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Mit gebrochenen Flügeln

von

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Prolog

Prolog

 

Nur wenige Menschen sind es, die bleiben. Die wirklich bleiben. Nicht als schemenhafte Erinnerung. Nicht als eine Ansammlung verblasster Pigmente auf einer Fotografie in längst verstaubten Fotoalben. Sondern als Teil derjenigen, die ihnen etwas bedeutet haben. Weil sie Spuren in den Seelen derer hinterlassen haben, deren Leben mit ihrem eigenen verwoben gewesen war. Es sind diejenigen, deren Leben über ihr eigenes hinausgeht.

 

Jesse wusste es im Grunde genommen nach ihrem ersten Treffen. Xander war so jemand.

 

 

Kapitel 1

Kapitel 1

 

Ein gewöhnlicher Tag im Leben des Jesse King

 

Jesse

 

„Jesse, wo bleibst du bloß? Du bist ja schlimmer als jede Frau!“, Cassies glockenhelle Stimme und ihr alle für sich gewinnendes Lachen dringen an sein Ohr. Aber er versucht sich keinesfalls angesprochen zu fühlen. Er weiß doch schließlich gar nicht, was sie meint. Er hat gerade einmal rund fünfundvierzig Minuten im Bad verbracht und jeder, der ihn etwas näher kennt, – und das tut seine Freundin gewiss – der weiß, dass das für Jesses Verhältnisse ein absolut humaner Zeitraum ist. Als der Fünfundzwanzigjährige dann aus dem Badezimmer tritt, hört er das klackende Geräusch der zufallenden Badezimmertür gar nicht richtig, so gefesselt ist er von Cassies Aussehen. Sie hat eine Top Figur, hatte sie schon immer, aber in diesem eng anliegenden, pinken Kleid, das ihre wundervollen Kurven noch einmal betont, ist sie absolut ein Engel. Sie lächelt ihn strahlend an, ist sich voll und ganz bewusst, dass sie umwerfend aussieht und seine gesamte Aufmerksamkeit in diesem Moment nur ihr gilt.

 

„Wow…“, entfährt es ihm ein wenig atemlos. „Ich dachte, du willst zur Uni. Von einer Party war nicht die Rede.“ Er ist tatsächlich, auf eine äußerst positive Art und Weise, völlig überwältigt von diesem Anblick. Wenn sie nicht sowieso seine Freundin wäre, dann würde er sie wohl spätestens jetzt auf Knien anflehen. Sie kichert nur und erwidert: „Naja, ich dachte, ich putze mich mal heraus. Schließlich bleiben mir nur noch wenige Wochen an der Uni. Nachdem Wintersemester bin ich fertig und außerdem wollte ich dich schon die ganze Zeit nach deiner Meinung zu meinem neuen Kleid fragen, aber da du jetzt sabbernd vor mir stehst, gehe ich davon aus, dass ich gut aussehe“, sie grinst, nachdem sie ihren Satz beendet hat und er zieht sie spielerisch, aber mit sanfter Gewalt, zu sich.

 

„Was heißt hier sabbernd? Ich glaube, ich habe mich verhört.“ Sie wird bereits warm von seinen Armen umschlossen und lehnt sich schon in die Berührung, als er beginnt  sie gnadenlos durchzukitzeln, woraufhin ein leichter Aufschrei ihrerseits und ein halbherziger Protestversuch folgen. Die beiden albern noch eine Weile herum, bis ihre Blicke kurz zur Uhr wandern. Verdammt, nun sind sie wirklich spät dran. Wenn sie sich jetzt nicht beeilen, wird Cassie ihr Kolloquium verpassen. Alles nur wegen des blöden Kleides, wehe jemand sagt ihm je wieder, er würde Zeit verschwenden! Der junge Mann mit dem rotblonden Haar parkt seinen kleinen, grünen Smart nahe des Campus - an dem er selbst die ersten vier Jahre studiert hat -  und so langsam kann man auch Cassie ansehen, wie aufgeregt sie wirklich ist. Sie tut zwar immer so, als sei das ganze Studium für sie keine große Sache und als sei sie sich völlig sicher, ihre Scheine ohne größere Probleme zusammen zu bekommen, aber er kennt seine Freundin nun einmal besser. Sie ist unglaublich aufgeregt. Allein die Tatsache, dass sie in den letzten Wochen fast jede Nacht durchgelernt hat - was zugegeben auch ihn ein paar Mal um den Schlaf gebracht hat – zeigt, wie viel Angst sie wirklich vor all diesen Prüfungen und Hausarbeiten hat. Denn zu ihrer Schulzeit, die die beiden gemeinsam an der Fairfield-High verbracht haben, lernte sie stets auch nie mehr als unbedingt nötig. In dem Fall passt der Spruch „Ein gutes Pferd springt nur so hoch, wie es muss“ wie die Faust aufs Auge.

 

Beruhigend legt Jesse ihr eine Hand auf den Oberschenkel. „Hey, du schaffst das schon.“ Sie kaut nervös auf ihrer Lippe, lächelt ihn dann aber an. „Klar, warum auch nicht?“, meint sie in einem gespielt lockerem Tonfall. Ihm fiele da schon der ein oder andere Grund ein weshalb, aber das muss er ihr ja nicht auch noch auf die Nase binden, stattdessen nickt er nur und erwidert ein kurzes „Eben“.

 

Beim Aussteigen aus dem Auto wird er schlagartig daran erinnert, dass sie Mitte November haben, denn ein kräftiger Herbstwind fegt durch die Bäume, die braunen und roten Blätter tanzen nur so umher  und dicke Regentropfen benetzen die Erde. Vielleicht brauchte man gar keine Jacke von ihrem Apartment bis zur Tiefgarage, in der sein Wagen geparkt war. Schließlich ist beides der Bequemlichkeit halber miteinander verbunden, aber jetzt ist Jesse froh, seine graue Herbstjacke zu tragen. Ganz im Gegensatz zu Cassie, die ohne eine Jacke nur in ihrem hauchdünnen Kleid da steht.

 

„Nicht das richtige Outfit für den Herbst, hm?“, neckt er sie, gibt ihr aber im gleichen Atemzug seine Jacke, damit sie zumindest etwas vor Wind und Wetter geschützt ist. Außerdem bekommt er prompt zu hören, dass sie ihm mit diesem Kleid ja wohl auch einen Gefallen getan habe und wo sie recht hat, hat sie recht. Am Haupttor zum Campus verabschieden sie sich mit einem kurzen Kuss voneinander und er schaut ihr noch eine Weile hinterher, während sie zu einem der Universitätsgebäude hastet, auf dem Weg zu ihrem Hörsaal.

 

Was er jetzt allerdings machen soll, ist ihm nicht so ganz klar. Denn seine ersten Vorlesungen an diesem Tag beginnt erst in zwei Stunden, der einzige Grund für ihn, hierher zu fahren, war Cassie, die ja heute ihr Kolloquium hat. Nachhause fahren lohnt sich allerdings auch nicht, weshalb er abermals in seinem kleinen Auto sitzt und seinen zehnminütigen Weg durch den New Yorker Straßenverkehr beginnt, um zur First Avenue, genauer gesagt, zur School of Medicine an der First Avenue zu gelangen, wo er in etwas mehr als sechs Monaten seinen Abschluss machen wird. Er befindet sich schließlich im letzten Jahr seines Medical Doctors.

 

Gelangweilt schlurft er die Flure eines der vielen Gebäude des Gebäudekomplexes, der zur Uni gehört, entlang. Sein Ziel ist nun die Bibliothek. Zum Glück muss der Medizinstudent dafür nicht wieder raus in den Regen. Zwar steht die Bibliothek am anderen Ende des Campus, aber einige der Universitätsgebäude sind über weite Flure mit kompletter Glasfront verbunden, so auch diese beiden. Der Weg ist zwar etwas länger, als wenn man querfeldein geht, aber dafür bleibt man mit Sicherheit trocken. Zum Glück! Denn das Letzte, das er jetzt will, ist eine unfreiwillige Dusche.

 

Als er die große Flügeltür aus Ebenholz öffnet, die den Blick ins Innere der Bibliothek verwehrt, fährt er fast zusammen, so laut ist das quietschende Geräusch, das diese von sich gibt. Komisch. Bisher ist es ihm noch nie aufgefallen. Aber vermutlich liegt das an dieser unglaublichen Stille, die sonst nicht auf den Gängen herrscht. Heute scheint die Universität wie leer gefegt. Woran das liegt, vermag er nicht zu sagen, aber ohne Cassie wäre er ja schließlich auch nicht hier.

 

Ganz alleine ist er aber dennoch nicht, denn Mrs. Norton strahlt ihn schon von ihrem Schalter aus an, noch bevor er überhaupt ganz drinnen ist. Man sieht in Filmen ja oft diese Schreckschrauben von Bibliothekaren, die bei jedem kleinen Räuspern gleich an die Decke gehen, aber so ist sie definitiv nicht. Vielmehr ist sie die gute Seele dieser heiligen Hallen, die einem mit Rat und Tat zur Seite steht. Auch wenn sie nur zwei Mal die Woche hier anzutreffen ist, die restlichen Tage kümmern sich studentische Hilfskräfte – zu denen auch Jesse selbst zählt – um alle Belange der Studenten. Ein großer Teil der Bücherausleihe funktioniert auch automatisch, viele Auskünfte ebenso. Aber dennoch, im Ernst, diese Frau kennt deinen Stundenplan für das kommende Semester, noch bevor du ihn selbst kennst. Vielleicht hätte sie Wahrsagerin werden sollen, obschon er sie hier ja nicht missen mochte. „Hallo Jesse, so früh schon da?“

 

„Ach, ich habe Cassie nur abgesetzt. Sie hat doch heute eine mündliche Prüfung und nun ja, es lohnt sich einfach nicht für zwei Stunden nach Hause zu fahren. Da habe ich mir gedacht, ich leiste Ihnen ganz uneigennützig Gesellschaft, da Sie hier ja so allein sind“, erwidert er schelmisch.

 

Das wird von ihr sogleich mit einen Lächeln quittiert. „Natürlich, ich arme alte Frau komme sonst noch um vor Einsamkeit“, sagt sie mit todernstem Gesicht, aber in einem ausgesprochen erheiterten Tonfall. „Außerdem kann ich hier gerade ganz gut zwei starke Arme gebrauchen und da du ja so hilfsbereit bist…“ Sie zeigt mit einer kurzen Geste auf einen Stapel alter Bücher, die in Kisten einsortiert sind  „Räumst du die noch für mich ein? Ansonsten liege ich nämlich bald doch noch mit einem Hexenschuss daheim im Bett.“

 

„Für Sie doch immer, Mrs. Norton“, erklärt er in allerfeinster Schwiegersohn Manier und beginnt sich an den Kisten zu schaffen zu machen, die in der Tat recht schwer sind. Sie plaudern so über dies und jenes, Gott und die Welt. Sie fragt ihn nach Cassies weiteren Plänen, ob er sich schon etwas für Cassie und ihr Neunjähriges ausgedacht habe und was er sich wohl für die Zukunft erhoffe. Im Gegenzug interessiert er sich dafür, wie ihre letzte Chemotherapie gelaufen ist - sie kämpft nun schon eine Weile gegen den Krebs - was ihre Kinder so machen und wie ihr der Urlaub in Spanien gefallen hat. Sie berichtet ihm stolz, dass sie zum zweiten Mal Großmutter geworden ist. Eine Sekunde lang stellt Jesse sich vor, was seine Mutter wohl für eine Großmutter wäre, verwirft diesen Gedanken allerdings gleich wieder. Schließlich ist seine Mum doch noch ein Stückchen jünger als Mrs. Norton.

 

Seine kleine Schwester Lilly ist erst acht. Außerdem will er jetzt noch sicher keine Kinder, dafür ist er einfach noch zu jung. Auch wenn man mit Mitte zwanzig bekanntlich schon auf die Dreißig zugeht. Aber Mrs. Norton, mit ihren rosigen Wangen, der rundlichen Statur, die eine Oma eben hat, und dem passenden Alter mit ihren Mitte sechzig, die fügt sich für ihn perfekt in das Bild ein, welches er von einer Großmutter hat.

 

Vielleicht, weil er selbst ja keine hat. Die Mutter seines Vaters hat die Familie verlassen, als dieser noch ein kleiner Junge war und die seiner Mutter ist früh verstorben. Überhaupt scheint der Tod momentan einen Schleier über die Familie seiner Mutter zu ziehen. Opa Will liegt mit einer starken Lungenentzündung im Krankenhaus und Onkel Henry, der jüngere und einzige Bruder seiner Mum, ist vor einigen Wochen an einem Herzinfarkt gestorben.

 

Jesse hat ihn gerne gemocht und sehr geschätzt. Er war ein offener, fröhlicher Mensch, aber er hätte offen gestanden auf den kleinen Supermarkt verzichten können, den er ihm vererbt hat. Er weiß, Henry hatte eben keine eigenen Kinder und er will sich ja auch nicht beschweren. Nur weiß er mit seinem Erbe so gar nichts anzufangen. Die verwertbaren Lebensmittel haben sie - seine Mutter und er - direkt an die Food Bank weitergegeben. Jetzt stellt sich nur noch die Frage was aus dem nun fast leer stehenden Gebäude und dem übrig gebliebenen Mobiliar werden soll. Seiner Mum würde es wohl nicht wirklich passen, wenn er den kleinen Markt jetzt einfach verkaufen würde.

 

Jesse ist auf seinem Platz, inmitten all der Bücherregale tatsächlich sehr in seine Aufzeichnungen der letzten Anatomievorlesung vertieft, als die gute Mrs. Norton so freundlich ist, ihn daran zu erinnern, dass er jetzt eine Vorlesung hat. Die Frau kennt jeden Stundenplan! Da Cassies restliche Vorlesungen nur etwas früher enden als seine für diesen Tag, haben sie sich für den Nachmittag in einem kleinen Café, namens Sue’s, verabredet.

 

Es regnet noch immer unaufhörlich, als der junge Mann durch die Lowood Avenue dorthin eilt. Das nächste Mal muss er unbedingt einen Regenschirm ins Auto legen. Das wäre ausgesprochen praktisch. „Hey Schatz!“ Cassie begrüßt ihn freudig mit einer Umarmung und einem seichten Kuss auf die Wange, auch wenn sie riskiert dabei nass zu werden. Sie hat sich einen schönen Platz am Fenster ausgesucht und er setzt sich gleich zu ihr. Er fragt sie im selben Moment nach ihrem Kolloquium, in dem sie sich nach seinen Vorlesungen erkundigt und augenblicklich beginnen beide zu lachen.

 

„Also?“, erwartet er gespannt ihre Antwort.

„Nun…, ich denke es ist ganz gut gelaufen. Zumindest kann ich mich keiner Aufgabe entsinnen, die ich nicht beantworten konnte. Aber ich bin natürlich trotzdem gespannt. Gott, ich meine, bald bin ich eine Lehrerin. Ich kann es kaum erwarten!“ Sie lächelt ihn so zufrieden an, dass er gar nicht anders kann als dieses Lächeln zu erwidern. Sie hat Recht, sie braucht sich eigentlich keine Sorgen machen. Er zweifelt nicht im Geringsten an ihr.

 

„Und wie waren deine Vorlesungen nun?“, fragt Cassie ihn. „Ach, die waren eigentlich wie immer. Du weißt schon, ganz viel Anatomie und Biologie, von der du gar nichts hören möchtest, glaub mir. Für mich hoch interessant, für dich eher, sagen wir ich denke nicht, dass du jemals in die Situation kommen wirst, jemandem ein Körperteil amputieren zu müssen“, sie verzieht das Gesicht und er muss unweigerlich grinsen.

 

„Siehst du? Ich hatte Recht. Jedenfalls kann nicht jeder das Glück haben in vier Jahren fertig studiert zu haben“ Dabei zuckt er einmal spielerisch mit den Augenbrauen und sie muss lachen. Sie meint, er habe es sich ja schließlich so ausgesucht und dass sie schließlich auch nicht jünger als er sei, obwohl sie nur halb so lange studiert habe. Er sieht davon ab sie darauf hinzuweisen, dass sie nach dem Schulabschluss auch ein Jahr im Ausland verbracht und drei Jahre am Community College verschwendet hat, dann bestellen sie sich Kuchen. Das Sue’s bietet den besten Schokoladenkuchen weit und breit. Natürlich hat sie Recht und er ist ohne Zweifel zufrieden. Er würde nichts anders machen. Es ist gegen 22:00 Uhr am Abend, Cassie und er liegen eng aneinander geschmiegt im Bett und er möchte um keinen Preis der Welt aufstehen, als ihm einfallt, dass er seiner Mum versprochen hat sich Onkel Henry‘s Supermarkt noch diese Woche einmal anzusehen. Verdammt. Morgen ist Samstag, da kommt er ja doch wieder zu nichts. Er muss morgen im Restaurant um die Ecke kellnern und am Sonntag sind sie mit Kommilitonen aus der Uni verabredet und dann ist die Woche ja auch schon wieder rum.

 

Seine Freundin schaut ihn an, als sei er von einem anderen Planeten, als er ihr erklärt, dass er jetzt unbedingt noch einmal zum Supermarkt fahren muss und den Schlüssel vom Brett nimmt, der ihm vor gut einer Woche ausgehändigt wurde. Doch sie protestiert auch nicht wirklich, weiß sie doch, dass er sich sowieso nicht umstimmen lässt und schüttelt den Kopf, als er ihr anbietet mitzukommen.

Kapitel 2

Kapitel 2
 

Nichts wird sich jemals ändern
 

Xander
 


 

An diesem Morgen erwacht er noch vor den ersten Sonnenstrahlen des Tages. Der heftige Regenerguss, der ihn geweckt hat, scheint kein Ende nehmen zu wollen und es ist ungewiss, ob er die Sonne heute überhaupt zu Gesicht bekommen wird. Eigentlich hätte ihn der Regen nicht so erschrecken dürfen. Es ist schließlich Mitte November, nicht? Es ist Herbst. Dennoch, er hatte gehofft, dass die richtigen Herbstregenschauer noch etwas auf sich warten lassen würden. Bis jetzt ist der Herbst in diesem Jahr nämlich recht mild gewesen.
 

Die Straßenlaternen brennen noch. Er schätzt, dass es so gegen fünf Uhr in der Früh sein muss, andererseits sind die Straßen nicht sonderlich befahren. Genau genommen, sieht er nicht ein einziges Fahrzeug. Natürlich kann das daran liegen, dass er sich hier auf keiner wichtigen Straße befindet, aber Baby, das hier ist New York. Wahrscheinlicher ist es also, dass er mit seiner Zeiteinschätzung nicht ganz richtig liegt. Vielleicht ist es erst vier. In jedem Fall bedeutet es, dass er kaum zwei Stunden geschlafen hat und das lässt ihn sein Körper auch deutlich spüren. Entweder das, oder er braucht dringend Stoff. Beides trägt nicht sonderlich dazu bei, seine Laune zu bessern. Sein gesamter Körper zittert unaufhörlich und er vermag nicht zu sagen, ob nun wegen der Kälte ist oder weil sein letzter Schuss auch schon wieder ‘ne Weile her ist.
 

In der Häusernische, die er sich in dieser Nacht zum Schlafen gesucht hat, kann er jedenfalls nicht bleiben - zumindest nicht, wenn er nicht aussehen möchte, wie ein begossener Pudel – denn der Wind steht so ungünstig, dass es unweigerlich hinein regnet. Er schüttelt sich und fährt mit seiner Hand durch sein nasses und bereits wieder leicht verfilztes, kohlrabenschwarzes Haar. Vermutlich sieht er bereits furchtbar scheiße aus. Nicht, dass er besonders eitel wäre, wie auch, wo er nicht einmal die Möglichkeit hat, sich regelmäßig zu waschen. Aber was soll er sagen? Es vergrault nun einmal ziemlich die Freier. Wieder einmal dreht sich ihm nur bei dem Gedanken der Magen um und er fühlt sich noch schmutziger als er sowieso schon ist. Tja, aber irgendwo muss das Geld ja her kommen. Ohne Geld, kein Stoff und ohne Stoff könnte er nicht leben. Zumindest heute nicht mehr. Gott, welch widerliches Klischee er doch abgibt. Er erinnert sich vage, dass es einmal eine Zeit gab, wo das ging. Aber wann? Er weiß es nicht mehr, es scheint Ewigkeiten her zu sein. Die Erinnerung ist längst verblasst. Leise meldet sich diese Stimme in seinem Kopf, die ihm die pure Ironie seiner eigenen Gedanken vor Augen hält; Leben ist unmöglich, wenn man sich reines Gift durch die Venen jagt, aber er ignoriert sie gewissenhaft. So wie jedes Mal. Zurück zu seinem, doch langsam sehr nassen, Problem. Er muss aus diesen Regen raus! Eine Sekunde überlegt er, ob er sich Richtung Hauptstraße auf den Weg machen soll, verwirft diesen Gedanken allerdings wieder schnell, da die Wahrscheinlichkeit jemanden zu treffen, den er nicht treffen möchte, ziemlich hoch ist. Das ist ihm klar. Auch wenn er bei der Wahrscheinlichkeitsrechnung in der Schule immer gepennt hat, aber dafür braucht er nun wirklich nicht rechnen. Nach einigen Minuten, die er damit verbringt durch die schlammigen Nebengassen zu warten, beginnt er diesen Entschluss jedoch zu bereuen. Durch seine abgetragenen schwarzen Chucks dringt das schlammige Wasser und selbst seine Socken saugen sich damit voll. Ein echt unangenehmes Gefühl. Aber das war ja zu erwarten, so früh am Morgen arbeitet sein Hirn eben noch nicht richtig. Zugegeben, es sei dahingestellt, ob sein Hirn je wirklich arbeitet, doch das ist eine andere Geschichte.
 

Als er nach geraumer Zeit aus der Gasse tritt, die der Siebzehnjährige bis gerade eben noch entlang gelaufen ist, findet er sich erneut auf einer Nebenstraße wieder. Dieses Mal jedoch einen Block weiter. Für einen kurzen Moment hat er die Orientierung verloren. Einen Blick nach links, einen Blick nach rechts und er meint sich an diese Straße erinnern zu können. Die Orientierung kommt langsam wieder. Malcom Street- Wenn er sich nicht irrt, dann …
 

„Xander, hey… dich habe ich ja ewig nicht mehr gesehen. Warst schon ‘ne Weile nicht mehr am Bahnhof.“ Sie ist voll breit, ein Tütchen Stoff und die Spritze hat sie noch in der Hand. Eine Zitrone, sowie ein Löffel und das Feuerzeug liegen neben ihr. Das übliche Besteck eben. Die blonden Haare fallen ihr wirr ins Gesicht, aber sie lebt. Sie lebt!
 

