der Liege saß, eingewickelt in ein frisches Handtuch. Elisa stand neben ihm und kümmerte sich um die Verletzungen, die er bei dem Kampf davongetragen hatte. Sie hatte nicht lange dafür gebraucht und war – erstaunlicherweise – kaum auf Widerstand gestoßen, als sie ihn in die Dusche gedrängt hatte. Ganz sauber war der Junge noch nicht, aber den größten Teil des Drecks hatte sie von ihm abbekommen. Und das ohne, dass er sich allzu gesträubt hätte.
Vielleicht war es ihre Ausstrahlung, das ruhige, freundliche Lächeln und ihre sanfte Stimme. Vielleicht die Tatsache, dass sie genauso wenig wie ein ‚normaler‘ Mensch aussah wie der Junge selbst. Rays Anwesenheit, der sich still, aber entschieden geweigert hatte, das Kind aus den Augen zu lassen, war sicher auch nicht schädlich gewesen.
Elisa ihrerseits war höchst erstaunt gewesen, wie gelassen der Junge auf ihr Aussehen reagierte. Es gab mehrere Vorfälle, durch die sie bevorzugte, in Gesellschaft ihr unbekannter Personen beinahe komplett verhüllt aufzutreten. Einmal war ein Straßenjunge in die Küche des Renegade gestolpert, hatte einen kurzen Blick auf Elisa an der Fritteuse geworfen und auf dem Absatz kehrt gemacht. Dabei hatte er etwas von „Dominio! Dämon!“ gebrüllt und war wieder verschwunden.
Sie hatte dem Pater später schluchzend davon erzählt – für eine sanftmütige, fürsorgliche Frau wie sie musste solche Abweisung wie körperliche Folter sein. Kein Wunder, dass sie mit ihrer Mutation nicht hausieren ging.
Aber Kerish hatte sie nur angesehen und sie einfach so genommen, wie sie war und Theodor konnte sich nicht vorstellen, was das für ein Geschenk für sie gewesen sein musste. Er erinnerte sich noch daran, dass auch er nicht so selbstverständlich reagiert hatte – nicht einmal Ray war es so ergangen. Vielleicht lag es einfach an Kerishs Vergangenheit, an seiner eigenen Mutation, so sichtbar und körperlich wie Elisas eigene.
„Jetzt nehmt ihr ihn mit euch.“, erklärte Theodor auf Rays Frage. „Er wird mit euch gehen, mit dir gehen, wenn du ihn fragst.“ Davon war er überzeugt – er kannte Kerish inzwischen gut genug.
„Und wenn er nicht will?“, widersprach Ray. „Wenn er da bleiben will, wo er jetzt ist?“
Theodor lachte leise. „Das glaube ich nicht. Schau ihn dir an. Er war allein und verloren – er ist auch nur ein Mensch, auch wenn es einige Leute gibt, die etwas anderes behaupten würden, weil er so offensichtlich Mutant ist. Und Menschen brauchen nun mal Gesellschaft.“ Er seufzte leise.
Er war sich sicher, dass nicht nur das Essen und der Schutz zwei Gründe waren, warum der Junge so oft die Kirche aufgesucht hatte. Es war auch die Freundlichkeit, die sie ihm entgegengebracht hatten, die Gesellschaft, die sie ihm geleistet hatten, die einfache Tatsache, dass sie für ihn da gewesen waren.
Er lächelte. „Ich will nicht lügen, Ray. Das hier ist erst der Anfang eines schweren Weges. Er ist ein Kind und ihr müsst ihn erziehen, du und Elisa. Das ist bei keinem Kind leicht und bei ihm kommen noch mehr Probleme hinzu – die Mutation, die letzten Jahre, die er auf der Straße verbracht hat, der Vertrauensbruch, den seine Eltern ihm aufgebürdet haben… Aber ich weiß, dass du das trotzdem auf dich nehmen willst.“
Ray lachte, rau und hart. „Ich bin keine Auffangstation für irre Mutantenkinder, Theodor.“ Die Bemerkung diente eher dazu, sein Image zu wahren, als dass sie einen anderen Sinn hatte.
Der Pater lachte und klopfte ihm auf die Schulter. „Ihr werdet das schaffen, das weiß ich.“
„Theodor, ich sagte…“
„… dass du ihn wieder auf die Straße zurückjagen willst?“ Theodor hatte die Stimme so gesenkt, dass weder Elisa mit ihren guten Ohren noch Kerish ihn hören konnten.
Ray seufzte ergeben und fuhr sich durch die Haare. „Natürlich nicht. Du bist ein berechnender Bastard, weißt du das?“
„Nana. Ich habe diese Beleidigung jetzt nicht gehört.“, erklärte Theodor und schob seinen alten Freund in den Raum. „Unterbreite ihm dein Angebot schon. Du wirst sehen, er wird es annehmen.“
Ray warf ihm noch einen finsteren Blick zu und trat in den Raum. Elisa warf ihm ein kurzes Lächeln zu und Kerishs Gesicht hellte sich auf. Letzteres mehr als alles andere zeigte Theodor, wie richtig er mit seinen Vermutungen gelegen hatte. Als Ray sich neben den Jungen auf die Liege setzte und Kerish beinahe schüchtern seine Hand in die so viel größere schob und der ältere Mutant dies auch noch zuließ, den Händedruck sogar erwiderte, wusste Theodor, dass alles gut werden würde. Irgendwie.
Der Geistliche lehnte sich an die Wand, lächelte in sich hinein und richtete den Blick gen Decke, gen Himmel – gen Gott. „Danke.“, wisperte er, auch wenn er von Anfang an gewusst hatte, dass diese Situation sich positiv lösen würde.
Er hatte einfach darauf vertraut, denn auch wenn es ihre Entscheidungen gewesen waren, so war es auch Gottes Wille, der sie an den richtigen Ort zur richtigen Zeit gebracht hatte, damit sie die richtige Entscheidung treffen konnten.
Und Vertrauen würden sie jetzt auch weiterhin brauchen. Sie hatten alle noch einen weiten Weg zu gehen, den Weg ihres Lebens.
.girls with stockings.
Begierde bezeichnet den seelischen Antrieb zur Behebung eines Mangelerlebens mit einem damit verbundenen Aneignungswunsch des Gegenstandes oder Zustandes, welcher geeignet erscheint, diesen Mangel zu beheben.
Richtungsgebend für den seelischen Antrieb sind beim Begehren mehr die damit verbundenen geistigen Faktoren (Emotionen, Phantasie, Wünsche), bei der Begierde dagegen mehr die körperlichen (Triebe, Schmerz, Hunger, Durst). Das zugehörige Verb ist in beiden Fällen begehren.
[Wikipedia-Eintrag zu Begierde; 25.o9.2o11]
le désir (die Begierde)
Étienne Fontaine glaubt nicht an das unveränderliche, festgelegte Schicksal.
Er glaubt daran, dass jede Person für ihr eigenes Leben verantwortlich ist. Er glaubt daran, dass der Mensch selbst bestimmt, wie sein Lebensweg verläuft. Er glaubt daran, dass ein jeder beeinflussen kann, was mit ihm geschieht. Das einzige, was er dafür tun muss, ist handeln, anpacken und Verantwortung übernehmen.
Das ist schwere, harte Arbeit und man braucht Mut dafür, Willen und Stärke und längst nicht jeder Mensch vereint diese Faktoren in sich. Im Gegenteil, er kann sie an zwei Händen abzählen, jene, die willens genug sind.
Aber Étienne selbst legt seine Hände nicht in den Schoß, hat es nie getan, nicht seit in ihm der Wunsch nach etwas Anderem erwacht ist, als das, was er damals hatte, nach etwas Größerem, Stärkerem – Besserem. Und das ist lange, lange her. Er kann sich kaum an die Zeit ohne diese Begierde erinnern; damals, als seine Mutter noch nicht tot war, jene ersten paar Jahre seines Lebens.
Es ist diese Sehnsucht nach Unverwundbarkeit, diese Gier nach Macht, dieses Wissen um Mehr, was ihn antreibt. Dieses Ich will, ich will, ichwillichwill – und ich bekomme. Er manipuliert, handelt, steuert das Leben um sich herum, ob nun mittels seines klaren, scharfsinnigen Verstandes, seiner greifbaren physischen Macht oder jener besonderen Fähigkeit, die verängstigtere Leute Mutation nennen.
Schicksal hat nichts damit zu tun.
Es ist sein eigenes Handeln, ist es immer schon gewesen und er soll verdammt sein, wenn er damit aufhört. Es hat ihn schon so weit gebracht. Was kümmern ihn die Leichen, die er hinter sich zurücklässt, die vernichteten Leben und die zerstörten Familien?
