Zum Inhalt der Seite

Nesrins Textfragmente

Über das, was nach Thaos' Untergang geschah
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Ein Abschied (OC, Aloth Corfiser)

Die Zimmer im Himmlischen Bäumchen waren gemütlich eingerichtet und beheizt. Nesrin ließ ihr Gepäck fallen, noch ehe sie die Tür hinter sich zugezogen hatte. Die Orlanerin nahm einen tiefen Atemzug und all ihre Wunden pochten unter den Verbänden. Wunden von Kampf gegen Thaos ix Arkannon. Es fühlte sich unwirklich an, dass dieser nunmehr bestanden war. Der Kopf des Bleiernen Schlüssels war tot und diese Erkenntnis war befreiend und befremdlich zugleich.

Sie trat, sichtbar geschwächt und gebeutelt ob des Kampfes und der Flucht aus Sonne-im-Schatten an das verschmutzte Fenster der Kammer getan und zog es auf. Die Nacht hatte sich über Zwillingsulmen gelegt und die glanfathanische Stadt zeigte sich ihr ungewohnt friedlich in dieser Nacht.

Dass sie auch noch lange so friedlich verbleiben würde, beruhigte Nesrin ungemein. Das Ende dieser Reise, dieser Mission, begrüßte die Waldläuferin wie einen guten alten Freund und das erste Mal seit langer Zeit spürte sie Heimweh nach ihrem neuen Zuhause, nach Caed Nua. Ewig schien es her zu sein, seitdem sie ihre alte Heimat hinter sich gelassen hatte, um in Goldtal ein neues Leben anzufangen. Das Versprechen von Land und Unterkunft hatten sie wie auch Mee’rash auf eine weite Reise geschickt. Doch noch ehe sie angekommen war, hatte sich alles geändert. Sehr lebendig hatte sie sie noch vor Augen: Die Adra-Säulen in Cilant Lîs, den Überfall des glanfathanischen Stammes, den Bîaŵac – und natürlich, mehr noch als alles andere, den Moment, in welchem sie zum Wächter wurde.
 

Nesrin rieb sich ihre Schläfen. Obgleich sie sich damit abgefunden hatte, sich hatte damit abfinden müssen, dass sie für immer ein Wächter sein würde, hatte diese Verwandlung doch ihre Spuren hinterlassen. Sie war weniger sie selbst und gleichzeitig mehr sie selbst als jemals zuvor. Die Spuren älterer Daseinsformen waren in ihr und formten ihre aktuelle körperliche wie geistige Präsenz. Auch ihr Herz war gezeichnet von ihnen, denn es verzehrte sich nach einer Liebschaft, die lange verraten und verloren war. Und nun auch frei. Ein müdes wie auch erleichtertes Lächeln lag auf ihren Lippen, denn sie wusste, dass Iovara nun nicht mehr litt. Hatte sie, die tapfere Prophetin, für alle Zeit gegen die Lügen der Engwithaner und ihre falschen Götter stehen wollen, so hatte Nesrin sie doch überzeugen können, abzulassen. Sie hatte ihr die Freiheit geschenkt, indem sie sie vernichtete. Eine Rückkehr zu Beraths Rad hätte nur ein nicht enden wollendes Leid erzeugt, hätte vielleicht eine Wiederholung von alldem provoziert, was geschehen war. Nein, Iovara war fort. Was von ihr geblieben war, war die Erinnerung an eine Liebe, die Nesrins Herz umschloss. Sie seufzte. Es war gut, wie es gekommen war. Sie entschied sich, dies zu glauben, und trat einige Schritte vom Fenster weg.
 

Ein Klopfen an der hölzernen Tür zu ihrer Kammer ließ die Waldläuferin zusammenfahren. Sie war zu erschöpft, zu sehr am Rande ihrer Kräfte, um ruhig zu reagieren. Im Affekt wollte sie Mee’rash heranrufen, doch der große Bär, der seit vielen Jahren schon ihr treuer Begleiter war, hatte sich diese Nacht in den Wald nahe Zwillingsulmen zurückgezogen. Auch ihm hatte es nach Frieden verlangt und wie hätte sie ihm diesen verwehren können?

"Ich bin es."

Die Stimme von Aloth Corfiser, dem elfischen Magier, der sie von ihrer ersten Stunde in Goldtal an begleitet hatte, drang durch das Holz hindurch. Erleichtert atmete Nesrin aus.