„Angel, hey, was geht?“, frage er sie, während er sich grinsend neben sie auf die Treppe des Hauseinganges fallen lässt. Hatte er wohl richtig in Erinnerung, sie sitzen hier vor Angels Wohnblock. Selten, dass man sie hier antrifft. Dennoch kommt es manchmal vor. So wie heute. Er ist sich nicht sicher, ob er nicht sogar unbewusst damit gerechnet hat. Überall liegt Müll herum und auch das spärliche Licht der Straßenlaternen dringt nur schwach bis zu ihnen vor. Aber um ‘ne Vene zu finden reicht es. Offen gestanden wundert es ihn ja doch, dass sie ihn in ihrem Zustand überhaupt noch erkannt hat. Sie sieht ziemlich weggetreten aus. Wenn er voll drauf ist, fällt ihm das zumindest nicht so leicht. Meistens erkennt er dann gar nicht mehr richtig, was um ihn herum geschieht. Oder zumindest braucht er eine Ewigkeit, bevor er eine neue oder veränderte Situation einordnen kann.
 

Sie erzählt ihm, dass Mr. King gestorben ist. Ihm gehörte ein kleiner Supermarkt, ein paar Blocks weiter. Er war ganz okay. Hat ihm manchmal Kaffee raus gebracht, aus seinem kleinen Büro. An besonders kalten Tagen eben, wenn das ganze Gesindel sich hinter seinem Laden versammelt hatte. Er mochte ihn und irgendwie zieht ihn das jetzt furchtbar runter. So ein Scheiß. Immer die Guten. Der war doch gar nicht wirklich alt, oder? Aber was bedeutet das schon. Angel sagt irgendwas davon, dass sie ja heute Nacht mal dort einsteigen könnten und er nickt, ohne wirklich zuzuhören. „Auch?“, perplex wird er aus seiner Gedankenwelt gerissen. Sie hält ihm das kleine Tütchen Stoff und die Spritze hin. „Danke“, murmelt er und greift schnell nach dem Besteck und dem Heroin. Er kann es sich nicht verkneifen, erleichtert aufzuatmen. Das bedeutet erst einmal kein Freier in den nächsten fünf bis sechs Stunden. Während er so vorsichtig wie möglich mit Löffel und Feuerzeug hantiert - seine Hände wollen sich nicht unter Kontrolle bringen lassen - bemerkt er, wie sich auf Angels Gesicht ein Grinsen ausbreitet.
 

Kritisch zieht er eine Augenbraue in die Höhe.
 

„Ist was?“.
 

„Du siehst verdammt scheiße aus“.
 

Das mochte stimmen, tat aber dennoch ganz schön weh.
 

„Du sahst auch schon mal besser aus“, erwidert er nur und lässt sich seinen Unmut nicht anmerken. Aus ihrem Grinsen wird ein nachsichtiges Lächeln

„Mag sein, Süßer, aber ich bin ja auch schon länger dabei als du“.
 

Damit scheint für sie das Thema beendet, denn sie wird still und er geht nicht weiter darauf ein. Zittrig versucht er den Stoff in die Spritze einzufüllen und bemerkt ganz nebenbei, dass er völlig am Abdrehen ist. Ein weiterer Versuch scheitert ebenfalls und es fällt ihm verdammt schwer ruhig zu bleiben. Keine Chance. Er kriegt’s nicht hin. Sein Kopf beginnt zu dröhnen und auch der schlammige Boden vor seinen Augen beginnt zu verschwimmen.
 

Erschrocken zieht er die Luft ein, als er Angels kalte Hand an seinem Arm spürt. „Pscht…ruhig bleiben“, sie kniet sich vor ihm hin und greift nach der Spritze in seiner Hand. Dann schiebt sie vorsichtig den Ärmel seines viel zu großen T-Shirts am rechten Arm, in die Höhe. Betastet kurz seine Armbeuge, löst den Gürtel ihrer Hot Pants und surrt ihn dort fest und im nächsten Moment spürt er schon den Einstich der Nadel. Doch noch ehe er auch nur die Andeutung eines Satzes machen kann, fühlt er, wie die Flüssigkeit durch seine Venen gepresst wird. Der Flash und dann die wohlbekannte Ruhe, die ihn komplett durchdringt.
 

„Besser?“ Ihre Stimme klingt belustigt, aber das ist ihm eher egal. Er bringt gerade nur ein Nicken zustande.
 

„Woah, du kriegst noch mal richtig Schwierigkeiten, Kleiner“.
 

Dieses Mal ist es an ihm, müde zu lächeln.
 

„Was heißt hier bitte ‚ich kriege‘?“

Wenn er eines weiß dann, dass er richtig in der Scheiße steckt. Er ist nicht dämlich, er ist siebzehn, sitzt auf der Straße und ist das, was man im Wörterbuch unter Junkie nachschlagen kann und von Würde und Stolz will er gar nicht erst anfangen. Das Problem ist, die Leute sagen für ein Leben auf der Straße entscheidet man sich. Das sieht er anders. Man wird dazu getrieben. In seinem Kopf ist wieder diese Stimme, die nun leise murmelt, dass auch das nicht stimmt. Sie flüstert ihm zu, dass man auf der Straße nicht lebt sondern nur stirbt. Genervt stöhnt er auf, schließt seine Augen und lehnt sich gegen die Hauswand. Nicht denken, einfach nicht denken. Und das klappt dann auch. Er ist frei von allen Gedanken.
 

„Xander?“
 

„Hhmmm…“, langsam öffnet er seine Augen wieder und wundere sich darüber, wie nah Angel ihm plötzlich gekommen ist. Ihre Nasenspitzen berühren sich fast.
 

„Weißt du… “. Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern und er kann ihren warmen Atem in seinem Gesicht spüren.
 

Ihre Lippen sind sich so nah und im nächsten Moment liegen sie bereits aufeinander. Irgendwas in ihm protestiert, doch da ist auch dieser Reflex, sie einfach machen zu lassen und der gewinnt. Sie verschränkt ihre Hände in seinem Nacken. Zögerlich schließt er seine Augen, versucht sich auf die neue Situation einzulassen. Seine linke Hand ruht auf ihrer Hüfte, seine rechte Hand hat er in ihren langen blonden Haaren vergraben. Er kann nicht sagen wieso, aber er weiß, dass auch sie ihre Augen geschlossen hat. Trotzdem hat er das Gefühl, sie beide machen etwas völlig Falsches. Ob es Angel ähnlich geht, vermag er nicht zu sagen. Dann - ganz unvermittelt - spürt er ihre Tränen an seinen Wangen hinab laufen. Er kann seine Augen nicht öffnen, weiß er doch, wie verzweifelt sie ist. Ihr unterdrücktes Schluchzen ist zu hören, dann überrascht sie ihn erneut.
 

„Du…du gehörst hier absolut nicht her…und…scheiße, Leute wie ich sind’s, die dich runterziehen…und…und…irgendwann, irgendwann da wirst du nicht wieder aufstehen, verstehst du?“ Sie vergräbt ihren Kopf an seiner Brust und krallt sich in seinem Shirt fest. Er schiebt es auf die Drogen. Hält sie aber dennoch fest, vielleicht um ihr Trost zu spenden. Trost spenden, obgleich er weiß, dass sich nichts ändern wird.

Kapitel 3

Kapitel 3
 

Eine nicht ganz so - gewöhnliche Nacht - im Leben des Jesse King
 

Jesse
 

Es ist eisig kalt in dieser Nacht und als er die Tiefgarage betritt, in der er sein Auto geparkt hat, ist er wirklich dankbar, dass sein Wagen eine integrierte Heizung hat. Denn der Gedanke nachts durch die halbe Stadt zu fahren, ist so schon wenig erfreulich, da muss er sich nicht auch noch den Arsch abfrieren. Nach etwas mehr als einer guten halben Stunde kommt er auf dem alten Parkplatz vor dem Supermarkt zum Stehen. Die Uhr an der Armaturentafel zeigt in roten Lettern 23:00 Uhr. Er muss gähnen, vermutlich schläft Cassie jetzt bereits. Am liebsten wäre er nun bei ihr, aber das Versprechen seiner Mum gegenüber geht einfach vor, alleine, weil er es hasst, ein Versprechen zu brechen. Müde reibt er sich noch einmal die Augen, bevor er aus dem Auto aussteigt und sich in Richtung Hinterausgang des Geschäfts begibt. Verblüfft stellt er fest, dass es so aussieht, als stände die Tür einen Spalt breit offen. Doch das schummrige, gelbe Licht der Straßenlaternen reicht nicht aus, um Genaueres zu erkennen. Verdammt, er hat die Taschenlampe auf dem Beifahrersitz liegen lassen. Also wieder zurück zum Auto. Lediglich um – dieses Mal mit Taschenlampe bewaffnet - festzustellen, dass die Tür nicht nur offen steht, sondern doch tatsächlich aufgebrochen worden ist. Womit, kann er nicht sagen, aber eigentlich ist ihm das auch ziemlich gleich. Herr Gott, wer zur Hölle bricht denn bitte in einen Supermarkt ein?
 

Egal wer, derjenige kann ihn mal. Am liebsten würde er jetzt einfach wieder umdrehen, vielleicht war das Ganze hier eine echt bescheuerte Idee. Trotzdem betritt er den schmalen Gang, der ins Ladeninnere führt. Am Ende des Ganges befindet sich eine schwere Metalltür und auf der linken Seite ist ebenfalls eine Tür, die allerdings in Onkel Henrys Büro führt. Das weiß er noch von früher. Die Tür am Ende führt in den Verkaufsraum. Dorthin macht er sich auch auf den Weg. Denn ins Büro möchte er nicht. Zu viele Erinnerungen. Er ist gerade an der silbern schimmernden Tür angekommen, als er ein krachendes Geräusch vernimmt. Was? Er ist gar nicht auf die Idee gekommen, dass der - oder auch die Einbrecher - noch im Laden sein könnten. Zumindest bis jetzt. Er schluckt, geht einen Schritt zurück und beschließt gleichzeitig nachzusehen. Kurz überlegt er, ob er die Taschenlampe ausschalten sollte, entscheidet sich dann aber dagegen, da er die vage Hoffnung hat, gewisse Personen so vielleicht in die Flucht zu schlagen.
 

Langsam öffnet er die alte Tür, die daraufhin ein quietschendes Geräusch von sich gibt. Fast erwartet er ja, dass ihn gleich irgendjemand anspringt, doch dem ist nicht so. Stattdessen bleibt alles still. Ihm kommt der Gedanke, dass er sich irren könnte. Es muss ja gar niemand hier sein. Zumindest kein Mensch. Vielleicht handelt es sich auch nur um ein streunendes Tier? – Allerdings stellt sich dann die Frage, welche Tiere bitte Türschlösser aufknacken. Doch noch bevor er diesen spannenden Gedanken weiter verfolgen kann, wird er abgelenkt. Wäre er doch nur etwas aufmerksamer gewesen! Der Strahl seiner Taschenlampe beleuchtet gerade noch einen Arm, der aber gleich wieder hinter einem Regal verschwindet. Ob männlich oder weiblich kann er nicht sagen. Aber vermutlich macht es auch keinen besonders großen Unterschied. Es sei denn, es käme zu einer Rangelei, doch das wird er wohl zu verhindern wissen. Allein schon deshalb, weil er nicht gerade das beste physische Durchsetzungsvermögen besitzt.
 

„Wer ist da?“, versucht er es doch glatt mal auf die ‚klassische Art’. Natürlich kommt keine Antwort, das hätte ihn aber auch gewundert. Langsam, darauf bedacht keinen Laut von sich zugeben, tritt er um das Regal herum, hinter dem gerade noch die ihm unbekannte Gestalt verschwunden ist. Niemand ist zu sehen. Die Person kann jedoch noch nicht fort sein, da der Einzige, mögliche Fluchtweg der ist, durch den er und wohl auch die Person vor ihm, gekommen ist. Die Tür hat er allerdings fest im Blick und somit gibt es keine Chance auf ein Entkommen. Außerdem weiß er nun, was das Scheppern vorhin verursacht hat. Einige zerbrochene Spirituosenflaschen liegen die Regalwand entlang am Boden verstreut. Eine riesige Sauerei, aber darum kümmert er sich später. Er kann sich ein überlegenes Grinsen nicht verkneifen. ‚Wer auch immer’ hat sich gerade selbst in die Enge getrieben. Denn er ist sich ziemlich sicher, dass diese Regalreihe in einer Sackgasse endet.
 

„Scheiße, was jetzt? Wir müssen hier raus!“ Die fluchende Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern und dennoch kann er sie deutlich vernehmen. Sie gehört wohl zu einer jungen Frau, oder doch eher einem Mädchen? Jedenfalls beruhigt ihn das ein wenig. Als er gerade um die Ecke treten möchte, um sich besagte Person einmal genauer anzusehen, hat eines der Regale wohl ein Eigenleben entwickelt und fällt ihm entgegen. Seine Reaktion kommt zu langsam. Samt dem Regal geht er nicht besonders elegant zu Boden. Während er sich langsam von dem Haufen Speermüll befreit, erhascht er gerade noch einen Blick auf eine junge Blondine, die im Lichtkegel der am Boden liegenden Taschenlampe an ihm vorbei hastet.

Fuck, die geht ihm jetzt auch noch ernsthaft durch die Lappen. In diesem Moment schießt ihm ihr letzter Satz durch den Kopf. Wir müssen hier raus, hat sie gesagt. Wir. Tatsächlich springt im nächsten Augenblick eine Person über seinem Kopf hinweg. Vergiss es! Ohne auch nur eine Sekunde darüber nach zu denken, fasst er nach dem Fuß vor sich. Genauso unelegant wie er nur einige Sekunden zuvor, fällt die Person nun der Länge nach auf den Boden. Der Aufprall wirkt nur um einiges härter, als der seine. Keine Ahnung wie, aber er schafft es auch endlich, sich von dem Regal zu befreien und steht wieder auf den Beinen. Beide lässt er schließlich ganz sicher nicht entwischen. Und wenn Blondie schon weg ist, muss er eben mit dem Vorlieb nehmen, was übrig bleibt. Die am Boden liegende Gestalt ist jedoch so schmächtig, dass er noch immer nicht weiß, ob es sich um ein Mädchen oder um einen Jungen handelt. Aber ihr Aufstehen vereitelt er, indem er sich einfach mal auf sie drauf setzt. Etwas Besseres fällt ihm zugegebenermaßen nicht ein, schließlich ist diese Situation nicht gerade alltäglich.
 

Tatsächlich ist er etwas überrascht. Der eher zierliche Körper unter ihm entpuppt sich als der, eines Jungen. Und der besitzt auch noch allen Ernstes die Dreistigkeit ihn mit wütend funkelnden Augen anzustarren. Für wen hält der Kleine sich eigentlich?
 

„Sag mal, geht’s noch? Du hast mich gerade lebendig unter einem Regal begraben und bist in meinen Laden eingebrochen, du hast überhaupt kein Recht dazu beleidigt drein zu blicken, klar? Der Einzige, der das darf bin ich…“ Der andere scheint nicht sonderlich beeindruckt von seiner Rede. Ganz im Gegenteil, er ist auch noch so frech und schaut stumm zur Seite. Als sei das umgestoßene Regal auf einmal hoch interessant. Eigentlich sollte er jetzt sofort die Polizei rufen, oder ihm zumindest noch mal auf den Zahn fühlen, schließlich war er ja nicht alleine hier. Stattdessen beginnt er ihn zu mustern. Sein Brustkorb hebt und senkt sich langsam, Jesse sitzt direkt auf seiner Hüfte. Aufstehen ist für ihn also nicht drin. Im Lichtkegel der Taschenlampe kann er nicht alles genau erkennen, aber das schwarze T-Shirt, das er trägt, sieht am Saum extrem ausgefranst aus. ’Ne Wäsche könnte es, denkt er, auch ganz gut vertragen. Von seiner Jeans sieht er nicht besonders viel, aber er glaubt, dass sie genauso verschlissen ist. Der deutlich Jüngere hat ihm sein Gesicht noch immer nicht zugewandt, aber seine braunen Augen fallen ihm selbst im schlechten Licht sofort auf. Es ist ein klarer Farbton, irgendwie leuchtend. Unsinn, braun eben. Es bildet jedenfalls einen deutlichen Kontrast zu seinem kohlrabenschwarzen Haar. Er vermutet, dass der Junge einmal einen Side-Cut getragen hat, der allerdings schon einige Zeit herausgewachsen ist. Dennoch sind die Haare auf einer Seite noch etwas kürzer. Der Pony fällt ihm schräg ins Gesicht. Zudem fällt Jesse auch auf, wie strähnig sein Haar ist. Fettig, eben ungewaschen und sein Körper ist nicht nur zierlich, nein, er ist viel mehr ausgemergelt.
 

„Noch irgendetwas zu deiner Verteidigung zu sagen, bevor ich die Polizei rufe? Zum Beispiel, wie deine nette Freundin heißt?“
 

„Wie wäre es mit: Geh von mir runter, du wirst langsam echt schwer!“, kommt gleich eine giftige Antwort zurück geschossen, obwohl der Junge seinen Blick noch immer meidet. Kurz hat er das Bedürfnis diesem Kerl eine zu scheuern. Aber jemandem, dem die Polizei so scheißegal ist, der wird auch damit umzugehen wissen.
 

„Okay, also sag ich den Beamten, dass sie bitte eine vorlaute Göre, die nachts nichts Besseres zu tun hat, als meinen Laden auszurauben, zu Mummy und Daddy zurück bringen sollen. Ach und hättest du wohl gern, weder ich noch du gehen irgendwo hin.“
 

Der Kommentar über Mummy und Daddy scheint ihm nicht sonderlich gefallen zu haben, denn er erwidert wütend: „Ich bin achtzehn, verdammt, also nichts da Mummy und Daddy und außerdem, was zur Hölle heißt hier dein Laden, der gehört dem alten King!“ Ach, schau mal einer an. Was hatte dieser Wichtigtuer denn bitte mit seinem Onkel zu tun? Noch in derselben Sekunde kennt er die Antwort. Die Haare! Die Kleidung!
 

Vage erinnert er sich daran, wie Henry seiner Mum einmal von den Kids erzählt hat, die abends immer an der Hintertür des Ladens herumlungerten. Straßenkinder, die sonst nirgendwo hingehörten. Die einfach nur irgendeinen Platz suchten, von dem sie nicht vertrieben wurden. New York ist voll von ihnen. Manchmal hat er ihnen Kaffee oder Kakao aus seinem Büro in Plastikbechern vor die Tür gebracht, damit sie sich etwas aufwärmen konnten. Er ist sich jetzt ziemlich sicher, dass der Junge einer von ihnen ist.
 

„Es ist dir scheißegal, ob ich die Polizei rufe, weil es deine Eltern sowieso nicht interessiert. Weil’s niemanden schert, oder?“
 

„Ich hab dir doch gerade gesagt…“, er hält inne und schaut verwirrt zu Jesse hoch. Scheint erst jetzt so recht zu begreifen, was er da gesagt hat.

„Was geht dich das schon an? Ruf doch die Bullen, mir doch egal!“ Das klingt jetzt jedoch nicht mehr besonders giftig, auch nicht wütend. Eher verunsichert. Noch einmal mustert Jesse ihn. Er ist sich sicher, dass er gelogen hat. Er ist keine achtzehn, sicher nicht. Zumindest wirkt er keinesfalls so. Viel jünger. Fünfzehn, sechzehn vielleicht. Langsam steht er auf, zieht den Jungen mit sich auf die Beine. Dabei greife er nach seinem Arm und ihm sticht erneut etwas ins Auge, das er vorher im schlechten Licht nicht bemerkt hat. Jetzt, in einem anderen Winkel schon. Einstiche. Drogen, Heroin vermutlich. Wieder sieht er ihn an, schaut in das schmale, blasse Gesicht und lässt sein Handgelenk abrupt los. Verwirrt sieht der Schwarzhaarige ihn an, weicht einen Schritt zurück, jedoch ohne auch nur den Anschein zu machen, als wolle er abhauen.

„Wa… was ist…?“ Seine Stimme klingt ein bisschen panisch, er vermag nicht zu sagen, was in ihm vorgeht. Aber er wirkt dabei so unglaublich jung. Er kommt Jesse mit einem Mal furchtbar verloren und hoffnungslos vor und für eine Sekunde blendet er aus, dass er gerade in den Laden eingebrochen ist und ihm im schlimmsten Fall fast das Genick gebrochen hätte.
 

„Hau ab!“, er kann nicht glauben, dass er das jetzt tut.

„Was?“, er sieht ihn fassungslos an.

„Ich habe gesagt, du sollst verschwinden, oder bist du taub?“.

Eine Sekunde lang wirkt er noch aus dem Konzept gebracht, dann dreht er sich um und läuft weg. Weg von ihm, vom Laden. Hinein in die dunkle Nacht.
 

Er schüttelt über sich selbst den Kopf. Unweit von ihm ist der Lichtschalter und er betätigt ihn. Unwillig kneift er die Augen zusammen, als es hell wird. Viel zu hell. Dann sieht er sich im Verkaufsraum um. Seine Taschenlampe liegt noch immer unberührt am Boden, das Regal und die zerbrochenen Flaschen ebenso, aber der Junge ist fort. Wohl auch besser so, sonst hätte er jetzt noch womöglich die Polizei gerufen. Was war das denn jetzt bitte?

„Jesse, du drehst durch“, murmle er leise vor sich hin und vielleicht ist da auch wirklich was dran.
 

Es ist halb eins, als er Cassies und seine Wohnung betritt. Alles ist dunkel. Als er seinen grauen Mantel an den Kleiderhaken hängt, bleibt sein Blick jedoch an Cassies braunem Parka hängen. Es ist kein so klares Braun, wie das, welches die Augen des Jungen hatten. Er erschreckt sich über den Gedanken so sehr, dass er fast über die Topfpflanze stolpert, die im Flur steht. In letzter Sekunde kann er sich noch halten. Er muss dringend ins Bett. Zu seiner Freundin. Diese völlig absurde Nacht vergessen.

Kapitel 4

Kapitel 4
 

Von Stolz und Würde
 

Xander
 

Keuchend kommt er zum Stillstand. Was zur Hölle war das? Scheiße, scheiße, scheiße…. Er dreht durch. Er weiß nicht einmal genau weshalb, aber er dreht durch. Er hört sein Blut in den Ohren rauschen, spürt das Brennen der kalten Luft in seiner Lunge und weiß einfach, dass er durchdreht. Er hat keinen blassen Schimmer in welche Richtung Angel gelaufen ist, aber eigentlich interessiert es ihn auch nicht. Stattdessen versucht er herauszufinden, wo er eigentlich selbst gerade ist. Das kommt davon, wenn man kopflos durch die Nacht rennt. Er hat die Orientierung verloren.
 

Oder? Doch… Maynard Park. Eindeutig nicht seine Gegend. Viel zu fein. Hier sieht man nachts nicht einmal die Penner auf den Bänken übernachten. Alles nur wegen… wegen… er kennt ja nicht einmal seinen Namen. Trotzdem hat er ihn genau vor Augen. Das kurze, gegelte rot-blonde Haar, die dunkelgrünen Augen und die Brille mit den dicken schwarzen Rändern - die im grellen Licht der Taschenlampe merkwürdig gefunkelt haben - auf der Nase. Sein Laden, hat er immer wieder gesagt, vielleicht ist er mit dem alten King verwandt? Oder hat den Laden einfach nur gekauft? Aber warum hat er Xander einfach gehen lassen?
 