Aber als er das Mädchen mit den langen Beinen und den hohen Seidenstrümpfen, die ein Stück Haut zwischen ihrem Bund und dem Saum des Rockes freilassen, durch die auserlesene, luxuriöse Hotellobby auf sich zukommen sieht, fragt er sich doch, ob das Schicksal ihn nicht von einem verborgenen Platz aus beobachtet und sich vor Lachen biegt.
la chérie (der Schatz)
Das erste Mädchen, mit dem er schlief, trug gern kurze Hosen und hohe Strümpfe, die knapp über ihrem Knie endeten, in knallbunten Farben – rot, pink, blau, grün, weiß, schwarz und bunt gemischt, die sich als Ringe um ihre kräftigen Beine legten. Sie zog sie auch nicht aus, während sie beide sich im sprichwörtlichen Heu vergnügten. Wenn er sie an den Schenkeln hielt, die sie um seine Hüften geschlungen hatte, konnte er den Unterschied zwischen dem Stoff und ihren glatten Schenkeln spüren und es machte die Sache umso realer.
Sie war genau drei Wochen jünger als er, ebenfalls fünfzehn, mit mausbraunem Haar und außergewöhnlich schönen Augen, die stets schalkhaft funkelten, in einem bernsteinfarbenen, hypnotisch wirkenden Braunton und umgeben von langen, langen Wimpern.
Ihr Name war Aimée und sie war immer für einen Scherz zu haben und noch für so viel mehr. Ihr viel zu breiter Mund war geschaffen für ein ausgelassenes Lachen und ihr sehniger, dünner Körper dafür, mit dem Wind zu rennen.
Sie verbrachten die Tage zusammen, wann immer sie sich davonstehlen konnten aus der Schule oder – öfter – von der Arbeit, die immer wartete, und den elterlichen Farmen, jenen weitläufigen Gebieten, auf denen mit minimalem Personal maximaler Gewinn geschaffen wurde, von denen die Bauern nicht mehr sahen als einen Bruchteil. Denn auch wenn sie so fühlten, als würde ihnen all das weite Land gehören, waren sie in Wirklichkeit nicht mehr als die Leibeigenen eines mittelalterlichen Fürsten.
Étienne hasste die Farm und sein Leben, grenzte sich von seinem Vater ab und vermisste eine Mutter in seinem Leben (er erinnerte sich noch an den Duft ihres Parfüms und die Stärke ihrer Hände und ihr lautes Lachen).
Man hasste auch ihn; seine Klassenkameraden, seine Lehrer, die anderen im Dorf und sein Vater wusste nichts mit ihm anzufangen.
Einzig Aimée stand an seiner Seite, loyal und lachend und laut.
Sie war es, die ihn ermutigte, seine Gabe zu nutzen, die ihm zeigte was er tun konnte, wie sehr er den Lauf der Dinge um sich ändern konnte, nur weil er wusste und konnte und die Entropie sich seinem Willen beugte.
Unglückliche (und manchmal auch glückliche, wenn er es denn wollte) Zufälle und Fügungen folgten ihm, wohin er ging, denn er schuf sie. Aimée begleitete ihn, stachelte ihn an und lachte, wenn etwas nach ihrem Willen ging, und presste heiße Küsse auf seine Lippen, die den Hunger in seinem Inneren nicht ganz stillen konnten.
Sie war das einzige Mädchen, das er je geliebt hatte.
l’impératrice (die Kaiserin)
L‘Impératrice war eine große Frau, schlank, streng und königinnenhaft schön, mit eiskalten, eisblauen Augen und hellblondem, von Grau durchschossenem Haar. Sie trug korrekte Kleidung; Blazer, Bluse, Bleistiftrock in gedeckten Farben und hochhackige Schuhe, auf denen sie sich so sicher bewegte, als wäre sie barfuß.
Unter dem Saum ihres Rockes blitzte die feine Spitze hervor, die sich am oberen Ende ihrer seidenen Strümpfe befand.
Er hatte einen Mann für sie umgebracht und die Schalen der Waage ihrer Gunst in seine Richtung gekippt (die ersten, zögerlichen Versuche, seine Gabe zu wirklich gewinnbringendem Nutzen zu anzuwenden, nicht zu dummen Kindereien, die ihn und Aimée amüsierten) und nun lächelte sie ihn an, kühl und unnahbar, wie eine Göttin, unantastbar und mächtig.
Als er sie sah, wusste er, was er wollte und ihm kam der Gedanke, der ihn sein Leben lang begleiten würde. Ich will. Jetzt.
Es war nicht sie, per se. Es war, was sie hatte, ihre Macht, ihre Autorität und ihre Vasallen. Es war das erste Mal, dass er die Gier nach Mehr, diese Begierde nach etwas Besseren, die ihn so antrieb und ihn bereits hierher gebracht hatte, bewusst verspürte. Es war ein neues Gefühl und ein berauschendes noch dazu. Nun wusste er, was er wollte, und nun hatte er eine Richtung.
Gnade Gott jenen, die sich ihm in den Weg stellten.
L‘Impératrice schenkte ihm ihre Gunst, ließ ihn als Laufburschen und Dealer arbeiten, schickte ihn (später) zum Flughafen und den Häfen, wo er geschmuggelte Güter in Empfang nahm, und (als er sich wirklich bewährt hatte) schenkte sie ihm eine außergewöhnliche, auf ihn abgestimmte Pistole und beorderte ihn zu dem Anführer einer aufstrebenden Gang, die ihr im Weg stand.
Als er zurückkam, hatte er drei Kugeln aus seiner neuen Waffe abgeschossen und mehr als zwei Dutzend Menschen waren tot.
Die meisten waren getroffen worden von ihren Kameraden, unglücklich gestürzt oder hatten sonst Pech gehabt – die Entropie spielte gegen sie, gegen jeden, der sich gegen ihn stellte. Er hatte im Grunde nur zugeschaut und die Zufälle und (Un)Glücke ihren Lauf nehmen lassen.
L‘Impératrice war zufrieden und Étienne stieg in ihren Rängen.
Sieben Jahre nach ihrem ersten Treffen schoss er ihr eine Kugel in den Kopf und übernahm ihr Imperium an Mördern, Dieben, Schmugglern, Huren und anderem Abschaum.
la petite mort (der kleine Tod / Euphemismus für den Orgasmus)
In den sieben Jahren, während denen Étienne den Weisungen einer anderen Person folgte, verbesserte er seine Fähigkeiten, lernte, saugte Wissen in sich auf wie ein Schwamm Wasser oder besser, wie ein schwarzes Loch alles. Es gab keine Kenntnis, keine Erfahrung, für die er sich zu gut war, kein Lehrer, zu dem er ‚Nein‘ sagte, kein zufällig aufkommendes Thema, über das er nicht Erkundigungen einzog.
Doch es war nie genug.
Er war noch jung und voller Energie und das Ich will in seinem Kopf war laut und drängend und ging niemals weg.
Nach seinem ersten Mord in den oberen Leveln – die erste wirkliche Herausforderung, wie sein Mentor behauptete – nahmen ihn seine Killerkollegen endgültig in ihren Kreis auf. Statt einer Willkommensparty schleppten sie ihn in einen Stripclub, in dem das Licht blau und rot war, die Tänzerinnen für jeden Fetisch gekleidet waren und sich zu aufpeitschender Musik geschmeidig wanden und räkelten wie schmiegsame Katzen.
Ziemlich billig, eigentlich, aber die Mädchen wirkten in diesem Licht und dieser Kleidung betörend und anziehend, nicht abgekämpft und kaputt, und Étienne ließ sich dieser Illusion hin, für diese eine Nacht, für diesen einen Augenblick.
Er war berauscht von dem Kill und dem hochprozentigen Alkohol des Clubs und das Adrenalin rauschte noch immer durch seine Adern und übertönte das immerwährende Ich will, ich will, das beharrlich durch seine Adern sang und ihn nur noch mehr anstachelte.
Er fand ein Mädchen mit geringelten Strümpfen, mausbraunem Haar und erschöpften Augen. Schob ihr einen Bündel Geldscheine in den Bund der Strümpfe und ließ sich von ihr hinausführen. Er vögelte sie gegen der Wand ihres Zimmers in dem Bordell und ließ den Höhepunkt über sich waschen wie eine Welle am Meer. Es war eine kurze Erlösung, eine kurze Stille und das Verlangen in seinem Inneren war für einen Moment still.
Als er den Club verließ, fühlte er sich leer und erfüllt zugleich, wieder ergriffen von der Gier nach etwas Besserem.
l’ange (der Engel)
Er ging nie wieder in ein Bordell, also suchte er sich ein Mädchen, mit dem er schlafen konnte und das diese Angelegenheit nicht anders sah als er und ebenfalls kein Interesse an einer tieferen Beziehung hatte. Er fand sie in einer stilvoll heruntergekommenen Bar, wo sie die Blicke aller Männer auf sich zog, aber jeden abservierte, der sich zu nahe an sie heranwagte.
Ihr Name war Angelique Marceau und sie war einer jener Engel, die direkt aus der Hölle kamen.
Er sah sie und wollte sie, aber sie war es, die zu ihm kam, weil sie beide dasselbe im Sinn hatten, wenn sie an Beziehungen dachten: keine Fesseln, keine Ansprüche, keine Bindung. Sie sah es ihm an, weil sie gute Menschenkenntnis hatte und in Leuten lesen konnte wie in Büchern.
Die einzige Liebe in ihrem Leben war ihre Harley Davidson und sie wollte keine andere.
Étienne war das recht – auch in seinem Leben war kein Platz für Liebe, nur für das Streben nach Vorn. Aber ein Biker Babe an seiner Seite, so ungezähmt, unabhängig und feurig sie auch war, brachte ihm Ansehen und L’Impératice schien es zu beruhigen und wandte die argwöhnischen Augen auf jemand anderen.
Angelique trug Leder und Netzstrümpfe bis zu den Oberschenkeln, das weizenblonde Haar in wilden Frisuren, die der Wind zerriss, und die Gefahr wie einen Mantel.
Sie hielt das mächtige Motorrad zwischen ihren Schenkeln, als sei sie dafür geboren, wie eine Ikone der Freiheit.
Ihre goldbraune Haut glänzte im Licht; die stets schwarzen Strümpfe bildeten einen starken Kontrast dazu, aufreizend und verführerisch, und sie schälte sie stets mit einem provokanten Augenaufschlag erregend langsam von den muskulösen Beinen.
Sie verließ ihn für den Drummer einer aufstrebenden Band, kurz nachdem er L’Impératrice‘ Platz eingenommen hatte, und schickte ihm bis heute an den kuriosesten Feiertagen bizarre Grußkarten.
la comtesse (die Gräfin)
Sie sprach ihn an, als er aus dem Aufzug seines Bürogebäudes trat, eine zierliche, schlanke Gestalt, deren elegante Bewegungen von beträchtlicher Kraft und perfekter Körperbeherrschung sprachen. Ihr außerordentlich schönes Gesicht, wie aus feinstem Alabaster gefertigt, war zu einer gefassten, stillen Maske erstarrt, die keinerlei Mimik oder Regung zeigte.
Sie trug einen kurzen Rock aus Spitze und Seide, ein Korsett und einen schwarzen Sonnenschirm aus Spitze und Tuch und wirkte auf den ersten Blick wie eine fragile, verirrte Gothicprinzessin. Ihr Haar umgab ihren Kopf in Korkenzieherlöckchen und streifte gerade so ihre Schultern, lackschwarz und perfekt. Ihre Haut war so blass, dass sie beinahe ungesund wirkte, und die dunkelrote und schwarze Schminke in ihrem Gesicht schien dezent, trotz des Kontrastes, den sie zu dem hellen Teint bildete, und fasste damit ihre gesamte Persönlichkeit zusammen.
Ihre Stümpfe – schwarze Seide und Spitze – endeten knapp über ihren Knien und wirkten an ihr wie pure Sünde, geschaffen um die Begierde eines Mannes zu wecken ohne aufdringlich oder frivol zu wirken, sondern sinnlich und sogar etwas unschuldig.
Sie war wie eine unantastbare Nymphe, erotisch, nicht greifbar und immer fern.
Sie nannte sich La Comtesse, aber ihr wirklicher Name war Coralie LaVoie.
Sie war die skrupelloseste, kaltblütigste Frau, die Étienne je getroffen hatte – L’Impératrice eingeschlossen, die grausam und durchtrieben gewesen war, aber nicht derartig besonnen in ihren erbarmungslosen Verbrechen – und klug.
Sie bot ihm an, für ihn zu arbeiten, wenn er ihr dafür einen festen, bedeutenden Platz in seiner Hierarchie versprach.
Er schickte sie auf drei, vier Aufträge – um sie zu testen, wie er sagte – und behielt sie im Blick. Ihre Arbeit war sauber und perfektionistisch und Étienne wollte sie. Er zog Erkundigungen ein und ein paar Gefallen, ließ einen seiner Killer fallen und schickte ihm La Comtesse hinterher.
Sie kam wieder, keinen Tropfen Blut auf ihren feinen Kleidern oder der makellosen Haut – aber der Mann war tot.
Étienne nahm ihr Angebot an und schuf sich gleichzeitig eine Versicherung, dass sie, wenn sie ihn vom Thron stieß, mit ihm unterging. Nicht, dass er sich hätte Sorgen machen müssen – bis heute ist sie einer seiner loyalsten und wichtigsten Vasallen.
la colère (der Zorn / die Wut)
Nach Angelique und dem Tod der Kaiserin war Étienne erst einmal beschäftigt. Ein Imperium führte sich nicht von allein, aber die Arbeit stieß ihn nicht ab, wurde ihm nicht zu viel – im Gegenteil, es war wie eine Bestätigung, wie ein Rausch, eine neue Sucht.
Er hatte es endlich geschafft. Endlich war es seins, es, alles – Lyon, Paris, Marseille.
Und es war noch immer nicht genug.
Der Hunger wuchs mit jedem Geschäft, jeder Stadt, deren Unterwelt er seinem Reich einverleibte, jedes Nest von Verbrechern, das sich ihm anschloss oder unterging, jede Gang, die ihm Tribut zahlte.
Es würde nie genug sein.
Er traf Irène bei einem seiner Geschäftspartner, in dessen Arbeitszimmer sie auf einer Couch lümmelte wie ein kleines, unbeflecktes Mädchen, das sie nicht war, denn sie hatte nichts Kindliches oder gar Unschuldiges mehr an sich.
Sie wirkte sehr jung und verletzlich (eine Kunst, die sie bis zur Vollendung perfektioniert hatte) und ihre großen blauen Augen strahlten Reinheit aus. Das dunkelbraune Haar lag in kunstvollen Locken um ihre Schultern, ein makelloser Rahmen für ihr niedliches Gesicht.
Ihre Schuhe – einfache Stoffschuhe – standen neben dem Sofa und ihre langen Beine waren verhüllt von hohen, schwarz und rot geringelten Strümpfen, deren Saum weit unter den kurzen Jeans endeten.
Die weite Fläche aus nackter Haut war so verheißungsvoll, dass er einen Moment stehen blieb und mit ihr sprach.
Am Abend tanzte sie in einem seiner Clubs für ihn, auch wenn sie sich für jeden sichtbar wie eine sinnliche Erscheinung auf der Tanzfläche wand. Aber er wusste, was sie wirklich beabsichtigte, und nahm sie mit sich, wie sie es wollte, und sie blieb und wärmte sein Bett.
Sie war flatterhaft und eitel und ihre Liebe konnte man kaufen: mit kleinen, teuren Geschenken, weiten Reisen, wilden Partys, Markenkleidern und Schmuck, der mehr wert war als manche Familie in ihrem Leben insgesamt sah.
Sie stammte aus ärmsten Verhältnissen – nicht vom Land, wie er, sondern aus den unteren Ebenen von Paris – und hatte sich wortwörtlich nach oben geschlafen, hatte einen erfolgreichen Liebhaber gegen einen anderen erfolgreicheren ausgetauscht, bis sie das Auge des Chefs auf sich gezogen hatte.
Étienne fühlte sich abwechselnd von ihr abgestoßen und sich mit ihr verbunden.
Sie hatten so vieles gemein und könnten doch unterschiedlicher nicht sein. Er war von ganz unten bis an die Spitze gekommen, indem er sein Schicksal in die eigene Hand genommen hatte. Aber auch sie hatte es geschafft, auf ihre Weise. War sie nicht hier und genoss den Luxus, der ihr so gut stand?
Als sie ihn mit einem ahnungslosen Studenten betrog, erschoss er sie und ihren Lover ohne zweimal darüber nachzudenken, und machte sich danach an Expansionspläne nach Übersee. Wut, die seine Begierde anstachelte, war ihm eine willkommene Triebkraft und er würde sie nutzen.
Niemand stellte sich gegen ihn und niemand durfte haben, was ihm gehörte.
la promesse (das Versprechen)
Ihre leicht schräg stehenden, mandelförmigen Augen waren groß und ozeangrün, umgeben von einem dichten Kranz kohlschwarzer Wimpern und undurchschaubar.
Es waren die schönsten Augen, die Étienne je gesehen hatte, faszinierender noch als Aimées, und sie saßen in einem kontrollierten, unscheinbaren Gesicht, das bar jeden Ausdrucks war. Eigentlich war sie recht hübsch anzusehen, ganz sicher nicht hässlich, wenn man sie eingehend betrachtete. Doch das, was einem Passanten, einem flüchtigen Gegenüber, einer vorübergehenden Bekanntschaft an ihr im Gedächtnis bleiben würde, war nicht ihr unauffälliger Liebreiz.
Es waren die vier waagrechten, unterschiedlich langen, akkurat zugefügten Narben, die sich nahezu parallel durch ihr Antlitz zogen.
Die Frau wirkte beinahe wie ein Kind – siebzehn, achtzehn (er wusste, dass sie bereits die Mitte zwanzig erreicht hatte) – war klein und zierlich und ihr dünner Körper sehnig und athletisch, ein Hinweis auf das entbehrungsreiche Leben, das hinter ihr lag.
Sie hielt sich mit der Unerschrockenheit einer Person, die viel ertragen und überstanden hatte, und dem Selbstvertrauen eines Menschen, der die Situation verstand. Sie hatte längst begriffen, wozu er hier war und in diesem Moment wurde ihm klar, dass sie ihm heute noch nicht gehören würde.
Ihr Name war Alexandrina Bell, sie kam aus Nevada und trug lange, geringelte Strümpfe wie Aimée zu ihrer zusammengewürfelten, etwas abgegriffen wirkenden Garderobe.
Étienne hatte über verschiedene Ecken von ihr und ihrer Mutation erfahren. Dann hatte er seine Comtesse und zwei weitere Mitarbeiter losgeschickt, um Erkundigungen über sie einzuziehen, und die Gier war in ihm erwacht.
Er wollte sie.
Ihre Fähigkeit ließ ihm den Kopf schwirren, die Zukunft, die sie kannte, die verschiedenen Möglichkeiten, die es gab und die sie wusste, überall und jederzeit, waren süße Versprechen.
Sie kannte die Eventualitäten, er konnte sie beeinflussen. War das nicht eine perfekte Kombination?
Er musste
sie
haben.
Jetzt hatte er sie gestellt, doch sie sah kein Stück überrascht aus, als hätte sie ihn erwartet. Sie blickte ihn nur mit diesen unergründlichen, faszinierenden, schönen Augen an, drehte sich um und duckte sich in eine Gasse.
Weder er noch einer seiner Männer holte sie ein – nach drei Straßen bog sie um eine Kurve und verschwand in der Menge der Menschen, die sich dahinter durch die Einkaufsstraße wälzte, und ward nicht mehr gesehen.
Étienne ließ sie, beinahe zufrieden, gehen – für heute. Nichts anderem hatte er von einem Präkognitionstalent wie ihr erwartet.
Aber die Jagd hatte erst begonnen.
Eines Tages würde sie ihm in die Falle gehen und wenn er sie quer durch die USA hetzen musste.
Was eine Mischung aus ihrem und seinem Talent für Folgen und Ergebnisse haben konnte, wollte er sich jetzt noch gar nicht vorstellen, sonst würde die Gier ihn schlichtweg mitreißen. Doch die Welt würde keine Chance haben.
la destinée (das Schicksal)
Wie es scheint, wartet auf jeden Kreuzweg seines Lebens ein Mädchen mit langen Strümpfen, die bis über die Knie reichen, und zeigt ihm, in welche Richtung er gehen soll und in welche er will. Er hört stets auf die Hinweise, die sie gibt – nicht immer, selten, bewusst – und entscheidet.
Es ist ihm schon früher aufgefallen – diese Kleidungsstücke sind verführerisch und in ihm wecken sie nicht nur Erinnerungen an Aimée, sondern rufen auch den süßen Geschmack des Erfolges hervor.
Sie sind Andenken an Macht, Triumph, Tod und Sex und seine Begierde flüstert ihm kokette, berauschende Worte ins Ohr, die ihm zu Kopf steigen und ihn klar sehen lassen. Ich will, ich will – nimm dir, nimm, alles ist dein. Nimm einfach.
Bis jetzt ist er diesen Worten gefolgt, bemüht in die Zukunft zu streben, nach vorn, wo das Mehr und das Bessere auf ihn wartet, und seine Schritte sind sicher und fest.
Falls es das Schicksal tatsächlich gibt, so steht es drei Schritte hinter ihm und schickt ihm lachend weiter Mädchen um Mädchen, das lange Strümpfe trägt.
Aber Étienne schreibt sein Schicksal selbst.
Er wählt, welchen Weg er geht und für ihn ist nichts vorgeschrieben. Kann er die Ereignisse um sich herum nicht beeinflussen, mit nur einem Gedanken und einer kleinen Kraftanstrengung?
Selbst seine Begierde ist nur eine anfeuernde Kraft und keine Entscheidungshilfe.
Jetzt lächelt er das ankommende Mädchen an und erhebt sich, damit sie ihn zeigen kann, wo ihr Vorgesetzter ist, der mit einem Antrag zu Étienne kam. Seine Leibwächter folgen und La Comtesse ist wie ein stiller Schatten an seiner Seite. Das junge Mädchen mit den langen Strümpfen führt sie tiefer in das Gebäude hinein, zu ihrem Boss, mit dem Étienne sich große Geschäfte verspricht.
Er soll Recht behalten.
.dancing girl.
I
Die Tänzerin schwebte wie ein geflügeltes Wesen über die Bühne, eine Fee, deren Schwingen derartig durchscheinend und zart waren, dass man sie mit dem bloßen Auge nicht sehen konnte. Sie schwang die Beine und ließ ihre Arme ihren Bewegungen folgen, ein vollkommenes Bild fließender Eleganz. Auf Zehenspitzen trippelte die Ballerina nach links, die Gesichtszüge in entspannter Ruhe, ein Einklang mit sich selbst.
Es sah so leicht aus, so einfach.
Als könnte jeder diese Bewegungen nachmachen. Als wäre es ein Kinderspiel, eine Kleinigkeit.
Aber Lesedi wusste, wie viel Arbeit dahintersteckte, wie viel Anstrengung, Training und Blut. Und sie wusste, dass die meisten Tänzerinnen, ganz egal wie lange sie übten, wie sehr sie sich anstrengten und wie viel sie bluteten, dieses Ziel nicht erreichen würden. Sie selbst war eine von jenen.
Tanz war ihre Leidenschaft und Ballett das Medium, das sie sich gewählt hatte – oder vielleicht hatte auch ihre Mutter das gewählt, aber was spielte das für eine Rolle? Aber diese einfache Leichtigkeit, diese ätherische Eleganz hatte sie nie erreicht und inzwischen wusste sie auch, dass dieses Ziel für sie unerreicht blieben würde.
Sie folgte der Ballerina auf dem kleinen Bildschirm des Tabletcomputers mit dem Blick, wie sie Pirouetten drehte und fühlte das altbekannte Gefühl von Neid in sich aufsteigen. Lesedi war gut – das wusste sie und das stellte sie auch nicht in Frage. Sie konnte tanzen und nicht nur auf der Bühne, nicht nur nach eingeübten Figuren, nicht nur klassisches Ballett.
Aber das da – das war eine ganz andere Liga.
Und vermutlich war es das, was der Vorsitz der Oper verlangte, wenn er seine Ballerina auswählte. Oder es war einfach nur ein weißes Mädchen. Mit ihrer dunklen Haut, so schwarz wie es dunkler kaum ging, konnte sie wohl kaum die Hauptrolle im Schwanensee tanzen. Zumindest war dies die Meinung derer, die dies entschieden, und allein darauf kam es an. Und dabei redeten alle nur noch über Mutanten und dass es Rassismus nicht mehr gäbe.
Aber für Odette waren schwarze Mädchen immer noch nicht gut genug. Schwarze Mädchen tanzten nur im Hintergrund. Mochte sein, dass es einmal eine Zeit gegeben hatte, als das anders gewesen war, vielleicht nicht in diesem Land, aber anderswo. Doch manchmal war die Menschheit erstaunlich rückschrittlich. Aber Lesedi wollte verdammt sein, wenn sie es nicht wenigstens weiter versuchte, selbst wenn sie sich zwischendurch mit Aushilfsjobs über Wasser hielt. Das war ein geringer Preis für ihr Ziel.
Sie schloss die Augen, atmete einmal tief durch und konzentrierte sich. Dann schaltete ihren Computer aus, ehe sie ihn zurück in die Umhängetasche schob, und warf noch einen Blick auf das große Operngebäude, in denen Ballette aufgeführt wurden, ehe sie entschlossen darauf zuging. Auf in den Kampf, selbst wenn er aussichtslos wirkte. Starrsinn und Stolz ließen nicht zu, dass sie aufgab.
II
Adèles Stimme schmeichelte den Ohren, dunkel und rauchig wie sie war, perfekt für den Stil, den sie sich gewählt hatte, die Lieder, die Atmosphäre. Aus den Lautsprechern klimperten die Töne des Pianos, das sie begleitete. Einen tatsächlichen Klavierspieler – und wenn es ein synthetisches Klavier gewesen wäre – hatte man ihr nicht besorgt, aber das hatte sie bei dieser billigen Kneipe auch nicht erwartet.
Der Geruch von Zigarettenrauch und Alkohol hing schwer in der Luft und einige abgewrackte Gestalten, die so taten, als hätten sie etwas erreicht, hingen an dem Tresen oder den Tischen herum. Diese Bar war heruntergekommen und billig, von dem falschen, roten Samt bis hin zu den kitschig-goldenen Ausschmückungen an den Möbeln.
Aber im Moment war sie Adèles Arbeitsplatz. Zumindest so lange bis sie etwas Besseres gefunden hatte, etwas, da mehr ihrem Niveau entsprach. Es würde diesem nicht unähnlich sein – nur viel stilvoller und edler. Es würden solche Bars sein, an die sie sich noch aus ihrer Kindheit erinnerte, ähnliche Clubs, in denen schon ihre Mutter gesungen hatte.
Als die Tür der Kneipe sich öffnete, blickte Adèle kurz auf. Es war Lesedi, schlank und hochgewachsen wie eine Birke, ein Bild einer Tänzerin mit anmutigem Gang. Das lange Haar hatte sie nach hinten gebunden und gemeinsam mit dem hochgeschlossenen Mantel verlieh es ihr ein strenges Aussehen. Adèle lächelte ihr begrüßend zu, aber Lesedi nickte nur als Antwort, ihre gesamte Körperhaltung drückte Niedergeschlagenheit aus. Das Vortanzen war also nicht gut gelaufen…
Die Sängerin schlug einen Moment die Augen nieder – würde sie nicht am Mikrophon stehen und singen, hätte sie geseufzt – aber sie war nicht überrascht. Ihre jüngere Freundin versuchte sich schon so lange an dieser Sache und scheiterte Mal ums Mal. Warum hätte es diesmal anders sein sollen?
Aber Lesedi, jung, stur und stolz wie sie war, würde nicht einfach so aufgeben. Sie war einfach nicht für das Ballett geschaffen, sondern für wildere, freiere Tänze und schlichtweg andere. Sie war nicht das ätherische, mystische Wesen, das über die Bühne schwebte, und auch kein kleines, zartes, blasses Ding, das wirkte, als würde es bei der kleinsten Berührung zerbrechen. Sie war stolz und streng, unberührbar und hart wie Stahl.
Adèle konnte nur hoffen, dass sie es irgendwann selbst bemerkte.
Die beiden Frauen, so unterschiedlich sie auch waren, kannten sich schon Jahre, verbunden durch eine ungewöhnliche, aber tiefe Freundschaft. Begegnet waren sie sich zum ersten Mal im Golden Boulevard, jener Allee, in der sich die Künstler und Straßenmusiker sammelten um Geld zu verdienen, jene Allee, für die diese Stadt so bekannt war. Jene Allee, in der sich absolut jeder hinstellen und mit seinem Talent sein Glück beim Publikum versuchen sollte.
Manche Sommer verbrachte Adèle noch immer als Sängerin dort – aber die anderen Jahreszeiten waren ihr inzwischen zu feindlich und sie suchte sich andere Festanstellungen. Inzwischen konnte sie sich das leisten, hatte sich einen Namen geschaffen und sie zweifelte nicht, dass irgendwann die Stelle kommen würde, die sie behalten wollte.
Einige große Künstler hatten im Golden Boulevard begonnen, ehe sie wie Kometen in den Himmel der Superstars gestiegen waren, vor allem Musiker. Adèle hatte immer gewusst, dass dieser Weg nicht der ihre war, aber das war auch nie ihr Ziel gewesen. Ihr reichte, was sie hatte, was sie haben würde, wie sie lebte, wo sie singen konnte, dass sie es konnte.
Der Golden Boulevard hatte sie zusammengeführt, eine Sängerin und eine Tänzerin, die das Talent der jeweils anderen erkannt hatten und gewillt waren, etwas aus beidem zu machen – etwas, das so wunderbar funktioniert hatte, dass Adèle sie auf einer größeren Bühne hätte sehen können, was sie jedoch bedauerlicherweise noch nie ausprobiert hatten.
Und was als Zweckgemeinschaft begonnen hatte, hatte als Freundschaft geendet. Adèle bereute keine Sekunde, keinen Streit und keine Versöhnung, keinen kleinen Witz und keine gemütliche Stunde, zu zweit oder unter weiteren Freunden.
III
Die drei jungen Mädchen auf der Bühne trugen leichte, kleine Kleider, die gerade genug der Phantasie überließen, um aufs Äußerste anregend zu sein, und schwangen die Beine, als wären sie geboren, um genau das zu tun. Ihre lachenden Gesichter waren geschminkt – beinahe schon bemalt – und sie hatten sichtlich Spaß bei der Sache. Es war ein verrückter, pantomimischer Tanz, ausgelassen, spielerisch und wild.
Nichts, was Lesedi bis jetzt so gesehen hatte, mit einem so starken Einschlag von Schauspiel, dass sie die Tänzerinnen auch schon fast aus Aktricen ansehen würde. Es war deutlich zu erkennen, worum es ging, drei Schwestern, die sich um ein Paar langer Strümpfe stritten, weil jeder sie haben wollte.
Lesedi konnte den Blick kaum von der Bühne nehmen, ganz egal, wer gerade da oben war. Angefangen hatte die Show mit einem Moderator, einem Komödianten, der den ganzen Saal zum Lachen gebracht hatte. Nach ihm aufgetreten waren ein Zauberer, ein Samba tanzendes Paar, in Seilen hängende Artisten und eine Ausdruckstänzerin, deren Kunst Lesedi nur hatte bewundern können. Zwischendurch war der Moderator immer wieder in Erscheinung getreten und hatte das Publikum in der Geschichte weitergeführt.
Für Lesedi war es wie das Eintauchen in eine völlig andere Welt, etwas Neues, Anderes, Aufregendes, Exotisches. Und sie hatte wenig gemein mit der des Balletts, hatte nichts von dessen steriler Erhabenheit oder der Ästhetik, die jedermann mit Ballerina – insbesondere jenen emporgehobenen Primaballerina – in Verbindung brachte.
Ihre Mutter würde sicher den Kopf schütteln, wenn sie Lesedis Begeisterung jetzt sehen würde. Sie war immer so stolz gewesen, dass ihre Tochter es so weit gebracht hatte, dass sie auf eine der renommiertesten Ballettschulen des Landes gegangen war (wenn auch nur mit Hilfe eines Stipendiums für drei Jahre) und es anscheinend geschafft hatte, der Arbeiterschicht zu entfliehen.
Das Varieté aber, so anders und geheimnisvoll, lockte alte Träume von ihr empor, alte Wünsche, die sie nicht hatte verfolgen dürfen und darüber in Vergessenheit geraten waren. Eine Welt wie diese, würde ihre Mutter sagen, war nicht für sie, ehrlos und nieder, für das gemeine Volk, für jene, die die Feinheiten und Schönheiten des Ballett nicht verstanden – jene, die sie anscheinend zurückgelassen hatte in Armut und nutzlosen Bemühungen.
Aber Lesedi würde widersprechen müssen. Das Varieté mochte nicht derartig in der Gesellschaft anerkannt sein, sondern eher ein Nischenmilieu, aber schlechter war es darum sicher nicht. Und es fand sein Publikum.
„Die gefällt es hier anscheinend.“ Adèles Stimme riss sie aus der Konzentration und riss ihre Aufmerksamkeit von der Bühne weg.
„Huh?“, fragte sie nach und starrte ihre Freundin aus großen Augen aus.
Adèle, umwerfend und elegant anzusehen wie immer, ließ weiße Zähne in einem Lächeln aufblitzen, und wiederholte ihre Bemerkung. Lesedi spürte, wie die Hitze in ihr Gesicht stieg, aber sie nickte.
„Dann war es doch eine gute Idee, dich hierher zu bringen.“ Adèle hatte sie eingeladen, als Trost für das verpatzte Vortanzen.
„Eine sehr gute.“, bekräftigte die Jüngere. „Danke.“ Dann hob sie die Schultern. „Auch wenn ich lieber die Anstellung bekommen hätte.“ Sie verzog das Gesicht und nippte an dem Getränk, das sie vor sich stehen hatte.
Adèle klopfte ihr auf die Schulter. „Lass der Sache Zeit, Liebes. Du wirst deine Chance bekommen. Sie wartet nur auf dich, irgendwo da draußen.“
Lesedi stieß ein kurzes Lachen aus und schüttelte den Kopf, aber sie sagte nichts. Sie wollte diesen Abend nicht kaputt machen und einen Streit anfangen. Oder daran denken, was wieder und wieder schief ging.
Aber ihre Freundin, optimistisch und positiv wie immer, stieß sie nur leicht an. „Du musst sie nur finden, Süße. Lass dich nicht hinunterziehen.“
Doch das einzige, was die Angesprochene darauf erwidern konnte, war kurz mit den Schultern zu zucken. Sie war nicht so zuversichtlich, aber was sollte sie sagen?
Noch ehe sie dazu kam, sich wirklich Gedanken darum zu machen, sprach eine tiefe Stimme sie von hinten an – oder besser, ihre Freundin. „Adèle? Adèle Levesque?“
Die Sängerin drehte sich auf die Nennung ihres Namens um und blinzelte den Sprecher an, als wollte sie ihren Augen nicht trauen. Lesedi folgte ihrem Blick. Hinter ihnen stand ein beinahe riesenhafter, blonder Mann mit stechenden, grauen Augen, Ziegenbärtchen und einem erfreut-überraschten Grinsen in dem markanten Gesicht. „Du bist es tatsächlich.“
Über Adèles Gesicht huschte ein Lächeln, das von ihrer Begeisterung sprach, den Mann zu sehen. „Kjetil!“ Sie rutschte von ihrem Hocker und streckte die Hände für eine Umarmung aus. „Wie schön dich zu sehen.“
Er musste sich hinunterbeugen, um sie in die Arme zu nehmen, aber sie schaffte es trotzdem, ihm links und rechts einen Kuss auf die Wange zu drücken. „Was führt dich hierher? Ich wusste gar nicht, dass du in der Stadt bist, sonst hätte ich dich angerufen.“
„Das gleiche könnte ich auch über dich sagen, du alter Schwerenöter!“, erklärte Adèle und knuffte dem Mann leicht in die Seite. „Ich dachte, du wärest nach Norwegen zurück?“
„Da war ich auch, aber es hat mich dort nicht sonderlich lang gehalten. Und jetzt bin ich hier.“ Er machte eine Handbewegung, die den abgedunkelten Raum und vermutlich auch die gesamte Einrichtung einfasste. „Wie gefällt es dir? Ich bin ziemlich stolz auf die Show in dieser Saison.“
Die Sängerin warf einen Blick durch den Raum; über die eleganten Möbel, die Bar an der einen Wand, die Bühne, die Dekorationen. „Das Varieté gehört dir? Ich bin überrascht. Hat sich eine deiner Geschäftsideen doch irgendwann ausgezahlt?“
Der Varietébesitzer lachte, tief und volltönend. „Ich habe zuhause wohl doch etwas gelernt. Aber genug der Unhöflichkeiten. Warum stellst du mich nicht deiner wunderschönen Begleitung vor oder hast etwa du etwas verlernt?“
Adèle lachte nur auf das leichte Geplänkel und versetzte: „Das habe ich ganz sicher nicht, Casanova, aber manchmal erwischen selbst mich Überraschungen kalt. Wie diese zum Beispiel.“
Lesedi hatte dem neckenden Gespräch lächelnd zugehört, die beiden waren offensichtlich sehr vertraut miteinander, als hätten sie sich nicht eine längere Zeit nicht gesehen, sondern erst gestern. Vermutlich waren sie mehr gewesen als nur Freunde, aber was auch immer gewesen war, sie hatten sich in Freundschaft getrennt.
Manchmal beneidete sie Adèle. Die Ältere schien so leicht überall Kameraden zu finden, Anschluss oder einfach nur wohlmeinende Gesellschaft. Lesedi kam sich jedes Mal und überall fehl am Platze vor, außen vorgelassen, fremd.
Jetzt wandte Adèle sich zu ihrer Freundin und erklärte: „Lesedi, das ist Kjetil Hagebak. Er ist ein alter … Freund von mir und anscheinend gehört ihm dieses Etablissement.“ Sie wandte sich wieder um. „Kjetil, eine äußerst gute Freundin von mir, Lesedi Jackson, die beste Tänzerin, die ich je gesehen habe. Ich wette, sie kann jedes deiner Mädchen in den Schatten stellen.“
IV
Die Trainingshalle war bis auf die beiden Längsseiten gänzlich verspiegelt. Eine Wand bestand komplett aus deckenhohen Fenstern und die gegenüberliegende war mit Holz vertäfelt. Eine etwa hüfthohe Stange zog sich die gesamte Breite des Raumes entlang und einige junge Mädchen führten Übungen dort aus.
Die meisten trugen oft gebrauchte Trikots und abgenutzte Ballettschuhe. Dem Boden sah man die häufige Nutzung an und die Spiegel könnten mal wieder geputzt werden. Diese Halle war definitiv keines der besseren Ballettcenter, aber die Schülerinnen und die wenigen Schüler hier waren nicht mit weniger Leidenschaft dabei als in den auf Hochglanz und Glitzer aufpolierten teuren Schulen.
Lesedi stand in der Nähe der Fenster, angestrahlt vom Licht der UV-Lampen, die draußen unter dem Highway angebracht waren, der direkt dort vorbeiführte. Ihre schlanke, geschmeidige Gestalt, biegsam und fest wie ein Schilfhalm, folgte elegant einer Abfolge von Bewegungen. Das lange, zu einem straffen Pferdeschwanz nach hinten gebundene Haar ließ ihr hübsches Gesicht noch strenger wirken als es sowieso schon war und ihre bernsteinfarbenen, von langen Wimpern umgebenen Augen waren halb geschlossen.
Eine Gruppe Mädchen zwischen zehn und vierzehn standen in einem großen Kreis um sie herum und sahen fasziniert zu. Es mochte sein, dass sie es aus verschiedenen Gründen nie an eines der großen Balletts schaffen würde – aber hier war sie dennoch die Beste, das Vorbild, das Idol, hinter dem jeder nacheiferte, das Optimum.
Die Anfänger wollten sein wie sie, die Jüngsten unter ihnen bekamen sogar strahlende Augen, die Älteren eiferten ihr nach, verglichen sich mit ihr, konkurrierten. Aber Lesedi hängte sie alle ab, mit unnachahmlicher Leichtigkeit und der kühnen Wildheit, die ihr innewohnte, auch wenn sie sie tief in sich verbarg.
Sie hatte es so verdient, diese Stelle, die sie wollte, die Hauptrolle. Sie hatte es so verdient, auf der Bühne zu stehen. Sie hatte es so verdient, umjubelt und bewundert zu werden. Und wenn sie es nicht auf die große Bühne schaffte, weil niemand sie ließ, dann würde sie sich irgendwann, wie Adèle sicher war, eine kleinere suchen.
Eine andere Bühne, die ein Talent wie ihres begeistert empfing und ihr die Rolle gab, die ihr zustand. Ein anderes, offeneres Publikum, dass ihr zujubelte, so wie diese ihre Mitschüler sie anhimmelten.
Und Adèle stand abseits und wünschte sich, dass diese harte Welt ihrer jungen, trotz aller Unerbittlichkeit optimistischen Freundin diesen einen Wunsch erfüllte, für den sie so hart arbeitete. Aber gleichzeitig wusste sie – das würde nicht so sein.
V
Die Stühle im Donkey-Eared Diner waren hart und unkomfortabel, die Aufmachung in grellem Orange und Hellgrün, was sich grässlich biss, und die hässlichen Uniformen waren ekelhaft unbequem. Lesedi war jedes Mal froh, wenn sie die verhassten Kleidungsstücke wieder ausziehen konnte. Aber das Essen war gut und die Burger und Pfannkuchen galten als die besten der gesamten Stadt, was Kundschaft anlockte.
Der verführerische Duft von frisch aufgebrühtem, echtem Kaffee, gebratenen Eiern und Omeletts hing in der Luft. Die wenigen Gäste, die um diese Uhrzeit – der mauen Spanne zwischen Frühstück und Mittagessen – hier waren, unterhielten sich mit gesenkten Stimmen. Eine allgemein friedliche Stimmung hatte sich in dem Lokal ausgebreitet, die die leise Musik aus dem Radio nur unterstützte.
Lesedi fragte gar nicht mehr, warum der Besitzer des Diners, Raniero Aalders, nicht die Inneneinrichtung umbauen ließ oder zumindest ein paar bequemere Sitzangelegenheiten heranschaffte. Eine anständige Antwort hatte sowieso noch nie jemand auf diese Frage bekommen. Dennoch war das Diner gut besucht, nicht nur von seiner Stammkundschaft, sondern auch von jenen, die hörten, wie gut das Essen hier war – Mundpropaganda war die wirksamste Werbung für dieses Lokal und sie wirkte.
Auch wenn die Uniformen der Kellnerinnen schrecklich waren, an allem anderen ließ es der Chef nicht mangeln und Lesedi war froh darum. Sie brauchte nicht viel zum Leben, aber sie musste ihre Tanzstunden irgendwie bezahlen, und obwohl ihr Lehrer beim besten Willen nicht zu den hundert besten der Stadt gehörte, so nahm er doch eine Summe, die sie gerade so bezahlen konnte.
Und lieber sparte sie an ihrem Essen oder ihrem Schlaf als an ihren Tanzstunden. Sie wollte nicht in diesen Teufelskreis hineinrutschen, der aus Job-Vortanzen-keine Stelle finden-keine Übung mehr haben bestand und für so viele Künstler das Aus bedeutete. Die Stelle im Donkey-Eared Diner war darum perfekt für sie, mit ihrer verhältnismäßig guten Bezahlung, den äußerst flexiblen Arbeitszeiten, dem relaxten Chef und den tollen Kolleginnen.
Die Zeit, in der sie nicht mehr zu tun hatte, als die Gäste im Auge zu halten, ob diese nicht vielleicht noch einen weiteren Wunsch hatten – wie im Moment – verbrachte sie mit einfachen Übungen im Hinterzimmer, Entspannung oder ähnlich. Im Moment saß sie auf einem der Barhocker, ihren Tabletcomputer vor sich, und schaute Videos an. Die Musik war so leise gestellt, dass sie beinahe im Gedudel des Radios unterging, das nur dann nicht lief, wenn die antike Jukebox zum Einsatz kam.
Seit Tagen schon klickte sie sich durch Videos auf verschiedenen Internetkanälen, die meisten aufgenommen durch Phoneras, die kleinen in die Smartphones eingebauten Aufnahmegeräte. Von Varieté (was ihr am besten gefiel) über Kabarett (was lustig war, aber nicht ganz ihre Sparte traf) bis hin zu Burlesque (was sie vermutlich niemals tun könnte) war vermutlich alles dabei, was dieses Gebiet der Bühnenkunst zu bieten hatte.
Dieser eine Besuch, den Adèle ihr in Kjetils Varieté spendiert hatte, hatte sie nicht mehr losgelassen. Ihre Faszination schien nur mit jedem Video weiter zu steigen und je tiefer sie in diese so fremdartig wirkende Welt eintauchte, desto größter wurde sie. Und da sie sich keinen weiteren Besuch in einem Varieté leisten konnte, hatte sie den anderen, weniger berauschenden, aber dafür eindeutig günstigeren Weg gewählt und ins Internet eingetaucht um dort zu recherchieren.
Inzwischen hatte sie herausgefunden, dass das Etablissement des Norwegers sehr schnell eine Art Kultstatus erreicht hatte. Es war keines jener großen, in die Dutzende von Menschen passten und wo es mehrere Räume und verschiedene Shows gab, sondern verhältnismäßig klein. Aber die Darbietungen – im Grunde schon Spektakel zu nennen – galten als außergewöhnlich selbst für das Außergewöhnliche und die Künstler zählten zu der Crème de la Crème der Szene.
Bei jedem Video, das sie ansah, stellte sie sich die hypothetischen Fragen, wie es hinter der Bühne ablief, wie lange die Leute brauchten, um ihre Auftritte vorzubereiten, und wer überhaupt das Programm aufstellte. Wie es wäre, ein Teil dieser Welt zu sein.
Und jedes Mal, wenn sie diesen Punkt erreicht hatte, riss sie sich gewaltsam zurück und verließ ihren Computer, um sich der Kaffeemaschine zu widmen, einen der Tische oder den Tresen abzuwischen, Servietten oder Speisekarten oder Geschirr zu ordnen. Aber jedes Mal trieb es sie zurück zu ihrem kleinen Rechner und den Videos darauf, die sie noch ansehen wollte, von tanzenden Mädchen und Paaren, Zauberern, Artisten, Feuerkünstlern und all den anderen Gestalten, die ihr so phantastisch vorkamen und unveränderlich Teil der Welt des Varieté waren.
Und zu der Frage, wie es dort war, und dem Wunsch, ein Teil davon zu sein.
Sie fragte sich, ob es sehr viel anders war als die Welt des Balletts, die so konkurrenzbetont und rivalisierend war und so hart, dass so viele an ihr zerbrachen. Vermutlich schon. Kaum etwas war so erbarmungslos wie Ballett, bei dem es nur um Perfektion ging und darum diese mühelos erscheinen zu lassen.
„So interessant?“, wollte Myranda, die andere Kellnerin, die diese Schicht Dienst hatte, plötzlich wissen und Lesedi zuckte so heftig zusammen, dass sie beinahe ihren Computer vom Tresen gefegt hätte.
„Erschreck mich doch nicht so!“, rief sie aus und Myranda lachte mit funkelnden Augen. „Tut mir leid. Aber hab ich wissen können, dass du so vertieft darin bist, dass du nicht mal merkst, wenn ich mich neben dich stelle? Da hat dich ja ein richtiges Fieber gepackt.“
Lesedi hob verlegen die Schultern. „Manchmal bin ich wie taub, wenn …“ Sie verstummte und vollendete den Satz nur in Gedanken, als das Klarsicht in ihr erwachte. … wenn die Leidenschaft sie wirklich mitriss.
Bis jetzt war ihr das nur passiert, wenn sie sich dem Thema widmete, dem sie ihr Leben verschrieben hatte: dem Ballett. Dem Tanz, genaugenommen, aber der war bei ihr immer so unveränderlich mit dem Ballett verknüpft, dass das eine ohne das andere kaum vorstellbar war, unveränderbar miteinander verbunden. Aber auch das hier war Tanz, ein Teil jener Welt um Kunst, Bewegung, Können und der Vorführung.
Und diese Erkenntnis traf sie wie ein Schlag.
VI
„Du wirst doch nicht etwa krank, oder?“ Adèle bekam beinahe ein schlechtes Gewissen, als sie sah, wie Lesedi heftig zusammenzuckte. Die Angesprochene wandte ihr das Gesicht zu, der Ausdruck unleserlich.
Sie war schon seit einiger Zeit zerstreut und etwas neben sich. Wann immer sie die Gelegenheit hatte, wann immer man sie ließ, schweiften ihre Gedanken ab und ihre Aufmerksamkeit schwand. Sie sagte nicht, wohin; sie sprach überhaupt nicht darüber, aber Adèle konnte es sehen.
Da war etwas, das ihre Freundin beschäftigte und wenn diese irgendwann darüber sprechen wollte, würde sie da sein, aber im Moment holte selbst sie nichts aus ihr heraus. Ein Denkprozess hatte sich in Lesedi in Gang gesetzt, das war deutlich zu erkennen. Eine Veränderung, über die die jüngere Frau noch nicht sprechen wollte und sich vielleicht noch nicht einmal selbst im Klaren war.
Vermutlich würde es noch einige Zeit dauern, bis sie zu einem Ergebnis gekommen war – mit welchem Thema auch immer sie überhaupt beschäftigt war. Adèle jedenfalls war gespannt, wohin das alles führte, und hoffte, dass es sie weiterbrachte.
In den letzten Jahren war sie immer nur auf der Stelle getreten, hatte hart gearbeitet – im Job sowie im Training – nur um nicht zurückzufallen und war jedes Mal doch wieder zu Boden gestoßen worden, wann immer sie die Hoffnung auf eine Stelle im Ballett gehabt hatte. Adèle war so stolz auf sie, dass sie nicht irgendwann entlang dieses langen, harten Weges einfach aufgegeben und alles hingeworfen hatte.
Nicht viele hatten die Stärke dazu, diesen stahlharten Willen, die stillschweigende Hoffnung, doch noch das Ziel zu erreichen, trotz allem Widerstand, allen Hürden, aller Ablehnung. Und davon kannte Lesedi, weiß Gott, sicher genug. Davon hatte sie genug gespürt, hatte man ihr genug ins Gesicht geschlagen.
Adèle wusste es, denn sie hatte sie eine so weite Strecke ihres schweren Weges begleitet, hatte gesehen, wie sie Mal ums Mal gestolpert und gefallen und Mal ums Mal wieder aufgestanden war. Hatte gesehen, wie sie beinahe daran zerbrochen war, jedes Mal ein Stückchen näher an der Niederlage, an der Hoffnungslosigkeit.
Aber jetzt veränderte sich alles, es war ihr anzusehen, in ihrer Haltung, ihrer Ausstrahlung, ihrem gesamten Verhalten. Die Zuversicht, mit der sie in die Stadt gekommen war um zu lernen und zu tanzen, und die ihr Stück für Stück genommen worden war, weil man ihr keine Chance gegeben hatte, kam mit aller Macht zurück. Und es stand ihr gut.
„Nein.“, antwortete Lesedi. „Mir geht es gut. Ich mache mir zur Zeit … nur ein paar Gedanken.“
VII
Menschen schoben sich durch die Straßen, nur auf ihren Weg achtend und das, was vor ihnen lag. Einige sprachen hastig in ihre Smartphones, Geschäftsleute fummelten auf ihren Tabletcomputern herum und Mütter zerrten ihre quengelnden Kinder hinterher. Autos schlängelten sich langsam durch die Straßen, im Gegensatz zu den meisten Fahrradfahrern, die mit ihrem halsbrecherischem Tempo nicht nur sich, sondern auch die Fußgänger gefährdeten. Alles in allem ein normaler Tag in einer dicht besuchten Einkaufspassage wie dieser.
Von der Trainingshalle waren Lesedi und Adèle direkt hergekommen, ihr Ziel war das große Opernhaus, das einen Mittelpunkt für das Viertel bildete. Dort hatte sie erneut ein Vortanzen und Adèle hatte versprochen, sie diesmal zu begleiten, ein persönliches Maskottchen, wie sie sich lachend ausgedrückt hatte, ein Glücksbringer. Vielleicht half es sogar.
Doch wie auch immer es lief, es war die letzte Chance, die Lesedi dem Ballett gab.
Sie wusste nicht genau, wann sie diesen Entschluss gefasst hatte, aber inzwischen stand er fest und unverrückbar. Sie konnte nicht ewig einem Traum nachjagen, der so weit weg und unerreichbar war. Und warum sollte sie? Wenn das Ballett ihr keine Chance gab, warum sollte sie umgekehrt entgegenkommender sein?
Sie hatte eine andere Idee, eine, die hoffentlich besser klappen würde.
Das Opernhaus befand sich in keinem der Türme, die den Großteil der Gebäude hier ausmachten, sondern auf einer der Plattformen, ein frei stehender Bau, prachtvoll wie jene in alter Zeit, wenn auch in völlig anderem Stil – Stahl und Glas herrschten vor und der Architekt musste ein Künstler sein, denn es wirkte leicht und absolut nicht hart oder kalt, wie man es bei diesen Materialien eigentlich erwarten sollte.
Einige Stufen führten zum Haupteingang hinauf und bei jedem Schritt schlug ihr ihre Sportstasche gegen die Beine. Sie fühlte sich seltsam gelöst, sicher – als hätte sie nur gebraucht, diesen einen Entschluss zu fassen. Plötzlich stand ihr die ganze Welt offen, mit all ihren Möglichkeiten, ihren Chancen, ihren glücklichen Zufällen. Wie hatte sie sich nur auf diese eine Sache versteifen können? Beinahe hatte sie alles verpasst.
Am oberen Treppenabsatz blieb sie stehen und legte den Kopf in den Nacken. Die Sonne spiegelte auf den verglasten Flächen des Gebäudes, was zeigte, wie weit oben in der Stadt sie wirklich waren, und sie musste gegen das helle Licht blinzeln. Adèle war eine beständige Präsenz neben ihr, still und zuversichtlich, und sie lächelte ermutigend, als Lesedi ihr einen Blick zuwarf. „Du machst das, Liebes. Denk daran, was ich über Chancen gesagt habe.“
„Sie warten nur?“, hakte die Tänzerin nach, aber sie wartete nicht auf eine Antwort. „Vielleicht tun sie das.“ Sie hob die Schultern. Aber vielleicht nicht unbedingt hier. Vielleicht muss man sein Blickfeld erweitern, sich anderswo umsehen. Vielleicht war es das, worauf sie die ganze Zeit gewartet hatte.
„Hör zu, Adèle. Wenn sie mich hier wieder nicht nehmen…“, begann sie und musste sich unterbrechen. Es war nicht einfach, ein so altes Ziel loszulassen, eines, an dem sie so lange festgehalten hatte, stur und verbohrt wie sie war.
Sie musste heftig schlucken und schloss für einen Moment die Augen, um die aufgewühlten Gefühle unter Kontrolle zu bringen – da war der Aufbruch und die Aussicht, die ganze Welt plötzlich zu Füßen zu haben, doch da waren auch Bitterkeit, Wehmut und die Enttäuschung, es doch nicht geschafft zu haben.
Die dunkle Stimme ihrer Freundin holte sie in die Gegenwart zurück. „Du wirst es schaffen. Denk positiv. Du bist hier, du bist in Topform, die Sonne – die richtige Sonne – lacht dich an, dieses Ballettensemble gilt als sehr fortschrittlich und ich werde dich anfeuern. Wie kann es da schief gehen?“
Lesedi gestattete sich ein müdes Lächeln, das überhaupt nicht zuversichtlich wirkte. „Vielleicht. Vielleicht nutzt es nichts. Aber – wenn ich es nicht schaffe… Kannst du dann deinen Freund aus Norwegen fragen, ob ich bei ihm vortanzen kann? Vielleicht nimmt er mich.“
Adèle starrte sie an, ihre Augen groß und rund wie Steine, ihre Kinnlade undamenhaft beinahe auf ihrer Brust. Anscheinend gab es doch noch Dinge, die diese gelassene, weltgewandte, beherrschte Frau aus dem Konzept brachten. Erstaunlich, dass selbst Lesedi es konnte. „Aber… aber, Lesedi…?“
Diese hob die Hand. „Ich hab lange darüber nachgedacht.“, erklärte sie mit ruhiger, fester Stimme. „Und ich glaube nicht, dass ich große Chancen in der Ballettwelt habe. Hier, das ist das letzte Mal, dass ich für ein Ballett vortanze. Glaub mir, diese Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen, aber ich denke, dass es besser ist, für mich. Vielleicht war der Gegenwind, den ich immer bekommen habe, einfach ein Zeichen dafür, dass das nicht die richtige Art von Tanz für mich ist. Dass ich etwas anderes machen soll. Dass ich noch andere Chancen habe und mich nicht nur auf diese eine Richtung versteifen darf, die mir immer nur den Stinkefinger gezeigt hat.
Und weißt du was? Ich fühle mich gut. Besser als seit … Jahren, wirklich. Als hätte ich endlich eine Chance, verstehst du? Als müsste ich nur danach greifen. Und das werde ich tun.“ Sie nickte, entschlossener denn je. „Also? Stellst du mich Kjetil vor oder fragst du, ob ich bei ihm vortanzen kann? Vielleicht braucht er noch eine Tänzerin. Oder gibst du mir wenigstens seine Nummer, damit ich selbst fragen kann?“
Das Lächeln, das jetzt auf Adèles schöne Züge trat, war breit, erfreut und ehrlich. „Natürlich werde ich das tun. Lesedi, ich werde dich unterstützen, egal, was du tust. Und ich glaube ehrlich, dass du beim Varieté besser aufgehoben wärest als bei dem Ballett. Aber jetzt gehst du da rein.“ Sie deutete auf das große Tor der Oper, ihre Stimme wild und bestimmend. „Und zeigst diesen Lackaffen da drinnen, was für eine großartige Tänzerin du bist. Und wenn sie dich nicht nehmen – das ist ihr Verlust. Du hast etwas Besseres verdient, als ständig anzufragen und zu warten.“
Lesedi lachte und dieses Mal erschien ihr die Eingangstür des Gebäudes nicht wie das Maul einer Bestie, sondern wie das Tor in den Sand einer Arena. Und sie nahm die Herausforderung an.