"Moment."

Sie trat an die Tür heran und öffnete diese. Aloth war größer als sie, was angesichts der Tatsache, dass sie eine Orlanerin war, keineswegs unnormal war. Mit dem höchsten Punkt ihres Kopfes reichte sie ihm etwa bis zur Mitte seiner Brust. Stellte sie sich auf die Zehenspitzen und hüpfe ein wenig, konnte sie an sein Kinn geraten. Dies war etwas, was sie in der Vergangenheit durchaus ausprobiert hatte. Der Elf war schmal gebaut und in blaue Stoffe sowie seine mit Leder gearbeitete Robe gehüllt. Sein linker Arm war bandagiert und lag in einer Trage, welche um seinen Hals gebunden war. Der Unterarmknochen war im letzten Kampf zu Bruch gegangen. Auch das blasse Gesicht des Elfen, das von seinen hohen Wangenknochen dominiert wurde, war mit Prellungen und blauen Flecken übersät.

"Du solltest Dich etwas ausruhen." stellte Nesrin ungefragt fest. Sie verschränkte beide Arme vor ihrer Brust und legte den Kopf zurück, um ihrem Begleiter in die Augen sehen zu können.

"Ich… ja, das sollte ich wohl."

Ein mattes Lächeln seitens des Elfen erging. Er strich sich mit der Hand am Ende seines heilen Armes eine seiner dunklen Haarsträhnen von der Stirn.

"Nesrin, ich…"

Aloth hielt inne.

"Du was?"

Die Angesprochene legte ihren Kopf ein wenig schief und wartete ab, ob der Magier seinen Satz noch zu Ende brachte. Dieser jedoch schüttelte den Kopf gar so, als hätte er etwas Dummes gesagt.

"Ich werde mich auf den Weg machen." sagte er schließlich.

"Oh." entfuhr es der Waldläuferin.

Gewiss war ihr der Gedanke gekommen das nun, wo ihre Aufgabe erledigt war, ihre Wege sich trennen würden. Irgendwann. Dass es noch in der gleichen Nacht geschah, nachdem sie den Tiefen von Sonne-im-Schatten entkommen waren, überraschte sie dennoch. Sehr sogar.

"Schon heute Nacht." flüsterte sie und es war mehr eine Feststellung als eine tatsächliche Frage. Aloth nickte schuldbewusst.

"Es gibt einiges, worüber ich nachdenken muss", begann er zu erklären, »und noch mehr, dass es zu erledigen gilt.«

"Wegen dem Bleiernen Schlüssel?"

Wieder ein Nicken.

"Aloth, Dich trifft keine Schuld." begann Nesrin ruhig zu sprechen.

"Und ich trage Dir auch nichts nach."

"Ich weiß." sprach er und Dankbarkeit lag ins einer Stimme.

"Du bist… eine gute Freundin. Du hast mir gezeigt, dass man… nun ja, dass man Dinge ändern kann."

Ein wenig in Verlegenheit geraten kratzte er sich am Kinn.

"Ich meine, ohne Dich würde ich vermutlich noch immer in Goldtal stehen und-"

"Nee."

Nesrin schüttelte bestimmt den Kopf.

"Würdest Du nicht. Iselmyr hätte gewiss dafür gesorgt – auf die eine oder andere Weise."

Amüsiert erinnerte sich die Orlanerin an ihre erste Begegnung zurück und daran, dass sie den Elfen vor einigen wütenden Dorfbewohnern hatte retten müssen. Iselmyr, eine frühere Inkarnation von Aloth, die wieder erwacht war und manchmal die Herrschaft über sein Mundwerk erlangte, hatte ihn damals wie so oft in Gefahr gebracht mithilfe von bösen Worten. Beinahe hätte es ihm zu jenem Zeitpunkt den Hals gekostet.

"Du weißt, was ich meine." erwiderte er ein wenig leiser.

"Ich habe gelernt, nicht stillzustehen. Nicht zu warten, bis jemand kommt und mir sagt, was ich tun soll. Nicht mein Vater, nicht der Bleierne Schlüssel und…"

Nesrin begann zu begreifen.

"Auch nicht ich?" vervollständige sie seinen Satz, wenn auch fragend.

"Auch nicht Du." bestätigte Aloth ihre Vermutung.