Er gibt’s ja nur echt ungern zu, doch er hatte echt Panik, dass der Typ gleich die Polizei ruft. Er wäre fällig gewesen. Die hätten ihn wahrscheinlich ins nächste Fürsorgeheim gesteckt oder noch schlimmer, zurück zu seinem Vater geschickt. Danke, aber darauf kann er gut und gerne verzichten. Ach verdammt, er versucht irgendwie runter zu kommen, stattdessen wandern seine Gedanken zu diesem Kerl. Er hat ihn gemustert. Das hat Xander sich sicher nicht nur eingebildet. Gemustert. Wie den letzten Dreck. Er fühlt sich ehrlich gesagt, auch wie der letzte Dreck. Wie man sich eben fühlt, wenn man das ist. Um sich zu beruhigen, läuft er auf und ab, hört das Knirschen des Sandweges unter seinen Fußsohlen und versucht sich ausschließlich darauf zu konzentrieren. Jedenfalls ist die Aktion absolut nach hinten losgegangen. Nicht, dass sie in dem Supermarkt eine Goldgrube erwartet hätten, aber irgendetwas hätte man sicher zu Geld machen können, so steht er nun mit leeren Händen da. Ohne einen Cent in der Tasche. Abgesehen davon, ist es arschkalt. Er überlegt kurz, wie weit es von hier bis zum Bahnhof ist. Eine gute halbe Stunde? Eine Dreiviertelstunde, oder noch länger? Egal wie weit, er muss da jetzt hin, es ist die einzige Möglichkeit, an Geld zu kommen und er braucht dringend welches. Was zu essen wäre auch nicht schlecht, sein Magen rebelliert schon seit Tagen, aber vor allem Geld. Denn ohne Geld kriegt er ja auch keinen Stoff. Allein bei dem Gedanken an das Zeug, wird er unruhig. Unruhe, diese verdammte, allgegenwärtige Unruhe. Er nimmt einen kräftigen Zug der kalten Nachtluft, um etwas runter zu kommen und das klappt auch. Zum Glück! Und jetzt nichts wie weg hier.
 

Das silberne Tor, welches aus dem Park heraus führt, ist geschlossen. Verwirrt sieht er sich um. Ist er woanders rein? Nein, oder? Ist er da etwa ernsthaft drüber geklettert, ohne sich jetzt daran zu erinnern? Mist, er ist in Panik. Ob er da jetzt nochmal rüber kommt? Muss er ja eigentlich. Ist er vorhin augenscheinlich auch. Bedächtig streicht er über das verschnörkelte Muster des Tores. Hätte er in der Schule aufgepasst, könnte er es jetzt vielleicht einer Epoche, oder wie man das auch nennt, zuordnen. Barock oder so. Aber er hat nicht aufgepasst, zumindest am Ende nicht mehr. Er hatte echt Besseres zu tun, daher spielt es auch keine Rolle. Er streckt sich, um an das obere Ende des Tores zu gelangen. Es geht nicht. Er ist einfach zu klein, ganz gleich, ob er sich auf die Zehenspitzen stellt oder nicht. Gut, mit etwa einen-Meter-fünfundsechzig, ist er auch alles andere als groß, obgleich er schon glaubt in den letzten beiden Jahren, die er auf der Straße verbracht hat, gewachsen zu sein. Und nein, er meint nicht geistig oder seelisch, bevor ihm jetzt jemand irgendeinen poetischen Scheiß andichten möchte. Früher war er wirklich klein. Der Arzt meinte, zu wenig Calcium oder so was.

Es war einer der Gründe, weshalb sich seine Mitschüler über ihn lustig gemacht haben.

Ein anderer Faktor war seine Mutter - mittlerweile konnte er sie gut verstehen - und wieder ein anderer die Tatsache, dass er weder so war, noch so sein wollte wie alle anderen, doch darüber möchte er garantiert nicht weiter nachdenken. Egal, da hier keine Zollstöcke aus dem Boden sprießen, kann er nur schätzen. Deshalb glaubt er, ein-Meter-fünfundsechzig kommt gut hin. Zu klein eben. Alles beim Alten. Manche Dinge ändern sich wohl nie. Er wünschte, manche Dinge hätten sich nie geändert….
 

Sein Versuch, über das Rundtor zu greifen, hat zwar nicht funktioniert, aber dafür findet er mit Händen und Füßen in dem Gestänge halt, das zur Verzierung dienen soll. Dann zieht er sich hoch und kann seine linke Hand am oberen Ende des Bogens ablegen. Die Rechte folgt und er zieht sich komplett hoch. Es ist – zugegeben - ein ganz schöner Kraftakt und kurz droht er abzurutschen, doch es gelingt ihm. Jetzt, wo er oben auf dem Tor sitzt, kommt es ihm noch ein bisschen höher vor, was aber nur halb so schlimm ist. Kurz kneift er seine Augen zu. Es ist doch nicht hoch, versucht er sich zu beruhigen. Vielleicht zwei Meter zehn. Trotzdem spürt er, wie ihm schwindelig wird. Höhenangst. Um es hinter sich zu bringen, springt er, jedoch geht das schief. Irgendwo ist er für einen Sekundenbruchteil hängen geblieben, weshalb er schmerzhaft auf den Boden aufprallt und sich den Fuß leicht verdreht. Ein brennender Schmerz durchzuckt sein rechtes Bein. Fuck. Vorsichtig richtet er sich auf, es tut höllisch weh. Reiß dich zusammen, bläut er sich ein. Ein Blick nach links und rechts sagt ihm, dass er zumindest alleine ist und niemand die kleine Stunt-Show gesehen hat. Als erneut eine Schmerzenswelle sein Bein durchfährt, er hat versucht aufzutreten, und beißt er die Zähne zusammen. Er muss hier jetzt weg.
 

Die Bahnhofsuhr schlägt ein Uhr, als er endlich ankommt. Es ist ein schöner Bahnhof, soweit er das mit seinen unästhetischen Augen beurteilen kann. Das Gemäuer ist schon alt, aber gerade das macht seinen Charme aus. Die Uhr ist an einem hohen Turm befestigt und hat goldene Ziffern. Es sind römische Zahlen. Er mag sie jedenfalls. Fast schon schade, dass sie den Bahnhof so zweckentfremden. Sie, die Stricher und Huren dieser Stadt. Natürlich fragt niemand, wie sie sich bei all dem fühlen. Und die Freier, die zu ihnen kommen, sind natürlich auch in keinster Weise an alle dem Schuld. Alles ihre Schuld. Typisch Erwachsene. Fehler immer nur bei den anderen suchen. Vor ein paar Jahren gab es mal eine Bürgerinitiative deswegen, schließlich ist Prostitution ja illegal und da gab es hier dann ne Menge Polizeistreifen, die regelmäßig vorbei gefahren sind. Danach haben sie sich etwas verlagert. Aber desto später die Stunde, desto mehr Kundschaft gibt es auch hier.
 

Er beißt sich auf die Lippen, bei den Gedanken an das, was ihm jetzt noch bevorsteht. Die braven Familienväter, die fleißigen Geschäftsmänner und all die anderen Heuchler. Sein Leben mag zwar noch so verkorkst sein, aber zumindest versucht er nicht etwas zu sein, was er absolut nicht ist. Nein, er kann einfach nicht so ein pseudo-glückliches Leben führen. Ein paar der Laternen brennen nicht, andere flackern ein wenig, aber eines haben sie alle gemeinsam.

Jugendliche haben sich in Reih und Glied an ihrer Seite aufgestellt. Abwartend. Die vorbeifahrenden Autos beobachtend, sich bestmöglich präsentierend. Hat er noch nie gemacht, wird er vermutlich auch nie machen. Nicht die Sache mit den Freiern. Aber dieses sich auf den Präsentierteller setzen. Bitte, er will zwar das Geld, aber eigentlich erwarten die ja was von ihm. Also sollen sie auch gefälligst kommen. In seiner Situation eine ziemlich dämliche Einstellung, das ist ihm klar. Mittlerweile hat er es sich auf der niedrigen Bahnhofsmauer bequem gemacht, - vermutlich auch deshalb, weil sein Fuß beim Stehen immer noch extrem schmerzt - zugegeben, unweit einer Laterne entfernt. Ihm bleibt jetzt nichts anderes übrig, als zu warten. Sein Atem hinterlässt kleine Wolken in der kalten Nachtluft. Gott, bitte lass es in den nächsten Tagen nicht noch weiter abkühlen. Er zittert jetzt schon wie Espenlaub und weiß dieses Jahr auch absolut nicht, wo er den Winter verbringen soll. Letztes Jahr konnte er zumindest den Dezember bei Angel verbringen. Aber da hat sie auch noch bei ihren Eltern gelebt und die waren auf irgendeiner Geschäftsreise gewesen. Keine Ahnung wo. Es war auch die Zeit, in der sie das erste Mal Heroin anschleppte, doch damals hat er keines genommen. Nun lebt sie allerdings in ihrer eigenen Wohnung. Kling ja erst gut, der Haken ist nur leider, dass ihre Eltern zwar den Unterhalt zahlen, aber die Fürsorge andauernd bei ihr vorbeischaut. Die haben ihr die Wohnung überhaupt erst besorgt und da ist übernachten einfach nicht drin.
 

Er schaut sich nach bekannten Gesichtern um und entdeckt auch ein paar. Ihre Namen kennt er allerdings nicht. Hier nennt sowieso niemand seinen richtigen Namen, wenn er einen nennt. Angel ist die einzige, die seinen kennt. Gut, stimmt nicht ganz, er heißt Alexander. Doch das Xander eine Abkürzung ist, kann man sich wohl denken. Sein Blick bleibt an einem Mädchen mit langen schwarzen Haaren hängen. Er schätzt sie ein paar Jahre jünger, als sich, vierzehn vielleicht. Ob Nikki auch so aussehen würde? Er schüttelt über seinen eigenen Gedanken den Kopf, Nikki wäre jetzt erst neun.
 

Sie ist jedenfalls hübsch, ihr Outfit ist es allerdings nicht. Ein hautenges rotes Top, das wenig der Fantasie überlässt und nicht annähernd bis zum Bauchnabel reicht, schwarze Hot-Pants, eine Netzstrumpfhose und fürchterliche, knielange und ebenfalls schwarze Absatzstiefel. Dazu ein kleines, weißes Lackhandtäschchen. Wie schafft man es bitte, in dem Outfit nicht zu erfrieren? Er weiß es nicht. In der Annahme, dass sie sicher Eyeliner und Kajal hat, geht er auf sie zu und fragt sie danach. Tatsächlich hat er Recht und sie reicht ihm beides, samt Schminkspiegel. Das Licht der Straßenlaternen ist zwar schlecht, doch dafür reicht es noch. Er fühlt sich, wie jedes Mal, in eine andere Zeit zurückversetzt. Die Augen hat er sich auch damals geschminkt, es war ihm egal, ob ihn das noch mehr zum Außenseiter gemacht hat, - und seinen Vater hat es ordentlich provoziert, darum ging es ihm vermutlich, wenn er ehrlich ist - doch damals hatte er vielleicht noch so etwas wie eine Familie. Wenn er damals im Bad vor dem Spiegel stand, hat das seinen Vater zur Weißglut gebracht. Der Side-Cut, der Pony, der ihm lang ins Gesicht fiel, das Gel im Rest seiner Haare und eben die geschminkten Augen. Vor allem die. Sein Vater hat alles an seinem Aussehen gehasst. Egal, egal, egal. Er ist fertig und gibt dem Mädchen ihre Schminkutensilien zurück, danach läuft - oder besser gesagt humpelt - er zurück zur Mauer. Allein sein und warten, mehr will er nicht.
 

Nach gut einer Stunde ist er soweit aufzugeben, es ist einfach viel zu kalt, um hier blöd herumzusitzen, aber in diesem Moment kommt ein dunkelblauer, teuer wirkender Wagen die Straße herunter gefahren. Keine Ahnung, welche Sorte von Auto, mit so was kennt er sich nicht aus, doch es ist einer dieser Schlitten, bei denen du gleich siehst, dass der Fahrer Geld hat. Er fährt so langsam, dass Xander das Gesicht des beleibten Mannes mit dem schütteren Haar deutlich erkennen kann. Wenn er richtig sieht, trägt er einen dunklen, geschmacklosen Nadelstreifenanzug. Ein pink leuchtender Kindersitz ist auf der Rückbank befestigt. Er steht schräg zum Wagen, als der an ihm vorbeifährt und ist schon im Gehen, als er hört wie eine Fensterscheibe herunter gefahren wird. Die Stimme ist dunkel und kratzig, durchweg unsympathisch. „Willst du schon gehen, Kleiner?“
 

Es durchzuckt ihn eiskalt und ihm wird schlecht. Eine Gänsehaut breitet sich über seine Arme, über seinen ganzen Körper aus. Komm schon, stell dich nicht so an, ermahnt er sich selbst. Dann dreht er sich um. Der Mann lässt einen Arm lässig aus dem Fenster hängen, was in seinem Aufzug echt mehr als lächerlich wirkt. Natürlich könnte er ihn jetzt nett anlächeln und ihm Honig ums Maul schmieren, er weiß ja, dass das bei den Freiern besser ankommt, allerdings bringt er das absolut nicht übers Herz. Wie gesagt, er ist kein Heuchler. Langsamen Schrittes geht er auf ihn zu, der Mistkerl beginnt daraufhin zu grinsen. Seine Zähne sind gelb, vermutlich ist er Raucher. Als er bei ihm ankommt, schlägt ihm die Duftwelle eines furchtbar grässlichen und aufdringlichen Rasierwassers entgegen. Wieso macht er das? Rhetorische Frage, er will nur eigentlich nicht. Wieso ist er bloß nicht mehr high genug? Vor dem Fenster bleibt er stehen. Der Mann mustert Xander kurz und nickt dann. „Also, gesprächig bist du nicht, was? Wie viel willst du denn?“ Er widert ihn an. Schlimmer ist nur, dass er sich selbst noch viel mehr anwidert.
 

„Kommt darauf an, was Sie wollen…“ Eine Sekunde lang sieht der Mann ihn überrascht an, zieht sogar eine Augenbraue in die Höhe, dann bricht er in brüllendes Lachen aus und Xander versteht nicht(,) wieso. Nach seinem nächsten Satz ist es ihm allerdings klar. „Wieso denn so förmlich, mein Junge?“ Es gibt nur eines, das schlimmer ist, als ,Kleiner’ und das ist ‚mein Junge’. Tja, er hat keine Ahnung. Vielleicht, weil er’s als Kind so beigebracht bekommen hat, obwohl er ja nicht sonderlich viel auf die Meinungen und Regeln Erwachsener gibt. Ironisch, ein Kind ist er ja auch nicht mehr, aber erwachsen? An diesem Wort hängt so viel. Der Typ reißt ihn aus seinen Gedanken und er ist ihm zwar nicht dankbar dafür, trotzdem ist es wohl besser so. „Einen Blowjob, was sagst du?“
 

„15 Dollar, zu meinen Bedingungen“
 

Der widerliche Typ lächelt. Kein schönes Lächeln, es ist mehr ein Verziehen der Mundwinkel. Schmierig. „Und zu meinen Bedingungen?“ Er will gar nicht wissen, was seine Bedingungen sind und ist drauf und dran ihm zu sagen, dass es nur seine Bedingungen gibt, doch das würde bedeuten sich Geld durch die Lappen gehen zu lassen und er braucht das Geld einfach. „Das Doppelte.“ Ein Nicken folgt und er steigt in den dunkelblauen Wagen.

Kapitel 5

Kapitel 5
 

Glaubst du an Schicksal?
 

Jesse
 

Es ist Ende November, als der Brief mit dem unübersehbaren Universitäts-Emblem im sonst gähnend leeren Briefkasten liegt. Es ist Ende November und seit Tagen hört es gar nicht mehr auf zu regnen. Eine unbestimmte Melancholie hat ihn in den letzten Stunden befallen und das Erste, woran er denkt, als er den Brief sieht ist: Exmatrikulation. In seinem ersten Semester an der University of New York hat er einmal fälschlicherweise einen solchen Brief bekommen, seit dem lässt ihn der Gedanke nicht mehr los, obwohl er weiß, dass dem nicht sein kann. Langsam entnimmt er dem Briefkasten das Stück Papier und sieht dabei, dass es an Cassie adressiert ist, an wen auch sonst. Das werden wohl ihre Ergebnisse sein. Sie wartet schon gespannt darauf und sitzt wie auf glühenden Kohlen. Ohne zu wissen weshalb, dreht er sich noch einmal um, betrachtet das auf die Erde nieder fallende Wasser, bevor er mit dem Brief in der Hand die Treppen nach oben in ihre Wohnung geht. An der Wohnungstür angelangt, denkt er darüber nach, welches beruhigende Gefühl es ist, bei einem solchen Wetter in der trockenen Wohnung sitzen zu können und große, braune Augen schieben sich ihm in den Sinn. Er schüttelt, wie so oft in den vergangenen Tagen, über sich selbst den Kopf und seine ihm entgegen laufende Freundin sieht ihn verwirrt an, als er die Wohnung betritt.
 

Sie schaut erst zu ihm und dann zu dem Brief in seinen Händen. Auch sie scheint sofort das Emblem der Universität zu erkennen und hält sogleich den Atem an. Er kann sie gut verstehen, von diesen Zeilen hängt wohl ihre gesamte Zukunft ab, es muss ein unsagbar furchtbares Gefühl sein. Er bemüht sich, sie ermutigend anzulächeln, glaubt aber nicht so recht daran, dass es funktioniert hat. Als er ihr den Brief übergibt, sieht er ihr direkt ins Gesicht und versucht sich auf ihre tief blauen Augen zu konzentrieren. Es will nicht wirklich funktionieren. Was ist bloß los mit ihm?
 

Mit zittriger Hand nimmt sie ihn entgegen. Er wünschte, er könnte ihr helfen, denn von der Selbstsicherheit die sie sonst ihr Eigen nennt, ist nichts mehr zu sehen, doch da muss sie jetzt nun einmal durch. Außerdem, wenn er ganz ehrlich ist, kann er sich wirklich nicht vorstellen, dass sie es nicht geschafft hat. Sie hat sich auf alles bestens vorbereitet, um ihren Traum zum Beruf zu machen und, mit Verlaub, wenn Cassie etwas will, dann bekommt sie es auch. Da ist er sich hundertprozentig sicher. Nun ja und wer Jesse kennt, der weiß, er ist sich nicht bei vielen Dingen so sicher. Obgleich er ausgerechnet in den letzten Tagen diese Tatsache über Bord geworfen hat. Denn es gibt noch etwas, bei dem er sich zu hundert Prozent sicher ist und dieses Etwas ist es, weshalb ein kleiner silberner Ring mit einem hübschen, aber zugegeben wirklich überteuerten Swarovski-Stein in der Tasche seines Jacketts ruht.
 

Cassies meerblaue Augen suchen seinen Blick, als er ihr ermutigend zunickt, während sie den Brief in ihren Händen nervös knetet. Wenn sie so weiter macht, bezweifle er sehr stark, dass er gleich noch besonders gut zu lesen sein wird.
 

„Hey, wovor hast du eigentlich Angst? Es kann doch gar nichts Negatives in dem Brief stehen, oder hab’ ich irgendwas verpasst?“, schenke er ihr erneut ein Lächeln und versuche sie dazu zu bringen, den Brief zu öffnen.
 

„Ja, klar … Ich wollte ja auch nur Spannung aufbauen“, erwidert sie mit einem gequält klingenden Lachen und wirkt dabei alles andere, als überzeugt.
 

„Ach so, na dann, los geht’s!“, mit diesen Worten geht er auf sie zu, legt seine Hände von hinten an ihre Schultern und deutet ihr mit einer leichten Geste an, mit dem Öffnen des Kuverts zu beginnen. Und genau das tut sie dann auch, wenn ihre Hände auch stark zittern. Erst will es nicht so recht gelingen, der Brief reißt an einer Ecke ein und er kann ihr genervtes Aufstöhnen an seinem Ohr allzu deutlich vernehmen, doch gleich fängt sie sich wieder, atmet einmal tief durch und öffnet ihn mit einem Ruck. Dann zieht sie vorsichtig ein lädiertes – genau so, wie er es erwartet hatte - Stück Papier hervor. Sie faltet es auf und ihre langen, braunen Locken verdecken ihm die Sicht, auf das Geschriebene. Dennoch erkennt er, dass sie mit dem Zeigefinger einen Satz des Geschriebenen nachfährt, so als könne sie es nicht glauben und ihm kommt der beängstigende Gedanke, dass sie es vielleicht doch nicht geschafft hat. Dass sie die Masterarbeit vor Nervosität vielleicht versaut hat, doch dann reißt ihn ein freudiger Aufschrei aus seinen Gedanken, sie dreht sich zu ihm um und im nächsten Augenblick liegen ihre Lippen auf dem seinen und er spürt einen wohligen Schauer über seinen Rücken laufen. Ihm wird mit einem Mal klar, dass hier und jetzt genau der richtige Moment ist.
 

Er löst ihren Kuss und tritt einen Schritt zurück. Als er sich vor ihr auf die Knie sinken lässt, werden ihre Augen groß und er kann deutlich sehen, wie ihre Lippen beben. Dabei ist er es doch, dessen Herz bis zum Hals schlägt. Für den Bruchteil einer Sekunde fürchtet er, kein Wort heraus zubringen, doch nach einen weiteren Blick in Cassies, nun vor Aufregung und Vorfreude glänzenden Augen, löst sich der Kloß in seinem Hals langsam wieder. Fast zögerlich nimmt er den Ring aus seiner Tasche, er wird nun von seiner Faust umschlossen, holt noch einmal tief Luft und beginnt:
 

„Cassandra Hastings, ich würde gerne sagen wir kennen uns schon ewig, die Wahrheit ist, wir sind seit gut sechs Jahren ein Paar. Doch, es fühlt sich immerhin schon an, wie eine kleine Ewigkeit, jedenfalls…“, er kommt raus, verhaspelt sich und streiche sich nervös wie er ist, durch die Haare. Dann lächelt sie ihn vorsichtig an und er setze erneut an:
 

„Was ich sagen will ist, ich will meine Ewigkeit mit dir verbringen. Ich will, dass es unsere Ewigkeit wird. Deshalb frage ich dich, willst du meine Frau werden?"
 

Sie wirkt viel ruhiger, als er erwartet hat und er bekommt jetzt doch Angst, sie ‚ könnte Nein’ sagen. Aber dann strahlt sie ihn an, legt ihre zarte Hand auf seine Schulter, beugt sich zu ihm herunter und flüstert ihm mit zarter Stimme ins Ohr:
 

„Ich liebe dich. Und ja, ich will!“

Er zieht sie ohne zu zögern auf den Parkettboden, umschlingt sie fest mit seinen Armen und gibt ihr, zum ersten Mal als seine Verlobte, einen Kuss auf die Stirn. Sie lehnt ihren Kopf an seine Brust und der gesamte Raum ist von einer, fast magischen, Stille erfüllt. Er schließt seine Augen, genießt den Moment. Selten hat er sich so wohl gefühlt, wie in diesem Augenblick.
 

„Weißt du, was du jetzt tun solltest?“

„Ehrlich gesagt? Nein, was denn?“

„Es offiziell machen …“

„Was? Unsere Verlobung?“

„Ja, klar. Was sonst?“

„Ehm … Wie meinst du das?“

„Na, wie wäre es zum Beispiel, wenn du mir, nur so ganz symbolisch, den Verlobungsring ansteckst, den du so fest umklammert hältst?“
 

Ihre Stimme klingt bei diesem Satz zuckersüß und er läuft so rot an, wie eine Tomate. Er kann förmlich spüren, wie seine Wangen heiß werden. So schnell, wie irgend möglich, gleichzeitig darum ringend Contenance zu bewahren, steckt er ihr den silbernen Ring an den Finger. Sie schaut ihn einen Moment versonnen an, dann grinst sie und keine zwei Sekunden später liegen sie lachend am Boden. Scheiße.
 

„Das war jetzt irgendwie nur halb so romantisch, wie geplant.“

„So, so …das war alles geplant, hmm? Ach, so würde ich das außerdem nicht sagen, … es war schon … sehr romantisch.“

„Danke für die Schadensbegrenzung, Liebling.“

„Dafür nicht mein Schatz, das ist ab heute mein Job.“
 

Als sie einige Stunden später beim Abendessen sitzen, hat es das erste Mal seit Tagen aufgehört zu regnen. Überhaupt scheint gerade alles viel besser, selbst die Nudeln vom Chinesen an der Ecke schmecken heute noch besser. Und jedes Mal, wenn er Cassie mit einer Berührung nur flüchtig streift, kribbelt seine Haut. Er liebt dieses Gefühl und kann nicht wirklich sagen weshalb, aber irgendwie war es die letzten Monate komplett ausgeblieben. Jetzt ist es wieder zurück und macht ihn schier verrückt, ganz nach Klischee wie Schmetterlinge in seinem Bauch. Sie haben gerade aufgegessen, da erzählt Cassie ihm von einem neuen Club, von dem sie gehört hat und den sie ja so furchtbar gerne einmal besuchen würde. Zudem haben sie heute ja auch wirklich was zu feiern, will sie ihm noch das perfekte Argument liefern, die Uni morgen sausen zu lassen. Zugegeben, es klingt schon sehr verlockend, allerdings schreckt ihn die Gegend ein wenig ab, in der der Club liegt. Es ist zwar nicht so, dass New York heute noch einen berüchtigten Rotlichtbezirk hätte, wie es in den 50’ern der Fall war – jetzt mal von Hunts Point abgesehen -, aber ‚koscher’ ist die Gegend sicher nicht. Neben der Tatsache, dass sein Smart keine Reifen mehr besäße, wenn er ihn dort parken würde – sofern er nicht gleich ganz verschwunden wäre – ist das älteste Gewerbe der Welt dort eben auch hoch im Kurs. Er findet die Gegend jedenfalls nicht sonderlich ansprechend, um seine Verlobung dort zu feiern. Aber er kann Cassie ebenso wenig einen Wunsch abschlagen und außerdem kann es ja auch nicht schaden auszugehen, oder? Also stimmt er ihr zu und sie fällt ihm jauchzend um den Hals, allein dafür hat es sich ja schon gelohnt.
 

Gute fünf Stunden später, es ist vielleicht Viertel nach elf – also eigentlich viel zu früh zum Feiern, kommen sie gerade vor dem berühmt berüchtigten Club an. ‚Red Crow’.

Er revidiert seine vorherige Aussage, denn es scheint ihm doch nicht mehr zu früh zum Feiern. Die Schlange vor dem Einlass des Clubs ist nämlich so lang, dass es sich nur um Stunden handeln kann, bis sie an der Reihe sind. Die Schlange ist einfach gigantisch und dabei sieht der Club, zumindest von außen, nicht einmal besonders aus. Streng genommen, wirkt er sogar ziemlich schäbig. Ehemals weißer Putz bröckelt von der Hauswand und gibt so den Blick auf alte Backsteine frei. Seine Verlobte scheint dennoch begeistert: „Na, habe ich dir zu viel versprochen?“
 

Er schüttelt den Kopf, hat sie ihm im Grunde genommen ja überhaupt nichts versprochen, allerdings ist es dennoch viel mehr Zeichen seines Unglaubens als eine Art von Zustimmung. Das scheint sie allerdings nicht zu merken. Stattdessen tritt sie unruhig von einem Bein aufs andere und er ertappt sich dabei, wie er sie während dessen mustert. Sie trägt schwarze, geschnürte High-Heels, mit denen sie seine Einmeterfünfundachtzig fast überragt und er fragt sich, wie man darauf laufen kann, ohne sich dabei gleich beide Beine zu brechen. Aber das wird für ihn wohl eines dieser unerklärlichen Mysterien bleiben. Deshalb wandert sein Blick nun weiter nach oben, ihre schlanken Beine entlang. Sie trägt ein kurz geschnittenes, schwarzes Kleid, das am tiefe Einblicke gewährendem Ausschnitt, mit glitzernden Steinen besetzt ist. Nicht, dass ihm dieser Ausblick nicht gefallen würde, aber er fürchtet anderen Männern geht es da ähnlich und der Gedanke gefällt ihm nicht.
 

Es vergeht eine weitere halbe Stunde und endlich stehen sie vor dem lang ersehnten Einlass, Gott sei Dank, denn es ist wirklich eisig kalt. Cassie wäre vermutlich wieder einmal längst erfroren, wenn er ihr nicht abermals seine Jacke gegeben hätte, was sich irgendwie einzubürgern scheint. Im Club selbst angekommen, muss er zugeben, dass ihm das Ambiente doch besser gefällt, als er selbst erwartet hätte. Das Licht ist kalt, aber es ist genau die richtige Menge. Die Tanzflächen gehen über zwei Stockwerke, die Musik ist annehmbar und Bar-Theken sind ebenso wie Sitzgelegenheiten auf der ganzen Fläche großzügig verteilt. Nicht schlecht. Aber noch bevor er sich weiter umsehen kann, zieht Cassie ihn auch schon auf die Tanzfläche, wo sie zwei Freundinnen entdeckt zu haben scheint. Tatsächlich sind die beiden ihm sogar bekannt. Die eine ist seine Kommilitonin Brittany, mit der er sich einige Vorlesungen teilt. Die andere heißt, wenn er sich nicht irrt, Alicia. Auch sie kennt er von der Uni, er kann sich aber nicht erinnern in welchem Zusammenhang.
 

Die drei begrüßen sich mit einer stürmischen Umarmung, er begrüßt die Mädchen mit einem kurzen ‚Hi‘.
 

Cassie zieht ihn noch näher zu sich, er legt wie selbstverständlich seinen Arm um ihre Taille und sie hält den beiden wortlos ihre rechte Hand entgegen. Sie brauchen einen Augenblick, dann geben sie ein erstauntes „Oh“ und „Ahh“ von sich.
 

„Ihr werdet heiraten!“, ruft Alicia verzückt aus und umarmt Cassie nochmals. Brittany allerdings schaut zu ihm, nicht zu Cassie und schenkt ihm dann einen undefinierbaren Blick. Er zieht fragend eine Augenbraue in die Höhe, doch sie sieht sofort wieder weg und widmet sich dann hoch konzentriert dem Gespräch ihrer Freundinnen. Er versucht auch gar nicht erst, sie darauf anzusprechen, sondern sieht es lieber gleich positiv. Solange seine Freundin beschäftigt ist, schleppt sie ihn nicht zum Tanzen aufs Parkett. Was ihm eine peinliche Szene erspart, denn er besitzt wirklich null Taktgefühl.
 

Unzählige Cocktails – wenn ihm heute Nacht noch irgendwo der Duft von Kokosnuss in die Nase steigt, übergibt er sich – und gefühlt ebenso viele Stunden später, beschließen Cassie und er langsam nach Hause zu gehen. Er betont langsam, denn zu viel mehr sind sie beide sowieso nicht mehr in der Lage. Sie verabschieden sich noch kurz von Brittany, die noch andere Bekannte getroffen hat, welche ihm erneut einen komischen Blick schenkt als Cassie ihn bereits wieder weiter fort zieht und suchen noch ebenso kurz nach Alicia. Die sie allerdings nirgendwo entdecken können, weshalb sie verschwinden ohne sich von ihr zu verabschieden.
 

Zurück auf der Straße schwankt Cassie schon bedenklich, oder ist er das etwa selbst? Jedenfalls haben sie beide wirklich genug Alkohol intus und er streicht den Gedanken, morgen doch noch vielleicht zur Uni zu gehen. Er kann froh sein, wenn ihn der Kater morgen überhaupt aufstehen lässt.
 

Dieses Mal ist er wirklich dankbar um die schneidend kühle Nacht- oder viel mehr Morgenluft, denn sie macht seinen Kopf gleich wieder etwas freier und bewirkt wahre Wunder. Es ist noch genauso stockdunkel hier draußen – sieht man einmal von ein paar Leuchtreklamen ab-, wie zu dem Zeitpunkt als sie den Club betreten haben, allerdings liegt das wohl vielmehr an der Jahreszeit, als weniger an der Tageszeit. Sie sind schweigend und immer noch leicht wankend auf dem Weg zur U-Bahn-Station, denn abgesehen davon, dass er in seinem Zustand eh kein Auto fahren dürfte, war es ihm doch zu riskant es hierher mitzunehmen, da verzieht Cassie plötzlich unwillig die Mundwinkel. Langsam folgt er ihrem Blick und ihm wird gleich klar, worüber sie so die Nase rümpft.
 

Da stehen sie in Reih und Glied, junge Mädchen, Frauen und ebenso Männer, die ihren Körper gegen Geld anbieten. Er will Cassie schon am Arm packen und einfach weiter gehen, da sieht er ihn, keine fünf Meter von ihm entfernt. Er hat den Blick gen Boden gerichtet, aber er erkennt ihn sofort. Wieder trägt er nur sein abgetragenes, schwarzes T-Shirt und augenblicklich durchfährt es den Fünfundzwanzigjährigen kalt. Er muss doch regelrecht erfrieren?! Er ist gerade kurz davor, auf ihn zuzugehen, als seine Freundin ihn am Arm packt und seinen Blick in eine andere Richtung zerrt. Eine junge Frau kommt auf sie zu, erst glaubt er, es sei eine der Prostituierten – das Outfit wäre dafür nicht unpassend -, als er sie als eine weitere von Cassies Freundinnen identifiziere.
 

Sie begrüßt die beiden und sagt irgendetwas, aber er kann dem Gespräch nicht richtig folgen, die ganze Zeit hat er das Verlangen sich wieder umzudrehen.

„Schatz, ich finde das ist eine super Idee. Ziehen wir noch mit Maddison weiter?“, Cassies Frage trifft ihn unvermittelt. Er weiß gar nicht, worum es eigentlich genau geht.
 

„Was ehm… ja klar, du solltest mitgehen, aber ehm… ich denke ich sollte wirklich ins Bett, du weißt schon …. Morgen habe ich Arzneimittellehre bei Mrs. Duncan, mit der Frau ist echt nicht zu spaßen…“, lallt er sich irgendetwas zusammen, dass nach einer Antwort kling. Cassie wirkt nicht einmal enttäuscht, was ihn irgendwie selbst im betrunkenen Zustand trifft, verabschiedet sich mit einem Kuss und einem ‚Gute Nacht' von ihm und ist fort. Kurz blickt er noch in die Richtung, in die sie gegangen ist, dann dreht er sich instinktiv um. Der Junge schaut nicht mehr zu Boden, sondern erwidert stur seinen Blick und Jesse geht einen, oder auch zwei Schritte auf ihn zu. Er bleibt stehen, wo er ist. Ihm fällt jetzt, wo er ihn im Licht der Leuchtreklame näher betrachtet, auf, dass sein Haar heute gepflegter wirken, irgendwie frisch gewaschen. Außerdem trägt er starkes Augen Make-Up, das ihn überraschenderweise aber nicht wirklich androgyn wirken lässt. Nur irgendwie noch jünger. Langsam scheint sein Blick ihm unbehaglich zu werden, denn er weicht ihm aus und geht einen Schritt zurück. Trotzdem schaut er ihn weiter an, er weiß nicht einmal genau warum. Es ist wie Neugier, nur viel stärker.
 

Er glaubt, die gleiche, zerschlissene Jeans zu erkennen, wie bei ihrer letzten Begegnung. Die Knie sind aufgerissen und ein großes Loch in Höhe des Oberschenkels wird von mehreren riesigen Sicherheitsnadeln zusammen gehalten. Eigentlich sieht die gesamte Hose aus, als würde sie nur noch von den Sicherheitsnadeln zusammengehalten werden.
 

„Was zur Hölle willst du?“, es klingt rebellisch, aber irgendwie zugleich leicht panisch. Als fürchte er, Jesse mustere ihn nur so genau, um ihn im Nachhinein doch noch bei der Polizei anzuschwärzen.
 

„Mit dir reden…“, kommt es schlicht über seine Lippen und in dem Moment, in dem er es sagt, weiß er, dass es stimmt und dass er es wirklich will. Der Andere schaut ihn an, als sei er völlig verrückt geworden, fragt aber: „Worüber?“
 

„Glaubst du an Schicksal?“

Kapitel 6

Was ist Schicksal?
 

Xander
 


 

Er ist so unbeschreiblich müde. So müde, dass er nichts Anderes will, als zu schlafen. Nicht, dass er es nicht auch versuchen würde, aber es gelingt ihm nicht. Seine Augen sind geschlossen und er liegt zusammengerollt auf Angels Couch. Der Schwarzhaarige hört sie in der Küche werkeln, Töpfe klappern, Gläser scheppern, doch im Grunde genommen ist es ihm ganz egal, was sie dort treibt. Xander drückt seinen Kopf noch fester in das angenehm weiche Couchkissen. Er will doch gar nicht mehr, als in einen erholsamen Schlaf gleiten. In seinem Kopf pocht und hämmert es, als würde ein Hubschrauber darin umherschwirren. Ansetzend zur Landung, immer und immer wieder. Plötzlich ist es still in der Küche, er braucht eine Sekunde um das zu registrieren, dann beschleicht ihn ein ungutes Gefühl. Gleich darauf vernimmt der Junge ihre schlurfenden Schritte über dem Teppichboden. Sie kommt näher und es wäre überflüssig seine Augen zu öffnen um festzustellen, dass sie unmittelbar vor der Couch zum Stehen gekommen ist. Jetzt wird’s ernst.
 

„Xander?“, ihre Stimme ist sanft und glockenhell. Unter anderen Umständen wäre sie sicher sehr beruhigend, doch im Moment will er nicht mehr und nicht weniger als seine Ruhe. Das ist vermutlich egoistisch, aber im Augenblick ist ihm das ziemlich egal.

„Komm schon, ich weiß, dass du nich’ wirklich schläfst.“ Mist. Er ist einfach kein Schauspieler. Seelenruhig setzt sie sich auf die Sofakante und legt eine Hand auf seine Schulter. Keine Sekunde später sitzt er stocksteif und aufrecht auf der Couch. Wie ein Blitz war ein kalter Schauer über seine Haut gefahren und an der Stelle die Angel berührte, breitete sich eine Hitze aus. Keine angenehme, sondern eine, die verbrennt. Sofort zieht sie ihre Hand zurück. Augenblicklich ist das Gefühl fort. Die aufkeimende Erinnerung verschwunden.
 

„Sorry, ich hab’ vergessen, dass du das nicht magst“ Sie sieht ihn zerknirscht an und ihm schwant Übles. Hier geht es nicht nur um die überflüssige Berührung, auch wenn sie leicht untertrieben hat, was seine Abneigung Berührungen gegenüber angeht. Genau genommen ist es ihm ziemlich zuwider, wenn ihn jemand anfasst. Eine der Sachen, die er am Heroin nicht versteht. Nie verstehen wird. Wie können einem Dinge, die einen sonst die Wände hochgehen lassen würden, plötzlich so egal sein? Einfach gleichgültig? Und ist das nun gut oder schlecht?
 

„Hey Xander? Hörst du mir überhaupt zu?“, Angels Stimme klingt leicht angefressen.

„Sorry, was hast du gesagt? Ich war … irgendwie abgelenkt.“

Sie verdreht genervt die blauen Augen und eine Strähne ihres blondierten Haares fällt ihr ins Gesicht als sie antwortet:

„Ich sagte, der Kerl von der Fürsorge kommt in zwei Stunden. Bis dahin musst du wohl oder übel weg sein, sonst knallt’s.“

Sie stößt einen unüberhörbaren Seufzer aus. Xander weiß ja, dass sie’s nicht böse meint, wenn sie ihn raus schmeißt. Sie will nur keinen Stress. Schon klar. Zwei Stunden. Unwillkürlich sieht er aus dem Fenster. Das Wetter ist mit dem Wort mies eigentlich nur unzureichend beschrieben. Der graue Himmel ist wolkenverhangen, es regnet seit einer halben Ewigkeit. Es ist jetzt schon richtig kalt und er weiß genau, dass es gen Abend noch kälter wird. Fuck. Aber vom aus dem Fenster starren wird das Wetter auch nicht besser, also versucht er sich auf das zu besinnen, was jetzt gerade wichtig ist. Der Schwarzhaarige atmet einmal tief durch, in der Hoffnung, seine nächste Frage wäre ihm so weniger unangenehm. Fehlanzeige.
 

„Klar, kein Ding. Ehm … kann ich …vielleicht … noch eben deine Dusche benutzen?“

Sie lacht. Er hasst es.

„Na, wenn’s weiter nichts ist? Als du mich gerade so erwartungsvoll angesehen hast(,) dachte ich ‚Was kommt jetzt’?“

Irgendwie ist er erleichtert und dennoch hält er die Luft an, als sie von Neuem ansetzt: „Und wenn du schon dabei bist, kannst du deine Kleidung vor die Badtür legen. Ich schmeiße sie dann zusammen mit meinen Sachen im Keller in die Waschmaschine …und natürlich in den Trockner. Außerdem findet sich hier sicher noch ’n Shirt von meinem Ex.“
 

Er weiß, Schamgefühl ist hier jetzt echt nicht angebracht und er hat sicher schon ganz andere Sachen gemacht, für die er sich wirklich schämen sollte, aber trotzdem spürt er, wie sein Gesicht heiß wird. Verdammt peinlich und er ist nicht mehr high genug, um das zu ignorieren. Seine Hände und Beine, sein ganzer Körper fängt an zu kribbeln – nicht die angenehme Sorte, eher so wie wenn tausende von Krabbelviechern über dich herfallen – so wie jedes Mal, wenn er nur an den Stoff denkt. Dabei sollte er vom letzten Mal, das kaum zwei Stunden her sein dürfte, noch gut bedient sein. Angels Vorrat ist bereits weg, aber heute Nacht beschafft Xander Neues.
 

Er steht von der Couch auf, Angel bleibt sitzen. Als er bereits beim Türrahmen angelangt ist, dreht er sich noch einmal um. Immer noch sitzt sie unbewegt da.

„Danke“, murmelt Xander, dann macht er sich so schnell wie möglich auf ins Bad.

Eine Weile später sitzen sie am Tisch in Angels Küche. Es duftet nach Tomatensoße. Sie hat gekocht und lächelt ihn an, als sie ihm einen Teller mit Nudeln und Soße rüber schiebt und wieder einmal merkt er, wie hübsch sie eigentlich ist. Die zwei Monate, die sie clean war – auch wenn man’s kaum glauben mag – haben ihr echt gut getan. Doch es wird nicht mehr lange dauern, da wird sie wieder aussehen wie früher. Nein, vermutlich schlimmer. Sie ist ja jetzt schon wieder voll drauf, auch wenn es der Sozialheini noch nicht gecheckt hat. Dann wird ihre Haut total kaputt aussehen und überhaupt wird sie abgewrackt wirken. Aber der Junge braucht sich nichts vorzumachen, er ist selber nicht besser. Fast elf Monate, solange nimmt er den Scheiß schon. Elf Monate und mittlerweile verliert er oft das Zeitgefühl. Oder beim Zähneputzen. Nicht, dass er es damit so eng nehmen würde. Kann er ja auch gar nicht, außer wenn er bei Angel ist. Aber früher hatte er nie Karies. Jetzt schon. Er glaubt das kommt auch von dem Zeug. Aber sicher ist er sich nicht. Was Xander weiß ist, dass die komischen, roten Hautstellen davon kommen. An seiner Armbeuge, wo er die Spritze ansetzt, an seinem linken Handgelenk und am Hals. Rot und juckend. Ständig kratzt er sie auf, er erwischt sich dabei und hasst sich dafür. Genervt schließt er seine Augen. Was zur Hölle ist los mit ihm? Er will diese Gedanken nicht, er braucht sie nicht.
 

Langsam fängt er an zu essen, Angel ist schon halb fertig. Richtigen Appetit hat er plötzlich aber nicht mehr. Stattdessen denkt er daran zurück, wie er nach New York kam. Das war Anfang Dezember, letzten Jahres. Er kannte niemanden. Dann lernte er Angel kennen. Angel war immer da. Ist immer da. Sie ist die Einzige. Wenn ihre Eltern weg waren, konnte er manchmal bei ihr pennen und irgendwann schleppte sie dann Gras an. Aus Gras wurde Heroin, das sie zuvor schon regelmäßig genommen hat. Am Anfang hat er sich nicht dran getraut. Doch Angel brachte irgendwann nur noch Heroin mit. „Es ist super“, war ihre Aussage. Er macht ihr keinen Vorwurf, natürlich nicht. Niemand hat ihn gezwungen. Angel ist zuhause weg. Dann vor ein paar Monaten kam sie auf die Idee zu entziehen. Ihre Eltern hatten sie gesucht, gefunden und bequatscht. Keine richtige Therapie. Zuhause. Sollte ja keiner mitkriegen, was los ist. Dann kam irgendwann der Sozialheini und mit ihm bekam Angel ’ne eigene Wohnung. Jetzt ist sie wieder drauf. Dabei hat er sich sogar daran gehalten, ihr kein Zeug zu besorgen. Irgendwo anders hat sie’s dann hergenommen. So ist das immer. Du kannst in New York an alles kommen, wenn du nur willst. Xander weiß das schon lange.
 

Er sieht auf. Angel ist fertig mit essen und beobachtet ihn. Sie schweigt. Er auch. Dann isst Xander auf, mittlerweile ist die Mahlzeit kalt. Ihre Blicke gehen gleichzeitig zur Uhr. Er steht auf, sie ebenso. Nur ein Nicken, keine große Verabschiedung und er verlässt die Wohnung. Die beiden haben nichts Genaueres abgesprochen, aber sie werden sich schon wieder treffen.
 

Der Regen ist einfach widerlich. Seine Laune ist so richtig schön im Keller. Es könnte aber schlimmer sein, richtig? Okay, wem macht er was vor? Das ist echt ein erneuter Tiefpunkt. Verdammte scheiße, mitten im Gehen hält er inne. Seit wann versinkt er so im Selbstmitleid? Gott, wie erbärmlich. Schluss damit. Aus, Ende. Selber schuld. Xander bemüht sich an etwas anderes zu denken. Diesen dämlichen Regen zum Beispiel.
 

Es ist richtiger Platzregen, die Sorte bei der man lieber kuschelig im Bett liegt. Nichts wie weg hier. Aber wohin? Er stellt sich eng an eine Hauswand gepresst, aber wirklich trocken ist es hier nicht. Normalerweise würde er zum Bahnhof gehen, nur ist es dafür viel zu früh und außerdem hat er auch keinen Bedarf. Noch nicht. Noch dazu ist der Weg viel zu weit. Option zwei ist in der Regel einfach umher laufen. Es soll bloß keiner merken, dass man kein Ziel hat. Auch das fällt eher flach. Zum einen, weil er nicht scharf darauf ist, wie ein Putzlappen durchweicht zu werden, zum anderen, weil es nicht geht. Seit er sich vor zwei Wochen dumm den Fuß verdreht hat, rebelliert dieser ständig. Den ganzen Tag herumlaufen ist einfach noch nicht wieder drin. Am ersten Abend des ‚Unfalls’ tat sein Fuß nur höllisch weh, am nächsten Morgen war er bereits dick und blau angeschwollen und er musste wohl oder übel feststellen, dass er sich geirrt hatte. Hatte er noch am Abend zuvor geglaubt die Schmerzen könnten nicht schlimmer sein, so wurde der Junge am nächsten Morgen eines Besseren belehrt. Tage lang konnte Xander so gut wie gar nicht auftreten. Das schlimmste war aber eigentlich das Gefühl dabei. Auf New Yorks Straßen ist es nie sonderlich kuschelig und nachts schon dreimal nicht, aber wenn man nicht einmal die Möglichkeit hat sich aus dem Staub zu machen, wenn’s darauf ankommt. Dann ist man, na ja, ziemlich am Allerwertesten. Da kann sich einem echt der Magen umdrehen, im wahrsten Sinne des Wortes. Mittlerweile geht es Gott sei Dank wieder, nur eben keine langen Strecken. Aber für den Notfall reicht’s. Muss man eben ’ne Weile die Finger von fremden Portmonees lassen. Ihm kommt der Gedanke zur U-Bahn-Station zu gehen, da ist es zumindest trocken. Man muss nur höllisch auf die Polizei aufpassen. Besonders in Zivil rennen die da gerne rum. Unwillkürlich hat er ein flaues Gefühl im Magen. Die Polizei, dein Freund und Helfer. Wer hat sich den Spruch eigentlich ausgedacht? Ist jedenfalls ziemlicher Unfug. Er muss an seinen Vater und dessen nicht weniger trunkenen Kollegen und besten Freund denken, wenigstens für eine Sekunde und das reicht auch um seine Knie weich werden zulassen. Er schließt die Augen, nur kurz, lehnt sich langsam gegen kalten Stein.
 

„Er sucht nicht nach mir …“, murmelt er. Bestimmt nicht. Oder nicht mehr. Selbst wenn, woher sollte er wissen, wo er ist? Er schiebt zu viel Panik und dennoch ist ihm die Polizei ein Dorn im Auge. Alles miese Heuchler. Oder sollte es ihn belustigen, dass die Beamten, die ihm tagsüber davon jagen, weil er ja ‚hausiert’, ihm nachts als Freier wieder begegnen? Na zumindest hat das Xander schon mal den Kragen gerettet. Die wollen ja auch nicht, dass er das herum posaunt. Ein Beispiel von vielen. Die Welt ist nie so, wie sie scheint. Das hat er längst gelernt. Alle lügen lieber für den schönen Schein. Reden ist Silber und Schweigen ist Gold, nicht? Da schweigt am besten gleich ein ganzes Volk. Zum Kotzen.
 

Er zieht die Kapuze des alten Hoodies, den Angel ihm von ihrem Ex gegeben hat, enger. Gott, er ist so froh den zu haben. Es ist so saukalt und sein altes Bandshirt löst sich in alle Fasern auf. Der Green Day Aufdruck ist kaum noch zu erkennen. Obwohl seine Jeans auch nicht viel besser ist, die Sicherheitsnadeln halten sie wohl eher zusammen als die Nähte, aber sie tut ihren Zweck. Während er sich so seine – unnützen – Gedanken macht, marschiert er Richtung U-Bahn. Schon bald ist er bis auf die Haut nass, aber der Eingang zur U-Bahn-Station kommt ebenso bald in Sicht und kaum, dass er den Schacht betritt, kommt ihm eine Mischung aus überhitzter Luft, Schweiß und sonstigen Ausdünsten entgegen. Ein alt bekannter Duft. Augenblicklich wird dem Siebzehnjährigen schlecht. Zufall, Pech, ein Wink mit dem Zaunpfahl? Keine Ahnung, jedenfalls kommt ihm sofort ein Uniformierter entgegen. Xander hält den Atem an, beschleunigt seine Schritte aber nicht. Ganz unauffällig bleiben. Dann ist er vorbei und sein Körper entspannt sich merklich. Er schlendert bis zum anderen Ende des Bahnsteiges und lässt sich mit schmerzendem Fuß in einer akzeptabel aussehenden Ecke nieder. Kein schlechter Platz und trocken. Mal sehen, wie lange er bleiben kann.
 

Kurz darauf fährt eine Bahn in die Station ein. Der andere fällt ihm sofort auf, als er den Zug verlässt und auf den Bahnsteig tritt. Man könnte meinen, es liegt an der auffälligen Frisur. Kurz geschorene Seiten, ein aufgestellter, roter Iro, starker Kontrast zu dem sonst schwarzen Haar. Aber das ist es nicht. Viel mehr sind es die grünen Augen, die seine Aufmerksamkeit wecken, weil sie gewissen anderen grünen Augen stark ähneln. Verdammt. Schnell schaut er in eine andere Richtung, obgleich ihm der Gedanke kommt, dass das nicht weniger unauffällig ist. Einen Augenblick lässt er verstreichen, dann schaue er wieder rüber. Überrascht stellt der Schwarzhaarige fest, dass er kaum einen Meter entfernt von ihm steht. Direkt vor dem U-Bahn Linienplan. Er sieht ziemlich perplex aus und er scheint nervös. Hibbelig tritt er ständig von einem Fuß auf den anderen, als müsste er dringend mal eine Toilette aufsuchen. Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen, als er mit dem Finger einer Linie folgt. Er seufzt theatralisch auf und Xander kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.
 

„Hör auf mich auszulachen!“

Der andere hat die ganze Zeit bemerkt, dass er ihn beobachtet, das sollte ihm eigentlich peinlich sein. Ist es aber nicht.

„Streng genommen habe ich keinen Laut von mir gegeben, also habe ich dich nicht ausgelacht.“

„… ist trotzdem nicht witzig, klar?“

„Ich würde sagen, das liegt im Auge des Betrachters.“

Der Rothaarige zieht eine Augenbraue hoch.

„Muss ich echt noch offensichtlicher sagen, dass du mir helfen sollst?“
 

Tatsächlich bequemt er sich dazu aufzustehen. Er weiß nicht genau, was ihn sympathisch macht. Ob es sein Auftreten oder doch eher sein komischer Akzent ist. Er könnte Brite oder so was sein, der Wortwahl und dem Akzent nach zu urteilen jedenfalls. Aber Xander steht bestimmt nicht für jeden auf.
 

„Streng genommen, ist es ja nicht mein Problem, wenn du völlig unvorbereitet ohne Stadtplan hier auftauchst“, einen Kommentar kann er sich dennoch nicht verkneifen.

Erneut seufzt der andere theatralisch, bevor er meint:

„Ich hab’ es zu deinem Problem gemacht, als ich dich angesprochen habe, okay? Oder nein, viel eher hast du es selbst zu deinem Problem gemacht, als du mich angestarrt hast“
 

Das ist, zugegeben, ein gutes Argument und außerdem hat er ja sowieso schon beschlossen ihm zu helfen. Er ist sich nur nicht sicher, ob er es gut oder schlecht finden sollte, dass er ihn irgendwie mag. Unter anderen Umständen hätten sie vielleicht Freunde werden können, aber im Prinzip ist das auch egal. Sie werden sich sowieso nie wieder sehen, von daher. Er tritt hinter ihn und möchte eigentlich über seine Schulter auf den Plan sehen, doch er hat sich verschätzt. Er ist zu klein und so sieht er nichts. Also stellt er sich doch neben ihn und sofort registriere er den musternden Blick der sogleich auf ihm liegt. Er ignoriert es. Darin hat Xander inzwischen Übung. Einen Moment lang sieht er still den Fahrplan an. Nichts.
 

„Ehm, es wäre schon von Vorteil, wenn du mir sagst, wo du eigentlich hin willst. Deine Gedanken kann ich nämlich nicht lesen …“

Der andere Junge hustet. Ganz unauffällig. Man könnte sich glatt fremdschämen, aber irgendwie ist’s auch witzig.

„Tellmans Square No. 41“

Er muss ein ziemlich dämliches Gesicht machen, doch er kann nicht anders, als ihn verblüfft anzusehen. Wenn er sich nicht irrt – und er glaube nicht, dass er sich irrt – befindet sich dort eine Jugendwohngruppe. Gott, keine zehn Pferde bekämen den Siebzehnjährigen dort rein. Nicht, dass er schon mal dort gewesen wäre, aber ein Bekannter war es und es muss dort wie Knast sein.

„Du siehst mich an, als hätte ich dich nach dem Eingang zur Hölle gefragt.“

„Vielleicht hast du das ja auch.“
 

Der Größere schüttelt den Kopf, grinst dabei aber gleichzeitig. Kann ihm ja auch egal sein, was er macht und was nicht. Der Grünäugige sieht nur nicht wie jemand aus, der sich gerne an Regeln hält. Sein Problem. Also sucht er auf dem Plan nach dem kürzesten Weg zum Ziel. Gefunden. Er zeigt mit seinem Finger auf eine gelbe U-Bahn Linie, bemerkt dabei, wie zufällig, dass der völlig durchnässte Pulloverärmel tropft und versucht es dem Rothaarigen so einfach wie möglich zu erklären:

„Du nimmst einfach die Linie 312, fährst bis zur 62. und steigst dann in die 329 um. Fährst bis Ecke 28. und schon bist du da …“

Der andere nickt, aber sein Blick verrät ihm, dass er keinen Schimmer hat, wovon er redet. Das teilt er ihm auch mit: „Du hast keinen Plan, wovon ich rede, oder?“

„Nicht wirklich“, gesteht der.

„Aus welchem Hinterwäldlerland stammst du denn, dass du nicht mit ’nem U-Bahn Plan zurechtkommst?“

Für einen Moment blitzt es in den grünen Augen auf und er vermag es zwar nicht zu sagen, aber der Blick wirkt kurz beinahe so, als hätte der Junge Heimweh. Komisch.

„Hey, Schottland ist eine Wirtschaftsnation und kein Hinterwäldlerland, klar? …“, der Größere wirkt echt angepisst, doch gleich darauf ist er ruhiger, fast kleinlaut. „Und außerdem fahre ich nun mal weder gerne noch oft U-Bahn.“
 

Schottland. Verdammt, das ist wirklich weit weg. Das ist ein verfluchter, ganzer Kontinent. Wie ist er bitte dazu gekommen? Xander kann sich kaum vorstellen, welchen Grund es dafür geben kann, einen ganzen Ozean zwischen sich und seine Heimat zu bringen, andererseits ist er auch nicht viel besser und vielleicht hätte er es getan, wenn er die Mittel dazu gehabt hätte.

„Es hilft vermutlich auch nicht, wenn ich dir den Weg noch mal erkläre?“, fragt er mit wenig Hoffnung. Zerknirscht verneint der Andere. Na schön, wenn’s nicht anders geht. Nun ist es an ihm theatralisch aufzuseufzen.

„Okay, ich bring dich hin …“

„Echt jetzt?“

„Nein, ich lock’ dich in ’ne dunkle Gasse und leg dich um“, er verdreht genervt die Augen. Sah er aus als würde er scherzen?

Sie müssen eine gute Viertelstunde warten, bevor die Bahn mit der Nr. 312 in den Schacht einfährt. Sie ist völlig überfüllt, aber was soll’s? Irgendwie quetschen sie sich noch rein und dann nimmt die Bahn auch schon an Fahrt auf. Er ertappt den Kerl tatsächlich dabei, wie er nach einem Fahrkartenautomaten Ausschau hält, vermutlich ist ihm jetzt erst aufgefallen, dass sie draußen keine gezogen haben. Der Größere entdeckt den Automaten und will sich schon durch die Massen drängeln, als er ihn am Arm zurückzieht. Der Andere schaut ihn völlig perplex an und fragt dann, ob er ernstlich planen würde, schwarz zu fahren. Himmel, ist der Kerl echt so weltfremd oder tut der nur so? Xander kann es kaum glauben.

Er stellt ihm als Gegenfrage, ob er ernstlich plane, sich ein Ticket zu lösen und klärt ihn dann auf, wie unwahrscheinlich es ist, dass hier und jetzt ein Kontrolleur auftaucht und selbst wenn, wären sie schneller draußen, als der schauen könnte.
 

Bei der 62. steigen sie aus und in die 329 um. Die ist weniger voll und sie setzen sich nahe der Türen. Zwei Stationen und etwa zehn Minuten Fahrt weiter, ist das Glück, zugegeben, nicht wirklich auf ihrer Seite. Er erahnt den Kontrolleur schon, noch ehe er ihn durch die Glasfront der Abteiltür sehen kann. Bis zu ihrer Zielstation ist der Weg noch ein ganzes Stück, aber das spielt jetzt keine Rolle. Er packt seine Begleitung unsanft am Arm und im letzten Moment, bevor sich die Türen wieder schließen, stehen sie am Bahnsteig in der 27. Er erwarte eigentlich, dass der Rothaarige jetzt eine Szene veranstaltet. Nichts dergleichen geschieht, er bleibt ganz ruhig. Er macht erst Anstalten, etwas zu sagen, als sie vom U-Bahn-Schacht ins Freie treten. Der Regen ist seinem Gefühl nach noch schlimmer geworden, der Wind zerrt an seinen Kleidern und dann durchbricht eine raue Stimme die Stille zwischen ihnen.

„Ist dir gar nicht kalt?“

„Hmm …geht schon.“ Er sieht den größeren Jungen an. Er hat den Reißverschluss seiner armygrünen Jacke jetzt geschlossen. Xander hat die Kapuze seines Sweatshirts, die er in der Bahn abgenommen hat, wieder aufgesetzt. „Geht schon“ ist leicht untertrieben. Er hat das Gefühl zu erfrieren, aber er weiß genau, dass er’s nicht wird. Wieder ist es eine Weile lang still, mal geht der Junge, dessen Namen er noch immer nicht kennt, ein kurzes Stück vor ihm, mal neben ihm, mal trottet er auch hinter ihm her. Während der Typ so vor ihm läuft, kann er deutlich sein Portmonee im Seitenfach seines überdimensionalen Rucksacks sehen. Er spielt mit dem Gedanken, es sich zu nehmen. Der Andere würde es vermutlich gar nicht bemerken und es wäre ja nur so eine Art Lohn dafür, dass er ihn durch die halbe Stadt bringt. Außerdem sagt ihm sein Bauchgefühl, dass der Typ vor ihm Kohle hat. Aber er kann’s nicht. Verdammt, er kann’s nicht. Wieso auch immer. Vielleicht ist’s der dämliche Akzent, die noch viel dämlicheren grünen Augen oder die Tatsache, dass er so verdammt weltfremd ist, aber Xander kann’s einfach nicht.

Irgendwann, kurz bevor sie am Ziel angelangt sind, versucht der Grünäugige wieder ein Gespräch mit ihm zu beginnen. Er fragt ihn wieder, ob ihm sicher nicht kalt sei. Der Größere sieht ihn an und meint darauf hin, ihm selbst sei saumäßig kalt und er könne sich nicht vorstellen, dass irgendjemand bei diesem Wetter nicht friere. Xander erwidert, er sei der lebende Beweis. Er sagt ihm nicht, dass er genauso friert und er sagt ihm auch nicht, wie elend er vermutlich heute Nacht frieren wird. Das ist sein Problem, nicht das des Anderen.

Er bringt ihn fast direkt vor die Haustür und ist schon wieder im Gehen, als die mittlerweile allzu bekannte, raue Stimme ruft: „Warte!“

Er dreht sich nicht um, hält aber an und schaut über die Schulter.

Er sieht, dass der andere sein Portmonee in der Hand hält und fühle sich richtig mies, weil er tatsächlich darüber nachgedacht hat, ihn zu beklauen. Wann ist er eigentlich so tief gesunken? Er kann jetzt kein Geld von ihm annehmen, dafür ist er zu stolz, egal wie blöd das sein mag. Er kann Angel förmlich lachen hören.
 

„Lass stecken.“

Der Rothaarige schnaubt, aber er begreift sofort, dass es keinen Sinn hätte, auf ihn einzureden.

Er geht bereits wieder, als er die raue Stimme sagen hört:

„Ich bin Nile …“

Er schaut nicht mehr zurück, aber er antwortet. Wieso zum Teufel antwortet er?

„Alexander.“
 

Es ist Nacht. Ganz streng genommen ist es früher Morgen. Endlich hat es aufgehört zu regnen. Aber es ist schneidend kalt und er kann förmlich spüren, wie seine nasse Kleidung Frost angesetzt hat. Den Pullover hat er sich locker um die Hüfte gebunden, weil unnötige Kleidung bei der Arbeit nur stört. Das bittere Gefühl von Hilflosigkeit und Abscheu steigt in ihm empor, als er daran denkt, noch lange nicht genug Geld für die doppelte Menge Stoff zusammen zu haben, obwohl das nicht ganz stimmt, denn Angel braucht etwas mehr Stoff als er. Sie zählt aber auf ihn und er wäre unfair, wenn er’s nicht täte, sie hat schließlich auch mit ihm geteilt. Dabei hat er die ganze verdammte Prozedur auch schon zweimal hinter sich. Bei Angel geht’s schneller mit der Kohle, liegt daran, dass sie keine Hemmungen hat. Aber er kann das einfach nicht, er hat versucht sich einzureden, dass es ihm egal ist, ist es aber nicht. Vielleicht, wenn er so richtig unten angekommen ist. Letztens war er fast soweit. Er war richtig runter, brauchte dringend das Heroin und hatte schon Magenkrämpfe und den ganzen Dreck. Einen Moment lang dachte er wirklich, er würde verrecken. Albern. Schon klar. Aber es war die Hölle und da wäre er soweit gewesen, zu diesem Zeitpunkt dachte er sich, bevor’s das nächste Mal soweit ist, scheißt er auf seinen Körper. Dann muss es ihm egal sein, was sie damit machen. Kaum hatte er den Stoff, war er wieder klar genug, um sich vor diesen Gedanken zu ekeln. Richtig zu ekeln. Er hatte sich geschworen, dass niemals wieder über sich ergehen zu lassen. Xander atmet so tief ein wie irgend möglich und seine Lungen füllen sich mit beißend kalter Nachtluft. Das Gefühl ist okay. Das Gefühl ist gut. Es zeigt ihm, dass er noch am Leben ist, noch da ist.
 

Er hätte, nachdem er das Auto des alten Sacks verlassen hat, nicht noch eine Viertelstunde in der Seitengasse vertrödeln sollen, dann käme er sicher besser voran, aber so geht’s ihm nach jedem Job. Er braucht den Abstand und außerdem ist das Viertel hier das elendste Loch. Hier sind gefühlt immer Freier, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Er trottet also wenig motiviert zurück zu seinem Platz nahe des U-Bahn-Schachtes. Gott sei Dank ist er Nile nicht hier begegnet. Er würde mit ziemlicher Sicherheit darauf wetten, dass der noch nie in so einer Gegend war. Dann schüttelt er den Kopf, wieso denkt er jetzt an sowas? Er unterdrückt ein entnervtes Aufstöhnen. In seinem Kopf ist kein Platz für irgendwas anderes als sich selbst und das Heroin. Er will sich auf potenzielle Kunden konzentrieren und genau das ist der Augenblick, in dem er ihn sieht. Der Schwarzhaarige erkennt ihn sofort, als er die Straße herunter gelaufen kommt, oder viel mehr getorkelt. Es ist ein wankender Gang, wie er ihn von seinem Vater kennt, wenn der einmal wieder im Suff war – was, streng genommen, nicht selten der Fall war. Jedenfalls ärgert er sich furchtbar darüber den jungen Mann zu erkennen. Ihn überhaupt zu sehen. Ihn in alles und jedem zu sehen, das ihm irgendwie über den Weg läuft. Alles seit dieser dämlichen Szene in Kings Laden. Mit Angel hat er gar nicht erst darüber gesprochen, wieso auch? Der Unterschied zu den letzten Malen ist nur, dass der Kerl es dieses Mal wirklich ist. Sofort dreht Xander seinen Kopf weg und geht ein Stück rückwärts. Gott, denkt er. Ist das albern. Vermutlich bemerkt der ihn nicht einmal. Im Gegensatz zu ihm, hält er ja nicht regelrecht Ausschau. Moment mal? Seit wann hält er Ausschau? Seit Beginn an, flüstert eine leise hämische Stimme in seinem Kopf und er möchte sie am liebsten erdolchen.
 

Vorsichtig schaut er auf. Er möchte ja nur wissen, ob er schon fort ist. Da sieht er ihn in einigen Metern Entfernung stehen. Ganz still. Der junge Mann mit den rot blonden Haaren schaut nicht in seine Richtung. Nein, sein Blick ist in die Ferne gerichtet, so als schaue er jemanden hinterher. Warte. War er nicht eben noch in Begleitung? Oder hat Xander sich das nur eingebildet. Er weiß es nicht mit Sicherheit, jetzt ist der Andere jedenfalls alleine. Keine Ahnung, ob der wohl gemerkt hat, dass er ihn anstarrt, jedenfalls dreht er just in diesem Moment seinen Kopf und sieht ihn direkt an. Fast wäre er wieder ein Stück zurück getaumelt, so sehr erschreckt er sich. Was macht er hier eigentlich? Verdammt, ist ihm das plötzlich peinlich. Er geht tatsächlich einen Schritt zurück und schaut stur gen Boden. Doch er spürt genau, dass der ihn weiterhin ansieht und plötzlich wird er sauer. Was ist denn falsch mit dem Kerl? Wieso starrt der ihn so blöd an? Ihm egal, ob es trotzig ist, er blickt auf und starrt ihm stumm ins Gesicht. Er wird sich hüten, ihn merken zu lassen, wie peinlich ihm das Ganze ist. Dann kommt der junge Mann auf ihn zu und sein Herz rutscht ihm in die Hose. Oha, was jetzt?
 

Ihm ist mit einem mal ziemlich mulmig zumute, aber er weicht nicht noch weiter zurück. Dann steht er direkt vor ihm. Nochmals wird er von dem Anderen gemustert. Er wird doch nicht …?
 

„Was zur Hölle willst du?“ Er versucht so aggressiv wie irgend möglich zu klingen.

Die ganze Sache hier behagt ihm einfach nicht.

„Mit dir reden …“, es kommt ganz leicht über seine Lippen, ganz ohne auf Xanders Tonfall einzugehen und das macht diesem irgendwie Angst.

Er glaubt nicht, dass es hier ums ‚geschäftliche’ geht, trotzdem muss er einen Kloß in seinem Hals hinunter schlucken, ehe er betont ruhig antwortet:

„Worüber?“

Der Rotblonde sieht ihn ungerührt an und Xander kann keine Gesichtsregung erkennen. Der Größere wirkt nüchterner, als er zunächst dachte.

„Glaubst du an Schicksal?“
 

Das bringt ihn einfach völlig aus dem Konzept. Was ist das denn für eine dämliche Frage? So was fragt man doch keinen. Er weiß gar nicht, ob man auf so was überhaupt antwortet und wenn ja wie, da bemerkt er die Blicke der anderen. Die, die um sie herum stehen und ihm wird klar, dass das hier nicht der richtige Ort für ein Gespräch dieser Sorte ist. Kein Ort für irgendein Gespräch. Er kann sich eigentlich gar nicht richtig erklären, warum er es tut, aber er packt ihn am Handgelenk und zerrt ihn mit sich fort. Dabei bemerke er, wie betrunken, der eigentlich ist, denn er ist um einiges kräftiger als Xander und dennoch schafft er es nicht sich loszureißen. Ganz davon zu schweigen, dass seine Versuche eher halbherzig sind. Einige Gassen weiter kommen sie zum Stillstand. Er lässt ihn los und bringt – seines Ermessens nach – gerade so einen annehmbaren Abstand zwischen sie.

„Fass dich gefälligst kurz …“, sagt er, „ich hab’ noch zu arbeiten“

Kurz bleibt es noch still zwischen ihnen, der Andere scheint seine Gedanken zu sortieren, dann setzt er an: „Du schuldest mir noch eine Antwort“ Er lallt, wenn auch nur ganz leicht.

„Ich schulde dir gar nichts, klar?“

„Komisch. Das sehe ich irgendwie anders. Ich kann mich da an einen gewissen Einbruch erinnern …“

„So betrunken wie du bist, kannst du sich morgen jedenfalls an rein gar nichts erinnern“, fällt er ihm patzig ins Wort. Der kann ihm doch sowieso nichts nachweisen. Oder? Könnten Angel und er ’ne Kamera übersehen haben? Irgendwas das sie jetzt in Schwierigkeiten bringen könnte? Mit den Bullen will er ganz sicher kein Gespräch führen. Also setzt er nochmal nach:

„Außerdem solltest du mir lieber dankbar sein. In deinem Zustand warst du am Schacht mehr als nur leichte Beute, wenn du da wie angewurzelt stehen bleibst und durch die Gegend starrst …“
 

Er nuschelt irgendwas Unverständliches und meint dann, Xander habe seine Frage noch immer nicht beantwortet. Der Kerl lässt aber auch echt nicht locker. Diese Szene wirkt so grotesk, dass sie einfach nicht real sein kann und er weiß beim besten Willen nicht, was er erwidern soll. Er hat sich eine solche Frage noch nie gestellt. Glaubt er an Schicksal? Was ist denn überhaupt Schicksal? Der Glaube daran, dass alles im Detail hervor bestimmt und unabänderlich ist? Oder nur der Glaube daran, dass alles einen Sinn hat? Er weiß es nicht und eigentlich sollte er auf den Absatz kehrt machen, doch nun hat die Frage sein persönliches Interesse geweckt und als Denksportaufgabe taugt sie wohl ebenso viel wie jede andere, um von seiner bescheidenen Situation abzulenken. Er kommt nur nicht weiter. Wenn er nicht genau weiß, was Schicksal eigentlich ist, dann kann er auch nicht beantworten, ob er daran glaubt oder nicht. Deshalb spricht er seinen Gedanken einfach laut aus:

„Was ist eigentlich Schicksal?“
 

Der junge Mann mit der Brille schaut ihn überrascht an – nur für einen Moment – und dann lächelt er. Ein ganz natürliches Lächeln. Ruhig und beständig, als hätte er ihm damit seine Frage längst beantwortet. Auf eine skurrile Art und Weise ist es angenehm, so angesehen zu werden und das lässt ihn unwillkürlich erschaudern. Was ist bloß los mit ihm? Worauf lässt er sich da gerade ein? Erneut will er Abstand zwischen ihnen bringen, doch als er es versucht, ist der Grünäugige derjenige der einige Schritte vortritt und ihm am Handgelenk fasst. Mit einem Ruck zieht der Rotblonde ihn wieder näher zu sich und all seine Nackenhaare stellen sich auf. Was soll das? Intuitiv versucht er sich loszureißen. Aber der Andere hat viel mehr Kraft, als man vermuten mag und es gelingt ihm nicht. Nun wirkt er vollends nüchtern, nicht mehr so, als sei er nicht Herr seiner Sinne.
 

„Ich hab’ nicht vor, dir irgendetwas anzutun. Ich will einfach nur mit dir reden, okay? Also lauf nicht weg …“

Na da Kerl hat ja Nerven!

„Lass. Mich. Los!“, presst Xander mühsam zwischen seinen Zähnen hervor, darauf bedacht sich seine aufkeimende Panik nicht anmerken zu lassen. Doch der Griff des Älteren wird noch fester und ihm schieben sich längst verblasste Bilder aus ebenso längst vergangenen Tagen in den Sinn.
 

Eine alte Küche, kaum beleuchtet. Töpfe und schmutziges Geschirr stapeln sich. Schemenhafte Schatten an der grauen Wand. Ein zerbrochenes Bild am Boden. Eine ehemals glückliche Familie und dann, er. Die Arme, wie so häufig, drohend erhoben. Eine Hand ausholend zum Schlag …
 

Er braucht einen Augenblick um zu realisieren, was eigentlich los ist. Er sitzt auf den Boden. Sein Körper zittert wie Espenlaub und jeder Atemzug in seiner Lunge brennt wie Whiskey. Aber da ist noch etwas. Zwei Hände. Ein fester Druck auf seinen Schultern. Ihm ist schlecht. Ihm ist so unsagbar speiübel und im nächsten Moment beugt er sich einfach nur vor und übergibt sich. Der Druck an seinen Schultern ist verschwunden und irgendwo in seinem Hirn dringt die Nachricht durch, dass er nicht alleine ist. Dann die, dass er dem Anderen direkt vor die Füße kotzt. Seine Hände ballen sich zu Fäusten, versenken sich im Straßendreck. Immer und immer wieder krampft sein Magen zusammen, bis nur noch Galle hochkommt. Sein Magen zieht sich weiter zusammen, doch da ist nichts mehr was hochkommen könnte. Scheiße. So heftig reagiert er sonst nicht. Nicht, wenn er noch was intus hat. Dann ist es vorbei. Er atmet stoßweise ein und aus. Er dreht den Kopf zur Seite, weil ihm der bittere Geruch des Erbrochenen in die Nase steigt. Wenn jetzt nicht alles raus wäre, würde ihm glatt wieder übel werden.
 

„Hey, geht’s wieder?“

Der ist immer noch da. Verdammt, wenn du jemanden nicht einmal loswirst, wenn du ihm vor die Füße kotzt ist, die Sache ernst. Noch viel ernster wird die Sache, als er versucht, wieder auf die Beine zu kommen und der Andere direkt vor ihm in die Knie geht und ihn wieder an der Schulter festhalten will. Gott, alles bloß das jetzt nicht.

„Fass mich nicht an!“ Er stößt ihn so ruckartig weg, dass er selbst nach hinten prallt. Hilflos versucht er seinen Sturz mit den Händen abzufangen, bevor er ebenso wehrlos wie eine Schildkröte auf dem Rücken landet. Zwar gelingt es ihm sich abzufedern, aber noch in der gleichen Sekunde zuckt ein brennender Schmerz durch seine linke Hand. Entgeistert zieht er sie zu sich und starrt sie an. Einen Sekundenbruchteil lang kann er sich keinen Reim darauf machen, weshalb da Scherben in seiner Handinnenfläche stecken. Dann kommt er zu sich und beginnt sich über dieses verdammte, verdreckte Loch, das sich New York nennt, zu ärgern.
 

„Du läufst aus …“, die allmählich nicht mehr allzu fremde Stimme reißt ihn aus einer Art Trance. „Ach stell dir vor!“, will er giftig erwidern. Er sieht schließlich selbst, dass er blutet. Aber dann begreift er, dass der Größere das nicht meint. Nein, was er meint ist, dass Xander weint. Jetzt spürt er sie ganz deutlich, die Tränen die unaufhaltsam seine Wangen hinunterlaufen und er ist sich nicht ganz sicher, worin sie begründet liegen. Ob er vor lauter Panik oder vor Schmerz begonnen hat zu heulen. Jedenfalls ist es ihm unendlich peinlich und es gibt mit Sicherheit kaum etwas Unmännlicheres. Er zieht die Nase hoch und fährt sich mit der gesunden Hand durchs Gesicht. So eine Scheiße. Diese ganze Begegnung ist reine Scheiße. Mit einem Mal ist er völlig kraftlos. Er merkt zwar, dass die Tränen einfach weiter laufen, kann aber einfach nichts dagegen tun. Er bleibt schlichtweg auf dem Boden sitzen. Versucht erst gar nicht wieder aufzustehen. Schließt die Augen. Er hat keine Kontrolle mehr über sich. Was soll’s?
 

Er vernimmt ein Rascheln, irgendeine Bewegung und dann eine Stimme. Laut. Ohrenbetäuben laut. Klar und bestimmt.

„Mach die Augen auf!“

Automatisch tut er, was ihm gesagt wird.

„Gut … und jetzt atme durch. Schau nicht so, ich mein’s ernst. Atme ganz tief durch. Das hilft!“

Am Anfang gelingt es ihm nicht seine Atmung in den Griff zu bekommen. Irgendwann geht es aber doch und plötzlich ist es wieder ganz leicht, ruhig zu atmen. Mit seiner Ruhe ist es allerdings schlagartig vorbei, als der Größere wieder Anstalt macht, ihn anzufassen. Am liebsten würde er schon wieder aufspringen, als der beschwichtigend die Hände hebt.
 

„Ich wiederhole mich gern. Ich hab’ nicht vor dir irgendwas zu tun. Ich will mir nur deine Hand ansehen. Ja?“

Er schaut ihn misstrauisch an, sie blutet und es stecken Scherben drin. Sieht er selbst – und als er seine Hand ansieht, wird der Schmerz wieder real -, dafür braucht er niemand anderen. Der Rotblonde bemerkt sein Misstrauen und setzt nach:

„Okay, was kann ich sagen oder machen, dass du mir vertraust? … Ehm- … Ich bin fünfundzwanzig und studiere Medizin an der Medicine School of New York. Nächstes Jahr um diese Zeit bin ich hoffentlich Assistenzarzt. Glaub’s oder glaub’s nicht. Frag an der Uni nach. Jeder kennt mich. Jesse King ist ein unglaublicher Besserwisser.“ Jesse atmet einmal tief durch, als hätte er einen schweren Marathon vollbracht. Dann lächelt er schief. Xander mag sein Lächeln. Es ist für ihn der Grund, ihm zu vertrauen. Unabhängig von dem, was er gesagt hat. Also bitte, Medizin? Laufen alle angehenden Mediziner durch die Gegend und untersuchen alle Wunden, die ihnen irgendwie unters Auge kommen? Wohl kaum. Aber sein Lächeln, das wirkt echt und deshalb wirkt auch alles, was er gesagt hat echt. Deshalb hält Xander ihm seine Hand hin und hofft, dass sie auch noch da ist, wenn er mit seiner ‚Begutachtung’ fertig ist.
 

Jesse sieht sich still Xanders Hand an und wirkt dabei, zugegeben, irgendwie professionell, soweit man das in einer dunklen Seitengasse eben sein kann. Außerdem kann der Ältere wohl nicht sonderlich gut schweigen, denn er beginnt gleich wieder zu reden.

„Du bist mir gegenüber jetzt übrigens im Vorteil. Du kennst meinen Namen und ’ne Menge anderen Schrott, aber ich weiß rein gar nichts über dich.“

Is’ ja nicht sein Problem, wenn er so mitteilsam ist. Außerdem stimmt das ja nicht ganz: „Stimmt ja überhaupt nicht, du weißt wie alt ich bin.“

„Die Geschichte schon wieder. Du weißt genau, dass ich dir keine Sekunde geglaubt habe. Aber Danke für deine Ehrlichkeit.“

Er beißt sich auf die Lippe. Mann, der Kerl weiß, wie man anderen ein schlechtes Gewissen einredet und dadurch, dass er weiß, dass er gelogen hat, fühlt er sich irgendwie doppelt schlecht. Wie gesagt, ist er kein besonders guter Schauspieler. Aber dass es nicht mal dafür reicht, ist irgendwie auch erschreckend. Er versuche sich irgendwas einfallen zulassen, was er erwidern könnte, doch leider kommt nichts Gescheites dabei raus. Seine Überlegung währt allerdings auch nicht lang, da der brennende Schmerz, den Jesse verursacht, als er Scherbe um Scherbe aus seiner Hand zieht, ihn nicht mehr klar denken lässt. Reflexartig will er die Hand wegziehen, aber sein Griff ist überraschend fest. Ein unangenehmes Gefühl, doch der Griff selbst schmerzt nicht.

„Okay, ein sauberer Verband ist dringend nötig. Sonst hast du bald eine Entzündung und dann im dümmsten Fall eine Sepsis …“

Er muss äußerst dämlich gucken, bloß weiß er beim besten Willen nicht, was eine Sepsis ist. Sepsis. Trotzdem kommt ihm das Wort seltsam vertraut vor. Ihm fällt der Zusammenhang zwar nicht mehr ein, aber die Bedeutung ist plötzlich klar in seinem Kopf. Eine Sepsis ist eine Blutvergiftung.

„Das wird nicht wirklich eine Blutvergiftung, oder?“

King beginnt zu grinsen. Was gibt’s da zu grinsen?

„Hast du mir gerade zugehört, …“

Als der angehende Mediziner abrupt stoppt wird ihm klar, er wollte ihn gerade beim Namen nennen und weiß nicht weiter.

„Xander“, murmelt er.

Aus dem Grinsen wird ein Lächeln.

„Okay, Xander. Hast du mir gerade zugehört?“

„Du sagtest, ‚im dümmsten Fall‘. Da frage ich mich eben, was der dümmste Fall ist.“, er klingt trotzig wie ein Kind.

„Okay, ja. Gewonnen. Der dümmste Fall bedeutet, wenn es nicht versorgt wird.“

Er glaubt, Jesse will ernst klingen, doch er muss lachen. Gott, dieses Lachen. Es ist kristallklar. Er kannte bisher nur eine Person, die so ehrlich und klar lachen konnte. Nikki! Seine kleine Schwester. Der Augenblick, in dem er sich aufrichtet und den Dreck von seiner Hose klopft, ist der Augenblick in dem Xander begreift, wo er eigentlich ist.
 

Mit einem Ruck springt er auf und steht fest auf seinen Beinen. Grüne Augen sehen ihm erstaunt und vielleicht auch ein wenig erschrocken entgegen. Er schaut weg.

„Ich sollte jetzt gehen. Du solltest jetzt gehen!“

„Wovor hast du eigentlich Angst? Die Welt geht nicht unter, nur weil du mit mir sprichst …“

„Gegenfrage. Hast du kein Zuhause?“

„Doch sicher und wie steht’s mit dir?“

Er lacht freudlos auf und stellt noch eine weitere Frage.

„Kommt ganz darauf an, wie du Zuhause definierst.“

Ein perplexer Blick.

„Na, Zuhause ist, wo du willkommen bist. Wo deine Familie ist und wo du dich geborgen fühlst …“ Er lässt die Worte auf sich wirken. Geborgen. Was heißt das schon? Wer braucht das schon? Xander jedenfalls nicht.
 

„Du hast keine Ahnung“, ist alles was er schlussendlich erwidert. Dabei kehrt er ihm den Rücken zu und beschließt zu gehen. Dieses Gespräch macht einfach keinen Sinn. Außerdem vertrödelt er hier einfach immens viel Zeit.

Da hört er ihn sagen: „Wo willst du hin?“

„Als ob ich das jetzt schon wüsste …“, und das ist die Wahrheit. Er weiß noch nicht genau, wohin. Er will einfach nur fort von hier. Am besten soweit wie seine Füße ihn tragen.

„Also haust du ab …“. Der Ältere sagt das, als wäre es eine Feststellung. Eine simple Tatsache. Das macht Xander rasend und er will schon das Passende erwidern, als Jesse im nüchternen Tonfall fortfährt.

„Ich könnte mir vorstellen, dass du das immer so machst. Vor deinen Problemen davon laufen, meine ich. Ziemlich feige.“

Die Worte sind noch gar nicht richtig bei ihm angekommen, da wirbelt er bereits herum.

Was zur Hölle fällt diesem Kerl ein, über ihn zu urteilen? Was glaubt er eigentlich, wer er ist? Wutentbrannt möchte er ihm das an den Kopf werfen, doch als er ihn anblickt, wie er da ganz ruhig steht, da verfliegt auch seine Wut ebenso schnell, wie sie gekommen ist und plötzlich kommt ihm seine Reaktion einfach nur noch albern vor. Viel mehr macht sich das beklemmende Gefühl der Erkenntnis in ihm breit. Die Erkenntnis, dass der Andere mit allem, was er gesagt hat, recht hat. Ganz unvermittelt ist ihm echt scheiße zu Mute. Bisher ist er immer vor seinen Problemen davon gelaufen. Schlichtweg, weil es einfacher ist, als sich seinen Problemen zu stellen. Diese Erkenntnis fühlt sich an, wie ein Schlag in die Magengrube. Einer der besonders fiesen Sorte.

Kapitel 7

Kapitel 7
 

 

Lange Nacht
 

 

Jesse
 

Er schaut ihn aus großen braunen Augen an. Sein Blick scheint so vieles sagen zu wollen und bleibt doch merkwürdig verschlossen. Er ist verletzt und gleichermaßen bekümmert, das kann Jesse sehen und da ist noch etwas anderes, etwas, was er nicht zu deuten vermag. Augenblicklich breitet sich ein unwohles Gefühl in seiner Magengegend aus, natürlich könnte er es leicht auf seine – noch immer omnipräsente – Trunkenheit schieben, doch das ist es nicht. Das wäre zu einfach. Es ist die Gewissheit, ihn verletzt zu haben und das macht Jesse zu schaffen, ohne den Jüngeren wirklich zu kennen. Vermutlich, weil er seine Worte auch dann nicht zurücknehmen würde. Was er gesagt hat, entspricht voll und ganz der Wahrheit. Jesse weiß es. Xander weiß es.
 

Nur eines stört ihn an seinen eigenen Worten und das ist die Tatsache, dass sie ihm im Grunde genommen nicht zustehen. Es geht ihn eigentlich überhaupt nichts an, ob und wie der andere sein Leben verpfuscht. Das ist Xanders Problem und nicht seines. Es sollte ihm egal sein. Er sollte ihm egal sein. Sein Interesse sollte bestenfalls dem Sachschaden gelten, den Xander und seine verfluchte kleine Freundin im alten Laden seines Onkels angerichtet haben. Aber das tut es nicht. Seit dieser verdammten Nacht denkt er ständig an ihn, ohne es zu wollen und im hintersten Winkel seines Verstandes weiß er, dass er darauf gehofft hat, ihn noch einmal zu sehen. Weil er geglaubt hat, es würde ihm helfen zu verstehen. Es hilft nicht im Geringsten. Noch einmal mustert er ihn von oben bis unten. Der Blick des Schwarzhaarigen ist mittlerweile starr und ausdruckslos.
 

Sein Blick gleitet erneut von den schwarzen, an der Seite aufgerissenen, alten Chucks über die nicht weniger verschlissene, von riesigen Sicherheitsnadeln zusammen gehaltenen Hose, zu dem viel zu großen, aber ebenso abgetragenen, schwarzen T-Shirt. Er muss erbärmlich frieren! Jesse weiß, dass unter diesem T-Shirt jede einzelne Rippe zu sehen ist. Er sieht es in seinem blassen, schmalen Gesicht, das vermutlich bald völlig ausgemergelt sein wird, wird sich in seinem Leben nichts ändern. Er sieht es an den schmalen Handgelenken, an denen jede Ader bläulich zu sehen ist und an den Einstichen in der rechten Armbeuge, die rot und blau durch die milchige Haut schimmern und unangenehm aussehen. Er sieht das alles und kann doch nicht verstehen. Vermutlich war er so alt wie Xander, als er seinen Abschluss gemacht hat. Heute, gut sieben Jahre später, studiert er Medizin. In sieben Jahren ist der Junge vor ihm wahrscheinlich einer der vielen namenlosen Toten dieser Stadt. Einer von vielen, die New York zu Grunde gerichtet hat. Er will es nicht glauben, aber es wird keinen interessieren und das lässt Jesse ihn seit Wochen nicht vergessen. Er hat noch keine Kinder. Er ist nicht sein Kind, aber er ist irgendjemandes Kind und er kann nicht fassen, dass es niemanden interessiert, was Xander Nacht für Nacht, Tag für Tag, Stunde für Stunde treibt. Seinen Eltern kann man sicher viel nachsagen, daran hegt er nicht den geringsten Zweifel, wenn er sie allerdings gebraucht hat, waren sie immer für ihn da. Sie würden ihn niemals im Stich lassen. Nicht zulassen, dass er seinen Körper als Kapital betrachte und ihn gewiss nicht auf der Straße verrecken lassen. Anders kann er es gar nicht formulieren, denn so ist es. Das wird früher oder später passieren. Bittere Realität.
 

Nichtsdestotrotz kann Jesse auch ihn nicht verstehen. Es gibt doch immer eine Lösung, oder nicht? Eine bessere als das Leben auf der Straße. Es muss eine bessere geben! Dieser Gedanke schießt wie ein Hunderttausendvolt-Blitz durch ihn hindurch.
 

Im selben Augenblick greift er in seine Manteltasche, tastet unsicher, fast fahrig mit den Fingern, bis er den altersschwachen Kugelschreiber zu fassen bekommt. Er spürt einen unruhig flackernder Blick auf sich liegen. Xander ist auf dem Sprung, er spürt es ganz deutlich. Der Junge wippt kaum merklich auf den Zehenspitzen hin und her. Vielleicht harrt der Dunkelhaarige noch einen Moment aus, scheint seine Gedanken zu sortieren, doch es mag sich nur noch um Sekunden handeln, bis er sich aus dem Staub macht. Jesse wühlt in der anderen Manteltasche nach einem Stück Papier, atmet beinahe erleichtert aus, als er es findet uns sieht Xander nervös zusammenzucken, als dieser das Rascheln des Papiers vernimmt. Jesse lässt sich davon nicht verschrecken. Der Kugelschreiber kratzt über das Papier, als er versucht in sauberen Ziffern – was ihm eindeutig nicht gelingt – seine Handynummer darauf zu bringen. Er hatte noch nie eine besonders ansehnliche Schrift, aber lesbar war es bisher immer. Jetzt hat er zum ersten Mal Angst, das könnte nicht der Fall sein. Seine Hände schmerzen von der kalten Nachtluft, seine Handinnenfläche dient nicht gerade besonders gut als Schreibpult und er ist in Eile. Aber es muss reichen. Dann geht er einen Schritt vor und greift nach dem Handgelenk seines Gegenübers. Der deutlich Kleinere zuckt zurück, doch Jesse zögert nicht. Er drückt ihm einfach das beschriebene Stück Papier in die Hand und lässt ihn dann wieder los.
 

„Falls du Hilfe brauchst“, sagt er.

Doch dann schüttelt er den Kopf, korrigiert sich.

„Falls du Hilfe willst.“
 

Xander sieht ihn aus seinen braunen Augen noch einen Moment lang undefinierbar an. Jesse vermag nicht zu sagen, was er denkt. Dann dreht er sich um und verschwindet im Dunkeln der Nacht. Der Fünfundzwanzigjährige unternimmt nicht einmal den Versuch, ihn zurückzuhalten. Er hat nichts anderes erwartet. Aber immerhin, er hätte das kleine Stück Papier auch sofort wegschmeißen können. Gut, er hat es sich auch nicht angesehen. Es aber auch nicht weggeworfen. Jesse verbucht das erst einmal als Erfolg. Obwohl er sich im Grunde genommen noch immer nicht für Xander interessieren sollte, aber wem macht er etwas vor? Das hat er sich, seit ihrer ersten Begegnung im Supermarkt.
 

Unkontrolliert fährt er sich mit der Hand durchs rot()blonde Haar. Mit einem Mal ist er schrecklich müde und erschöpft. Plötzlich will er nur noch ins Bett. Er hat gerade einmal eine vage Ahnung(,) wo er lang muss, um zum nächsten U-Bahn-Schacht zu gelangen. Na ganz prima. Xander ist nicht in die Richtung gelaufen, aus der sie gekommen sind, soviel steht fest. Also dreht Jesse sich um und marschiert in die entgegengesetzte Richtung. Er hat nicht wirklich auf die Strecke geachtet, die sie gemeinsam zurückgelegt haben, das muss er zugeben und ihm ist auch nicht bewusst gewesen, dass sie soweit gelaufen sind. Ziemlich bald verliert der junge Mann die Orientierung. So ein Mist. Sind sie hier nicht vorhin links abgebogen? Oder war das doch rechts? Ach verdammt. Jesse fischt sein Handy aus der Tasche und entsperrt den Bildschirm. Es ist 3:20 Uhr. Scheiße. Sein Akku ist fast tot. Er sieht sich um, bis er einen Straßennamen entdeckt, dann wählt er die einzige Nummer, die für ihn jetzt Sinn macht. Es klingelt einmal, zweimal, dreimal. Dann dringt eine verschlafene Stimme aus dem Apparat.
 

„Qu'est-ce que l’enfer?* Wer ist da?“

„Tut mir Leid, Joe. Ich wollte dich nicht wecken, aber das hier ist ein Notfall.“

„Jesse, bist du das?“ Kurze Pause. Wahrscheinlich dreht sich Jo nach seinem Wecker auf dem Nachtschrank um, um herauszufinden, wie spät es ist.
 

„Gott, verdammt. Es ist 3:22 Uhr. Alter, was ist los? Wo steckst du überhaupt?“

„Wenn ich das wüsste, würde es sich nicht um einen Notfall handeln.“

„Heißt das, du hast keinen Plan, wo du bist?"

„Doch, schon. Hör zu. Kannst du vielleicht deinen Computer anschalten und den Stadtplan für mich heraussuchen, ich sag, dir dann, wo ich mich befinde. Eigentlich muss ich auch nur wissen, wo sich die nächste U-Bahn-Station befindet.“
 

„Klar. Einen Moment.“
 

Es raschelt. Jorell ist wohl aufgestanden.
 

So ganz alleine in einer merkwürdigen kleinen Seitengasse, fühlt er sich doch ziemlich unwohl. Zumindest ist New York eine dieser Städte, die nie schlafen. Wenn die Lichter der Straßenlaternen jetzt ausgingen, würde er sich echt verdammt unwohl fühlen. Und das als Kerl. Er denkt kurz an Cassie. Hoffentlich ist sie mit ihrer Freundin nicht mehr draußen unterwegs.
 

Dann vernimmt er wieder Joes Stimme.

„Okay, bin soweit. Schieß los copain** “
 

„Ich bin jetzt in ‘ner Seitenstraße, Ecke 9th Avenue und Brooms-Street“

„Wow, Mann wo bist du denn gelandet? Junge das ist in der Nähe vom …“

„Ich weiß“, schneidet Jesse ihm das Wort ab.

„Sag mir lieber, wie ich hier weg komme.“
 

„Hmmm, weißt du was? Das ist gar nicht so weit von meinem Wohnhaus weg. Wenn du magst, kannst du auch hierher kommen. Ich bring dich dann morgen früh mit den Wagen nach Hause, okay?“
 

Unter normalen Umständen würde Jesse ihn nochmals nach dem nächstbesten Weg zur U-Bahn fragen, aber er ist tot müde und fühlt sich wie erschlagen. Er ist zwar kein besonders großer Fan von Jorells Wohnheim – obwohl es bei weitem die Kosten günstigere Variante ist – und zieht seine eigenen vier Wände vor, doch gerade ist ihm jedes Mittel recht, um so schnell wie möglich ins Bett zu kommen. Also meint er nur:

„Ist gut. Danke, Mann. Sag mir einfach, wo ich lang muss.“
 

Und das tut Jorell. Kaum eine halbe Stunde später steht er vor dem großen, grauen Block von einem Wohnheim und Joe öffnet ihm die Tür, zieht ihn einen Ellen langen Flur entlang, um ihn dann durch eine schmale Holztür in sein, noch viel schmaleres, Zimmer zu schieben. Seine Augen brauchen einen Moment, um sich an die Dunkelheit in dem kleinen Raum zu gewöhnen, doch dann kann er sich ganz gut zu Recht finden. Es steht nicht besonders viel darin. Nur zwei Betten, sowie zwei Nachtschränke, ebenso zwei Schreibtische und zu guter Letzt ein mittel großer Kleiderschrank. Dann ist da noch eine angrenzende Tür, die, wie Jesse bereits weiß, ins Badezimmer führt. Im nächsten Moment ist das Licht im Raum angeschaltet. Beim Anblick des zweiten Bettes wird Jesse schlagartig klar, dass Jorell ja einen Mitbewohner hat.
 

„Sag mal, wo ist denn dein stets gut gelaunter Mitbewohner?“

„Der Typ hat, Gott sei Dank, vor drei Wochen geschmissen. War ja nicht auszuhalten der Kerl. Sonst hätte ich dir auch sicher nicht angeboten hier zu schlafen. Ich mein, du weißt ja, wie der drauf war.“

„Ja“, antwortet Jesse nur und kommt sich dabei irgendwie reichlich blöd vor.
 

Aber Joe scheint das kein bisschen zu stören. Stattdessen geht er wortlos auf seinen Kleiderschrank zu und scheint nach etwas Bestimmten zu suchen. Gleich darauf hat er es gefunden. Er zieht ein schlichtes T-Shirt sowie eine Jogginghose aus seinem Schrank und wirft sie Jesse zu.
 

„Hier, müsste dir passen. Im Badezimmer, im linken Schrank, oberste Schublade findest du ’ne Zahnbürste sowie Zahnpasta.“

„Danke“, murmelt er verlegen. Doch Jorell winkt ab:

„Dafür nicht“
 

Vielleicht eine Viertelstunde später liegt Jesse im nun nicht mehr freien Bett von Joes ehemaligen Mitbewohner und Jorell in seinem eigenen. Das Licht ist wieder aus, doch das Fenster hat weder Jalousien noch Gardinen und so dringt fahles Mondlicht in den Raum und taucht diesen in ein bläuliches Licht. Jesse kann einfach nicht schlafen. Starrt einfach nur an die Decke. Er weiß nicht, woran es liegt. Jorell hat keine nervigen Fragen gestellt. Ihn einfach in Ruhe gelassen und eigentlich wollte er schon längst eingeschlafen sein, doch irgendwie will das einfach nicht funktionieren. Stattdessen wälzt er sich hin und her. Von links nach rechts und wieder zurück. Dabei kommt er sich vor wie ein Idiot. Das macht er sonst nie, aber irgendetwas hält ihn wach.
 

„Willst du reden?“, durchbricht Jorells Stimme plötzlich die Stille.

„Nein, Quatsch, schlaf ruhig.“

„Jess, es ist jetzt 4:30 Uhr. Ob du mich jetzt ’ne Stunde länger oder weniger wach hältst, macht auch keinen Unterschied mehr. Und vielleicht magst du uns beiden den Gefallen tun und darüber sprechen, was dich so beschäftigt, statt dich wie ein Irrer von einer Seite zur anderen zu werfen. Vielleicht bekommen wir beide dann heute noch ein bisschen Schlaf.“

„Ich…, es ist nichts. Außerdem will ich dich nicht länger wach halten. Sorry.“

„Ach, Jesse, wem machst du was vor? Wir Franzosen sagen, wenn dich etwas beschäftigt, muss du damit auch andere beschäftigen und jetzt leg los.“
 

Jesse muss unwillkürlich seufzen. Aber er weiß auch, dass Jorell Recht hat und vielleicht hilft es ihm ja wirklich, wenn er mit jemanden über Xander redet. Normalerweise redet er mit Cassie über alles, aber irgendwie hat er das Gefühl, das dieses Mal nicht zu können. Und Joe scheint ihm dafür absolut die richtige Person. Sie kommen überhaupt ziemlich gut miteinander aus. Jorell ist seit seiner Zeit an der Fairfields High School sein erster, richtiger Freund und vielleicht auch sein einzig richtiger in New York. Er hat sich auf Anhieb gut mit dem Franzosen verstanden, der hier in Amerika seine Auslandssemester absolviert   - und seit dem Jesse im Sommer an die School of Medicine gewechselt hat, leider nicht mehr die gleiche Uni besucht - und die Gewissheit, dass Joe bald zurück in sein Heimatland gehen wird, um dort sein Politikstudium zu beenden, deprimiert ihn beinahe augenblicklich. Doch den Gedanken schiebt er beiseite, als er zu erzählen beginnt:
 

„Glaubst du an Schicksal?“

„Sort?*** So wie, sich auf den ersten Blick verlieben?“

„Ja. Nein. Quatsch. Nicht wie verlieben. Ich bin nicht verliebt.“

„Was?“

„Also, klar. In Cassie bin ich verliebt. Wir sind ja auch verlobt. Aber ich meine nicht, wie verlieben.“

„Was? Halt. Stopp. Du bist verlobt?“

„Was? Ja. Ehm, streng genommen seit heute … eh gestern Nachmittag. Aber darum geht’s ja gar nicht.“

„Arrêt!**** Doch genau darum geht’s jetzt. Du hast dich verlobt? Du hast mir nicht mal erzählt, dass du planst dich zu verloben! Ich meine, klar, sie ist dein couir*****  und du schwärmst immer so von ihr, aber wieso hast du denn nichts erzählt?“

„Ich weiß nicht …“ setzt Jesse an und unterbricht sich selbst, geschockt, als er feststellt, dass er sagen wollte: „Vielleicht, weil ich mir nicht sicher war.“
 

Dann setzt er wieder an.

„Darum geht’s aber eigentlich nicht. Ich meine, dass ist nicht wirklich, worauf ich hinaus wollte. Nicht, was mich wach hält. Aber du hast Recht. Ich hätte es dir erzählen sollen.“

„Oh, okay. Gut. Was ist es denn dann? Du hast von Schicksal gesprochen, richtig? Was meintest du damit?“

„Ich weiß nicht genau, wie ich das beschreiben soll. Einfach, wenn du jemanden triffst, von dem du weißt, dass er anders ist. Besonders. Ohne, dass du ihn überhaupt kennst.“

„Wow, Jesse King fehlen die Worte. Dieser Jemand muss wirklich besonders sein“, scherzt Jorell.
 

Jesse bleibt stumm. Er fürchtet Jorell hat Recht. Ins Schwarze getroffen.

„Alles klar, copain?“

„Ja, alles klar.“

„Sicher? Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Wenn das unangebracht war, dann…“

„Nein, quatsch. War es nicht. Es ist nur, du könntest Recht haben.“

„Oh, Verzeihung. Nein, im Ernst, ist das was Schlechtes? Um wen geht’s denn? Jemanden aus der Uni? Kenne ich sie oder ihn?“

Jesse lacht auf. Xander an der Uni oder auf der Med. School? Auf keinen Fall. Obwohl? Er kennt ihn ja überhaupt nicht richtig. Vielleicht würde er ja ganz gut an die Uni passen, wenn er nicht so dermaßen im Dreck stecken würde.

„Ehm? Jess?“

„Sorry. Nein, er geht nicht auf unsere Uni. Ich wage zu behaupten, dass Xander noch nie eine Uni von Innen gesehen hat.“
 

„Oh, okay. Xander. Ungewöhnlicher Name. Ist ’ne Kurzform, oder? Wo habt ihr euch kennen gelernt?“
 

Einen Moment lang ist Jesse versucht zu antworten ‚Bei einem Einbruch’. Aber das erscheint ihm dann doch eher taktisch unklug. Er will nicht, dass Jorell ein falsches Bild von Xander bekommt. Obwohl das eigentlich völliger Schwachsinn ist, wie er weiß. Xander gibt nun mal ein ziemlich hässliches Bild ab. Trotzdem. Irgendetwas hält ihn davon ab.
 

„Wir sind uns auf der Straße begegnet.“

„ Aha. Jesse bitte, es ist echt spät, oder früh. Je nachdem wie man’s nimmt. Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen. Ich geb’ auch keine blöden Kommentare ab, versprochen.“

„Er hat ein Heroinproblem.“

„Wow. Autsch. Du musst ja nicht gleich so einen raushauen. Was familienfreundlicheres, hätte es auch getan“, witzelt Joe.
 

Als Jesse darauf nichts antwortet, wird dem Franzosen wohl klar, dass er keinen Scherz gemacht hat. Jesse beißt sich auf die Lippen. Eine Sekunde spielt er mit dem Gedanken seinem Freund mitzuteilen, dass er nur einen dummen Scherz gemacht hat, doch augenblicklich sieht er davon ab. Nein, wenn er das jemandem erzählen kann, dann Jorell.
 

„Oh, fuck. Du meinst es Ernst. Ich meine, okay, ich glaube jetzt verstehe ich, was du mit besonders meintest. Aber irgendwie verstehe ich doch nicht ganz. Wieso beschäftigt der Typ dich so? Warte, wie lange kennt ihr euch überhaupt schon?“

„Ich weiß es nicht, Joe, das ist es ja. Streng genommen kennen wir uns überhaupt nicht richtig. Wir sind uns einfach nur zweimal begegnet. Und das war einfach nur Zufall. Eigentlich weiß ich gar nichts über ihn. Verdammt. Ich kenne nur seinen Namen und da kann er mir theoretisch auch das Blaue vom Himmel erzählt haben. Ich meine, wäre ja nicht das erste Mal. Er wollte mir ja auch unbedingt weiß machen, er sei schon achtzehn. Ernsthaft, jeder Blinde sieht, dass er das nicht ist. Vermutlich hat er nur Panik, dass sie ihn zurück nach Hause oder in ein Heim schicken. Ich kapier’s nicht, okay? Wie scheiße muss dein Leben sein, wenn du’s lieber mit Drogen auf der Straße zubringst, als in einem wohlbehüteten Zuhause? Und dass er ein Drogenproblem hat ist echt offensichtlich, weißt du?“, echauffiert Jesse sich.
 

„Mann. Scheiße. Ich weiß nicht) was ich sagen soll. Straße? Heißt das, er ist obdachlos? Keine achtzehn? Ist er dann nicht ’n Fall für die Fürsorge. Alter, du schaffst mich.“
 

Einen Moment lang ist es still zwischen den beiden. Plötzlich ist Jesse sich nicht mehr so sicher, ob er das alles wirklich hätte erzählen sollen, doch dann sagt Jorell:
 

„Danke, dass du mir das anvertraust. Und ich glaube, ich kann’s irgendwie verstehen. Wahrscheinlich fühlst du dich einfach verantwortlich. Ich meine, du studierst ja auch Medizin und er scheint ja auch noch, na ja, relativ jung, um sein ganzes Leben zu verpfuschen. Aber Jesse? Eines. Ich glaube nicht, dass irgendjemand, der in einem wohlbehüteten Zuhause aufgewachsen ist, ein Leben auf der Straße vorziehen würde.“
 

„Ja, wahrscheinlich hast du Recht. Danke, dass du zugehört hast.“

„Dafür sind Freunde doch da. Und jetzt lass uns versuchen noch ein bisschen zu schlafen. Vielleicht schaffen wir’s ja.“

Damit ist das Gespräch fürs Erste beendet und Jesse ist irgendwie ungemein erleichtert. Jetzt fühlt er sich eindeutig besser. Auch wenn er Jorell nicht gleich anvertraut hat, dass er Xander seine Telefonnummer in die Hand gedrückt und ihm seine Hilfe angeboten hat. Das spielt gerade keine Rolle. Er fühlt sich jetzt deutlich besser. Mit diesem Gedanken schläft er einen Augenblick später auch schon ein.
 

Durch einen frustrierten Schwall von Flüchen erwacht er, seines Erachtens nach, viel zu früh wieder. Jorell ist in heller Aufregung. Einen Moment und einen Blick auf die Uhr an der Wand später, ist Jesse auch klar, weshalb. Es ist kurz nach 11 Uhr. Oh verdammt. Seine Kurse konnte er heute vergessen. Und Joe musste sich jetzt verdammt noch mal echt beeilen, wenn er nicht wollte, dass es ihm genauso erging. Das brachte ihn auch dazu so haltlos – sowohl in Englisch als auch in Französisch, was, offen gestanden, echt witzig klang – zu fluchen.
 

Eine halbe Stunde später – nach einem kurzen Halt beim Bäcker – steht Jesse vor dem Hochhaus in dem sich seine Wohnung befindet und Joe hoffentlich in seinem Politikwissenschaftskurs.
 

Er spielt mit dem Gedanken den Aufzug in den dritten Stock zu nehmen, doch das kommt ihn dann doch irgendwie ziemlich blöd vor. Obwohl er echt einen Mordskater hat. Oder vielleicht gerade deshalb, weil er befürchtet gleich in den Aufzug zu kotzen. Der Kaffee – den er sonst nie trink- beim Bäcker ist ihm jedenfalls nicht sonderlich gut bekommen und sein Schädel brummt grausam. Er ist geistig noch nicht wirklich wieder auf der Höhe. Auf dem letzten Treppenabsatz, kurz vor der Wohnungstür, macht er Halt. Er ahnt Übles. Wenn Cassie zuhause sein sollte, und er weiß eigentlich ziemlich genau, dass sie zuhause ist, dann wird das gleich eine Wahnsinnsszene geben.
 

Und so ist es auch. Kaum, dass die Tür hinter ihm ins Schloss fällt, steht sie schon im Flur. Die Hände in die Hüfte gestemmt und die Stirn in Falten gelegt.  Er ist gerade seine Jacke losgeworden, da fängt sie an:
 

„Sag mal, geht’s noch? Wo zur Hölle hast du verflucht noch mal gesteckt? Weißt du überhaupt, wie spät es ist und warum gehst du verdammter Bastard eigentlich nicht an dein verficktes Handy? Ich habe bestimmt dreißigmal versucht, dich anzurufen. Wo hast du überhaupt die ganze Nacht gesteckt? Ich war heute Morgen um drei zuhause. Du Mistkerl wolltest doch zur Uni. Deshalb hast du mich nicht begleitet und dann komme ich nach Hause und wer ist nicht da? Der werte Herr hier. Und wo warst du wirklich? Bei einer Freundin? Habt ihr bei eurem Schäferstündchen die Zeit vergessen? Ist es das, was dieser Ring zu bedeuten hat?“, schnauzt sie Wut entbrannt, so dass es sicher auch noch die Nachbarn gehört haben und Jesse bleibt der Mund offen stehen. Darauf weiß er nichts zu erwidern. Wie in Trance hebt er den Verlobungsring auf, den sie ihm, in Rage, direkt vor die Füße geworfen hat.
 

Bitte, was? Er hat mit vielem gerechnet und er hat auch gewusst, dass sie ihn anschnauzen würde und er hätte das sogar sicher irgendwie nachvollziehen können, aber, dass sie ihm einen solchen Vorwurf macht, ist wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Was denkt sie denn von ihm? Selbst wenn sie wütend ist, das kann doch nicht ihr Ernst sein. Sie sind seit neun Jahren zusammen, jetzt sogar verlobt und er hat sie nie betrogen, geschweige denn, jemals auch nur einen Gedanken daran verschwendet und das weiß sie genau.
 

Er ist absolut sprachlos und schaut mit Schreck geweiteten Augen auf den kleinen, silbernen Ring in seiner Hand, den er unablässig zwischen Daumen und Zeigefinger dreht. Eigentlich will er zurück schreien, ihr sagen, dass sie nicht mehr richtig tickt, doch er kann sie nur völlig entsetzt anstarren. Plötzlich wird auch Cassies Gesichtsausdruck weicher. Ja, ihre Unterlippe beginnt sogar gefährlich zu beben und sie scheint jetzt erst zu realisieren, was sie ihm da eigentlich an den Kopf geworfen hat.
 

„Jesse …“, haucht sie nur.

Und dann laufen auch schon die ersten, dicken Tränen über ihr hübsches Gesicht und sie fängt an zu weinen. Jesses Schockstarre ist verschwunden und die aufkeimende Wut wie weggeblasen.
 

„Ich- ich …“, setzt sie immer wieder schluchzend an und kommt doch nicht weiter.

„Oh Gott, es – es tut mir so Leid.“

Da hat Jesse sie schon in die Arme geschlossen.

„Ich-, ich hab mir nur so Sorgen gemacht …“, ihre Stimme bricht erneut weg.

„Sch, sch … Ist ja gut. Alles ist gut“, murmelt Jesse beruhigend. Er könnte Cassie niemals böse sein und jetzt ist er selbst entsetzt, dass er noch bei Jorell an seiner Entscheidung gezweifelt hat.
 

„Nein, nein, nichts ist gut.“

„Hey, doch. Es ist okay. Wir tun einfach so, als wäre das nie passiert.“

Sie schluchzt aber nickt. „Okay.“

„Weißt du, was wir jetzt machen?“

Sie schüttelt den Kopf, wischt sich aber die Tränen ab und Jesse entlässt sie aus seiner Umarmung.
 

„Wir fahren jetzt nach Fairfield, besuchen deine und dann meine Eltern und erzählen ihnen von unserer Verlobung, okay? Morgen habe ich sowieso keine Kurse und wir können dort bleiben oder auch wieder nach Hause fahren, ganz wie du willst.“

Mit diesen Worten greift er nach ihrer Hand und steckt ihr den Verlobungsring erneut an den Finger.
 

Cassie hat zu ihrer Schulzeit immer zu den beliebten Schülern gezählt. Sie war sowohl Vorsitzende des Schülervorstandes als auch des Zölibatclubs. Außerdem war sie die zweite Cheerleaderin, nach ihrer ehemals besten Freundin – es gab einen unschönen Vorfall auf dem Falldance – Savannah und obwohl Cassie den amerikanischen Traum vieler junger Mädchen gelebt hat, zweifelte sie doch immer an sich. An sich und an ihren Mitmenschen und deshalb braucht sie auch unglaublich viel Sicherheit. Die hat Jesse ihr nicht gegeben. Deshalb hat sie so reagiert. Andere würden es Misstrauen nennen. Mit den Besuch bei ihren Eltern, wird er diese ein für alle Mal beseitigen.
 

Deshalb sitzen die beiden eine gute Stunde später wieder einmal in Jesses grünen Smart, mit gepackten Taschen im, zugegeben jetzt völlig ausgefüllten, Kofferraum.

Bereits nach gut zwanzig Minuten fahren sie durch den Hollandtunnel, überqueren somit den Hudson River und die Staatsgrenze von New Jersey. Eine weitere halbe Stunde später, nach insgesamt gut 25 Meilen überqueren sie das City-Limit von Fairfield Township.
 

Cassies Mutter ist begeistert und kommt den beiden schon entgegen, als sie die Auffahrt zu Cassies Elternhaus hinauffahren.
 

„Ich hab’ ihr ’ne SMS geschrieben, das wir kommen, allerdings noch nicht gesagt, weshalb“, erklärt Cassie.

„Ach, und ich dachte schon, sie sei ausnahmsweise mal gastfreundlich“, scherzt Jesse und bekommt dafür einen leichten Klaps gegen die Schulter.
 

Kaum sind sie ausgestiegen, werden sie schon in eine Umarmung gezogen. Miranda ist wirklich mehr als nur begeistert, sie zu sehen und will natürlich wissen, was die beiden herführt. Doch noch halten sie sich bedeckt. Jesse kann ihr die Begeisterung auch kaum verübeln. Obgleich die Fahrt nach Fairfield nicht einmal eine Stunde dauert, haben sie sich das letzte Mal Weihnachten hier blicken lassen. Sie gehen gemeinsam ins Haus und Cassies Mum erklärt, dass ihr Gatte – Cassies Vater Kurt – noch auf der Arbeit sei. Er würde mal wieder zu viel arbeiten. Wie immer.
 

Sie trinken Kaffee, essen Kuchen und dann zeigt Cassie ihrer Mutter mitten im Gespräch den Verlobungsring. Vor Freude springt Miranda auf und schmeißt sowohl ihren Stuhl als auch die Kaffeetasse zu Boden.
 

„Oh mein Gott“, ruft sie aus und beteuert, wie sehr sie sich für die beiden freut und das sie ja schon immer gewusst habe, dass sie zusammen gehören.
 

„Jesse, mein Schatz. Wart ihr denn schon bei deinen Eltern? Catherine und Lawrence werden sich ja so freuen!“
 

Dann bewundert sie noch ein wenig den Verlobungsring und einen Moment später kommt Kurt nach Hause. Als er hört, dass Cassie und Jesse verlobt sind, zieht er erst Jesse in eine feste Umarmung, dann seine Tochter. Ihm treten Tränen in die Augen.

„Meine kleine Prinzessin wird erwachsen. Weiß du noch, Cassandra, als du vier warst und wir das erste Mal einen Zoo besucht haben …-“
 

Drei Stunden und gefühlte 500 Anekdoten später, verabschieden die beiden sich von Cassies Eltern da sie ja auch Jesses Eltern einen Besuch abstatten wollen. Es ist kurz vor sechs, als sie dort ankommen.
 

Im Kennedy Drive Nr.22 brennen fast alle Lichter. Jesse weiß nur zu genau, was dort vor sich geht. Hinter dem linken Fenster, im Untergeschoss wird seine Mutter gerade das Abendessen vorbereiten. Sein Vater sitzt hinter dem Fenster, im rechten Flügel des Hauses, dort befindet sich sein Büro. Seine Augen sind auf seinen Computer gerichtet und er wird erst beim dritten Mal merken, dass seine Frau ihm zum Essen ruft. Hinter dem hell erleuchteten, kleinen Fenster im Obergeschoss, das mit den rosa Gardinen, sitzt Lilly vor ihrem Puppenhaus, ins Spiel versunken und taub für ihre Umwelt. Das im Dunkel liegende Fenster daneben, gehört zu seinem ehemaligen Zimmer.
 

Jesse muss unweigerlich lächeln, er war viel zu lange schon nicht mehr hier.

„Wollen wir?“, lächelt auch Cassie.

Jesse nickt ihr zu und sie steigen aus.
 

Als sie klingeln, dauert es einen Moment bis Catherine ihnen die Tür öffnet. Als sie die beiden erblickt, fangen ihre grünen Augen – Jesse hat seine Augenfarbe von ihr geerbt – zu strahlen.
 

„Jesse, mein Schatz. Wie schön dich zu sehen.“

Dann sieht sie zu Cassie.

„Hallo meine Liebe, kommt doch rein.“
 

Sie reagiert ein wenig zurückhaltender als Cassies Mutter, doch das liegt einfach in ihrer Natur. Sie freut sich mindestens genauso sehr, die beiden zu sehen. Dann ruft sie nach Jesses Vater. Lawrence kommt – wie nicht anders zu erwarten – erst nach mehrmaligen Rufen, aber auch er freut sich sichtlich. Jesse lächelt ihn an, sein Vater lächelt zurück.
 

„Mein Sohn.“

Dann wandert sein Blick zu Cassie, er lächelt noch immer, doch es wirkt verhalten.

„Cassandra.“
 

Cassie lächelt schüchtern zurück. Sie versteht sich nicht besonders gut mit seinem Vater. Niemand – er glaubt, auch die beiden selbst nicht – kann wirklich einen Finger darauf legen, woran das liegen mag. Sie akzeptieren einander, aber wirklich mögen, tun sie sich nicht. Das macht es nicht unbedingt einfacher. Er hat es nie ausgesprochen, aber Jesse glaubt, es wäre ihm lieber gewesen, wenn sie sich nach ihrem ersten großen Streit getrennt hätten. Und sie standen damals auch wirklich kurz davor. Sie hatten inmitten ihres Senior Jahres eine neue Mitschülerin aus Dallas bekommen. Coraline und er verstanden sich auf Anhieb, denn sie wollte ebenfalls nach der High School Medizin studieren. Sie hatten einfach viele Gemeinsamkeiten, aber irgendeines der Mädchen aus Cassies Zölibat Club fasste das ganze gleich anders auf und setzte Cassie den Floh ins Ohr, sie hätten etwas miteinander. Als sie ihn mit diesen völlig absurden Vorwurf konfrontierte, verlor er vor lauter Unmut selbst die Beherrschung und konfrontierte sie wiederum mit dem Gerücht, sie schliefe mit Savanahs Freund Brad, dem Quarterback und Teamkapitän der Fairfield Titans – die dieses Gerücht übrigens auch gehört hatte, weshalb es zu dem unschönen Vorfall auf dem Falldance gekommen war. Im Grunde genommen, war es also ein ganz ähnlicher Streit wie der, den sie noch heute Morgen geführt haben. Nur mit dem gravierenden Unterschied, dass sie daraufhin fast eine Woche lang den jeweils anderen mieden. Im Nachhinein kommt ihm das wirklich albern vor und er fragt sich, wie Cassies Bekannte wohl reagiert hätte, wenn sie erfahren hätte, dass Cassie es mit dem Zölibat nicht so ernst nahm, wie sie es allen damals und ihrem Vater heute noch, weiß machte. Sie ist in einem streng katholischen Haus aufgewachsen und es kam für Kurt gar nichts anderes in Frage, als das seine Tochter Vorsitzende des Zölibat Clubs war. Sie hatten bereits zu Beginn ihres Senior Jahres miteinander geschlafen. Es war ihr erstes Mal gewesen, aber er glaubt nicht, dass einer von ihnen beiden diese Entscheidung jemals bereute. Außerdem waren sie zu diesem Zeitpunkt bereits zweieinhalb Jahre zusammen gewesen. Sie lernten sich in ihrem Freshmen Jahr kennen und kamen bald darauf zusammen. Cassie war also seine erste Freundin und er ihr erster Freund und es hat seither niemand anderen in ihrem Leben gegeben und er hat nie das Gefühl gehabt, etwas verpasst zu haben. Also war es ja auch nur der nächste, logische Schritt zu heiraten. Das wird sein Vater schon verstehen. Er wird es so oder so verstehen müssen.
 

Aber bevor er oder Cassie diesen Punkt hätten ansprechen können, bittet seine Mutter sie zu Tisch und entschuldigt sich auch gleich dafür, für die beiden nicht mitgekocht zu haben. Aber sie habe ja nicht wissen können, dass sie einfach so vorbeikommen würden. Bei diesen Worten wirft Catherine King ihrem Sohn einen tadelnden Blick zu. Jesse zuckt nur entschuldigend mit den Schultern, was soll er dazu schon sagen? Im nächsten Moment kommt Lilly die Treppe herunter in die Küche gestürmt und fällt ihrem großen Bruder um den Hals. Jesse drückt die zierliche Gestalt fest an sich und streicht ihr durch die rötlichen Locken. Dann begrüßt das kleine Mädchen Cassie ebenso stürmisch und will sofort wissen, was die beiden herführt. Doch seine Mutter unterbindet dieses Gespräch fürs Erste und bittet Lilly Platz zu nehmen, damit sie essen können. Die Achtjährige gehorcht sofort, aber Jesse hat auch nichts anderes erwartet. Seine Eltern erziehen streng, aber liebevoll.
 

Nach dem Abendessen – seine Mum, Cassie und Lilly haben abgedeckt und gespült, männliche Unterstützung wurde nicht geduldet – sitzt die Familie gemütlich in der Stube beisammen und unterhält sich so über dies und das. Darüber, dass Cassie im Frühjahr beginnen wird, an der High School zu unterrichten und Jesse nach acht Jahren Studium im Sommer 2009 seinen Doctor of Medicine haben wird. Es scheint ihm jetzt die richtige Gelegenheit, es seinen Eltern mitzuteilen und so sagt er gerade heraus:
 

„Mum, Dad. Cassie und ich haben uns verlobt.“ Dabei nimmt er die Hand seiner Verlobten, die ihm beruhigend über den Handrücken streicht. Seine Eltern reagieren weniger haltlos als Cassies. Aber sie scheinen sich doch beide zu freuen. Seine Mum gratuliert ihnen und sein Dad nimmt Cassandra sogar in den Arm. Nur eine Person scheint sich nicht so recht zu freuen. Lilly springt ohne ein Wort zu sagen auf und läuft die Treppe hoch. Im oberen Stockwerk kann man eine Tür zuknallen hören.

Catherine und Lawrence sehen sich einen Moment lang irritiert an, dann räuspert Cassie sich: „Soll ich einmal nach ihr sehen?“

„Nein, ist gut. Ich mach das“, wirft Jesse sofort ein, schenkt seiner Freundin ein Lächeln und geht dann nach oben.
 

Dort klopft er an der Zimmertür seiner siebzehn Jahre jüngeren Schwester.
 

„Nein!“, kommt es sofort schluchzend zurück und bricht Jesse das Herz.
 

Jesse öffnet die Tür zum Kinderzimmer dennoch. Es ist so dunkel, dass er zunächst gar nichts erkennt, und doch schaltet er das Licht nicht ein. Aber er bleibt an der Tür stehen.
 

„Ich hab’ ‚Nein‘ gesagt“, kommt es noch weinerlicher als zuvor von der hohen Kinderstimme. Jesse schließt die Tür hinter sich und geht auf seine kleine Schwester zu, die er auf ihrem Bett, unter ihrer Decke verkrochen, ausgemacht hat.
 

„Lil’, Prinzessin was ist los?“, fragt er.
 

„Jesse?“, kommt es zögernd zurück und ein rötlicher Haarschopf und große grüne Augen kommen langsam zum Vorschein. Jesse macht das Licht an. Dann setzt der junge Mann sich auf die Bettkante, nimmt das kleine Mädchen einfach in den Arm. Die schmiegt sich fest an ihn und beginnt lauthals zu weinen. Er stellt keine Fragen, hält Lilly einfach nur fest, bis sie sich einigermaßen wieder beruhigt hat. Dann wischt er mit den Daumen die verbliebenen Tränen von ihren Wangen und gibt ihr einen liebevollen Kuss auf die Stirn.
 

„Okay, erzähl mir was passiert ist.“

„Cassie und du sind passiert“, kommt es trotzig von der Achtjährigen.

„Ja? Aber du magst Cassie doch, oder nicht?“

„Ja. Schon. Aber du sollst sie nicht heiraten, denn dann wirst du mich gar nicht mehr besuchen kommen. So wie Eliza.“

„Was? Wie kommst du denn darauf und wer ist Eliza?“

„Na, weil Eliza auch gegangen ist, als sie den schrecklichen Randolph geheiratet hat und dann hat sie Anne einfach alleine gelassen, obwohl sie doch ihre Schwester war.“
 

Bei dem Namen Anne machte es in Jesses Kopf klick. Seine Mutter ist ein waschechter Bücherwurm und eines ihrer liebsten Werke ist die Anne of Greengables Reihe. Gott sei Dank, war Jesse als Junge davon verschont geblieben. Aber sein Dad hatte ihm bei seinem letzten Besuch einmal erzählt, dass seine Mum Lilly damit angesteckt habe und sie die Bücher nun verschlingen würde, obwohl sie dafür eigentlich noch viel zu jung sei.
 

„Okay, und du glaubst wenn ich jetzt heirate, passiert das gleiche? Dass ich dich dann nicht mehr besuchen komme?“

„Ja, denn du kommst mich ja jetzt schon kaum besuchen. Nur zu Thanksgiving und Weihnachten. Oder, wenn mal jemand Geburtstag hat. Aber wenn du heiratest, dann bekommst du bestimmt auch ein Baby und dann wirst du auch gar keine Zeit mehr haben, mich zu besuchen.“  Lilly sieht ihn bestürzt und anklagend zugleich an und zieht lautstark die Nase hoch. Herrje, damit hat er nun wirklich nicht gerechnet. Aber er kommt nicht umhin zu merken, dass sie Recht hat. Nicht unbedingt mit dem Baby. Um Gottes willen, ganz sicher nicht mit dem Baby, dafür ist es noch zu früh. Doch alles andere, was sie gesagt hat, stimmt. Er kommt Lilly und seine Eltern tatsächlich nur äußerst selten besuchen und das, obwohl es im Grunde genommen nicht einmal ein besonders weiter Weg ist. Er kann nicht sagen, woran das liegt. Fakt ist, nächsten Donnerstag ist Thankgiving und wenn Lilly nichts gesagt hätte, wäre er auch zu diesem Anlass wieder nicht nach Hause gekommen, obwohl sich das doch anbietet. Und überhaupt hat er plötzlich das Gefühl hier zuhause viel zu viel verpasst zu haben. Lilly war gerade ein Jahr alt, als Jesse zum Studieren nach New York gezogen ist. Seither hat er sie kaum gesehen. In seinem ersten Jahr in New York hat er eigentlich nur über Onkel Henry Kontakt zu seinen Eltern gehalten. In den drei darauf folgenden Jahren – als Cassie aus Australien wiedergekommen ist und in Fairfield Township das Community College besucht hat – ist er dann jedes zweite Wochenende  heimgekommen. Aber die Zeit hat er eigentlich auch nur mit Cassie, nicht mit seiner Familie verbracht. Und seit sie vor vier Jahren zu ihm nach New York gezogen ist, um an der NY University Lehramt zu studieren und er, um sein Studium fortzusetzen, auf die NY School of Medicine gewechselt ist, hat er erst recht keinen Grund mehr gehabt, hier vorbeizuschauen. Was völliger Schwachsinn ist, wie ihm gerade klar wird. Seine Eltern und seine Schwester sind mehr als genug Grund, hierher zu kommen.
 

„Du hast Recht, Lil’.“

Einen Augenblick darauf wird Jesse vor Verlegenheit ganz rot.

„Also nicht mit dem Baby. Ich meine damit, dass ich dich kaum besuchen komme. Aber ich schwöre dir – großes Indianerehrenwort – , dass ich nicht wie Eliza bin. Ich werde dich ab jetzt auch mehr besuchen kommen, versprochen. Nur weil Cassie und ich heiraten, werden wir uns nicht weniger sehen.“ Bei diesen Worten liegt Jesses eine Hand feierlich auf seiner Brust, die andere hält er weit erhoben.

„Ja, versprochen?“, Lillys Augen funkeln. Doch dann schüttelt sie den Kopf.

„Aber, Jesse? Das Indianerehrenwort ist doch total out. Das macht niemand mehr in der Grundschule. Das ist doch der Kleine-Finger-Schwur!“, mit diesen Worten hält sie ihm ihren kleinen Finger vor die Nase. Sie schaut dabei so konzentriert und ernst, dass Jesse einfach anfängt zu lachen.

„Okay, dann machen wir den Kleinen-Finger-Schwur. Da siehst du’s, dein großer Bruder ist einfach schon total out.“
 

Wenig später sitzen die beiden gemeinsam vor Lillys allergrößtem Schatz. Es ist das Puppenhaus, das Opa Will einst als detailgetreue Nachbaute eines alten, viktorianischen Hauses für Dads Mutter Rose baute. Sie hat es sich gewünscht und Jesses Opa hat monatelang Arbeit darin investiert, sogar jedes einzelne Möbelstück zeitgenössisch in Miniatur nachzubauen. Selbst für einen gelernten Zimmermann – der die größte Firma zur Holzverarbeitung in ganz New Jersey und Umgebung besaß, die nun Jesses Vater leitet – war das eine Herausforderung. Aber es war sein Geschenk an seine Verlobte, die ihn dann doch tatsächlich kaum ein Jahr nach der Heirat, direkt nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes sitzen ließ.
 

Für Lilly jedoch, fertigt sein Grandpa nach wie vor Figuren und Möbelstücke an – sofern es sein Gesundheitszustand zulässt, zuletzt stand es schlecht um ihn -, damit ihr das Spiel nicht langweilig wird. Will schenkt sie ihr meist zu irgendwelchen besonderen Anlässen und Jesse weiß, dass er in jedes einzelne Stück all die Liebe hinein steckt, die er seiner Enkelin geben kann. Lilly wiederum, auch das weiß er genau, liebt und vergöttert ihren Opa mehr als jeden anderen Menschen auf diesen Planeten. Aber Jesse geht es ja nicht groß anders, Opa Will ist in vielerlei Hinsicht ein beeindruckender Mensch.
 

Lilly erklärt Jesse ihr liebstes Puppenspiel, es ist das allererste Mal, dass er etwas über ihre Vorlieben von ihr selbst und nicht von seinen Eltern erfährt. Bei dem Puppenhaus handelt es sich um ein Waisenhaus, allerdings um ein besonders schönes, in dem alle Waisen Zuflucht finden und in Geborgenheit aufwachsen können, nicht wie das in dem Anne landet, bevor sie nach Greengables kommt, wie seine kleine Schwester extra noch einmal betont. Denn Waisen haben es ganz besonders schwer, vor allem damals hatten sie das. Und auch wenn Jesse es sich nicht vorstellen konnte, so Lilly, am allerschlimmsten war es, wenn sie auf der Straße leben mussten. Und das gab es! Die Kinder lebten wirklich auf der Straße.
 

„Ganz ohne Eltern, Jess, die haben nicht mal ein Dach über den Kopf gehabt! Ist das nicht schrecklich, deshalb ist es in meinem Heim immer freundlich!“

Plötzlich muss Jesse unwillkürlich an Xander denken. Ob es jemals auch nur einen einzigen freundlichen Ort gab, an dem er Zuflucht finden konnte? Heute ist das sicher nicht der Fall.
 

Seine kleine Schwester reißt ihn aus seinen Gedanken, als sie ihm eine Puppe in die Hand drückt. „Das ist Jimmy, er- …“

Da klopft es an der Tür. Cassie kommt ins Zimmer. Ein sanftes Lächeln auf den Lippen.
 

„Hey, ihr beiden. Ich wollte einmal nach euch sehen. Wow, Lilly, das ist aber ein hübsches Puppenhaus.“ Und ab dieser Sekunde ist Jesses kleine Schwester in ihrem Element. Cassie setzt sich ohne zu zögern zu ihr auf den Boden und spielt mit ihr. Die Achtjährige ist begeistert und auch Cassies Augen strahlen. Als sich dann auch noch ergibt, dass Cassie die Anne-Bücher auch als kleines Mädchen gelesen hat, gibt es für Lil kein Halten mehr.
 

„Oh, wirklich? Und kennst du auch das aller, aller Erste? Das hat Mama mir zum Geburtstag geschenkt. Anfang des Jahres. Denn das war das ganz neu in der Buchhandlung.“
 

Als sie mitten in der Nacht im Gästezimmer im Bett liegen, muss Jesse einfach nachhaken. „Hast du die Bücher wirklich gelesen?“

„Oh ja, ich war allerdings gut fünf Jahre älter als deine Schwester, als ich sie gelesen habe. Es sind wirklich schöne Bücher und das Buch das Lilly mir heute gezeigt hat, kannte ich tatsächlich noch nicht. Es ist auch von einer anderen Autorin. Ich glaube, ich werde, wenn wir wieder in New York sind, in der Buchhandlung danach fragen … Ach ja und Jesse? Du kannst echt toll mit Kindern umgehen …“
 

„Ach was. Und du erst. Du wirst irgendwann eine fantastische Mutter, ich weiß das.“
 

Am nächsten Morgen frühstücken sie alle – bis auf Jesses Vater der bereits wieder arbeitet – gemeinsam und Jesse teilt seiner Mum mit, dass er und Cassie Lilly in den Semesterferien gerne mal zu sich nach New York einladen würden. Sie könnten am Rockefallercenter Schlittschuh laufen gehen und im Central Park Schneemänner bauen – auch wenn sie in der Lower East Side wohnen, die praktisch am anderen Ende Manhattans liegt -, sollte das Wetter mitspielen. Und danach sieht es dieses Jahr eindeutig aus. Catherine findet diese Idee gar nicht schlecht und Jesse kann mit einem Blick erkennen, dass seine kleine Schwester sich bereits die Semesterferien herbei wünscht. Außerdem planen Cassie und er an Thanksgiving vorbeizukommen. Sie müssen nur auch noch mit Cassandras Eltern sprechen.
 

Dann verabschieden sie sich voneinander, aber dieses Mal weiß Jesse genau, wann er wiederkommt und er freut sich bereits darauf.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Wer sich sein Bild von Jesse und Xander das er im Kopf hat kaputt machen lassen will, darf gerne bei meinen Fan-Arts vorbeischauen. Danke übrigens für die 3 Favoriteneinträge. ありがと!

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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  Laila82
2017-04-07T13:45:55+00:00 07.04.2017 15:45
Xander, wann kommt Xander wieder ins Spiel? Cassie mag ich nicht. Da zeigt sie einmal ihr wahres Gesicht und Jesse verzeiht ihr auch noch. Die dicken Kullertränen sind doch nur Theater, blöde Heuchlerin. Der Franzose ist echt, der darf noch öfter auftauchen. In der Ff.


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