Once in a blue moon
Menschen waren einfallsreich, wenn es darum ging die Schuld ihres Unglückes auf andere zu schieben. Niemals hatte Jack mehr kreative Köpfe unbewusst ihre Ideen teilen sehen, wo das Ergebnis doch nur in Schwachsinn endete. Wirklich hatten die Leute nichts besseres zutun? Wohl kaum, denn es herrschte Frieden und das Königreich, in dem er sich aus Neugierde befand, lebte in Wohlstand wie kein anderes. Man hatte Langeweile und eigentlich wäre dieser Ort von keinstem Interesse für ihn, wäre da nicht dieses Gerücht, dass der Mond die Königin unheilbar krank gemacht hätte.
Mittlerweile wusste Jack, dass die Wege des Mondes unergründlich waren, was nicht bedeutete, dass er sich damit abfand oder es ihm gefiel. Der Mond hatte ihn wieder ins Lebens zurück geholt, seine Lungen wieder mit Luft gefüllt. Auch wenn man sich darüber streiten konnte, ob man es wirklich Leben nennen konnte, wenn niemand einen sehen oder hören konnte.
Anders war es bei der Königin, auf der die Augen des ganzen Volkes ruhten. Alle sorgten sich um sie, wollten helfen. Viele Menschen machten sich auf die Suche nach etwas, was „Träne der Sonne“ genannt wurde. Was für eine Ironie, dass sie dem Mond die Schuld gaben, aber sich die Hilfe von der Sonne erhofften.
Wenn er ehrlich war, hatte er keine Hoffnung auf Besserung. Tragödien geschahen, Menschen starben jeden Tag - wie es ihm selbst geschehen war. Natürlich wünschte er es niemandem, aber irgendwann musste man es akzeptieren, oder nicht? Aber er irrte sich. Entgegen seiner Erwartungen fanden sie die Blume, die einen Funken Magie enthielt. Das Dorf war in heller Aufregung und feierte mehrere Tage lang über den Sieg der Krankheit, doch es war dieser eine Tag, der Jack für immer in Erinnerung bleiben würde. Der Tag an dem die Nacht zum Tag gemacht wurde. Der Geburtstag der Prinzessin mit dem goldenen Haar, die ein ganzes Volk mit ihrem Lächeln verzauberte.
Es war ein Jahr später, dass der Wind ihn wieder zu diesem Ort trug. Eigentlich hatte er erwartet wieder in die fröhlichen Gesichter der Leute zu sehen, wo ihr erster Geburtstag nahte. War das kein Grund zum Feiern? Doch stattdessen entdeckte er nur hin und wieder einen traurigen Blick in Richtung Schloss.
Ohne wirklich zu verstehen, was vor sich ging, blieb er nicht länger. Warum sollte er? Er war nicht da, um Menschen glücklich zu machen. Kinder ja, aber kein gesamtes Königreich.
Im Licht der Abendsonne war das Weinen eines Kindes alles, was er wahrnahm während er sich einfach durch die Lüfte gleiten ließ. Neugierde lockte den Wintergeist zu einem der höchsten Türme, die er in seinen mittlerweile 120 Jahren gesehen hatte. Der Turm schien weder einen Eingang zu besitzen noch viele Fenster bis auf eines, was dem höchsten Zimmer zu gehören schien. Dreist wie er war - und mal ehrlich, wie hoch standen schon die Chancen, dass ihn jemand bemerkte? - landete er auf dem Fenstersims. Federleicht hüpfte er ins Zimmer. Der Raum war leer, erschien nahezu spartanisch mit einigen wenigen Regalen ohne Inhalt. Einzig eine Kinderwiege stand dort, die der Ursprung des Geplärres zu sein schien. Nachdem er sich umgesehen hatte, dass wirklich niemand nach dem Kind zu sehen versuchte, lugte er vorsichtig über den Rand der Krippe. Dort lag ein Mädchen mit langem blondem Haar ähnlich der Beschreibung wie die Dorfbewohner die Prinzessin angepriesen hatten. So beschäftigt der Welt ihre Trauer mitzuteilen bemerkte sie den Fremden erst gar nicht, bis sie zwischen den Tränen einen Blick auf ihn warf und ihre Schluchzer langsam erstickten. Stattdessen sahen zwei große grüne Augen direkt zu der Person über sich, bis sie quengelnd die Ärmchen nach ihm ausstreckte. Ungläubig weiteten sich seine Augen und umrundete einmal das Kind nur um zu prüfen, wie ihr Blick ihm weitestgehend folgte immer noch unerfreut, aber ruhiger mit dem Wissen nicht mehr allein zu sein.
„Du kannst mich sehen?“, fragte er schließlich und hielt ihr vorsichtig die Hand hin. Immerhin schien sie nicht sonderlich gesprächig zu sein, doch streiften ihre Finger die seinen. Überrascht zog er erst die Hand zurück. So lange hatte er niemanden mehr berühren können, aber dieses Kind schien zu glauben. Es konnte ihn sehen, sogar berühren. Wie war das möglich?
Ein weiteres Mal streckte er die Hand nach der kleineren aus, nur damit sich diese um einen Finger von ihm wickeln konnte. Alleine der sanfte Druck, den sie ausübte, brachte ihn zum lachen, so schwer war es immernoch für ihn zu glauben endlich jemand anderen spüren zu können. Es schien wie ein Wunder.
Und in dieses Gelächter stimmte ihre kindliche Stimme mit ein. „Oh, du glaubst gar nicht, wie mir gerade ein Stein vom Herzen fällt! Ich dachte schon, niemand würde mich sehen können!“, erzählte er euphorisch und strich ihr über den Kopf. „Wie alt bist du genau? Wie ist dein Name? Ich würde dich gerne so vieles fragen!“ Wie war es möglich, dass sie an ihn glauben konnte?
Sie kicherte nur. Es war ein bezaubernder Ton, der selbst den Geist der Kälte erwärmen ließ.
Doch erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. „Ich bin gleich wieder da“, flüsterte er, befreite sich aus dem Klammergriff des Kindes und schritt ans Fenster. Am Horizont stiegen tausende von Lichtern auf, die die Dunkelheit vertrieben. Fasziniert wie an jenem Tag vor einem Jahr beobachtete er das Schauspiel der Laternen und kletterte unbewusst auf den Fenstersims um sich zu ihnen tragen zu lassen. Noch bevor er sich von dem Stein abstoßen konnte, riss ihn ein erneutes Wimmern, das drohte lauter zu werden, wieder in die Realität.
„Hey, shhht. Es ist doch alles gut!“, beruhigte er das Mädchen was versucht hatte sich an einer Seite ihres Bettchens hochzuziehen und ihn mit großen Augen ansah als würde er sie verlassen und nie wieder zurück kommen. „Ich bin doch noch hier. Kein Grund zu weinen“, tröstete er sie und klopfte ihr sanft auf das Haar. Dabei wusste er, hätte sie sich nicht bemerkbar gemacht, wäre er einfach fort geflogen. Ob er wiedergekommen wäre? Soweit hatte er in diesem Moment nicht gedacht.
„Komm, ich zeig dir etwas“, grinste er schließlich und hob sie auf den Arm. Während sie ans Fenster gingen erzählte er vereinfacht die Geschehnisse, die sich vor einem Jahr ereignet hatten. „Die Königin bekam eine Tochter und zu Ehren ihres Geburtstages zündeten sie Laternen an, die den gesamten Himmel erleuchteten - zumindest sah es für die Dorfbewohner so aus, da der Himmel um einiges größer ist als sie glauben. Anscheinend wiederholen sie es dieses Jahr.“ Dabei hatte es nicht nach einer Feier ausgesehen, als er das Dorf besucht hatte.
Doch das Mädchen auf seinem Arm lauschte ihm kaum noch. Viel zu gebannt war es von der Dunkelheit, die den Laternen wich, während Jack weiter sprach und mit ihr in den Nachthimmel sah.
„Die Prinzessin müsste ungefähr in deinem Alter sein, genauso blond“, grinste er und wuschelte ihr dabei durch die Haare, was ihr protestierende Laute entlockte „und ganz sicherlich geliebt.“
An diesem Abend wusste Jack Frost nicht, dass er den ersten Geburtstag mit der genannten Prinzessin verbrachte. Dieses Wissen ereilte ihn erst ein Jahr später. Und jedes Jahr würden sie an diesem Tag gemeinsam in den Himmel sehen, der die tiefste Dunkelheit und die schlimmsten Ängste in ihren Herzen zurück zu drängen vermochte.