Für einen Moment wurde es still zwischen den beiden. Der Elf sah auf seine Füße hinab, trat etwas unruhig von einem auf den anderen.

"Was wirst Du nun tun? Also, was genau – außer nachzudenken?" fragte die blonde Orlanerin nach einer ganzen Weile.

"Der Bleierne Schüssel", begann Aloth und obgleich sein Blick noch immer auf den Boden gerichtet war, war Nesrin sich sicher, dass er eigentlich etwas ganz anderes vor seinem inneren Auge sah, "er ist gefährlich. Noch immer. Auch ohne Kopf kann diese Schlange beißen."

Entschlossen hob er nunmehr das Haupt und ballte seine Rechte zur Faust.

"Ich… wollte ihn zerstören, Nesrin. Jede einzelne Zelle."

"Und jetzt nicht mehr?"

"Ich weiß es nicht." presste er zwischen seinen Lippen hervor.

"Irgendwas in mir will glauben, dass es so etwas Furchtbarem, aus so etwas Finsterem auch etwas Gutes entstehen kann."

Überrascht und aus großen Augen heraus musterte Nesrin die Züge ihres Gefährten. Sie hatte nicht vergessen, wie die von ihm beschworenen Flammen nach Thaos‘ Körper geleckt hatten. Es war so, als hätte sich sein Zorn in ihnen manifestiert. Nun jedoch wirkte Aloth ruhiger.

"Dumm, nicht wahr?"

Wieder lächelte er.

"Vielleicht suche ich auch nur eine Entschuldigung, eine Ausrede dafür, dass ich Teil davon war. Oder ich versuche, etwas gutzumachen, was nicht gutzumachen ist."

Die beiden Schultern der Orlanerin zogen sich hoch.

"Versuchen kann man es doch." sagte sie.

"Ich meine, wenn es nicht klappt… Zerstörung kann man immer noch hinterherschicken."

Sie grinste keck.

"Ich mag Deine Idee, Aloth. Wirklich."

Dass ihm nunmehr, da er ihre Zustimmung hatte, eine große Last von den Schultern fiel, war in seinen Zügen zu erkennen. Aloth atmete tief ein.

"Das bedeutet mir viel." sagte er.

"Wenn Du willst", begann sie, nunmehr etwas leiser, "komme ich mit."

"Das wäre schön." gab er zur Antwort, doch ein Leid stand in seinem Blick und noch ehe er weitersprach wusste Nesrin, was nunmehr folgen wurde.

"Doch ich fürchte, ich muss das alleine tun. Ich habe viel zu wenig jemals alleine getan."

Obgleich der Elf deutlich älter war als sie, fühlte es sich für Nesrin seltsam an, ihn ziehen zu lassen. Er wirkte so leicht zu verwunden, so leicht zu erschüttern und zu zerstören. Doch genau deswegen, so vermutete sie, hatte er diese Entscheidung für sich getroffen.

"Ich kann Dich nicht überreden, das sein zu lassen, oder?"

"Ich schätze sehr, dass Du es versuchen würdest." schmunzelte er und auch die Orlanerin konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Sie merkte, dass sie noch immer die Tür festhielt und zog ihre Hand nunmehr von dieser zurück.

"Dann… ist das hier ein Abschied."

Wieder eine Feststellung.

"Ich wollte nicht einfach so gehen. Zumindest von Dir wollte ich mich verabschieden."

"Die anderen wissen nichts?"

"Nein."

Aloth schüttelte den Kopf.

"Ich wollte mich verabschieden und mich bedanken. Für alles."

Ihre Blicke trafen sich und in den dunkelblauen Iriden des Magiers erkannte Nesrin Aufrichtigkeit. Sie spürte, wie dies ihr Herz berührte, das so wund war von den letzten Monaten und den Gefühlen für Iovara, an welche es sich nunmehr erinnerte. Doch da war noch etwas Anderes.

"Aloth, alles was ich getan habe, habe ich gern gemacht."

Nun war sie es, die verlegen war. Sie fuhr sich mit den Fingerspitzen durch den Wirbel ihres blonden Haares, direkt in der Mitte ihres Hinterkopfes.

"Sehen wir uns wieder? Irgendwann?"

"Oh, das hoffe ich doch."

Es beruhigte sie, dass er es zumindest nicht ausschloss. Gleichzeitig jedoch war die Erkenntnis, dass er ging, nun auch in die letzte Faser ihres Leibes gesunken. Sie atmete tief durch und straffte sich. Sie wollte und konnte ihn nicht halten, erkannte sie doch, wie wichtig dieser Schritt für ihn war.

"Aloth?"

Sie winkte ihn mit ihrer Hand heran, als wollte sie ihm ein Geheimnis anvertrauen. Erst war der Elf überrascht, dann jedoch neigte er sich zu der viel kleineren Nesrin herab. Sie kam seinem spitzen Ohr zwar nahe, doch ihr Ziel war etwas anderes: ihre Lippen suchten und fanden seine Wange und hauchten einen Kuss auf diese nieder.

"Passe gut auf Dich auf, ja? Ich will Edér nicht erklären müssen, dass ich Dich habe in den Tod rennen lassen."

Mit roten Wangen richtete sich der Elf wieder auf.

"I-Ich…"

Nesrin winkte ab.

"Gute Reise wünsche ich Dir."

"Nesrin…"

Sie deutete an, die Tür wieder verschließen zu wollen und er hielt sie nicht auf dabei.

"Die wünsche ich Dir auch."
 

Mit einem leisen Klicken fiel die Tür ins Schloss und Nesrin starrte auf das Holz, aus welchem sie gebildet war. Es dauerte, ehe sie die leichten Schritte des Magiers vernahm, die sich entfernten. Sie wandte sich um, ließ den Rücken gegen die Tür fallen und glitt dann langsam an dieser hinunter, sodass sie schließlich mit angewinkelten Knien auf dem Boden saß. Sie wischte sich mit dem zu langen Ärmel ihrer Gewandung über ihr Gesicht, um die Tränen, die sich in ihren Augen gebildeten hatten, aus diesem zu entfernen. Lauter als nötig, wie, als wollte sie vor sich selbst protestieren, zog sie die Nase hoch.

"Ich will aber mitkommen…" flüsterte sie leise und nur zu sich selbst. Niemand antwortete ihr und die Nacht, die sie umgab, war stummer Zeuge der Tränen, die nun doch fielen.

Rückkehr nach Caed Nua (OC, Iovara)

Einige Wochen waren vergangen und Nesrin hatte sich von all ihren Gefährten verabschiedet. Sie kehrte zurück nach Caed Nua; die Festung war ihr in den letzten Monaten mehr als ein Zuhause geworden. Was genau es war, was zu dieser Gefühlssituation geführt hatte, das wusste sie nicht. Vielleicht war es ein Schuldgefühl dem ehemaligen Wächter der Festung, Maerwald, gegenüber. Oder aber es lag in dem freundschaftlichen Verhältnis, welches sie mit der Hüterin der Festung, der Dame im Thron, pflegte. Vielleicht verliehen aber auch die Erforschung und die finale Eroberung der Endlosen Pfade Nesrin den Eindruck, diese Festung nicht nur gefunden, sondern gezähmt und für sich wohnbar gemacht zu haben. Die restaurierten Mauern und den gebändigten Bewuchs dieser in den Blick zu schließen fühlte sich so oder so an, als kehrte man in das Haus seiner Kindheit zurück. Jedenfalls tat es dies für Nesrin. Sie blieb stehen, kaum dass die Festung in ihren Blick geraten war. Von der Anhöhe aus, auf welcher sie sich befand, hatte sie eine gute Aussicht auf das Bauwerk, welches sie so erfolgreich saniert und repariert hatte. Im Innenhof erkannte sie Bewegung – Wachpersonal und vielleicht auch einige Händler – und über den Türmen wehte das Banner Caed Nuas. Nesrin atmete tief ein, ehe sie sich wieder in Bewegung setzte.
 

"Komm, alter Freund." forderte sie Me’raash auf, der trägen Schrittes hinter ihr her trottete. Der Bär schien ebenso wie sie erfreut darüber, dass ein Ende ihrer langen Rückreise absehbar war. Es war ein Pfad voller Abschiede gewesen. Geblieben waren nur Nesrin selbst und ihr treuer pelziger Begleiter.
 

Sie erreichten die Osttore der Festung am späten Nachmittag. Die Wachen grüßten Nesrin höflich, jedoch nicht sonderlich aufgebracht. Weshalb sollten sie auch? Sie hatten keinerlei Ahnung oder Idee, wo die Herrin dieses Ortes so lange gewesen war und vielleicht war das auch gut so.
 