The girl who remembered
„Mein Name ist Rapunzel.“
Sie zählte schon die Tage bis zu ihrem achten Geburtstag. Ihre Mutter war schon zu Bett gegangen, ohne die leiseste Ahnung zu haben, dass ihre Tochter noch lange kein Auge zugetan hatte. Kniend vor dem Bett hatte das Kind die Hände gefalten und die Augen geschlossen, während sie fest an ihren Wunsch dachte und flüsterte:
„Ich weiß nicht, ob das funktioniert, aber in den Büchern steht, wenn man sich etwas wünscht könnte ich es dir erzählen und dass es ganz vielleicht wahr werden würde.“ Wenn sie ehrlich war, wusste sie nicht einmal mit wem sie genau sprach, aber sie hatte das Gefühl, dass sie es wenigstens versuchen musste.„Ich hoffe, ich störe dich jetzt nicht, aber da gibt es etwas, was ich mir wirklich sehr wünsche.“
Es sollte kein Geheimnis sein, dass ein Kind in diesem Alter, welches so oft alleine war, ohne Vater aufwuchs und ohne Möglichkeit nach draußen zu gelangen, Einsamkeit kannte.
„Ich weiß, ich dürfte dich das nicht bitten - immerhin sollte ich rundum glücklich sein - aber nur ein Mal... nur ein Mal möchte ich mir die Lichter an meinem Geburtstag nicht alleine ansehen...“
Denn so lieb ihre Mutter war, die Lichter, die das Mädchen so faszinierten versuchte sie ihr jedes Mal auszureden. Es wäre nicht wichtig, sagte sie.
„Kennst du jemanden, der so lieb wäre? Irgendjemanden?“
„Als Kind hatte ich einen imaginären Freund.“
Er kam. Nur an diesem einen Abend war er bei ihr, aber es war alles, was sie sich gewünscht hatte. Egal, wie unwirklich er ihr erschien mit seinem schneeweißen Haar und den hellblauen Augen, die selbst in der Dunkelheit zu leuchten schienen vor Freude.
„Du kannst mich sehen?“, fragte er. Anscheinend hatte er dieses Ereignis für so abwegig gehalten wie sie. Auf ihr Nicken hin, hatte er Luftsprünge gemacht, wobei Schneeflocken durch die Luft gewirbelt war. Irritiert hielt sie die Hand auf um eine zu fangen, doch schmolz sie bei der Berührung. Sie versuchte es erneut, aber es war dasselbe Spiel.
„Ist das Wasser?“ Ihre großen, grünen Augen waren nun auf ihn gerichtet, der stutzte.
„Sag bloß, du kennst keinen Schnee“, erwiderte er ungläubig.
„Schnee?“, wiederholte sie blinzelnd „Doch! Ich habe davon gelesen!“ Ein triumphales Grinsen streckte sich über ihr Gesicht, während er nur amüsiert den Kopf schüttelte.
„Letzte Nacht war die Nacht vor meiner Hochzeit.“
‚Sagenfigur‘ hatten sie gesagt. Jack Frost war ein Mythos. Nicht echt, nicht real. Der einzige Mensch, dem sie von ihm erzählen konnte, hatte gelacht. Ihre Mutter lobte sie nur für ihre blühende Phantasie. Aber sie wusste es besser. Er hatte ihr erzählt, er würde den Winter bringen. Und dann würde er sie mitnehmen, ihr den Schnee und den Frost hautnah vorstellen. Zu diesem Anlass begann sie sich Winterkleidung zu nähen, auch wenn sie nur mühsam mit der Hand nähte - aber bis zum Winter hatte sie viel Zeit. So fand sie eine Beschäftigung während sie wartete.
Doch er kam nicht. Weder er noch das Winterwunderland, von dem er so geschwärmt hatte.
Jahre vergingen und ein Dieb namens Eugene fand den Turm. Nach aggressiven Verhandlungen mithilfe einer Bratpfanne, schaffte sie es zusammen mit ihm den Turm zu verlassen. Es war das erste Mal seit zehn Jahren, dass sie die schwebenden Lichter mit jemandem zusammen betrachtete. Doch es blieb nicht so friedlich. Die Ereignisse überschlugen sich, als sie herausfand, dass Gothel nicht ihre Mutter und sie in Wirklichkeit die verlorene Prinzessin des Königreichs Corona war. Gothel zerfiel zu Staub als Rapunzels langen Haare mit einer Glasscherbe durchtrennt wurden und ihre magischen Fähigkeiten einbüßten. Eugene war es zu verdanken, dass sie alles heil überstanden hatte. Sie hatte ihren Weg zurück nach Hause gefunden, in die Arme ihrer Familie. Dabei wollte sie die Hand ihres Retters allerdings nicht loslassen. Sie beschlossen gemeinsam - laut ihm war sie es, die um seine Hand angehalten hatte - zu heiraten.
Nur noch eine Nacht trennte sie vor dem großen Tag, doch diese Unruhe in ihr wollte nicht enden. Die Vorbereitungen waren perfekt. Sie müsste beruhigt sein. Jeder, der ihr nur ein wenig bedeutete war eingeladen (obwohl sie nie die Gelegenheit gehabt hatte, viele Freunde außerhalb des Turms zu finden). Und doch ließ sie der Gedanke nicht los, dass etwas fehlte. Oder jemand. Aber es war wichtig.
Allein stand sie nun in ihrem dunklen Zimmer, nur das schwache Licht des Mondes erhellte die Räumlichkeiten spärlich. Sie fuhr mit den Fingern den großen Tisch entlang ehe sie stehen blieb. Vor ihr lag die Krone, die zu ihrer Geburt angefertigt worden war, auf einem dünnen Kissen gebettet. Sie hatte Eugene zu ihr und letzten Endes auch sie nach Hause geführt. Und am morgigen Tag würde sie sie zum Altar begleiten.
Sie hob den Blick an. Ihre grünen Augen fanden sich selbst im Spiegel. Aber war sie es wirklich? Immer noch hatte sie Probleme sich an ihr Spiegelbild zu gewöhnen. Nie wieder würden lange blonde Locken ihr Gesicht umranden. Stattdessen fuhr sie mit der Hand, die bis eben auf dem Schreibtisch geruht hatte, durch ihre brünette Kurzhaarfrisur. Wenn man so wollte, konnte man es auch ihr ‚etwas Neues‘ nennen.
Das ‚Geborgte‘ befand sich an ihrem Ringfinger. Eugene hatte darauf bestanden, selbst für den Trauring aufzukommen. Allerdings schien es schwer für einen früheren Dieb seine Gewohnheiten komplett abzulegen, wie sie feststellen musste. Als sie davon erfuhr, hatte sie mit der Besitzerin gesprochen, dass sie ihren Ring nach der Feier wiederbekam. Zum Glück gab es deswegen keine größeren Probleme und die junge Frau hatte sich geehrt gefühlt, dass es ihr Ring am Finger der Prinzessin war - wenn auch nur für ein paar Tage.
„Etwas Altes, etwas Neues, etwas Geliehenes und“, murmelte sie „etwas fehlt.“
Sie war sich sicher, dass sie alles gehabt hatte. So sicher. Aber wie konnte sie es dann vergessen? „Etwas Blaues.“
Die Farbe blitzte in ihren Gedanken auf. Ein helles Blau wie der wolkenlose Himmel an einem sonnigen Wintertag, kalt und warm zugleich. Plötzlich fühlte sie sich an ein Paar Augen erinnert. Und etwas war in ihnen. Etwas, was sie vor diesem Tag nie bewusst gesehen hatte.
„Wie konnte ich es vergessen? Etwas so wichtiges.“ Sie sah zu ihrer Handfläche, erinnerte sich an die sanfte Kälte bei einer Berührung. Sie hielt an dem Gedanken fest. Das Weiß, welches sich in seinen Augen befand, erstreckte sich ebenfalls über seine Kleidung, zeichnete verworrene Linien auf den blauen Pullover. Das Weiß, welches seine Haare ausmachte.
„Ich erinnere mich... Jack Frost. Du warst nicht erfunden...“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Sie drehte sich um und sah sich dem meterhohen Fenster gegenüber. „Du warst echt. Ich erinnere mich!“ In aller Euphorie hatte sie ihre Stimme erhoben, ohne sich darüber zu sorgen, ob sie die Aufmerksamkeit von jemandem außerhalb auf sich zog oder nicht. Vielleicht würde er sie nicht wiederfinden, wo sie nicht mehr im Turm wohnte. Vielleicht hatte er sie ebenfalls vergessen. Die Stille legte sich bedrückend im Raum, bis sie ein Klicken hörte. Das Fenster schien sich wie von Geisterhand zu öffnen. Ein leichter Wind erreichte sie, streichelte ihre Wange. Dort war ein weißer Punkt in der Dunkelheit, der fast in Zeitlupe auf sie zuflog. Sie öffnete die Handfläche um es aufzufangen, doch sobald es sie berührte, war es verschwunden. Genau wie letztes Mal.
Als sie aufsah saß er auf dem Fenstersims, seinen Stab fest in den Händen, seine blauen Augen auf sie gerichtet. Diese blauen Augen, die eine Schneeflocke zu verstecken schienen, wenn man sie genauer betrachtete. Ihre verblasste Erinnerung nahm immer mehr Gestalt an.
Eine ihr längst vergessene Stimme drang an ihr Ohr: „Punz?“. Es gab nur eine Person, die sie so nannte. Nur einer einzigen Person hatte sie sich so vorgestellt.
„Und mein imaginärer Freund kam zurück.“
„Rapunzel“, korrigierte sie ihn, da es niemanden gab, der sie noch ‚Punz‘ nennen würde, wo sie nun Prinzessin war.
„Aber... du warst Punzie! Das kleine Mädchen mit den langen blonden Haaren“, warf er ein, als er sich vom Fenstersims abstieß. Die Augen groß vor Überraschung während er näher schritt bis es ihr unangenehm wurde und sie zurück wich. „Was ist passiert?“ Nun deutete er auf ihre Haare.
Peinlich berührt wandte sie den Kopf ab, unterdrückte den Impuls sich in die Haare greifen zu wollen um sich selbst an diese Veränderung zu erinnern. „Ich... bin erwachsen geworden.“
„Oh, sowas tut man doch nicht“, tadelte der Wintergeist sie.
Fassungslos blieben ihr die Worte weg, bis sie zwischen den Zähnen herausbrachte: „Zehn Jahre.“
„Was?“, machte er, da er sie akustisch wohl nicht ganz verstanden hatte. Es konnten doch keine Jahre vergangen sein... das hätte er doch bemerkt, auch wenn sein Zeitgefühl nach so vielen Jahren zu wünschen übrig ließ.
„Über zehn Jahre sind passiert.“
Meeting Rapunzel
„Und? Was sagst du?“, fragte er, nachdem sie das Unterholz hinter sich gelassen hatten. Vor ihnen erstreckte sich ein kleiner, unberührter Fleck des Waldes Coronas. Na ja, sagen wir fast unberührt. Ein schmaler, undeutlicher Weg führte am Fluss vorbei zu einem einsam stehenden Turm, der von den Felswänden geschützt wurde. Es war ein idyllisches Bild, abgeschieden von der Welt und dem Trubel des Königreiches.
„Nun... es ist definitiv kein Schloss“, stellte Eugene fest und stemmte die Hände in die Hüfte, während er das Bild genauer betrachtete. Sein Begleiter schnaubte: „Dir kann man es auch nicht recht machen. Es muss etwas hermachen, die Mädels sollen ja nicht denken man wäre der arme kleine Dieb, der man in Wirklichkeit ist. Groß soll es sein und am besten nicht in der Dorfmitte, wir wollen ja nicht den Berufsverkehr mitbekommen.“
„Was kann ich dafür, wenn du mir nicht zuhörst? Türme sind normalerweise nur ein Teil von Schlössern. Oder willst du mir erzählen, dass sich unter der Erde noch ein Schloss befindet?“
Doch er erntete nur ein Schulterzucken. „Weißt du, wir können auch umkehren und die Sache vergessen“, schlug Jack schließlich vor und plötzlich schien die Gegenwehr in Interesse umzuschwenken.
„Ach, wo wir schon den weiten Weg hier hin gemacht haben... können wir das letzte Stück auch noch hinter uns bringen“, resignierte Eugene etwas zu theatralisch als dass sein Desinteresse von vorhin noch als ernst gelten könnte und begann den Weg entlang zu marschieren.
Nicht, dass Jack es anders erwartet hatte, denn dafür kannte er den im Königreich berüchtigten Dieb nun schon zu lange. Er wusste nicht, warum ausgerechnet Eugene eins der Bücher in die Hände bekommen hatte, in denen Geschichten über den Osterhasen, die Zahnfee, Nord und ihm erzählt wurden. Wobei besonders der Fakt, dass es ihn, Jack Frost, erwähnte ihn gewundert hatte, wo immernoch wenige Leute an ihn glaubten. Natürlich hatte er herausfinden wollen, wie es dazu kam, aber wie es sich heraus stellte war der Teil über ihn nur eine Ergänzung, handgeschrieben und der Autor unbekannt. Doch auch, wenn er den Schreiber nie kennen lernen würde, war er ihm dankbar. Nicht, dass er es je zugeben würde, immerhin hielt Jack genau wie Eugene eine Fassade aufrecht, wo er doch zu stolz war, zuzugeben wie wenige Menschen an ihm glaubten. Im Gegenzug akzeptierte er den neuen Namen und Ruf des Abenteurers Flynn Rider, obwohl er ihn als Waisen voller Phantasie kennen gelernt hatte. Keiner der beiden stellte die Entscheidung oder Aussagen des anderen in (ernsthaft) Frage und nur selten brach Jack die Regel und neckte ihn mit seinem richtigen Namen, worauf er jedes Mal ansprang. Besonders wo er sich nie sicher sein konnte, welche Menschen den Wintergeist hören und nicht hören konnten.
Endlich angekommen wurde der Turm erstmal von nahem betrachtet. „Und hier lebt niemand?“
Jack, der nun schon über hunderte von Jahren auf der Erde wandelte, zuckte mit den Schultern. „Nicht, dass ich wüsste. Zumindest war es, als ich das letzte Mal hier war, unbewohnt und ich bezweifel, dass in den letzten 25 Jahren irgendjemand zufällig hier vorbei kam. Du flüchtest Tag und Nacht durch Dorf und Wald und hast dich noch nie her verirrt.“
„Ich flüchte doch nicht, dass würde ja heißen ich würde vor etwas oder jemandem weglaufen“, erwiderte er mit einem Augenrollen „Ich reise.“
„Du reist mit den Schlosswachen im Rücken“, korrigierte Jack ihn.
„Ja, wie auch immer...“, lachte er, den Blick auf die Mauern gerichtet „Hier gibt es keinen Eingang, du Genie.“
„Und ich dachte, das wäre mal eine Herausforderung für einen geübten Dieb wie dich. Oder müssen diese komischen Brüder das Denken für dich erst übernehmen?“ „Du meinst, die Stabbington Brüder?“ Ja, er hatte mitbekommen, wie sie und Eugene geplant hatten, die Krone zu stehlen, und es war ein Wunder, dass dieser Plan wirklich funktioniert hatte. Doch war keiner der beiden Parteien dafür bekannt gerne zu teilen, weswegen Eugene mehr als zuvor nach einer sicheren Zuflucht suchte - für sich und die geklaute Krone. Was sie dort hin brachte, wo sie nun waren.
„Ich kann Schlösser knacken, durch Fenster einsteigen, aber nicht durch Wände gehen“, erklärte er mit verschränkten Armen.
„Dann solltest du deinen Lernbedarf vielleicht erweitern“, grinste Jack, während er seinen Stab hob und sich vom Wind tragen ließ. Er brauchte keine Minute um das große Fenster oben am Turm zu bemerken, wo er landete.
„Hier drüben kommt man rein!“, rief er, um ein Zeichen zu geben während er über den Rand lugte bevor er kurz den Blick schweifen ließ. Die Aussicht war wirklich nicht schlecht, das musste er zugeben. Kurz sah er nochmal hinab, wo Eugene scheinbar fluchend versuchte die Wand zu erklimmen. Das würde wohl ein paar Minuten dauern. Zeit, in der er sich noch etwas weiter umsehen konnte. Oder etwas höher. Ohne Angst vor dem Fall war es schon immer eine Vorliebe von ihm gewesen auf den höchsten Dächern zu landen und wie sollte er sich anders die Zeit vertreiben, wenn er Eugene nicht am mühsamen Aufstieg hindern dürfte?
Doch währte seine Zeit auf dem Dach des Turms nicht lange als ein dumpfer Laut die Stille unterbrach. „Eugene?!“, rief er besorgt.
Er hatte Kopfschmerzen, stellte er fest noch bevor er die Augen öffnete. Das verschwommene Bild seiner Umgebung half nicht viel ihn zu erinnern, wo er war. Warte, da war ein vertrautes Lachen. Seine Sehkraft normalisierte sich, nur um... Jack zu sehen, wie er gegen ein schadenfrohes Lachen ankämpfte. Sonst würde dieser wohl kaum in seinen Zeigefinger beißen.
Er versuchte sich zu bewegen, aufzustehen, doch etwas hielt ihn zurück, egal, wie sehr er sich versuchte zu befreien. Was...?
„Sind das... Haare?“, fragte er irritiert, sein Blick folgte dem, was ihn an den Stuhl band.
„Widerstand... Widerstand ist zwecklos!“, rief Jemand aus dem Schatten. Er konnte die Stimme allerdings nicht zuordnen.
„Huh?“ Noch mitgenommen von dem Schlag und dem Pochen am Hinterkopf, sah er fragend zu Jack, der sich nun langsam wieder genug unter Kontrolle hatte um zu sprechen ohne sich selbst zu unterbrechen.
„Nun... sagen wir, ich hab mich geirrt“, gestand er mit einem Grinsen, welches gar nicht zu seinen Worten passte „und du wurdest von einem Mädchen bewusstlos geschlagen.“
„Haha... guter Witz... als wäre es möglich, dass mich ein Mädchen so zurichtet“, leugnete er, aber Jack deutete mit einem Kopfnicken nur Richtung Schatten: „Und wie erklärst du dann das?“
Kurz nachdem er das letzte Wort ausgesprochen hatte, bewegte sich eine zierliche Gestalt mit langen blonden Haaren - dieselben, die ihn an den Stuhl fesselten - ins Licht.
„Was ist so lustig daran, von einem Mädchen geschlagen zu werden?“, fragte sie eine Bratpfanne im Notfall zur Abwehr bereit haltend, falls nur einer von ihnen eine falsche Bewegung machte. Dabei war der beste Teil gewesen, wie sie Eugene im Schrank verstaut hatte. Aber das würde Jack ihm bei nächster Gelegenheit schon noch erzählen...
Hide with all your ghosts
Rapunzel erinnerte sich an alles mit beängstigender Klarheit, was ihr Leben betraf. Noch immer konnte sie das Kribbeln fühlen, als sie zum ersten Mal das Gras unter ihren Füßen gespürt hatte. Die Aufregung, als sie zum ersten Mal die Brücke zum Königreich der Sonne überquerte. Die Freude, die sie mit anderen allen teilen wollte als ihre Füße über den Dorfplatz hüpften im Takt der Musik. Das Glück, was sie empfunden hatte, als Eugene ihr in die Augen gesehen hatte, seine Hand ihre Wange striff als er ihr eine Strähne aus dem dem Gesicht strich.
Doch im Alter von 24 endete diese Glückseligkeit für sie.
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„Hast du dich verlaufen? Immerhin ist Winter... und du scheinst mehr der Frühlings-Typ zu sein.“
Dafür erntete der Wintergeist nur einen verständnislosen Blick. „Wo sollte ich denn sonst sein?“, fragte sie und stemmte die Hände in die Hüfte.
Ihre verspielte und lebendige Erscheinung täuschte ihn darüber hinweg, wie verbittert und erstarrt sie sich in Wirklichkeit fühlte.
Die Jahre vergingen. Immernoch fand er sie am selben Ort als wäre es das erste Mal.
„Warum verlässt du diesen Ort nicht?“, frage er während er das Wasser zu seinen Füßen kristallisieren ließ bevor sie es wieder auftaute.
„Hier ist mein Zuhause“, antwortete sie als wäre es das normalste auf der Welt.
„Aber... da draußen ist eine ganze Welt, die wartet“, erklärte er während er aus dem Eis eine Kugel formte „Vielleicht wird irgendwo dort draußen dich jemand sehen können.“
Und da war wieder dieses bittere Lächeln auf ihren Lippen, welches sie auflegte sobald sie über sich selbst sprach. „Ich bin keine Legende, Jack. Wer soll an mich glauben, wenn es niemand hier schafft, wo mich jeder kannte? Dafür...“ war sie noch nicht lange genug tot.
Sie hob ihre Hand und das Wasser begann von seiner festen Form abzuperlen bis es die stetige Strömung des Flusses erreichte. Das Bild erinnerte ihn an Tränen, wobei ihm auffiel, dass er sie noch nie hatte weinen sehen.
„Jack?“ Sein Name auf ihren Lippen erweckte seine Aufmerksamkeit. Sie hatte die Hände sinken lassen und in dem Stoff ihres Kleides vergraben während ihre grünen Augen zwischen seinem Gesicht und dem Boden wanderten. „Warum... sind wir hier?“
Er erinnerte sich daran, wie er Jahrhunderte nach einer Antwort auf diese Frage gesucht hatte, doch selbst jetzt, wo er seinen Platz in der Welt gefunden hatte, konnte er diese Frage nicht beantworten.
„Wir sind nicht lebendig, also... ist es nicht so etwas wie eine zweite Chance. Ihr Hüter sprecht immer nur davon, dass man die Kinder glücklich machen soll und das ist ja auch schön und gut“, fuhr sie fort, ihre Stimme wurde von Wort zu Wort aufgebrachter „aber was ist mit uns? Was ist mit unserem Glück?“
Beschämt sahen beide zu Boden. Jack, weil er keine Antwort auf ihre Frage hatte, und Rapunzel, dafür, dass sie nach langer Zeit endlich aussprechen konnte, was sie schon so lange beschäftigte. Steif standen sich die beiden gegenüber. Jack wollte etwas erwidern, von dem Thema ablenken, die Unbeschwertheit, die sie noch vor wenigen Minuten gehabt hatten, zurück bringen, aber es kam kein Wort über seine Lippen.
„Tut mir Leid“, seufzte sie schließlich und vergrub das Gesicht in den Händen, da ihr dieser Gefühlsausbruch doch etwas peinlich war. Sie fühlte sich so hilflos wie früher, bevor sie den Turm verlassen durfte „Ich habe kein Recht, meine Wut an dir auszulassen... Es ist nur...“
Ihre Sicht begann zu verschwimmen, aber sie würde nicht weinen. Sie hatte sich fest vorgenommen bei den Gedanken an ihr Leben nicht zu weinen. Warum begann dann gerade jetzt ihre Fassade zu bröckeln? Nur weil sie endlich jemandem gegenüber stand, der ihre Worte auch hörte?
„Eugene und ich... waren gerade wenige Jahre verheiratet. Wir... haben ein Baby erwartet, nein, wir haben ein Kind. Und es wird niemals seine Mutter kennen lernen.“ Ihre Stimme war heiser und sie glaubte an ihren eigenen Worten zu ersticken, doch sie zwang sich dazu weiter zu sprechen: „Ich kann die Wege von damals wieder und wieder gehen, ich kann an seiner Seite stehen, an ihrem Kinderbett. Ohne, dass sie jemals wissen werden, dass ich dort bin oder war.“ „Aber wenn ich mein Spiegelbild sehe, zweifel ich, ob es wirklich ist“ - dafür hasste sie ihre Haare, die ihr einst so viel bedeutet hatten; die langen Wellen, die seit ihrem Erwachen wieder ihren Rücken hinab flossen - „Es ist, als wäre... ich vor langer Zeit gestorben... und ich träume. Nur, dass mein Traum sich in einen Albtraum verwandelt.“
Jack konnte nicht sagen, dass er ihre Gefühle verstand. Den Teil der Einsamkeit, ja, aber von seinen Liebsten nicht mehr wahr genommen zu werden? 300 Jahre wusste er nicht, dass er eine Familie, ein Leben vor Jack Frost, gehabt hatte. Und nach der Erkenntnis waren ihm nicht einmal mehr Gräber geblieben, die er besuchen konnte. Alles, was ihn an seine Familie erinnern konnte, war aus der Welt verschwunden mit Ausnahme des Sees, wo er wiedergeboren war. Es zog ihn immernoch zu diesem Ort von Zeit zu Zeit. Anders als es ihn zu ihr zog, aber nicht weniger wichtig. Er hatte selten einen Grund, warum er dorthin ging, wo er war. Er tat es einfach. Deswegen hatte er sich auch nie etwas dabei gedacht, wenn er sie dazu aufforderte diesen Ort zu verlassen. Er beobachtete wie sie auf ihre Knie sank, wie ihre zierliche Gestalt unter der Last zu zerbrechen drohte.
„Du musst los lassen.“ Seine Wörter klangen kälter als er gewollt hatte, so gut er sie auch meinte. „Auch wenn es schwer fällt.“
„Ich kann nicht. Ich kann sie nicht einfach verlassen.“
Jack merkte schnell, dass es nichts brachte weiter darüber zu diskutieren. Stattdessen ließ er sie erzählen. Und zum ersten Mal erzählte sie von sich, von ihrer Vergangenheit.
Wie sie sich verliebt hatte, befreit wurde, die glücklichste Zeit mit ihrer Familie verbracht hatte und viel zu früh von dieser gehen musste, wie die Schmerzen sie im Kindbett übermannt hatten.
Er kannte die stillen Worte, die in ihren traurigen Augen lagen nur zu gut.
„Ich kann nicht fort gehen. Ich weiß, sie wissen nicht einmal, dass ich hier bin. Aber wie kann ich gehen ohne mich zu verabschieden?“
Unbeholfen nahm er ihre Hand in ihre und ihr begannen die Tränen über das Gesicht zu laufen.
Wie war es möglich, so viel zu fühlen, wenn man nicht lebendig war?