Im Inneren des Hofes erklangen die Geräusche von Schwertschlägen. Einige der angeheuerten Söldner, die die Sicherheit der Festung gewährleisteten, trainierten hier. Nesrin passierte gemeinsam mit Me’raash einige Bauten im Hof und blieb kurz neben den Fingern des Adra-Giganten stehen, der unterirdisch verborgen war und um welchen herum sich die Endlosen Pfade rankten. Sie dachte an den Herren aus der Tiefe zurück, an den seltsamen Kristalldrachen, der über ewige Zeiten hinweg von der Energie der Statue gelebt hatte. Nun war er fort, hatte Besitz ergriffen von einer der größten Drachenjägerinnen des Landes. Nesrin selbst hatte ihm dabei geholfen. Bereuen tat sie dies nicht, als Waldläuferin war sie mit der Beziehung von Jäger und Beute vertraut und wusste ebenso, wie rasch ein solches Verhältnis sich umzuwenden vermochte. Kurz berührte sie den Stein, der – anders als andere Gesteine – nicht kühl war unter ihren Fingerspitzen. Vielmehr erschien er angenehm warm, wie die Haut eines lebenden Wesens, lediglich deutlich härter.
 

"Willkommen zurück, Herrin von Caed Nua. Ich grüße Euch!" Die Stimme der Hüterin der Burg, deren Geist im Thron in der großen Empfangshalle eingelassen hatte, begrüßte Nesrin höflich und erfreut zugleich.

"Da Ihr zurück seid, darf ich hoffen, dass Eure Aufgabe von Erfolg gekrönt war?"

"Das war sie, ja." Die Orlanerin nickte kräftig und schleppte sich in die Mitte der großen Halle. Hier lud sie ihre schweres Reisegepäck ab und massierte sich die schmerzenden Schultern.

"Das war sie wirklich."

"Das freut mich, zu hören, Herrin. Wir haben viel zu tun. Es liegen einige Briefe für Euch vor und in den Gästezimmern warten einige Bittsteller, darauf, dass-"

"Nicht heute." winkte Nesrin ab.

"Vielleicht auch nicht morgen."

Kurz war es still.

"Ich verstehe, Herrin. Die Leuchthöhle ist frisch gereinigt und Euer Bett mit sauberen Laken bezogen."

"Das wollt' ich hören." schmunzelte Nesrin und machte auf dem Absatz kehrt.

"In zwei Tagen können wir über alles sprechen."

"Sehr wohl, Herrin, sehr wohl."
 

Die Orlanerin suchte das große Gebäude neben dem Haupthaus der Festung auf. Es war verziert und lud zum Eintreten ein. Im Inneren war es warm, es roch nach köstlichen Speisen und ein wenig nach Zuhause. Nesrin bleib im Türrahmen stehen und sog den Duft tief in ihre Lungen. Me’raash verblieb draußen, das große Tier hatte sich niemals sehr für die Gebäude der Zweibeiner begeistern können.

"Aber wehe, ich muss Dich erst aus dem Winterschlaf wecken, wenn ich Deine Hilfe brauche!" ermahnte Nesrin ihn und er antwortete mit einem Brummen.

"Schon in Ordnung."

Sie tätschelte ihm das Fell.

"Ruh' Dich aus, alter Freund."
 

Nesrin grüßte einige Wachen wie auch einige Gäste, die sich im Gebäude herumtrieben, kurz. Sie sah die Enttäuschung in ihren Gesichtern, als sie kein Gespräch mit ihnen suchte. Vermutlich warteten sie schon seit Tagen, wenn nicht Wochen darauf, von ihr empfangen zu werden. Für den Moment jedoch war ihr dies egal. Nesrin betrat ihre Kammer. Im Kamin brannte ein Feuer, schwerer Teppich dämpfte jeden Schritt und der Duft wohlriechender Kräuter ging von ihrem Betttuch aus. Das große Himmelbett empfing die hierfür viel zu kleine Orlanerin mit offenen Armen. Nesrin ließ sich mit dem Gesicht voran auf das Kopfkissen fallen und sank sogleich ein darin.

"Zuhause." murmelte sie leise zu sich selbst.
 

Du hast Dir etwas Frieden verdient."
 

Iovaras vertraute Stimme drang an Nesrins Ohr und sogleich fuhr die Orlanerin hoch. Ihre Ohren zuckten nervös und eine plötzliche Gänsehaut sorgte dafür, dass ihr feines kurzes Fell sich am ganzen Körper aufstellte. Sie war allein in dem Raum. Natürlich war sie das. Iovara war fort und dies für immer. Nun saß die Orlanerin an der Bettkante und ließ ihre Beine ins Leere baumeln. Sie war frei, dachte sie mit einem traurigen matten Lächeln. Wie seltsam es doch war, jemanden durch die Erinnerungen eines anderen Ichs zu lieben – und zu vermissen. Zu betrauern.
 

Ein Teil von ihr hätte die Prophetin, die Feindin des Bleiernen Schlüssels, gerne befreit. Nicht ihren Geist, sondern sie. Doch das war nicht möglich. Seelen mochten wiederzukehren oder als Detail in dieser Welt verbleiben. Doch Leiber vergingen und Iovaras fleischliche Hülle war vor vielen, vielen Jahren schon gefallen. Nein, es war zu spät gewesen.
 

Nesrin sank nach hinten und starrte die Unterseite der mit Stoff behangenen Decke ihres Himmelbetts an. Warum nur, warf sie sich vor, war ihr Ich damals, ihre frühere Inkarnation nur so ein verdammter Feigling gewesen? Die falschen Götter der Engwithaner, der Bleierne Schlüssel… beide Parteien hatten sie glauben und fühlen lassen, dass sie etwas bedeutete. Dass die Sache, für die sie einstand, etwas bedeutete. Dass es einen Sinn hinter all dem gab. Hier und heute wusste die junge Orlanerin, dass dem nicht so war. Doch dies tröstete ihr altes Herz und ihre gereifte, viel zu schwere Seele nicht mehr. Sie fühlte sich plötzlich sehr allein. Die Knie zog sie dicht an den Körper heran und legte ihre Arme darum. Wie sie so da lag erinnerte sie an einen Fötus im Mutterleib. Obgleich jedoch der Raum um sie herum warm und wohlig war, war ihr keinesfalls so, als wäre sie beschützt im Körper einer liebenden Mutter.
 

Sie vermisste dieses Gefühl gerade jetzt und plötzlich kam ihr in den Sinn, wie es an unzählige Hohlgeborene verschwendet wurde. Ihre Seelen hatten ihren Körper nie erreicht, jede Liebe, jedes Gefühl der Zuneigung prallte ab an einer leeren Hülle, sank in die Tiefe eines ungefüllten Brunnens nur, um dessen Grund niemals zu erreichen.
 

"Niemals mehr werden sie leer geboren."
 

Da war sie wieder, ihre Stimme. Dieses Mal sah Nesrin sich nicht um. Sie wusste, dass niemand da sein würde, und gelangte zu der Gewissheit, dass das, was sie hörte, eine Erinnerung war. Eine Idee davon, wie ihre einstige Liebste war und wie sie mit viel Verständnis und noch mehr Liebe jeden ihrer Fehler verziehen hatte. Ja, niemals mehr. Ein beruhigender Gedanke. Nesrin tastete nach der Bettdecke und zog sich diese bis zur Nasenspitze über den kleinen Körper. Fast schien es, als ginge sie verloren in diesem großen Bett.
 

Der Schlaf umfing sie sanft und schwer. Er war traumlos, das erste Mal seit vielen Monaten, und Nesrin war dankbar dafür. Endlich, so schien es ihr, würde nicht nur ihr Körper, sondern auch ihr Geist ruhen können. Ein Luxus, der ihr viel zu lange schon nicht mehr vergönnt gewesen war.
 

Vor den Fenstern Caed Nuas begannen in der Dunkelheit der nunmehr folgenden Nacht, die ersten Schneeflocken für dieses Jahr vom Himmel herabzufallen. Es schien, als tanzten die Seelen, die Nesrin gerettet hatte, vor Freude ob der Tatsache, dass sie zurückkehren durften zum Rad Beraths. Ihnen war eine zweite Chance gegeben wurden und das erfüllte sie mit Freude; sie frohlockten in großen schweren Flocken, die sich nach und nach auf die Mauern der Festung legten. Caed Nua – Die Festung der Wächterin.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück