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DEATH IN PARADISE - 02

Mord, Lügen und Video
von

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Sportlicher Einsatz

Vor der Bar von Catherine Bordey, dem LA KAZ, herrschte an diesem Samstagvormittag bereits um 08:30 Uhr reger Trubel. Deutlich mehr Trubel als sonst, denn heute stand der alljährlich stattfindende Zehn-Meilen-Lauf an. Ein Teamwettbewerb, bei dem vier Personen pro Team liefen und bei dem alle vier gemeinsam ins Ziel kommen mussten. Das gesamte Team war also nur so stark, wie ihr schwächstes Glied in der Kette.

Es war mehr als zehn Jahre her, dass die Polizei der Insel, oder auch nur einer der Beamten mitgelaufen war, denn jedesmal hatte sich der Wettbewerb mit einer Mordermittlung überschnitten. Darum wirkte Commissioner Selwyn Patterson umso vergnügter, als er zur Bürgermeisterin der Insel sah und meinte: „Ich freue mich, dass die Polizei dieser Insel in diesem Jahr mit dabei ist. Zumal unser neuer Inspector einen recht durchtrainierten Eindruck macht.“

Die hagere Französin nickte dem beleibten Mann zu. „Florence meinte, der Chief hätte sie und den Rest des Teams ziemlich auf Trab gebracht, in den letzten drei Wochen. Offensichtlich nimmt Derrick Faulkner den Wettbewerb nicht so locker, wie die drei es sich wohl erhofft hatten.“

Patterson grinste vergnügt und schob seine Dienstmütze auf dem Kopf zurecht. „Das gefällt mir an dem neuen Detective-Inspector. Die Polizisten der Insel, die sich im täglichen Außeneinsatz befinden, sollten fit sein. Leider hatten wir, was das betrifft, über einen viel zu langen Zeitraum, bei manchen Beamten einige Defizite. Dieser Lauf ist gut für das Image der Polizei von Saint-Marie. Hoffe ich zumindest.“

Etwas erstaunt realisierte Catherine Bordey, dass der Commissioner diesen Lauf offensichtlich ebenfalls weniger locker sah und insgeheim hoffte sie nun, der neue Inspector und sein Team würden wirklich gut abschneiden.

„Da kommen unsere Helden“, lachte die Barbesitzerin als sie das Polizeiteam in der Menge der bereits anwesenden Leute entdeckte.

„Ja, und der Chief hat offensichtlich seinen Fanclub mitgebracht“, gab Patterson bedächtig zurück. Dabei deutete er knapp auf eine hochgewachsene Frau von Anfang dreißig und auf ein Mädchen von gerade 18 Jahren. Zu letzterem, so wusste Patterson, hatte der Inspector eine Art Vater-Tochter-Beziehung aufgebaut. Mit der Frau führte Faulkner eine lockere Beziehung, deren genaue Natur Patterson noch nicht ganz durchschaut hatte.

Der Commissioner und Catherine begrüßten die Neuankömmlinge, wobei Patterson sowohl das Mädchen, als auch die hochgewachsene Frau, prüfend musterte.

Das Ermittler-Team trug die gleichen Laufshirts und Lauftights, mit der Aufschrift POLICE SAINT-MARIE und dem Logo der Polizei von Honoré. Hauptsächlich waren die Sachen in den Farben Gelb und Blau gehalten.

Derrick Faulkners Freundin Céline Durand und Dayana Tanguy schienen sich abgesprochen zu haben, denn beide trugen Bluejeans und stahlblaue T-Shirts dazu. Dem Commissioner fiel dabei auf, dass das Mädchen gar nicht mehr so abgerissen aussah, wie noch vor drei Monaten, kurz nach ihrer Verhaftung durch Chief-Inspector Faulkner. Auch ansonsten wirkte die eben Achtzehnjährige gepflegter und deutlich glücklicher. Ein Umstand, an dem Faulkner seinen Anteil hatte.

Selwyn Patterson verzog unmerklich die Lippen zu einem wohlwollenden Lächeln, als er daran dachte, dass der Inspector für diese Entwicklung riskiert hatte, eins von ihm aufs Dach zu bekommen. Natürlich hatte er Faulkner damals zurechtgewiesen, auch wenn der Brite nicht ahnen konnte, wie sehr er dessen Eigenmächtigkeit insgeheim guthieß. Wer ahnte, was aus dem Mädchen geworden wäre, hätte der Inspector streng nach Vorschrift agiert.

Nach dem allgemeinen Hallo, wandte sich der Commissioner an Derrick Faulkner und Dayana, die direkt neben ihm stand. „Ich entführe Ihnen die junge Dame für einen Augenblick, wenn Sie erlauben, Chief.“

Das Mädchen sah den wuchtigen Polizeichef fragend an, während Faulkner etwas gelassener wirkend erwiderte: „Natürlich, Sir.“

Selwyn Patterson sah nun das Mädchen an und deutete, beruhigend lächelnd, mit der Rechten zur Seite.

Dayana sah kurz zum Chief bevor sie Patterson folgte. Außer Hörweite der Übrigen sagte der Commissioner ohne Einleitung: „Mir ist zu Ohren gekommen, dass Catherine mit dir sehr zufrieden ist, wenn du bei ihr aushilfst. Sie beschrieb dich auch als sehr fleißig.“

Das Gesicht des Mädchens leuchtete auf, bei diesen Worten. „Ich bin dankbar dafür, dass sie mir eine Chance gibt, etwas Geld zu verdienen. Außerdem hat sie mir ein kleines Zimmer gegeben. Aus dem Appartement der Stadt musste ich ja ausziehen, nachdem ich meine Strafe abgeleistet hatte.“

Das Lächeln des beleibten Mannes vertiefte sich etwas. „Nun, was würdest du davon halten, wieder dort einzuziehen?“

Etwas misstrauisch erkundigte sich Dayana: „Wie meinen Sie das?“

„Ich meine damit, dass die Stadt immer noch eine Auszubildende für den Beruf der Sekretärin im öffentlichen Dienst sucht. Für den Fall, dass du dich für eine solche Ausbildung entscheiden würdest, könnte ich es ermöglichen, dass du wieder das Appartement benutzen darfst, da du niemanden hast, der dich unterstützen kann.“

Bei seinem letzten Satz zwinkerte der Commissioner dem Mädchen zu, denn natürlich wusste er, dass Faulkner sich jederzeit um Dayana kümmern würde. Ebenso, wie Catherine Bordey, die das Mädchen längst in ihr Herz geschlossen hatte.

Freudig überrascht sah Dayana den Polizisten an und nahm ihn spontan in die Arme, womit Patterson, dem das Ganze etwas peinlich zu sein schien, nicht gerechnet hatte. Erst nach einem Moment ließ das Mädchen ihn wieder los und erwiderte strahlend: „Ich würde eine solche Ausbildung sehr gerne machen, Sir.“

Seine Fassung schnell wiedergewinnend meinte der Commissioner: „Dann komm morgen Vormittag in mein Büro und wir besprechen die Einzelheiten. Jetzt wollen wir uns erst einmal den Start unseres Teams ansehen.“
 

* * *
 

Derrick Faulkner hatte seinen rechten Arm um die Hüfte von Céline gelegt und sah Dayana und Patterson stirnrunzelnd hinterher, als sie sich etwas von ihnen absetzten.

Die schlanke Frau ahnte, was in dem Mann an ihrer Seite vorging und mit einem warmen Ton in der Stimme meinte sie: „Dayana hat sich hervorragend entwickelt. Ich habe beobachten können, wie aus einem unglücklichen, verlorenen Mädchen eine glücklich wirkende junge Frau wurde. Das hat sie dir zu verdanken, Derrick.“

Der athletische Enddreißiger lächelte nur.

Céline verstand, was ihn bewegte und sehr leise, sodass nur er ihre Worte verstehen konnte, raunte sie: „Dir sind die Menschen wichtig. Das macht dich ungeheuer wertvoll.“

Seine Wange streichelnd verschmolz der Blick der Frau mit seinem. Dann löste sie sich lächelnd von ihm und meinte unbekümmert: „Ich lass dich dann mal mit deinem Team alleine, damit du dich auf den kommenden Wettkampf fokussieren kannst. Dayana und ich werden dich und dein Team am Start anfeuern.“

Sie küssten sich flüchtig. Im nächsten Moment verschwand Céline in der Menge und Derrick Faulkner begab sich zu Detective-Sergeant Florence Cassell, Sergeant Sarah Dechiles und Officer Wellesley Karr.

Florence, die kleinste des Teams, wirkte relativ entspannt, was in demselben Maß auch auf den stets zufrieden wirkenden, jungen Officer zutraf.

Sarah Dechiles hingegen machte einen etwas angespannten Eindruck, was Derrick Faulkner dazu veranlasste, aufmunternd in ihre Richtung zu blicken und zu sagen: „Das Ding werden wir schon schaukeln, Sergeant.“

Die hochgewachsene Mittdreißigerin nickte nur und der Inspector sah fragend zu Florence Cassell, die langsam zu ihm kam.

Sich etwas von Sarah Dechiles abwendend raunte DS Cassell ihrem Vorgesetzten zu: „Der Lauf scheint für Sergeant Dechiles sehr wichtig zu sein, Sir. Vielleicht hilft es, wenn Sie vor dem Lauf mit ihr darüber reden.“

Der Inspector zögerte für einen kurzen Moment, bevor er meinte: „In Ordnung, kann ja nicht schaden.“

Damit schritt Faulkner zu seiner Kollegin. Als sie ihn bemerkte und mit funkelndem Blick ansah, spürte er, dass Florence recht gehabt hatte. Was ihn im Grunde nicht hätte verwundern dürfen, denn inzwischen wusste er ja, dass Florence Cassell einen sehr guten Riecher hatte, egal ob nun dienstlich oder in privaten Dingen.

Sarah Dechiles bemerkte den Inspector erst, als er direkt neben ihr stand. Fragend sah sie ihn an, da sie spürte, dass ihn etwas bewegte. „Flammende letzte Worte, Sir?“

Faulkner deutete mit den Augen zu einem etwas ruhigeren Platz und erwiderte: „Nein, nichts in der Art, Sergeant.“

Der Inspector bewegte sich weg von der Menge und Sarah Dechiles folgte ihm. Als sie unter sich waren, meinte Faulkner: „Dieser Lauf scheint Ihnen sehr viel zu bedeuten? Wohl mehr, als jedem anderen im Team?“

Der Blick der Frau nahm die Antwort im Grunde vorweg. „Sie haben recht, Chief.“

Für einen kurzen Augenblick glaubte Faulkner nicht mehr von Sarah erfahren zu können, doch dann sagte sie, sich innerlich überwindend: „Ich war kein Wunschkind, deshalb bekam ich nur sehr wenig Liebe von meiner Mutter. In der Schule habe ich mich angestrengt, um sie stolz zu machen. In vielen Fächern war ich auch ganz gut, jedoch nicht im Sport. Damals litt ich an einer Drüsenkrankheit und war ein ziemliches Pummelchen, weswegen ich von einigen meiner Mitschüler des Öfteren gehänselt wurde. Erst ein Jahr vor Schulende hatte meine Mutter die Mittel zusammen, damit meine Krankheit behandelt werden konnte.“

Die Frau unterbrach sich kurz, und fuhr dann fort: „Nach meiner Genesung habe ich dann damit angefangen regelmäßig Sport zu treiben. Zum ersten Mal, während meiner Schulzeit, wurde ich nicht nur von den Jungs in meiner Klasse wahrgenommen, sondern es bestand auch erstmals eine reelle Chance, eine der Sport-Urkunden zu erringen. Als die Schulwettkämpfe der Notre-Dame Highschool, zum Ende des Schuljahres hin, stattfanden, erkrankte ich jedoch kurz zuvor an Windpocken. Deshalb haderte ich damals mit dem Schicksal, denn ich hatte darauf gehofft, meine Mutter endlich auch mit einer guten sportlichen Leistung beeindrucken und damit ihre Aufmerksamkeit erringen zu können. Als sie starb hatte ich nicht den Eindruck, ihren Ansprüchen jemals genügt zu haben.“

„Ich denke, dass es nicht an Ihnen lag“, erwiderte Faulkner rau. „Ich kenne Sie zwar nicht sehr lange, doch ich weiß ganz sicher, und zwar, dass sie eine Frau mit sehr großem Potenzial sind. Außerdem sind sie eine überdurchschnittlich gute Polizistin. Ich bin sehr stolz darauf, Sie in meinem Team zu haben, Sarah.“

Die Polizistin sah ihren Vorgesetzten mit glänzenden Augen an. „Das bedeutet mir sehr viel, Sir.“

Sarah Dechiles räusperte sich und fügte betont scherzhaft hinzu: „Also, wie sieht es aus, Chief? Gewinnen wir das Ding oder gewinnen wir das Ding?“

„Wir gewinnen das Ding!“, gab der Inspector lachend zurück. „Aber jetzt sollten wir uns langsam zum Start begeben. Nur noch zwei Minuten und es geht los.“
 

* * *
 

Die Läufer der Teams hatten am Start Aufstellung genommen. Nur noch wenige Augenblicke und der Startschuss würde erfolgen – exakt eine halbe Stunde nachdem die Läufer des Einzelwettbewerbs losgelaufen waren. Traditionell starteten die Teams der Feuerwehr und der Polizei ganz vorne, sofern sie teilnahmen. Also standen neben dem Team der Polizei zwei sportlich aussehende Männer und Frauen des Saint-Marie-Fire-Departments.

Als Derrick Faulkner zur Seite sah, bemerkte er das Feixen im Gesicht einer der beiden Frauen, die aufrecht neben ihm stand. Abwechselnd, mal den rechten, mal den linken Fuß in die Hand nehmend und nach hinten bis zu ihrem Po ziehend, meinte sie spöttisch: „Seien Sie froh, dass wir dabei sind, Chief. Falls Sie unterwegs einen Kreislaufkollaps erleiden, können wir gleich vor Ort Erste Hilfe leisten.“

Der Inspector schmunzelte und nahm das Bild der jungen Frau in sich auf. Sie konnte bestenfalls Mitte zwanzig sein. „Hochmut kommt vor dem Fall, sagt man in England. Was halten Sie von einer kleinen Nebenwette?“

„Machen Sie ein Angebot“, erwiderte die junge Frau keck.

Der Inspector überlegte nicht lange, sondern antwortete grinsend: „Momentan mache ich mein Domizil sturmfest und bessere einige Schäden am Dach aus. Wenn mein Team vor dem ihren ins Ziel kommt, dann helfen Sie mir eine Woche lang nach Dienstschluss dabei.“

Für einen Augenblick lang schien sich die Frau unsicher zu sein, ob sie darauf eingehen sollte, doch dann meinte sie grinsend: „Das passt gut, Chief. Ich renoviere nämlich demnächst die Zimmer in meinem Häuschen und ich habe mich bereits gefragt, wer mir dabei wohl eine Woche lang nach Dienstschluss helfen könnte.“

Derrick Faulkner streckte der jungen Frau seine Hand entgegen und sie schlug ein. „Also abgemacht. Die Wette gilt.“

Die Feuerwehrfrau konzentrierte sich wieder und Faulkner ließ seinen Blick über das Team des SMFD schweifen. Der neue Feuerwehr-Chief, der ebenfalls Brite war, schien etwas älter zu sein, als er selbst. Dessen hagere Statur ließ nicht darauf schließen, wie gut er laufen konnte. Den zweiten Mann im Team schätzte er etwas älter, als Sarah Dechiles. Dafür wirkte die zweite Frau im Feuerwehrfrau um einige Jahre jünger, als Florence Cassell. Alle vier wirkten fit und der Inspector fragte sich insgeheim, ob er sich mit seiner Wette nicht zu vorschnell und zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte.

Florence Cassell unterbrach die Gedankengänge des Detective-Inspectors, indem sie bestimmt erklärte: „Damit Sie klarsehen, Chief. Falls Sie die Wette verlieren sollten baden Sie das alleine aus.“

Faulkner sah in die fast schwarzen Augen seiner Kollegin und erwiderte grimmig: „Dann sorgen Sie gefälligst dafür, dass es nicht so weit kommt, indem Sie ihr Bestes geben.“

Sie konzentrierten sich, denn gleich darauf hob der Linienrichter seine Schreckschuss-Pistole in die Luft. Schnell sah Faulkner zur Seite und zwinkerte Céline und Dayana zu.

Einen Moment später ertönte der Startschuss und sie rannten los. Jetzt galt es.

Schon auf den ersten drei Meilen holte das Team der Feuerwehr einen Vorsprung von mehr als einhundert Metern heraus. Doch darüber machte sich Faulkner, der das Tempo für sein eigenes Team vorgab, keine Gedanken. Er war die gesamte Strecke des Wettbewerbes mehrere Male gelaufen und hatte beschlossen, die ersten vier Meilen, auf denen es konstant leicht bergauf ging, nicht zu sehr aufs Tempo zu drücken. Das würde nur nach hinten losgehen. Dabei hoffte er dennoch inbrünstig, dass die Männer und Frauen der Feuerwehr nicht wirklich so viel besser waren, wie es momentan den Anschein hatte.

Sarah Dechiles, die auf einer Höhe mit Faulkner lief, schienen ähnlich Gedanken umzutreiben. Vielsagend deutete sie nach vorne.

Der Inspector nickte beruhigend. „Es heißt: Am Arsch ist die Ente fett. Die schnappen wir uns auf der letzten Meile, Sarah.“

Der Brite vergewisserte sich, dass Florence und Wellesley nicht zurückfielen und das Tempo problemlos mitgehen konnten.

Officer Karr, der den Blick bemerkte, deutete kurz mit dem Daumen nach oben.

Als das Team der Polizei von Honoré den höchsten Punkt der Strecke erreicht hatte, stellte Faulkner zufrieden fest, dass er das Tempo in etwa richtig berechnet hatte. Das Gefühl, nach einigen hundert Metern geradeaus die zweite Luft zu bekommen, bestätigte ihm das. Nach einer weiteren halben Meile verschärfte der Inspector das Tempo. Er machte ein zufriedenes Gesicht, als sie sich spürbar immer weiter an das in Front liegende Team der Feuerwehr von Saint-Marie heranschoben. Das gab auch den anderen Mitgliedern seines Teams einen spürbaren Auftrieb.

Alles schien genau so zu funktionieren, wie es sich Derrick Faulkner vorgestellt hatte. Etwas weniger, als zwei Meilen vor dem Ziel passierte es dann: Der Brite trat auf eine lockere Asphaltplatte und knickte mit dem rechten Fuß um.

Als seine Kameraden zu ihm rannten, rief er Florence ächzend zu: „Rennen Sie mit Wellesley weiter und machen Sie das Tempo. Ich brauche Sarah bei mir, damit sie mich wieder an Sie beide heranführt. Los schon!“

Die beiden angesprochenen folgten der Anweisung.

Sarah, die den Inspector erreicht hatte und ihn besorgt musterte. „Wenn Sie Schmerzen haben, Sir, dann geben Sie auf. Das hier ist nur ein sportlicher Wettkampf.“

Der Blick, mit dem Faulkner die Frau musterte, sagte ihr, dass dies keine Option für ihn war. Aufstöhnend trat der Brite einige Male auf und setzte sich wieder in Trab. Zwar jagte bei jedem Schritt ein ziemlicher Schmerz durch sein Fußgelenk, doch er verbiss ihn sich krampfhaft, bis der Schmerz in den Hintergrund trat und er nach einer Weile fast wieder rund lief. Dabei feuerte er Sarah Dechiles an: „Sie müssen das Tempo nun so gestalten, dass wir auf den letzten einhundert Metern an denen von der Feuerwehr vorbeiziehen. Ich bleibe Ihnen auf den Fersen und lasse mich quasi von Ihnen ziehen.“

Sarah, die es aufgegeben hatte ihren Vorgesetzten zur Vernunft zu bringen, folgte seinem Wunsch und legte ein ordentliches Tempo vor. Unmerklich schoben sich die beiden wieder an das vor ihnen laufende Team der Feuerwehr heran, zu dem Florence und Wellesley nun beinahe aufgeschlossen hatten. Die Markierung der letzten Meile hatten sie bereits hinter sich gelassen. Meter um Meter machten sie gut.

Auf den letzten fünfhundert Metern, als sie bis auf zehn Meter aufgeschlossen hatten, raunte der Inspector seiner Untergebenen zu: „Wenn wir am Feuerwehrteam vorbei sind dann übernehmen Sie die Spitze und machen nochmal richtig Dampf, Sarah.“

Als sie fast auf derselben Höhe waren, wie die Läufer des SMFD, zog Sarah Dechiles das Tempo an und Derrick Faulkner hielt mit, obwohl sich der Schmerz in seinem Fußgelenk deutlich verstärkte. Doch das etwas genervte Gesicht der Feuerwehrfrau, mit welcher er am Start seine Wette abgeschlossen hatte, ließ ihn das im Moment vergessen. Fast etwas amüsiert zwinkerte er der jungen Frau zu, als er sich an ihr vorbeischob.

Wenig später zerriss Sarah Dechiles, die noch immer ganz vorne lief, das zuvor über die Straße gespannte Zielband und Faulkner war erleichtert, als er, den Schluss machend, etwa zehn Meter vor der Spitzenläuferin des Feuerwehrteams über die Zielmarkierung lief.

Der Jubel der Zuschauer sank für ihn zu einem hohlen Brausen herab, als Sarah, die sofort zu ihm gerannt war, ihn in ihre Arme schloss. Gleich darauf hatten ihn auch Wellesley Karr und Florence erreicht und gemeinsam hüpften sie um die Wette, bis Faulkner schmerzhaft das Gesicht verzog. Erst jetzt fiel seinen Kameraden wieder ein, dass er unterwegs umgeknickt war und besorgt erkundigte sich Florence bei ihm: „Wie geht es ihrem Fußgelenk, Sir.“

„Ziemlich mäßig“, rang sich der Mann ab. Erst jetzt, da der Adrenalinspiegel sank, spürte er in vollem Umfang, was er seinem lädierten Fußgelenk zugemutet hatte.

Bevor sich Florence allzu viele Gedanken um seine Gesundheit machen konnte, wurde sie von Sarah Dechiles umarmt, die immer noch ganz unter dem Eindruck des gewonnenen Wettbewerbes stand. Im nächsten Moment war die Reihe an Wellesley Karr, der etwas hilflos wirkte.

Als Sarah auch den Inspector umarmte, da spürte der Mann, wie ihre Schultern zuckten und beruhigend nahm er sie in die Arme. Dabei raunte er leise: „Das haben Sie hervorragend gemacht, Sergeant Sarah Dechiles. Sie haben das Team zum Sieg geführt.“

Die hochgewachsene Frau riss sich zusammen und beeilte sich, ihre überbordenden Emotionen wieder in den Griff zu bekommen. Sich rasch über die Augen wischend strahlte sie den Inspector an und lächelte verlegen.

Derrick Faulkner nickte nur bedeutungsvoll, bevor er seine Untergebene freigab und auch Florence und Karr kurz umarmte. So fiel die kleine Episode nicht so sehr auf und Sarah erhielt die Gelegenheit, sich wieder zu sammeln.

Später hätte Faulkner nicht sagen können, wann Céline an seine Seite getreten war. Auch sie umarmte ihn und fragte stirnrunzelnd: „Was ist unterwegs passiert? Ich habe gemerkt, dass du nicht ganz rund ins Ziel gelaufen bist.“

„Umgeknickt“, erwiderte Faulkner lakonisch.

Céline stemmte ihre Fäuste in die Hüften und funkelte den Briten kritisch an. „Und da hattest du keine bessere Idee, als einfach weiterzulaufen?“

„Ich hätte sonst eine Wette verloren“, verteidigte sich Faulkner augenzwinkernd und sah zur anderen Seite, als auch Dayana sich endlich einen Weg zu ihm gebahnt hatte.

Auch das Mädchen umarmte ihn kurz und meinte: „Sie haben es geschafft. Da wird sich der Commissioner aber freuen. Ach so, er hat mir eine Ausbildung bei der Stadt angeboten. Morgen werde ich mit ihm über die Einzelheiten reden.“

„Hey, das ist ja toll“, freute sich Faulkner mit dem Mädchen und auch Céline beglückwünschte sie.

„Chief, die Presse will ein Foto von den Siegern machen!“, rief ihm Wellesley Karr durch den Trubel zu.

Bedauernd die Frau und das Mädchen an seiner Seite ansehend seufzte der Inspector: „Ich fürchte, die Pflicht ruft, bevor ich endlich etwas zur Ruhe kommen kann.“

Damit bahnte sich Faulkner einen Weg durch die Menschentraube.

Es dauerte etwas bis sich die Menge etwas geteilt hatte, damit der Fotograf des SAINT-MARIE-LEDGER seine Fotos machen konnte. Eins davon zusammen mit dem Commissioner, der sichtlich zufrieden wirkte. Als Überraschung traten am Schluss die beiden Feuerwehrfrauen an Faulkners Seite und hauchten ihm gleichzeitig einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Auch das hielt der Fotograf mit der Kamera fest und die beiden Damen des SMFD sahen ihn gleichermaßen spitzbübisch an. Wobei der Inspector ahnte, dass sich dieses Foto zumindest auf der Website des LEDGER wiederfinden würde.

Bevor sich die beiden Frauen des SMFD wieder entfernen konnten, erinnerte Faulkner die jüngere von ihnen: „Ich hole Sie dann morgen Abend um 18:00 Uhr ab.“

Die junge Frau tat sehr erstaunt: „Wie meinen Sie das, Chief?“

„Haben Sie etwa unsere Wette vergessen?“

Die junge Frau schüttelte resignierend den Kopf. „Nein, aber ich hatte gehofft, Sie würden die Wette vergessen.“

Faulkner lachte. „Wettschulden sind Ehrenschulden, sagt man in England.“

„Verdammt.“

Der Polizist bemerkte, dass die Frau nicht wirklich zerknirscht war und meinte grinsend: „Ach was, auf dem Dach eines Hauses zu arbeiten und für Sicherheit zu sorgen muss doch genau ihr Ding sein, Miss…“

„Camara. Nalani Camara.“

„Ich hoffe, Sie trinken ihr Feierabend-Bier weder geschüttelt noch gerührt“, spöttelte Faulkner und lachte vergnügt. „Also dann bis morgen Abend, Miss Camara.“

Sie lächelten sich an, bevor sich beide wieder zu ihren eigenen Freunden und Kameraden begaben.

Florence Cassell sah vielsagend auf die Siegerurkunde in Sarah Dechiles Händen, die ihnen von der Bürgermeisterin verliehen worden war, als Faulkner bei ihnen ankam. Der Sergeant schien sie gar nicht mehr loslassen zu wollen.

Der Detective-Inspector räusperte sich und fragte unvermittelt in die Runde: „Was machen wir nun mit dieser Urkunde. Sie müsste eigentlich im Revier an die Wand. Blöd ist nur, dass wir dort keinen Platz haben. Bei mir wäre sie auch fehl am Platz. Die Luft dort ist viel zu salzhaltig und würde das Dokument selbst unter Glas angreifen.“

Wellesley Karr sah seinen Vorgesetzten erstaunt an. Erst als der Brite einen beschwörenden Blick aufsetzte, verstand er und meinte: „Meine Bude ist zu klein dafür.“

Florence lehnte ebenfalls rasch ab und seufzend meinte Faulkner zu Sarah: „Bitte sagen Sie mir, dass es in ihrem Heim einen passenden Platz dafür gibt.“

Die Angesprochene strahlte und sah in die Runde. „Danke, Leute.“

Später, als sich seine Untergebenen, der Commissioner und Dayana bereits von Faulkner verabschiedet hatten und sich die Menge verlief, hakte sich Céline bei ihm unter. Gemeinsam in Richtung des Polizeiwagens gehend fragte die Frau nachdenklich: „Sieht so aus, als hättest du heute neue Kontakte zur Feuerwehr von Saint-Marie geknüpft.“

Der Inspector runzelte die Stirn. „Du wirst mir doch nicht etwa eifersüchtig? Ich dachte, du willst keine feste Beziehung?“

„So ist es auch – und ich bin nicht eifersüchtig.“

Faulkner nickte, zufrieden mit dieser Antwort. Als sie den Land-Rover erreichten und einstiegen, entging dem Briten der seltsame Blick von Céline. Im Moment dachte er nur noch daran, endlich unter die Dusche zu kommen und sein Fußgelenk zu verbinden.

Eine Leiche im Auto

Stille lag über der Insel Saint-Marie. Jene Stille der kurzen Zeitspanne am frühen Morgen, in der man manchmal zu spüren glaubt, dass die Welt den Atem anhält.

Derrick Faulkner blickte kurz über die Schulter ins Innere seiner Hütte, hinüber zum Bett in dem Celine friedlich schlief. Er sah sie kaum, doch schon das Wissen darum, dass sie dort war zauberte ein Lächeln auf die Lippen des unbekleideten Mannes.

Nach einem Moment wandte sich der Inspector ab und sah nach links. Dort im Osten zeigte sich, dicht über dem Horizont, ein erster fahler Lichtstreifen und kündigte den nahenden Sonnenaufgang an. Faulkner liebte diese Zeit des Tages. Leider bekam er sie viel zu selten mit. Doch an diesem Sonntagmorgen hatte ihn irgendetwas aus dem Schlaf geholt, ohne dass er sagen konnte was es war. Für einen Moment hatte er geglaubt, etwas Ungewöhnliches gehört zu haben, als er sich zwischen Traum und Erwachen befunden hatte. So hatte er in die Nacht hinaus gelauscht, doch nur das vernommen, was für diese Zeit des Tages normal war. Das leise Rauschen des Meeres und den Passatwind zwischen den großen Palmblättern der Bäume, die seine Hütte einrahmten.

Zu seiner Erleichterung war Céline gestern nicht weiter auf seine Frage eingegangen, die er ihr stellte, bevor sie nach dem 10-Meilen-Lauf aufgebrochen waren. Der Nachmittag und Abend waren sehr harmonisch verlaufen.

Seit sie ihr Beziehungsarrangement festgelegt hatten, war dieses Thema zwischen ihnen nicht mehr aufgekommen. Doch in den letzten Wochen hatte der Polizist immer stärker den Eindruck gewonnen, dass in dieser Hinsicht vielleicht nicht alles zwischen ihnen gesagt war. Auch was ihn selbst betraf.

Zu Beginn ihrer Beziehung, welcher Art sie nun auch immer sein mochte, war er damit gut zurechtgekommen. Doch in der letzten Zeit hinterfragte er diese Art der Beziehung immer öfter und er wurde den Verdacht nicht los, sich eventuell selbst zu betrügen. Dennoch spürte er, so wie zuvor, auch eine gewisse Zufriedenheit, weil es so war wie es war.

Erneut sah der Mann über die Schulter, als er hinter sich leise Geräusche vernahm.

Céline war erwacht und hatte sich, beinahe lautlos, zu ihm auf die Veranda begeben. Auch sie war, ebenso wie er, splitternackt. Von hinten ihre Arme um ihn legend, schmiegte sich die Frau an ihn und fragte, fast flüsternd: „Was hat dich so früh geweckt und aus meinen Armen getrieben?“

Derrick Faulkner legte seine Hände auf ihre und gab ebenso leise zurück: „Keine Ahnung. Vor dem Tod meiner Familie habe ich stets den Schlaf der Gerechten geschlafen. Ich meine damit, man hätte mich aus dem Bett heben und wegtragen können, ohne dass ich etwas davon bemerkt hätte. Doch aktuell reicht es schon, wenn ein Maulwurf drei Meter unter der Erde einen fahren lässt, um mich aus dem Schlaf schrecken zu lassen.“

Céline lachte lautlos. „Schöner Vergleich. Vielleicht haben sich aber auch nur deine Sinne als Ermittler geschärft.“

Bevor Faulkner etwas darauf erwidern konnte, summte sein Smartphone. Sich mit einem vielsagenden Blick zu Céline aus ihren Armen windend, schritt er ins Innere der Hütte. Céline, die auf der Veranda stehenblieb, hörte Derrick einen Moment lang im Innern rumoren. Gleich darauf hob er, kaum für sie erkennbar, seine Hand, die offensichtlich das Smartphone hielt, und meldete sich.

Der Brite sagte kaum etwas, doch das Wenige reichte Céline um zu erfassen, dass die Nacht für Derrick vorbei war.

Gleich darauf bestätigte der Brite ihre Vermutung, indem er nach draußen sagte: „Es gibt einen Toten, mitten auf der Kreuzung, unterhalb des Polizeireviers. Ich muss los.“

„Bringst du mich vorher nach Hause?“

„Ja, der Tote sitzt zwar in einem Auto, wie mir gesagt wurde, doch ich schätze, dass der trotzdem inzwischen nicht wegfahren wird.“

Céline seufzte leise. „An deinen typisch britischer Humor habe ich mich immer noch nicht ganz gewöhnt, schätze ich.“

Auf dem Weg zur Dusche meinte der Mann: „Das wird schon noch.“

„Oder auch nicht“, murmelte die schlanke Frau so leise, dass der Brite sie nicht hören konnte, als sie in den Wohnraum eintrat und ihre Sachen zusammensuchte. Beim Anziehen dachte sie daran, dass sie mit Derrick längst über einen Teil ihres Lebens hätte reden sollen, den sie bisher gänzlich unter den Tisch hatte fallen lassen. Doch so richtig hatte sich nie die Gelegenheit dazu ergeben und vielleicht war es ja besser, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Immerhin war er damit einverstanden gewesen, ihr den Freiraum zu lassen, den sie sich von ihm erbeten hatte und dieser Teil ihres Lebens fiel unter diese Rubrik, befand sie. Auch, wenn sie ahnte, dass es ein Fehler sein könnte.

Als Derrick sich angekleidet hatte, wartete Céline bereits draußen auf ihn und nichts deutete auf jene düsteren Gedanken hin, die sie eben noch gewälzt hatte. Er brachte Céline auf schnellstem Wege nach Hause. Danach telefonierte er kurz mit Florence und machte sich auf den Weg zu ihr, um sie abzuholen.

Etwa zwanzig Minuten später fuhren sie mit dem Polizei-Jeep am Tatort vor. Als sie ausstiegen, sah Derrick Faulkner auf seine blau-rosa Diddl-Uhr und fragte gereizt in Richtung seiner Kollegin: „Warum können diese Rabauken ihre Opfer nicht erst nach dem zweiten Kaffee abmurksen? Wir haben gerade 5:30 durch. Das ist einfach viel zu früh.“

„Ja, manche Leute haben echt Nerven“, spöttelte Florence und deutete auf den Wagen, der die gesamte Kreuzung blockierte. Ernsthafter werdend erkundigte sie sich: „Warten wir mit dem Abschleppen, bis wir einen Durchsuchungsbefehl für den Wagen haben und die Leiche entfernen können?“

„Nein, das würde an einem Montagmorgen viel zu lange dauern. Informieren Sie den Abschleppdienst. Die Leiche bleibt drin. Sagen Sie dem Fahrer, dass er aber deswegen von der Stadt trotzdem keinen Aufschlag bekommt.“

Die Mundwinkel der Polizistin zuckten unmerklich, als sie erwiderte: „Ich kümmere mich darum, Chief.“

Faulkner nickte Florence zu und schritt auf das Fahrzeug zu, an dem sich bereits Sarah Dechiles und Wellesley Karr eingefunden hatten. Neugierig auf die über dem Lenkrad gebeugte Leiche des Fahrers in dem schwarzen Mercedes sehend erkundigte er sich: „Sergeant, was wissen wir bisher?“

„Der Wagen gehört einem gewissen Anthony Rodriguez. Nach meinem Kenntnisstand ein Produzent schlüpfriger DVD-Videos.“

Derrick Faulkner räusperte sich: „Schlüpfrig?“

„Sarah meint pornografisch“, brachte es Karr auf den Punkt, wobei er ein Gesicht machte, als habe er in eine Zitrone gebissen. „Soll ein windiger Typ gewesen sein.“

Der Inspector gab ein unbestimmtes Brummen von sich, bevor er meinte: „Windig oder nicht, er konnte sich immerhin einen Mercedes S 560 4Matic Coupé leisten. Der Wagen kostet neu knapp 200.000 Euro. So einen hätte ich gerne als Streifenwagen. Außerdem darf man auch windige Typen nicht einfach so ermorden.“

Bei seinen letzten Worten sah Sarah Dechiles ihren Vorgesetzten, über das Dach des Wagens hinweg an. „Für so viel Geld bekommt man hier eine Villa in bester Lage, Sir. Das ist ja Wahnsinn.“

Florence, die das Telefonat beendet hatte, trat zu Faulkner und meinte: „Der Abschleppdienst ist in zehn Minuten hier. Wohin soll er den Wagen bringen?“

„Erst einmal vor die Polizeistation. Ich will die Leiche nicht zu weit bewegen, bevor sie aus dem Wagen geholt wird. Erst nachdem wir das Auto untersuchen konnten, soll der Abschleppdienst nochmal anrollen und den Wagen zu seinem vorläufig letzten Abstellplatz bringen, Florence. Kümmern Sie sich später auch darum, bitte.“

Die Polizistin bestätigte und der Inspector schritt etwas nach vorne. Durch die Windschutzscheibe auf den Toten sehend, fragte er: „Sarah, das Opfer wurde erschossen, oder irre ich mich?“

„Sie irren sich nicht, Chief. In der Rückenlehne des Fahrersitzes ist deutlich ein Einschussloch zu erkennen. Mindestens neun Millimeter, wenn ich raten müsste.“

„Hm“, machte Faulkner nachdenklich. „Ist schon ein komisches Auto. So, wie der Tote über dem Lenkrad liegt hätte er durch die Windschutzscheibe erschossen werden müssen. Die Scheibe hat jedoch keinen Kratzer.“

Sarah Dechiles unterbrach ihre Beobachtungen und kam zu ihrem Vorgesetzten. Mit ihm durch die Windschutzscheibe des Wagens sehend stimmte sie zu: „Richtig, Chief. Ist ein komisches Auto. Was schließen Sie daraus?“

Der Mann sah seine Untergebene an. „Ich denke, der Mörder saß bei dem Opfer im Wagen. Außerdem benutzte er wahrscheinlich einen Schalldämpfer, denn ein Schuss aus einer so großkalibrigen Waffe hätte ansonsten die halbe Insel aus dem Schlaf gerissen.“

„Sie denken, Rodriguez kannte seinen Mörder, oder seine Mörderin?“

„Ich tendiere momentan zu dieser Annahme, Sergeant.“

Die nächsten Worte von Sarah Dechiles bewiesen, dass sie trotz der frühen Stunde ganz bei der Sache war. „Die Handbremse ist angezogen, Sir. Aber der Tote ist doch bestimmt nicht mitten auf die Kreuzung gefahren, hat die Handbremse angezogen, um sich dann in aller Ruhe erschießen zu lassen?“

„Würde ich auch nicht denken“, stimmte der Inspector zu. „Der Wagen wurde also vermutlich bewegt, nachdem der Mord bereits erfolgt war. Die Frage ist nur warum?“

Niemand schien eine plausible Vermutung zu haben und nach einer Weile meinte Wellesley Karr: „Das mutet alles ziemlich mysteriös an.“

Faulkner nickte in dessen Richtung. „Da haben Sie recht, Officer Karr.“

In die Runde sehend meinte der Detective-Inspector nach einer Weile: „Hier können wir zu viert wenig tun. Zwei von uns könnten sich schon einmal auf den Weg zum Revier machen und einen Kaffee aufsetzen. Wer kocht den besten?“

Drei Augenpaare richteten sich auf Faulkner.

Der Leitende Ermittler der Polizei von Saint-Marie grinste amüsiert und wandte sich zu Sarah. „Okay, Sie fahren, Sergeant Dechiles. Florence, sie weisen bitte den Fahrer des Abschleppdienstes an.“

Damit warf Faulkner seiner Untergebenen den Autoschlüssel zu.
 

* * *
 

Als sie auf dem Revier waren und der Kaffee in der Maschine durchlief, sah Sarah Dechiles zu ihrem Vorgesetzten. Er trug ganz leger Bluejeans, Turnschuhe und eins jener bunten, kurzärmligen Hemden, wie sie gerade auf der Insel angesagt waren. Einmal mehr stellte sie fest, dass er nicht wie ein typischer Brite auf sie wirkte.

Als sich Faulkner, so als habe er ihre Blicke im Rücken gespürt, zu ihr umsah, räusperte sie sich und fragte rasch: „Wie geht es ihrem Fuß, Sir. Ich hoffe, dass Sie nicht allzu große Schmerzen haben.“

„Es geht, danke der Nachfrage, Sarah. Céline hat mir gestern Nachmittag einen elastischen Verband angelegt. Ich schätze, die Bänder sind lediglich überdehnt.“

„Vielleicht sollten Sie das trotzdem untersuchen lassen.“

Der Mann nickte. „Ja, aber zuerst werde ich mit dem Detective-Sergeant zur Villa des Toten fahren und mich dort umsehen. Auf dem Rückweg werden wir einen Abstecher zum Krankenhaus machen.“

Die Frau druckste ein wenig herum, bevor sie geradeheraus sagte: „Ich wollte mich noch bei Ihnen bedanken, Sir. Sie wissen schon. Für die Urkunde.“

Faulkner lächelte und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Highboard, auf dem die Kaffeemaschine stand. „Sie haben die Urkunde am meisten verdient. Sie sagten zwar, dass Ihnen dieser Wettkampf sehr wichtig gewesen ist, doch ich finde, Sie sollten sich nicht so sehr über die Leistung bei diesem Lauf definieren. Vielleicht habe ich Ihnen das, abgesehen von gestern, in den letzten Monaten nicht oft genug gesagt, Sarah, aber Sie sind eine sehr gute Polizistin und Sie leisten sehr gute Arbeit auf Saint-Marie. Sie arbeiten mitunter etwas unkonventionell, doch ich mag das. Die Bürger dieser Insel können froh sein, Sie zu haben.“

Für einen kurzen Moment wand sich die Frau ungewohnt verlegen, bevor sie ablenkend fragte: „Ist der Kaffee schon durch?“

Mit einem feinen Lächeln trat Faulkner zur Seite und stellte fest: „Ist er. Dann mal her mit den Tassen, ich höre den Abschleppwagen. Unsere Kameraden werden also auch nicht mehr lange auf sich warten lassen.“

Wie aufs Stichwort kam Wellesley Karr herein. „Ah, der Kaffee ist fertig.“

Der Inspector selbst verteilte den Kaffee auf vier Tassen und reichte sie weiter. Zum Schluss eine an Florence, die hinter dem Officer hereingekommen war und grinsend zu ihm sagte: „Der Abschlepp-Mensch wollte tatsächlich einen Aufschlag verlangen, Sir.“

Mit einem Löffel intensiv seinen Kaffee umrührend, obwohl er weder Milch noch Zucker hineingetan hatte, erwiderte der Inspector: „Ich hoffe, Sie haben ihm diese Flausen ausgetrieben, Florence.“

Die Frau grinste vielsagend und nahm vorsichtig einen Schluck aus ihrer Tasse. Als sie die Tasse auf ihren Schreibtisch stellte, fragte sie: „Wie machen Sie das, Sir? Keiner von uns bekommt den Kaffee so hin, obwohl wir keine andere Marke nehmen.“

„Es ist, wie in unserem Beruf. Sie müssen das richtige Maß finden.“

Die vier Beamten tranken ihren Kaffee und schließlich sah Derrick Faulkner auffordernd zu Florence. „Wir zwei fahren zur Villa des Getöteten und sehen uns dort um. Haben Sie die Schlüssel bei dem Toten gefunden?“

„Ja, Sir. Da die Villa kein Tatort ist, habe ich bereits jetzt mit Richterin Stone gesprochen. Sie stellt den Durchsuchungsbefehl für die Villa aus, und bei der Gelegenheit auch gleich für den Wagen. Wir können also anfangen zu ermitteln.“

Faulkner nickte zufrieden und wandte sich zu den beiden Uniformierten: „Sie zwei werden sich den Wagen ansehen und mit der Spurensicherung beginnen, sobald die Leiche abtransportiert worden ist. Legen Sie dabei ein besonderes Augenmerk auf die Bergung des Projektils aus der Rückenlehne, sofern es noch drin steckt.“

Der Inspector wechselte einen raschen Blick mit Florence Cassell und schritt zum linken Ausgang des Reviers.

Seine Kollegin schloss sich ihm an. Erst draußen sagte sie: „Die Richterin war nicht begeistert, dass ich sie aus dem Bett geworfen habe, doch ohne die Beschlüsse hätten wir nur mit der unmittelbaren Beweissicherung beginnen dürfen. Wer weiß, wer sonst noch alles Zugang zur Villa des Ermordeten hat.“

Sie stiegen in den Land-Rover, wobei Faulkner seine Kollegin fahren ließ. Er selbst wollte lieber sein Fußgelenk schonen. Als der Wagen anfuhr, sagte er: „Sie haben damit Umsicht bewiesen, Detective-Sergeant. Natürlich müssen wir damit rechnen, dass uns eventuell Beweise durch die Lappen gehen, sofern wir zögerlich ermitteln. Richterin Stone wird das einsehen müssen.“

Sie fuhren die Hauptstraße hinauf, die von Honoré aus in Richtung Norden quer über die gesamte Insel führte. Unterhalb des höchsten Punktes bog Florence Cassell nach rechts ein und die Straße wurde unebener, als sie sich an dem Hügel zu einer protzigen, weißen Villa hinaufwand. Auf dem Vorplatz der Villa hielt Florence an und sah zu Faulkner.

„Ich schätze, ich habe den falschen Beruf gewählt“, murrte der Inspector und sah mit düsterer Miene auf das Anwesen. „Schlüpfrige DVD-Videos müsste man produzieren.“

Florence Cassell grinste breit. „Schlüpfrig, Sir?“

Der Mann lächelte in der Erinnerung. „Sarah nannte es so. In Ordnung, dann wollen wir uns mal im Innern der Villa umsehen. Vielleicht bekommen wir so einen kleinen Einblick, was für ein Mann dieser Anthony Rodriguez war.“

„Ich will das, abseits der Ermittlungen, gar nicht allzu genau wissen, Sir.“

Sie stiegen aus und betraten die Villa. Ihre Schritte hallten seltsam laut im Foyer und nachdenklich murmelte Faulkner: „Wissen wir etwas über eventuell hier tätiges Personal, Florence? Im Moment wirkt die Villa wie ausgestorben.“

„Ich habe Officer Karr vorhin gebeten, sich darum zu kümmern, Sir. Die Liste der Angestellten sollte vorliegen, wenn wir zurück sind.“

Faulkner nickte zufrieden. „Sehr gut. Dann wollen wir mal.“

Der Brite schloss die Eingangstür zur Empfangshalle auf, nachdem er beim dritten Versuch den richtigen Schlüssel erwischt hatte. Inzwischen war es draußen hell genug, dass sie darauf verzichten konnten das Licht einzuschalten.

Nachdem sie sich fast eine Stunde lang in der Parterre und in der oberen Etage umgesehen hatte, ohne etwas von Relevanz zu entdecken, abgesehen von dem privaten Laptop des Verstorbenen, begaben sich die beiden Polizisten ins Untergeschoss. Hier schaltete Faulkner, der voranging, das Licht ein.

Unten angekommen blieben sie stehen. Ihnen wurde sofort klar, wo die Videos gedreht wurden, die Anthony Rodriguez produziert hatte. Neben dem Kamera- und Beleuchtungs-Equipment gab es in der einen Hälfte des großen Studios ein riesiges Bett, in dem ein halbes Dutzend Menschen mühelos Platz gefunden hätte.

Als Faulkner mit seiner Kollegin die andere Hälfte des Studios in Augenschein nahm, schüttelte Florence ihren Kopf und deutete auf eine lederne Unterlage, die an vier Ketten von der Decke hing. An den Ketten wiederum hingen Schlaufen für Arme und Beine. „Eine sogenannte Liebesschaukel, Sir. Sieht nach einem Sado-Maso-Bereich aus, wie in dem Film Fifty Shades of Grey. Die Bücher gefielen mir übrigens wesentlich besser, als die Filme.“

Erst nach einigen Augenblicken fiel Florence auf, dass der Inspector nichts sagte, sondern sie nur fragend ansah. Sie sah zu ihm und erkundigte sich: „Ist etwas, Sir?“

Der Inspector hob abwehrend die Hände. „Nein, überhaupt nicht. Sehen wir uns lieber nach Datenträgern um.“

Florence hob unmerklich ihre Augenbrauen und erlaubte sich ein feines Lächeln, als sie zum entgegengesetzten Ende des Studios schritt.

Erst nach fast einer Minute fragte Derrick Faulkner: „Sie haben die Bücher gelesen?“

„Alle drei, Chief.“

„Interessant.“

Wieder wurde es still und sie durchsuchten die Schränke an den Wänden. Erst nach einer geraumen Weile fügte Florence amüsiert hinzu: „Ich habe auch Baise-Moi gelesen. Von Virginie Despentes – sehr spannend, Sir.“

„Leihen Sie mir die Bücher mal?“, erkundigte sich Faulkner schließlich, nachdem er in einem kleinen Nebenraum verschwunden war. „Ich kenne nur den ersten Film, und von dem zuletzt genannten Roman habe ich noch gar nicht gehört.“

Ein Lachen kam aus dem Studio. „Kein Problem, Chief. Aber ich dachte…“

Als sich die Polizistin unterbrach, sah Faulkner neugierig zu ihr ins Studio. „Was dachten Sie, Florence?“

„Ach nichts, Sir. Fast hätte ich etwas Ungehöriges gesagt.“

Der Mann kam mit einigen Datenträgern zu Florence ins Studio und meinte bestimmt: „Dann möchte ich es erst recht erfahren. Also, was dachten Sie?“

„Ich dachte, Ihr Liebesleben würde gut verlaufen, wollte ich sagen. Aber das war wirklich nur als Scherz gemeint, Sir.“

Faulkner musterte Florence für einen Moment und schmunzelte dann unmerklich. Er schien etwas sagen zu wollen, unterließ es dann jedoch.

Das kurze Innehalten genügte der Polizistin jedoch, um zu erkennen, dass ihrem Vorgesetzten etwas auf der Seele lag. Vorsichtig fragte sie: „Es ist doch alles in Ordnung? Zwischen Ihnen und Céline meine ich.“

Der Mann zögerte, bevor er sich einen Ruck gab und zugab: „So dachte ich bisher, doch irgendetwas hat sich verändert. Weniger, was Céline betrifft. Es ist mehr ein Gefühl, das sich bei mir selbst eingeschlichen hat. Na ja, Sie wissen ja um die Art unserer Beziehung. Zuerst hat alles gepasst. In den letzten Wochen habe ich jedoch immer wieder einmal gespürt, dass sich da immer öfter eine gewisse Unzufriedenheit einschleicht. Anfangs dachte ich, dass diese Art von Beziehung genau richtig für mich ist, doch jetzt…“

„Jetzt nicht mehr?“

Faulkner hatte Mühe dem forschenden Blick seiner Kollegin standzuhalten. Endlich gab er zu: „Nein, jetzt nicht mehr. Im Grunde sehne ich mich nach einer Partnerin, die ich nicht teilen muss. Das wurde mir zuletzt immer deutlicher bewusst. Auf der anderen Seite empfinde ich sehr viel für Céline. Ich möchte sie nicht verlieren.“

„Glauben Sie, Céline wird ihren Lebenswandel für Sie ändern, Chief?“

Faulkner schüttelte stumm den Kopf und atmete tief durch. Erst nach einem langen Moment sagte er: „Nein, mein Gefühl sagt mir, dass sie das niemals tun wird.“

Für eine Weile sahen sie sich an, bevor Florence Cassell leise meinte: „Sie werden nicht um eine Entscheidung herumkommen, Sir.“

Faulkner nickte und räusperte sich dann. „Machen wir weiter, Florence.“

Die Frau verstand den Wink und wandte sich wieder den Datenträgern zu, die sie gefunden hatte und nun zusammen auf eine Ablage legte. Danach sah sie kurz in die Dateien, auf einem der beiden Laptops, die sich ebenfalls hier befanden.

Ein helles, wollüstiges Stöhnen drang aus den Lautsprechern eines der Geräte, als sie eine der Dateien ansah und entschuldigend sah Florence über die Schulter. „Tut mir leid, Sir, ich stelle besser den Ton ab.“

Die Frau hörte nur ein zustimmendes Brummen, während sie wieder auf den Bildschirm sah. Im nächsten Moment verharrte sie. Schnell schloss sie das File und sah kurz über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass ihr der Detective-Inspector immer noch den Rücken zuwandte. Den Laptop schließend erklärte sie: „Das Material sichten wir besser auf dem Revier, Chief. Das wird bei der Fülle von Dateien und Datenträger eine Weile dauern.“

Ein leises Seufzen war die Antwort. „Sie haben recht, Florence. Stellen wir sicher, was da ist und begeben uns auf den Rückweg. Diese Umgebung fängt allmählich an, mich zu deprimieren. Wir machen unterwegs am Krankenhaus Halt, wegen meines Fußgelenks.“

Verdachtsmomente

Am Krankenhaus angekommen schickte Derrick Faulkner Florence zurück zum Revier, mit dem Hinweis, er würde sich im Anschluss an die Untersuchung ein Taxi nehmen.

Zum Glück des Inspectors war aktuell sehr wenig los und so dauerte es nicht lange, bis sein Fußgelenk untersucht worden war. Wie vermutet war nichts gebrochen oder gerissen, sondern er hatte sich lediglich die Bänder überdehnt. Eine der Schwestern hatte ihm im Anschluss einen neuen Verband angelegt.

Als er das Krankenhaus verließ, griff Faulkner zu seinem Handy. Mit einem Blick zu dem gerade ankommenden Taxi, dessen Fahrerin ihm sehr bekannt vorkam, ließ er seine Hand wieder sinken und winkte mit der Linken.

Céline Durand erkannte den Inspector, nachdem sie bei ihrem Fahrgast kassiert hatte. Sie stellte den Motor ab, stieg aus und sah ihn verschmitzt an. „War mit meinem Verband etwas nicht in Ordnung, Derrick?“

Der Mann erwiderte das Lächeln und kam näher. „Nein, der Verband war toll. Ich habe das Fußgelenk nur sicherheitshalber untersuchen lassen. Als Chief der Polizei komme ich um einige Dinge, wie vernünftige Entscheidungen zu treffen, leider nicht herum. Da darf ich nicht den Harten spielen.“

„Als ob dir das einer abkaufen würde.“

Etwas unwillig runzelte Faulkner die Stirn. „Ach nein?“

Die Frau beließ es bei einem vielsagenden Grinsen und fragte dann: „Du wolltest dir doch eben ein Taxi rufen, stimmt´s?“

„Stimmt“, bestätigte der Polizist und öffnete dabei die Beifahrertür. „Ich muss schleunigst zurück zum Revier.“

Als sie im Taxi saßen und losgefahren waren erkundigte sich Céline bei Faulkner: „Was war denn heute Morgen los? Oder darfst du darüber nicht reden?“

„Steht ohnehin morgen in der Zeitung. Der Tote auf der Kreuzung war ein gewisser Anthony Rodriguez. Erschossen. Soll ein windiger Typ gewesen sein. Ich denke zwar nicht, dass der sehr oft Taxi gefahren ist, doch vielleicht hast du den ja doch mal mitgenommen?“

„Nein“, erwiderte Céline rasch. „Der ist nie von mir chauffiert worden.“

Etwas abwesend gab Faulkner zurück: „Hätte mich bei dem Wagen, den er gefahren hat, aber auch schwer gewundert. Die Karre kostet neu knapp 200.000 Euro.“

„Unglaublich, wieviel Geld manche Leute haben“, murrte die Frau.

„Ja“, stimmte Faulkner zu. „Na ja, seit dem letzten Monat stehe ich auch nicht ganz mittellos da. Die Lebensversicherung meiner Frau wurde ausgezahlt. Die Leute dort waren wohl unangenehm überrascht, als sie erfuhren, dass ich noch unter den Lebenden weile. Die hatten sich bereits damit angefreundet, ich wäre bei dem Anschlag auf mein Haus auch abgetreten. Der Papierkram mit denen war zuletzt echt entnervend.“

Céline sah Faulkner von der Seite an, doch sie hütete sich, nach der Summe zu fragen. Das wäre nicht sehr empathisch gewesen.

Der Polizist war ihr dankbar dafür und meinte nach einer Weile seufzend: „Die haben sich nicht gerne von einer Million Pfund getrennt.“

Céline Durand musste sich bemühen, sich weiterhin auf das Fahren des Wagens zu konzentrieren. Mit aufgerissenen Augen verlangte sie: „Sag das nochmal!“

„Du hast richtig gehört“, gab der Polizist ruhig zurück. „Nancy und ich hatten bereits eine Lebensversicherung auf Gegenseitigkeit abgeschlossen. Doch anfangs nicht so hoch. Dazu hatte mich erst später mein Vorgesetzter quasi genötigt, nachdem ich der NCA beigetreten war. Er war der Meinung, dass ich in der Verantwortung stünde, meine Familie besser abzusichern, wegen des Risikos in meiner damaligen Funktion. Ich habe ihm seinerzeit gerne nachgegeben, weil ich nie dachte, diese Summe selbst zu kassieren.“

Céline legte ihre Rechte auf seinen Arm. „Natürlich nicht.“

Sie schwiegen, bis sie vor der Polizeistation anhielten.

Als Derrick Faulkner Céline das Geld für die Fahrt reichte, inklusive Trinkgeld, wollte die Frau ablehnen, doch der Polizist ließ sich nicht beirren. „Hey, das gilt als Dienstfahrt. Das verrechne ich also unter Spesen, und du fährst ja nicht zum reinen Vergnügen Leute durch die Gegend.“

„Manchmal doch“, widersprach die Frau und drückte Faulkner einen flüchtigen Kuss auf die Wange, bevor er die Wagentür öffnete. „Viel Spaß bei deinem Date, heute Abend.“

Derrick Faulkner, der bereits einen Fuß nach draußen gesetzt hatte, seufzte schwach und meinte: „Es ist kein Date, Céline. Wir werden auf dem Dach meiner Hütte herumkrabbeln und es endlich regendicht machen. Mehr nicht.“

Céline erwiderte nichts darauf. Sie sah dem Mann nur stumm dabei zu, wie er ausstieg und zur Treppe des Reviers schritt, wobei er sich nochmal zu ihr umdrehte und winkte.

Erst nach einem langen Moment riss sich die Taxifahrerin zusammen, wendete das Taxi und fuhr in Richtung des Hafens davon.
 

* * *
 

Derrick Faulkner blieb im Eingang des Reviers stehen und sah zum Schreibtisch von Florence Cassell. Aus den Lautsprechern ihres Laptops drangen frivol klingende Laute. Offensichtlich war der Detective-Sergeant bereits dabei, das Material zu sichten.

Sarah Dechiles saß an ihrem Schreibtisch und wirkte konzentriert. Sie blätterte in einigen Ausdrucken, die sie sich gemacht hatte.

Auch Wellesley Karr, der im Hintergrund des Raumes in einer Akte blätterte, ließ sich von den Geräuschen nicht ablenken.

Faulkner nickte zufrieden. So sollte es auch sein. Polizisten brauchten eine gewisse Professionalität bei ihrer Arbeit. Er schritt zum Whiteboard, auf dem bisher nur ein Foto des Tatopfers hing. Die sehr ordentliche Schrift ließ Derrick Faulkner vermuten, dass es Officer Karr gewesen sein musste, der Anthony Rodriguez darunter geschrieben hatte.

Für eine Weile sinnend auf das Foto sehend meinte er schließlich zu Florence: „Ich werde Ihnen beim Sichten des Materials helfen, Detective-Sergeant.“

Die Angesprochene sah zu ihm auf und wehrte schnell ab: „Ich komme damit schon klar, Sir. Hier habe ich bereits drei Ausdrucke für unser Board. Von den Personen, die in den Videos mitspielen. Ihre Identitäten habe ich dazugeschrieben.“

Derrick Faulkner runzelte die Stirn. Bereits zum zweiten Mal, seit er das Krankenhaus verlassen hatte, überkam ihn das Gefühl, eine Frau, die er kennengelernt zu haben glaubte, würde sich merkwürdig verhalten. Er nahm die Ausdrucke entgegen, sah Florence prüfend an und wandte sich dann dem Whiteboard zu. Dabei fragte er sich in Gedanken, wie es Florence fertiggebracht hatte, ob des Zweckes des sichergestellten Materials, die Gesichter so auszudrucken, dass man nicht erkannte aus welcher Quelle diese Ausdrucke stammten.

Der Detective-Inspector heftete die Konterfeis von zwei farbigen Männern und einer weißen Frau auf das Board und schrieb die Namen nochmals darunter. Schon deswegen, weil ihm dieses schriftliche Festhalten dabei half, sich die Namen besser einzuprägen.

Während seiner Tätigkeit grübelte Faulkner darüber nach, warum Florence so schnell seine Mithilfe abgelehnt haben mochte. Er hatte sie in den letzten Monaten als Teamspielerin kennengelernt. Hilfe abzulehnen war nicht ihre Art.

Als Faulkner seine Tätigkeit beendete, sah er zu Florence. Sarah Dechiles war inzwischen zu ihr getreten und kiebizte, über die Schulter ihrer Vorgesetzten hinweg, auf den Bildschirm des Laptops.

Sich bereits abwenden wollend bemerkte er, wie die Augen des Sergeants immer größer wurden und er verharrte. Im nächsten Moment sah er zu ihr, als sie verwundert ausrief: „Aber das ist ja…“

Faulkner trat einen Schritt näher. „Das ist ja… Wer?“

Florence warf ihrer Kollegin einen finsteren Blick zu und sah dann entschuldigend zu ihrem Vorgesetzten auf. „Ich wollte mir zuerst ganz sicher sein, Sir. Auf den Aufnahmen ist auch Céline Durand zu sehen. Kein Zweifel möglich, Sir.“

„Machen Sie einen Ausdruck, Florence. Danach möchte ich den Datenträger haben, und mir selbst ein Bild machen.“

„Ja, Chief“, erwiderte Florence und sah ihren Vorgesetzten dabei inständig an. „Aber vielleicht ist es keine gute Idee, wenn…“

Sie unterbrach sich beim Blick Faulkners und murmelte resignierend: „Oder ich mache einen Ausdruck und gebe Ihnen einfach den Datenträger.“

Faulkner, der sich wieder dem Whiteboard zugewandt hatte, um den Namen seiner Freundin dort zu notieren, sagte nach einer Weile: „Sie müssen das verstehen, Florence. Ich bin nicht scharf darauf das Material zu sichten. Doch in diesem Fall bin ich mit einer potenziell Verdächtigen liiert. Darum sollte ich ganz genau wissen, worum es geht. Ich meine, bevor ich den Commissioner anschließend aufsuche, weil ich in diesem Fall nicht als Leitender Ermittler fungieren darf. Ich werde ihm vorschlagen müssen, dass in diesem Fall Sie die Ermittlungen leiten.“

„Aber Sir…!“

„Kein Aber, Florence. Wir werden ermitteln, wie gewohnt. Doch dies ist eine Mordermittlung und da darf es keinen Verdacht der Befangenheit geben. Sie können das, Florence. Sie werden diesmal das Vorgehen in diesem Fall festlegen.“

Florence Cassell schluckte. „In Ordnung, Sir.“
 

* * *
 

Eine knappe Stunde später betrat Faulkner das Büro des Commissioners. Zuvor hatte der Inspector sich telefonisch versichert, dass er um diese Zeit hier war.

Selwyn Patterson sah neugierig zu dem Detective-Inspector auf, der zuvor nicht auf den Grund seines Erscheinens zu sprechen gekommen war. Er deutete auf den freien Stuhl vor seinem Schreibtisch und sagte rau: „Setzen Sie sich, Inspector. Ihre Worte, vorhin am Telefon, klangen etwas, wie soll ich es ausdrücken? Mysteriös.“

Wie ein geheimes Zeichen wehte eine sanfte Seebrise durch das Fenster und Faulkner atmete tief durch. Schnell auf dem Stuhl Platz nehmend erwiderte er: „Es tut mir leid, Commissioner, doch ich wollte die Angelegenheit nicht offen am Telefon erläutern. Die Sache ist die, Sir: Bei den Ermittlungen haben mein Team und ich festgestellt, dass Céline Durand unter den Darstellerinnen für die Videos von Mister Rodriguez ist.“

„Und in wiefern ist das ein Grund mich aufzusuchen, Inspector?“

Faulkner erwiderte etwas irritiert den fragenden Blick seines Vorgesetzten. „Nun, Sir, ich setze sie auf die Liste der Verdächtigen. Da Miss Durand und ich eine intime Beziehung miteinander führen könnte man mir zurecht Befangenheit vorwerfen. Bei einem Mordfall nicht der beste Umstand.“

Der Commissioner lehnte sich in seinem Sessel zurück und erlaubte sich ein feines Lächeln. „Würde das Ihre Ermittlungen beeinträchtigen, Inspector?“

Faulkner zögerte nicht zu erwidern: „Nein, Sir. Das jedoch ist nicht der Punkt. Um in diesem Fall nicht angreifbar zu sein, habe ich beschlossen, dass Detective-Sergeant Cassell als Leitende Ermittlerin fungieren soll. Wir werden natürlich wie gehabt zusammenarbeiten, doch die Entscheidungen des Vorgehens soll sie festlegen. Auch, da ich heute Morgen Céline gegenüber zwanglos den Namen des Ermordeten erwähnte, und sie mit keinem Wort darauf einging ihn zu kennen.“

Der Commissioner beugte sich wieder vor. „Halten Sie denn Céline Durand für eine potenzielle Mörderin, Inspector?“

„Nein, und genau deswegen möchte ich, dass Detective-Sergeant Cassell die Leitung innehat. Denn würde ich keine Beziehung mit Céline führen, würde ich das niemals derart kategorisch ausschließen, Commissioner. Selbst wenn es meine Ermittlungen nicht beeinflussen würde, ich bin emotional zu nah dran.“

Zufrieden wirkend nickte Patterson bedächtig und sagte: „Ich stimme Ihnen zu. Denken Sie, dass der Detective-Sergeant der Aufgabe gewachsen ist?“

„Ich halte unseren DS für überdurchschnittlich befähigt. Zwar arbeite ich erst seit einigen Monaten mit Florence Cassell zusammen, doch mein Gefühl sagt mir, dass sie in spätestens fünf Jahren so weit sein wird selbst als Detective-Inspector zu fungieren.“

Interessiert hakte Patterson nach: „Sehen Sie Florence Cassell als Konkurrentin?“

Etwas erstaunt gab Faulkner zurück: „Nein, Sir. Ich werde versuchen, ihr all die kleinen und großen Tricks beizubringen, die ich mir selbst angeeignet habe, damit sie eine hervorragende Grundlage hat, wenn es so weit ist. Des Weiteren werde ich sie, unabhängig davon, wie sie sich in diesem Fall schlagen wird, auch zukünftig ganz behutsam an den Aufgabenbereich eines DI heranführen.“

Wieder lächelte der Commissioner zufrieden. „In Ordnung, Inspector. Haben Sie bereits eine Spur, wer ansonsten als Täter in Frage kommen könnte?“

Faulkner schaltete sofort um und erwiderte: „Leider nein, Sir. Doch ich bin mir sicher, dass der Täter aus dem Umfeld des Ermordeten stammen muss. Auf keinen Fall haben wir es mit einem Zufallstäter zu tun, der im Affekt handelte.“

„Wie kommen Sie darauf?“

Jetzt wieder ganz auf den Fall konzentriert, führte Faulkner aus: „Für einen Schuss durch das geöffnete Seitenfenster der Fahrertür stimmt der Winkel des Schusskanals in der Leiche nicht. Die Windschutzscheibe war jedoch unversehrt. Was bedeutet, der Mörder kam dem Opfer ziemlich nahe. Ich vermute sogar, dass er auf dem Beifahrersitz saß, als er, oder sie, den Mord verübte.“

Pattersons Miene wurde undurchdringlich. „Ich will Sie dann nicht länger von Ihren Pflichten abhalten, Inspector. Sie werden unglaublich viel zu tun haben.“

Faulkner verstand den Wink. Er erhob sich und verabschiedete sich kurz von Patterson, bevor er das Büro des Commissioners verließ.

Er war zu Fuß hergekommen und so grübelte er auf dem Rückweg zum Revier über die Szenen in dem Video nach, das er vor seinem Besuch bei Patterson gesichtet hatte. Immer wieder schlich sich dabei eine bestimmte Szene des Videos in seine Gedanken. Eine, in der einer der Darsteller rücklings auf der Liebesschaukel lag, die Florence und er in dem Studio des Ermordeten vorfanden. Céline, ebenfalls rücklings auf ihm liegend, dabei Analverkehr mit ihm habend. Ein anderer Darsteller nahm sie gleichzeitig, vor den beiden stehend. Nach einem Moment schob sich in der Szene, offensichtlich nachdem er die Kamera auf ein Stativ gesetzt hatte, der Ermordete in den Erfassungsbereich, um sich auf der anderen Seite der Schaukel zu positionieren. Mit ihm hatte Céline in dem Video wenig später Oralverkehr. Im Verlauf der Aufnahme hatten die drei Männer die Positionen gewechselt, was er sich nur noch im schnellen Vorlauf angesehen hatte.

Der mitfühlende Blick von Florence hatte es fast noch schlimmer gemacht. Deshalb war er fast fluchtartig aus der Polizeistation gerannt, bevor er den Commissioner aufsuchte. Er hatte dabei gespürt, dass die Anteilnahme seiner Kollegin aufrichtig gemeint gewesen war. Jetzt im Nachhinein tat es richtig gut, sich daran zu erinnern, wie sie ihn hatte beschützen wollen, indem sie sich erboten hatte, das Material alleine zu sichten. Natürlich hätte sie ihm auch dann irgendwann die Fakten vorlegen müssen.

Derrick Faulkner wusste wohl, dass sich Céline mit anderen Frauen, und wohl auch mit anderen Männern, außer ihm traf. Doch etwas zu wissen oder es eindringlich vor Augen geführt zu bekommen, das machte einen Unterschied. Er hatte sich selbst stets als sehr offenen Menschen gesehen. Nach dem Sichten des Videos war er sich in dieser Hinsicht nicht mehr so sicher, wie noch Stunden zuvor, denn diese Szenen hatten ihn merklich erschüttert.

Deutlich weniger aufgewühlt als vor seinem Besuch beim Commissioner betrat er das Revier. Er bemerkte den fragenden Blick von Florence, die als Einzige hier war und begab sich zu ihr. Ruhig sagte er: „Ich danke Ihnen, Florence. Dafür, dass Sie mir die Sichtung des Video-Materials ersparen wollten. Vielleicht habe ich vorhin etwas gereizt reagiert. Falls ja, dann bitte ich dafür um Entschuldigung.“

Die Gesichtszüge der Frau entspannten sich. Lächelnd antwortete sie: „Kein Problem, Chief. Ich verstehe, dass das schwierig sein muss.“

Faulkner seufzte. „Ja, das ist es. Wo sind übrigens Sarah und Wellesley?“

„Die beiden habe ich losgeschickt, um die Anwohner im Umkreis des Tatortes zu befragen. Vielleicht hat jemand etwas gehört oder gesehen.“

Der Inspector nickte zustimmend. Dabei echoten die Worte des Commissioners durch seine Gedanken.

Halten Sie denn Céline Durand für eine potenzielle Mörderin, Inspector?

Noch immer war er versucht, diese Frage mit Nein zu beantworten. Doch konnte er das? Sie waren um Mitternacht eingeschlafen und er war knapp fünf Stunden später aus dem Schlaf aufgefahren. Etwas hatte ihn geweckt. War es Céline gewesen? Hatte sie sich für eine Weile unmerklich aus der Hütte geschlichen und war später wiedergekehrt? War es vielleicht das gewesen, was ihn am Morgen aufgeweckt hatte?

Eine Verwünschung unterdrückend sagte Faulkner nach einem Moment: „Kommen Sie, Florence. Wir machen uns daran, unsere bisherigen Verdächtigen zu befragen.“

Befragungen

Inzwischen hatte das Polizeiteam von Saint-Marie insgesamt fünf Personen ermittelt, die auf der Insel in regelmäßigem Kontakt mit dem Ermordeten gestanden hatten. Neben Céline Durand eine junge Britin, die mit ihrem Vater seit vielen Jahren auf der Insel lebte, eine einheimische junge Frau und zwei einheimische Männer, Ende zwanzig, die in dem Ruf standen, sich reichen Touristinnen als Gigolo zu verdingen, wenn sie gerade nicht für ein Video vor der Kamera standen.

Auf der Fahrt zu der Britin dachte Derrick Faulkner darüber nach, dass bei der Video-Produktion des Verstorbenen wohl alles etwas weniger umfangreich ausfiel, als bei gleichartigen amerikanischen Produktionen. Hier hatte sich der Produzent nicht nur gleichzeitig als Regisseur und Kameramann betätigt, sondern er hatte auch selbst in seinen Videos mitgespielt. Vielleicht hatte er diese Streifen nur produziert, um regelmäßig Sex mit jungen Frauen haben zu können und der finanzielle Aspekt war nur ein willkommener Nebeneffekt der gesamten Produktion.

Als Faulkner seiner Kollegin von diesem Verdacht erzählte, machte sie ein zweifelndes Gesicht: „Denken Sie wirklich, Anthony Rodriguez hätte es nicht primär wegen des Geldes getan, Chief?“

„Ich will es zumindest nicht ausschließen, Florence. Aber grübeln wir erst einmal nicht darüber nach. Was wissen wir von der Frau, zu der wir unterwegs sind?“

„Sie heißt Coralee Morgan. Ihre Familie stammt ursprünglich aus Exeter, in der Grafschaft Devonshire. Nach dem Tod ihrer Mutter zog sie mit ihrem Vater, James-Christian Morgan, einem Bürokaufmann im Ruhestand, hierher. Sie verdient ihr Geld zeitweise bei verschiedenen Lokalen der Insel, als Kellnerin. Neben dem Offensichtlichen.“

Faulkner atmete tief durch und murmelte: „Ja, neben dem Offensichtlichen.“

Sie schwiegen eine Weile, bevor Florence sich dazu durchrang zu sagen: „Warum geht Ihnen so nahe, dass Céline in diesen Porno-Videos mitspielt, Chief? Sie wussten doch immerhin, dass sie sexuelle Beziehungen zu anderen Männern und Frauen unterhält?“

„Das ist es gar nicht“, erwiderte Faulkner heftiger als beabsichtigt. Etwas ruhiger fügte er hinzu: „Es geht weniger um ihre sexuellen Neigungen, als darum, dass sie nicht mit mir darüber geredet hat. Spätestens, nachdem ich ihr gegenüber den Namen des Ermordeten erwähnt hatte. Ich meine, sie hätte ja mal durchblicken lassen können: Oh, jetzt wo du es sagst. Der Ermordete und ich haben munter miteinander, für diverse Szenen in Porno-Videos, vor der Kamera herumgevögelt. Zusammen mit zwei weiteren Typen.“

Sanft legte Florence ihre Hand auf den Unterarm ihres Vorgesetzten. „Vielleicht wollte sie das ja und hat nur den richtigen Zeitpunkt dafür verpasst.“

„Letzteres hat sie definitiv“, grollte Faulkner.

Die Frau nahm ihre Hand wieder weg. „Möchten Sie im Anschluss mit Céline reden, Chief? Vielleicht ist es besser dieses unangenehme Gespräch zeitnah zu führen. Bevor sich zu viele Emotionen aufgestaut haben.“

Der erste Impuls des Mannes war, diesen Vorschlag abzuschmettern. Doch fast in demselben Moment fiel ihm ein, dass es vielleicht nicht das beste Signal an Florence war, wenn er eine ihrer ersten Entscheidungen harsch ablehnte. Außerdem merkte er ganz deutlich, dass sie im Grunde Recht hatte, denn er fühlte bereits jetzt, wie sich negative Emotionen in ihm aufbauten und stärker wurden.

Für einen langen Moment seine Kollegin von der Seite ansehend, sagte Faulkner endlich: „Sie haben ein sehr feines Gespür, Florence. Ich denke, ich sollte das Gespräch mit Céline wirklich zeitnah suchen.“

Die Frau an der Seite des Inspectors erwiderte nichts auf die Worte ihres Vorgesetzten. Stattdessen deutete sie nach vorne und meinte ablenkend: „Wir sind da, Sir.“

Sie stiegen aus und schritten durch einen gepflegten Vorgarten zur Eingangstür des kleinen Hauses, in dem Coralee Morgan wohnte.

Florence Cassell übernahm es, zu klingeln. Danach sah sie zu ihrem Vorgesetzten und meinte: „Hoffentlich ist sie Zuhause, Sir.“

Bevor Faulkner etwas erwidern konnte, hörten sie Schritte, die sich zu nähern schienen, und der Inspector machte eine bezeichnende Geste.

Im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet und eine schlanke, blonde Frau, die den beiden Beamten aus den Videos bekannt vorkam, sah sie fragend an.

„Wer sind Sie?“, fragte Coralee Morgan mit heller Stimme. „Was wollen Sie?“

Derrick Faulkner stellte Florence und sich selbst vor, bevor er sich direkt erkundigte: „Lassen Sie uns herein? Wir würden Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.“

„Und wenn nicht?“

Nur unmerklich zögernd erwiderte der Inspector ruhig: „Dann werden Sie uns zum Revier begleiten, denn wir ermitteln in einem Mordfall. Mister Rodriguez wurde ermordet und wir haben ermittelt, dass Sie ihn kannten.“

Im Gesicht der Frau zeichnete sich Erschrecken ab und Faulkner fragte sich, ob diese Frau zu jenen gehörte, die so meisterhaft spielen konnten, dass dieses Erschrecken, falls es nur vorgeschoben war, wirklich so echt wirken konnte. Denn er hatte beinahe den Eindruck, dass ihre Reaktion echt war.

Die junge Frau gab den Weg frei und die beiden Polizisten betraten den, zum hinteren Garten hin, offenen Wohnbereich der Villa.

Coralee Morgan wirkte verstört, nachdem sie dort Platz genommen hatten. Sich mit der Hand durch das Haar streichend fragte sie mit brüchiger Stimme: „Wie und wann ist das denn passiert?“

Florence Cassell übernahm es darauf zu antworten. „Etwa zwischen 05:00 und 05:30 Uhr. Den genauen Zeitpunkt muss der Gerichtsmediziner aber noch bestätigen. Sagen Sie uns bitte, wo sie zu diesem Zeitpunkt waren, Miss Morgan.“

„Ich war hier Zuhause. Aber entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit. Möchten Sie vielleicht etwas zu trinken haben?“

Sowohl Faulkner als auch Florence Cassell lehnten freundlich ab. Der Inspector übernahm und erkundigte sich: „Kann jemand bestätigen, dass Sie zum fraglichen Zeitpunkt hier waren, Miss Morgan?“

Coralee Morgan runzelte die Stirn. Dann sagte sie: „Meine Nachbarin hatte zum fraglichen Zeitpunkt einen heftigen Streit mit ihrem betrunkenen Mann. Das kommt bei denen leider öfter vor. Sie kam, wie schon einige Male zuvor, zu mir und ich habe sie beruhigt. Sie ging erst gegen 06:00 Uhr wieder nach Hause.“

„Sagen Sie uns bitte den Namen dieser Nachbarin“, hakte Florence rasch ein. Sie notierte den Namen, den Coralee Morgan ihr nannte und sah dann fragend zu Faulkner.

Der Detective-Inspector wandte sich der blonden Frau zu und fragte, mit beruhigendem Tonfall: „Wie gut kannten Sie Mister Rodriguez abseits der Zusammenarbeit mit ihm? Was für ein Mensch war der Verstorbene? Hatte er Feinde, von denen Sie wissen?“

Coralee Morgan schüttelte den Kopf. „Nein, nicht dass ich wüsste. Aber privat kannte ich ihn auch nur sehr oberflächlich. Eine andere Darstellerin aus unserem Team kannte ihn besser. Ihr Name ist Céline. Céline Durand. Sie und Rodriguez hatten privat ein Verhältnis.“

Florence Cassell bemerkte die versteinerte Miene ihres Vorgesetzten und sprang für ihn in die Bresche, indem sie einwarf: „Können Sie uns sagen, wie lang dieses Verhältnis ungefähr angedauert hat?“

„Ich weiß nicht“, erwiderte die junge Schauspielerin unsicher. „Aber mindestens seit einem Jahr, denn da habe ich angefangen für Rodriguez zu arbeiten. Zu diesem Zeitpunkt waren beide bereits miteinander liiert. Silvana war das ein Dorn im Auge.“

Florence Cassell hob leicht ihre Augenbrauen. „Wer ist Silvana?“

Coralee Morgan lächelte entschuldigend: „Oh ja, das können Sie natürlich nicht wissen. Silvana Da Silva. Sie gehört ebenfalls zum Team. Ihr Vater war Brasilianer, soweit ich weiß. Es gibt das Gerücht, dass sie Rodriguez dazu bewegen wollte, sie zu heiraten. Doch dann kam ihr wohl Céline dabei in die Quere. Genaues weiß ich aber nicht.“

Wieder wechselte Florence einen raschen Blick mit ihrem Vorgesetzten. Der nickte ihr zu und sagte dann zu Coralee Morgan: „Das wäre vorerst alles. Wir werden ihr Alibi prüfen. Ich möchte Sie bitten, bis zum Abschluss der Ermittlungen nicht die Insel zu verlassen. Wir melden uns bei Ihnen, falls wir noch weitere Fragen haben sollten.“

Die Polizisten verabschiedeten sich und verließen das Haus. Als sie wieder im Rover saßen, zog Faulkner sein Smartphone aus der Hosentasche und drückte eine der Kurzwahltasten. Dabei meinte er zu seiner Kollegin. „Wir fahren zurück zum Revier wo Sie mich absetzen werden. Ich bestelle Céline dorthin. Sie, Florence, fahren danach bitte zu dieser Silvana Da Silva und befragen sie. Ich denke, sie schaffen das ohne mich.“

Florence nickte nur. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, dass jedes Wort ihrerseits nun fehl am Platz gewesen wäre. Dabei spürte sie ein seltsames Kribbeln in ihrem Bauch.
 

* * *
 

Zwanzig Minuten nachdem Florence den Detective-Inspector vor dem Revier abgesetzt hatte, fuhr das Taxi von Céline Durand dort vor. Derrick Faulkner, der bis dahin ungeduldig auf der Veranda gestanden hatte, begab sich ins Innere des Gebäudes, stellte einen Stuhl vor seinen Schreibtisch und setzte sich dahinter. Er brauchte jetzt diese Art von räumlicher Distanz, auch wenn er sich nicht der trügerischen Hoffnung hingab, dass dies irgendetwas von dem, was nun zwangsläufig folgen musste, besser machen würde.

Da Faulkner Céline bereits bei seinem Anruf unverblümt gesagt hatte, was der Grund für dieses anberaumte Gespräch war, wirkte ihre Miene entsprechend angespannt, bei ihrem Hereinkommen. Sie deutete den ernsten Blick und seine knappe Geste, mit der er auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch deutete entsprechend. Sich langsam hinsetzend und ihr Gegenüber dabei nicht aus den Augen lassend, fragte sie leise: „Du weißt es also?“

Faulkners Blick verfinsterte sich. Er atmete tief durch, bevor er düster erwiderte: „Ja, ich weiß es. Doch das ist nicht der Punkt, Céline. Ist dir nicht zwischenzeitlich der Gedanke gekommen, dass du von dir aus mit mir hättest reden sollen? Ich meine, spätestens nachdem du von mir erfahren hattest, wer der Ermordete ist? Du konntest dir doch wohl denken, dass wir die Villa deines Freundes durchsuchen werden.“

„Meines Freundes?“

Derrick Faulkners Augen begannen gefährlich zu funkeln, als er entgegnete: „So nennt man das doch wohl, wenn eine Person mehr als ein Jahr lang mit einer anderen Person eine intime Beziehung führt. Oder willst du das etwa abstreiten?“

Für einen Moment war die Frau sprachlos. Dann sprang sie vom Stuhl auf und fauchte wütend: „Ich habe nie einen Zweifel daran gelassen, dass es andere Männer und Frauen in meinem Leben gibt. Das Problem ist, dass du damit nicht klarkommst. Oder willst du mir etwa unterstellen, dass ich etwas mit dem Mord zu tun habe. Du weißt doch wohl ganz genau, wo ich zum fraglichen Zeitpunkt war!“

Etwas langsamer als Céline erhob sich auch Faulkner von seinem Stuhl und umrundete den Schreibtisch. Einen Schritt vor der Frau stehen bleibend fragte er: „Weiß ich das wirklich? Wir haben ab kurz nach Mitternacht geschlafen. Wer sagt mir denn, dass du die ganze Zeit über wirklich bei mir warst? Dafür gibt es keinen eindeutigen Beweis, weshalb ich dich als Tatverdächtige behandeln muss. Aber das kannst du dir bestimmt denken. Das ist übrigens der Grund, warum ich am heutigen Morgen den Commissioner davon in Kenntnis setzen musste, dass in diesem Mordfall Florence Cassell die Leitung in diesem Fall haben wird. Ich werde deinen Pass einziehen, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind. Außerdem muss ich dich darum bitten, die Insel nicht zu verlassen.“

Céline Durands Augen weiteten sich. „Was redest du denn da? Denkst du etwa, ich könnte einen Mord begehen?“

„Nein, im Grunde nicht“, erwiderte Faulkner ruhig. „Genau das ist bei diesem Fall das Problem. Ich darf dich nicht ausschließen, solange du kein Alibi hast. Ich habe übrigens auch keins und wäre ich ein eifersüchtiger Hitzkopf dann hätte ich sogar ein Motiv.“

„Aber das ist doch verrückt! Du kannst mich doch nicht als Verdächtige behandeln!“

„Ich kann und ich werde“, versicherte Faulkner der Frau mit abgesenkter Stimme.

Für einen Moment fassungslos fuhr ihn Céline wütend an: „Aber das kann unmöglich dein Ernst sein. Du kennst mich doch!“

„Das dachte ich zumindest“, konterte Faulkner hitziger, als er es wollte. „Aber Tatsache ist: Ich kenne dich quasi überhaupt nicht. Das wurde mir beim Sichten der sichergestellten Datenträger klar.“

Zorn loderte in den dunklen Augen der Frau auf. „Damit nähern wir uns dem Kern der Angelegenheit, scheint mir! Du kommst mit unserem Arrangement nicht klar! Das ist es! Aber ich lasse mich nicht von dir vereinnahmen, das habe ich von Beginn an klargestellt!“

Dem Blick von Céline standhaltend schwieg Faulkner zu diesen Vorwürfen. Insgeheim hatte er mit einer solchen Reaktion gerechnet, denn er ahnte, dass Céline sich insgeheim schämte, weil er die Porno-Videos gesichtet hatte. Jede Erwiderung seinerseits würde die momentan angespannte Situation vermutlich nur eskalieren lassen.

Doch auch sein Schweigen brachte Céline in Fahrt. Emotional fuhr sie Faulkner deshalb an: „Wenn du nichts dazu sagen willst, dann sage ich dir jetzt etwas, Derrick: Ich beende ich die Beziehung mit dir!“

„Ich werde deine Entscheidung akzeptieren“, gab Faulkner beherrscht zurück. Zwar hatte er diese Entwicklung kommen sehen, doch er spürte trotzdem einen imaginären Kloß im Hals, als sie die Worte aussprach. Seine Gefühle für Céline waren sehr stark, obwohl ihm bereits seit einiger Zeit klar war, dass er nicht dasselbe für sie empfand, was er für seine ermordete Frau Freya empfunden hatte. Zudem verspürte er seit einiger Zeit den Wunsch nach einer wirklichen Beziehung. Nicht nur nach Sex und Begierde. Vielleicht auch deshalb, weil die väterliche Freundschaft zu Dayana ihn zu sehr an sein früheres Leben erinnerte.

Céline wirkte überrascht. Für einen langen Moment schweigend fragte sie schließlich mit kratziger Stimme: „Ist das alles, Detective-Inspector?“

„Vorläufig ja – und lass gefälligst diesen Detective-Inspector-Unfug, okay?“

Den Polizisten ein letztes Mal zornig ansehend machte Céline Durand auf dem Absatz kehrt und rauschte aus dem Revier.

Als sie den linken der drei Durchgänge zur Veranda fast erreicht hatte, holten sie die Worte des Mannes ein. „Ach, und Céline. Bitte vergiss nicht - ich meinte es ernst, als ich sagte, dass ich für die Dauer der Mordermittlung deinen Pass einziehen muss.“

Céline blieb ruckartig stehen und sah über die Schulter zu Faulkner. Dann wandte sie sich endgültig ab und ging. Am unteren Ende der Treppe, die zum Vorplatz führte, stieß sie beinahe mit Florence Cassell zusammen, die vom Haus von Silvana Da Silva zurückkehrte.

Die Freundin an den Oberarmen abfangend erkundigte sich Florence vorsichtig: „Wie war denn deine Unterhaltung mit dem Chief? Du weißt schon, dass er dich zu dem Fall befragen musste.“

„Dein Chief behandelt mich wie eine gewöhnliche Verbrecherin“, ereiferte sich Céline und sah Florence dabei aufgebracht an. „Angeblich hat man kein Alibi, wenn der Mann, mit dem man im Bett liegt, schläft.“

„Stimmt“, versetzte Florence trocken. „Was noch?“

Verdutzt sah Céline die Freundin an und erzählte ihr anschließend davon, was sich noch soeben im Revier ereignet hatte. Sie schloss mit den Worten ab: „Was glaubst du, was Derrick dazu gesagt hat? Ich sage es dir – er sagte gar nichts dazu.“

Den Chief in Schutz nehmend erwiderte Florence kühl: „Was hast du denn erwartet? Er ist Kriminalermittler. Dachtest du, er würde dein kleines Manöver nicht durchschauen? Vermutlich bist du nun obendrein auch noch enttäuscht, weil er nicht widersprochen hat? Oder ist es vielleicht so, dass auch du mehr möchtest und nun Angst hast, er würde aufgrund deines Lebenswandels davor zurückschrecken?“

Florence verblüfft musternd gab Céline widerwillig zu: „Ich hatte zumindest erwartet, dass er versuchen würde mich umzustimmen.“

„Ich denke, der Chief möchte inzwischen mehr, als eine flüchtige Beziehung. Doch ihm ist klar, dass er das von dir nicht bekommen wird. Du bist ihm ganz bestimmt nicht egal doch das mit dir ist nicht das, womit er am Ende glücklich werden könnte. Vermutlich ist ihm das schon länger klar. Jetzt hast du ihm eine unangenehme Entscheidung abgenommen.“

Céline schien etwas auf die Worte der Polizistin erwidern zu wollen, doch dann presste sie nur die Lippen zusammen und schritt zum Taxi. Über die Schulter sehend meinte sie: „Warte bitte einen Moment, dann kannst du gleich meinen Pass mitnehmen. Dein Chef besteht darauf, ihn für die Dauer der Ermittlungen einzuziehen.“

Nachdem Céline ihren Pass übergeben hatte, fuhr sie im Taxi davon und Florence sah ihr sinnend hinterher. Erst nach einer geraumen Weile wandte die Polizistin sich ab und schritt die Stufen zum Revier hinauf. Dabei verspürte sie, bereits zum zweiten Mal an diesem Tag, ein seltsames Kribbeln in der Magengegend.

Gegenangriff

Die Befragung der beiden männlichen Verdächtigen war von Florence Cassell für den nächsten Tag angesetzt worden, nachdem sie dem Chief von ihrem Zusammentreffen mit Silvana Da Silva erzählt hatte. Da auch mit dem medizinischen Abschlussbericht der Leichenschau nicht vor dem morgigen Tag gerechnet werden konnte, hatte Derrick Faulkner ihrem Vorschlag zugestimmt.

Wie am Vortag verabredet holte der Detective-Inspector Nalani Camara pünktlich um 18:00 Uhr Zuhause ab. Bereits eine halbe Stunde später krabbelten sie auf dem Dach der Hütte des Chiefs herum, besserten einige marode Bohlen aus und dichteten Risse ab, die sich im Laufe der Zeit in der Abdeckung des Daches gebildet hatten.

Es war bereits vollkommen finster geworden, als der Polizist und die junge Feuerwehrfrau, nach dem Risotto, das der Chief für sie beide gekocht hatte, bei einem Bier auf der Veranda saßen und sich zuprosteten.

„Das haben wir uns ehrlich verdient“, meinte Faulkner.

„Wenn wir in einer Woche fertig sind, dann kann der nächste Regen kommen, Chief“, stimmte Nalani Camara zu. „Aber ich glaube gar nicht, dass es so lange dauern wird. Wir haben bereits heute eine Menge geschafft. Sie kochen übrigens ausgezeichnet.“

Sie prosteten sich zu und nahmen einen Schluck. Sein Bier schließlich auf den Tisch stellend sah Faulkner in das hübsche Gesicht der Mittzwanzigerin und sagte ernsthaft: „Vielen Dank. Hören Sie, Miss Camara. Sie müssen nicht eine volle Woche ihrer Freizeit für mich opfern, oder im Akkord schuften, damit es schneller geht. Ich sehe den Wetteinsatz als erfüllt an, sobald wir die wichtigsten Arbeiten erledigt haben. Im Übrigen schlage ich vor, dass wir uns beim Vornamen nennen. Sie haben schon einen Chief und der bin nicht ich.“

„Einverstanden, Ch… Derrick“, stimmte die junge Frau zu. „Einverstanden jedoch nur damit, dass wir uns bei unseren Vornamen ansprechen. Das mit dem Rückzieher können Sie knicken. Übrigens, das Bild von Ihnen, mit Ines und mir, ist dem Fotografen des LEDGER wirklich sehr gelungen. Haben Sie es schon auf deren Website angesehen?“

Derrick Faulkner schüttelte entsagungsvoll den Kopf. „Nein, noch nicht.“

Erneut einen Schluck von seinem Bier nehmend fragte der Mann dann mit verändertem Tonfall: „Sie sind ziemlich eigen, wenn es sich um Abmachungen handelt?“

Ein breites Grinsen überflog das Gesicht der Feuerwehrfrau. „Im Grunde nicht. Doch in diesem Fall werde ich in einer Woche dann keine Bedenken haben, Sie zu fragen, ob sie mir beim Renovieren helfen werden.“

„Raffiniert“, gab der Inspector lakonisch zurück. „Im Grunde stehen wir danach bei Plus-Minus-Null.“

Nalani schüttelte den Kopf. „Das sehe ich anders. Wenn Sie ihr Dach ausbessern und ich bei mir renoviere, dann haben wir nur unser Heim verschönert. Wenn ich das hingegen bei Ihnen mache und Sie bei mir, dann haben wir außerdem einander geholfen.“

Der Inspector erlaubte sich ein Schmunzeln. „Da ist etwas dran.“

Während Nalani Camara ihr Bier austrank, verschloss Faulkner seine noch halbvolle Flasche umständlich mit dem Kronkorken, der noch auf dem Tisch lag. Dabei meinte er zu der jungen Frau: „Den Rest trinke ich später. Zuerst fahre ich Sie mit dem Jeep heim. Gerade als Polizist sollte man nicht angetütert fahren.“

Nalani lachte hell. „Angetütert?“

„Sagt man in einigen Gegenden von Europa“, erklärte der Polizist. Er stand auf, ging in die Hütte, stellte das Bier in den Kühlschrank und war einen Moment später wieder bei Nalani auf der Veranda.

Bereits eine Minute später fuhren sie im Land-Rover der Polizei von Saint-Marie die Küstenstraße entlang. Zu Nalani Camara war es nicht weit.

Als der Chief den Jeep vor dem Haus der Feuerwehrfrau anhielt, sah sie ihn von der Seite an und meinte: „Vielleicht sollte ich Ihnen meine Handynummer geben, falls sich bei mir etwas Unerwartetes ergibt oder falls ich länger arbeiten muss.“

„Dann gebe ich Ihnen am besten auch meine“, stimmte Faulkner zu. „So sind wir beide auf der sicheren Seite.“

Nachdem Faulkner die Nummer von Nalani Camara gespeichert hatte, wählte er sie an und einen Moment ertönte der Rufton des Smartphones der Frau. Den Anruf sofort wieder unterbrechend meinte er: „Jetzt haben Sie auch meine Nummer.“

„Alles klar, Derrick. Gute Nacht.“

Nalani legte ihre Linke sacht auf den Oberarm des Mannes und stiegt aus. Am Hauseingang winkte sie Faulkner nochmal zu bevor sie im Innern verschwand.

Der Inspector lächelte unmerklich, bevor er den Land-Rover anließ und wieder zu seiner Hütte fuhr. Wesentlich besser gelaunt, als noch am Nachmittag.
 

* * *
 

Am nächsten Morgen erwartete Detective-Inspector Derrick Faulkner gleich eine unangenehme Überraschung, kaum dass er das Polizeirevier betreten hatte.

Der Chief hatte an diesem Morgen kaum mehr getan, als das Team zu begrüßen, einen langen Blick auf das Whiteboard zu werfen, auf dem nun auch die Namen Silvana Da Silva, Lyonel Bonnet und Yandel Langevin standen, mit den entsprechenden Konterfeis. Sich nach einer Weile von dem Board zu Florence wendend, die am PC recherchierte, bemerkte er aus den Augenwinkeln, dass der Commissioner den Raum betrat.

Faulkner stellte die Frage nach dem Stand der Ermittlungen hinten an, sah zu Selwyn Patterson und begrüßte ihn: „Guten Morgen, Commissioner. Was kann ich für Sie tun?“

Der Chef der Polizei auf Saint-Marie verzichtete darauf, seine Dienstmütze abzunehmen. Im Vorbeigehen nahm er die Ehrenbezeigungen von Sarah Dechiles und Wellesley Karr freundlich nickend zur Kenntnis. Als er dicht bei Faulkner stand, sah er ihn prüfend an und raunte ihm zu: „Das würde ich gerne unter vier Augen mit Ihnen besprechen, Detective-Inspector. Die Angelegenheit ist, wie soll ich sagen, etwas heikel.“

Der Chief hob verwundert seine Augenbrauen, erwiderte jedoch im Moment nichts, sondern folgte seinem massigen Vorgesetzten hinaus auf die Veranda. Erst dort erkundigte sich der Brite: „Worum geht es denn, Commissioner? Sie klangen eben ziemlich ernst.“

„Nun, das ist diese Angelegenheit auch“, erwiderte Patterson um gleich darauf auf den Punkt zu kommen. „Ich erhielt, vor etwa einer Stunde, einen anonymen Anruf. Der Stimme nach ein älterer Mann. Er sagte mir, er habe zur angenommenen Mordzeit einen Mann vom Tatort weglaufen sehen. Er meinte, der Mann habe dabei wohl Probleme gehabt, mit dem rechten Fuß richtig aufzutreten. Er beschrieb ihn als blond und hellhäutig. Etwa Ihre Statur.“

Derrick Faulkner brauchte einen Moment bis ihm die volle Bedeutung von Pattersons Worten bewusst wurde. Ungläubig erwiderte er: „Der Mann will mich dort gesehen haben? Aber das glauben Sie doch nicht?“

Selwyn Patterson war anzumerken, dass ihm die momentane Situation nicht behagte. Ernst entgegnete er: „Nein, das halte ich tatsächlich nicht für wahrscheinlich. Sie wissen jedoch, dass ich einem solchen Hinweis nachgehen muss. Darum bin ich hier. Ich muss Sie nach Ihrem Alibi für die Mordnacht fragen, Inspektor.“

Faulkner erwiderte unwillig den Blick des Vorgesetzten. „Das werden Sie jetzt sicherlich komisch finden, Commissioner. Zu der fraglichen Zeit war ich mit Céline Durand zusammen. Dennoch habe ich sie nicht als Verdächtige ausgeschlossen da sie die Hütte unbemerkt hätte verlassen können während ich schlief. Aber das gilt dann in demselben Maß natürlich auch für mich selbst, falls sie nicht die gesamte Nacht über wach war, was wohl nicht anzunehmen ist.“

„Ist es nicht, Inspector. Bevor ich herkam, habe ich über die Taxizentrale Verbindung mit Miss Durand aufgenommen. Sie kann Ihre Anwesenheit nicht definitiv bestätigen. Ich muss Sie deshalb vorläufig vom Dienst suspendieren, Inspektor.“

Faulkner atmete tief durch. „Natürlich, Sir. Ich werde Ihnen meine Dienstmarke aus dem Schreibtisch holen und auch meinen Pass geben.“

Sie betraten gemeinsam das Innere des Reviers. Florence, die zunächst nur kurz aufsah, beobachtete mit wachsendem Unglauben, dass der Chief dem Commissioner seine Dienstmarke und seine Ausweise aushändigte. Sie erhob sich, sah fragend zu den beiden Männern und wollte eine entsprechende Frage stellen, als ihr Patterson zuvorkam.

„Einen Moment bitte, Detective-Sergeant Cassell.“

Sich zu Faulkner wendend sagte der Commissioner vielsagend: „Sie hören dann von mir, Detective-Inspector.“

Erst nachdem Faulkner, der den Hinweis verstanden hatte, das Revier verließ, sah Patterson ernst in die Runde und sagte, zu Florence Cassell gewandt: „Ich musste den Chief, aufgrund eines anonymen Anrufs, der ihn zu einem Verdächtigen in der laufenden Mordermittlung macht, suspendieren. Bitte setzen Sie alles daran, diesen Fall rasch aufzuklären, um den Inspector zu entlasten.“

Nachdem der Commissioner das Revier verlassen hatte, blieb es für eine ganze Weile still und die drei Polizeibeamten sahen sich nur ungläubig an. Schließlich war es Sarah Dechiles, die aufbrauste: „Das gibt es doch gar nicht. Da will jemand eindeutig den Chief diskreditieren, Sarge! Diesem anonymen Anrufer würde ich gerne im Dunkel begegnen!“

„Wir müssen einen kühlen Kopf behalten, Sarah“, gab Florence Cassell entschlossen zurück. „Konzentrieren wir uns also auf die Fakten. Was sagt das Labor?“

Sich krampfhaft wieder auf den Fall konzentrierend sah Sergeant Dechiles auf die Ausdrucke des Laborberichtes und erläuterte: „Das Labor grenzt die Todeszeit vorläufig auf einen Zeitraum zwischen 02:30 Uhr und 05:00 Uhr ein. Die von uns angenommene Todesursache wird bestätigt. Die linke Herzkammer wurde perforiert, was zum Kreislaufkollaps geführt hat. Der anschließende Hirntot, noch bevor die Rettungskräfte am Tatort eintrafen, ist die Folge der Verletzung gewesen. Auf der Haut des Toten wurden graue Stofffasern gefunden, die zu keinem Kleidungsstück des Toten gehören. Auch im Wagen des Toten gibt es keinen solchen, grauen Stoff.“

„Woher kommt der Stoff dann?“, warf Wellesley Karr ein. „Könnte das von der Kleidung des Mörders stammen?“

Florence sah ihre beiden Untergebenen überlegend an und meinte dann: „Vielleicht können wir da ansetzen. Wellesley. Rufen Sie beim Labor an, sobald jemand da ist und sagen Sie denen, wir brauchen eine exakte Analyse der Stofffasern. Sarah und ich befragen die restlichen Verdächtigen.“

Florence bemerkte die Blicke ihrer beiden Untergebenen und sie gewann den Eindruck, ihnen etwas Zuversicht zusprechen zu müssen. Auch sie stand noch unter dem Eindruck der Suspendierung des Chiefs.

„Wir werden den Fall aufklären. Schon, weil der Chief unmöglich der Mörder sein kann. Das ist uns hoffentlich allen klar? Irgendwer versucht diese Ermittlungen zu torpedieren und diese Person werden wir aufspüren. Das ist das, was wir am besten können.“

Wellesley Karr nickte entschlossen. „Ich werde denen im Labor etwas Druck machen, Detective-Sergeant. Sie können sich auf mich verlassen.“

Auch durch Sarah Dechiles schien ein Ruck zu gehen. „Auf mich auch. Welchen der Verdächtigen suchen wir zuerst auf?“

Florence nickte zufrieden. „Zuerst suchen wir Lyonel Bonnet auf. Danach befragen wir Yandel Langevin. Gehen wir.“
 

* * *
 

Derrick Faulkner war klar, dass er nicht auf eigene Faust ermitteln durfte, auch wenn es ihn in allen Fingern juckte, genau das zu tun. Doch diese Anwandlung verflog und machte kühler Überlegung Platz, kaum dass er seine Hütte erreicht hatte. Bereits auf dem Weg hierher, den er zu Fuß zurückgelegt hatte, sagte sich der Polizist, dass eine solche Eigenmächtigkeit alles nur verschlimmern würde. Rechnete der anonyme Anrufer vielleicht sogar genau damit? Das würde tief blicken lassen.

Seinen Rucksack auf das Bett werfend beschloss Faulkner, aus der Not eine Tugend zu machen. Er konnte die Zeit dazu nutzen, um weiter am Dach der Hütte zu arbeiten. Das würde ihn einerseits ablenken und andererseits konnte er dabei in Ruhe nachdenken. Vielleicht fiel ihm mit einem gewissen Abstand zur gewohnten Arbeit ja etwas ein, an das er bisher nicht gedacht hatte. Außerdem konnte er den Streit mit Céline Revue passieren lassen.

Der Brite zog sich rasch um.

Am frühen Nachmittag hatte er einen Gutteil der Arbeit geschafft, für die er ansonsten mindestens drei Abende eingerechnet hatte. So langsam verspürte er Hunger und er machte sich daran, die Leiter hinabzusteigen.

Noch bevor Faulkner unten ankam schritt ein hochgewachsener Mann auf ihn zu und sprach ihn an: „Detective-Inspector Derrick Faulkner?“

Die letzten Sprossen der Leiter hinabsteigend wandte sich der Inspector dem Mann zu, der etwa so hochgewachsen war, wie er selbst. Der schlanke, athletisch wirkende Mann mochte vielleicht Anfang dreißig sein. Er trug Jeans, Turnschuhe und ein buntes, kurzärmliges Hemd. Sein dunkles Gesicht, mit den beinahe schwarzen Augen wirkte sympathisch. Der schmale Oberlippenbart passte zu seinem Typ, wie Faulkner fand.

„Der bin ich“, erwiderte der Inspector. „Darf ich fragen, wer Sie sind?“

„Detective-Sergeant Fidel Best, von Saint-Lucia. Sergeant Dechiles sagte mir, dass ich Sie hier finden würde. Ich möchte gerne mit Ihnen reden, Sir.“

„Seien Sie mein Gast, Detective-Sergeant Best“, erwiderte Faulkner und deutete einladend auf die Veranda. „Sie müssen übrigens nicht Sir zu mir sagen. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“

„Nein, Danke“, lehnte der Besucher ab und folgte dem Inspector auf die Veranda. Dabei meinte er: „Es ist ein paar Jahre her, seit ich zum letzten Mal hier war.“ Auf den fragenden Blick seines Gegenübers fügte Best an: „Ich stamme von Saint-Marie und habe hier als Officer und später als Sergeant der Polizei gedient.“

Sie nahmen an dem kleinen Tisch Platz und Derrick Faulkner erkundigte sich: „Sind Sie dienstlich hier oder besuchen Sie Freunde auf Saint-Marie?“

„Im Grunde beides. Ersteres aber eher inoffiziell.“

„Klingt etwas geheimnisvoll.“

Der Detective-Sergeant wand sich etwas, bevor er erklärte: „Eines meiner Anliegen auf Saint-Marie war, sie aufzusuchen, um mit ihnen über Dayana Tanguy zu reden. Ich war es nämlich, der die Vermisstenmeldung der Eltern des Mädchens aufgenommen, und die Ermittlungen in dem Fall eingeleitet hat. Die Benachrichtigung, dass sie auf Saint-Marie ist und dort wegen Diebstahls zur Ableistung von drei Monaten Arbeitsdienst verurteilt wurde, kam mir, aufgrund der Schnelligkeit der Verurteilung seltsam vor. Insbesondere, wenn man bedenkt, dass der achtzehnte Geburtstag des Mädchens in diese Zeit ihrer Unabkömmlichkeit fiel. Ich habe mich natürlich gefragt, ob das Zufall war.“

Derrick Faulkner legte seine Hände auf die Tischplatte, verschränkte die Finger ineinander und sah seinem Gegenüber direkt in die Augen. Ohne Umschweife gab er zu: „Es war kein Zufall, DS Best. Ich selbst habe, nach meinem ersten Gespräch mit dem Mädchen, auf diese rasche Verurteilung gedrängt. Mit gutem Grund. Kennen Sie das Elternhaus des Mädchens? Wissen Sie, wie es dort zugeht?“

Fidel Best lehnte sich im Stuhl zurück und deutete ein Lächeln an. „Ja, wir wurden öfter wegen häuslicher Gewalt von Nachbarn dorthin bestellt. Mein Besuch hat nicht den Hintergrund, Sie dafür zu kritisieren. Ganz im Gegenteil, ich bin gekommen, um Ihnen dafür zu danken, dass Sie diese äußerst kreative Lösung gefunden haben. Aber was hat der Commissioner dazu gesagt?“

„Wenn Sie ihn kennen, dann können Sie sich das bestimmt vorstellen“, versetzte Faulkner launig. „Offiziell hat er mich gerügt – inoffiziell war er zufrieden mit mir.“

Fidel Best lachte kurz auf. „Ja, das klingt ganz nach Commissioner Patterson.“

Derrick Faulkner nutzte die entstehende Pause um zu fragen: „Wenn Sie hier aufgewachsen sind, dann kennen Sie vielleicht einen gewissen Anthony Rodriguez?“

Best runzelte die Stirn und meinte nach einer Weile: „Soweit mir bekannt ist produziert dieser Mann Schund-Filme. Wir mussten jedoch nie gegen ihn ermitteln.“

„Er produzierte Schund-Filme“, verbesserte Derrick Faulkner. „Irgendjemand war wohl mächtig verärgert, wegen seiner Produktionen.“

Fidel Best wirkte erstaunt und fragte ruhig: „Entschuldigen Sie die Frage, Inspector, aber wenn Sie in einem Mordfall ermitteln, warum sind Sie dann hier?“

Derrick Faulkner grinste schwach. „Ein anonymer Anrufer hat mich angeblich am Tatort gesehen. Ich war zu diesem Zeitpunkt zwar nicht alleine, doch da wir beide geschlafen haben, kann mir die Dame kein hieb- und stichfestes Alibi geben. Deshalb war der Commissioner dazu gezwungen mich zu suspendieren.“

„Tut mir leid, das zu hören. Da will sie offensichtlich jemand aus den Ermittlungen heraushalten, Inspector.“

Der Brite nickte. „Ja, doch mein Team wird herausfinden, wer dahintersteckt. Besonders Detective-Sergeant Cassell ist eine sehr fähige Ermittlerin. Kennen Sie sie?“

Fidel Best schüttelte den Kopf. „Nur dem Namen nach. Sie begann ihren Dienst auf dieser Insel, nachdem ich nach Saint-Lucia gegangen war. Ein ehemaliger Kollege von mir äußerte sich von Zeit zu Zeit sehr positiv über sie.“

„Ich kenne sie erst seit einigen Monaten, doch ich vertraue ihr“, bekannte Faulkner. Dann räusperte er sich und fragte: „Kann ich sonst noch etwas für Sie tun DS Best?“

Der Detective-Sergeant verstand den Wink und erhob sich. „Nein, das war alles. Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis bezüglich meiner beruflichen Neugier, Inspector. Darf ich abschließend fragen, was aus Dayana Tanguy inzwischen geworden ist?“

„Sie beginnt eine Ausbildung zur Sekretärin im öffentlichen Dienst.“

Fidel Best wirkte zufrieden. Sie reichten sich die Hand.

Nachdem der Detective-Sergeant gegangen war, sah Faulkner zum Dach seiner Hütte hinauf und erklomm einen Moment die Leiter, um weiter dort oben zu arbeiten.

Teamwork

Lyonel Bonnet machte einen schweigsamen Eindruck auf Florence Cassell und Sarah Dechiles. Nachdem er die beiden Polizistinnen in den Wohnbereich seiner Villa gebeten hatte, hörte er sich stumm an, weswegen sie ihn aufgesucht hatten. Erst, als sich Florence nach seinem Alibi erkundigte, sagte er: „Ich war bei einer Dame. Auf der anderen Seite der Insel. Diese Dame ist eine verheiratete Touristin, deshalb wäre es nicht gut…“

„Gut oder nicht – wir brauchen für die Bestätigung Ihres Alibis den Namen dieser Person“, unterbrach ihn Sarah Dechiles forsch, was einen mahnenden Blick ihrer Vorgesetzten nach sich zog.

Florence Cassell hakte, etwas weniger emotional ein: „Wenn Sie den Namen nicht nennen wollen, gelten Sie als Tatverdächtiger in einem Mordfall. Ich hoffe, Sie wissen was das heißt, Sir.“

Mit finsterer Miene griff der Mann zu einem Adressbuch, das auf dem Tisch lag, schlug einige der Seiten um und gab dann Auskunft: „Ihr Name ist Jennifer Greyson. Sie macht im Sundown-Ressort mit ihren Freundinnen Urlaub.

Die Polizistinnen notierten die Daten und Florence erkundigte sich danach: „Was können Sie uns über das Verhältnis der anderen Video-Darsteller zu dem Ermordeten sagen? Gab es irgendwelche Spannungen?“

„Mehr als genug“, platzte der Endzwanziger heraus. „Coralee hatte Streit mit Rodriguez, weil sie mehr Geld wollte. Dann ist da Silvana, die ihn unbedingt heiraten wollte, nachdem sie von ihm schwanger geworden war. Als er sie abblitzen ließ, trieb sie das Kind ab. Seitdem hat es zwischen beiden nur noch so gefunkt. Yandel hingegen war mächtig eifersüchtig auf Rodriguez, weil er für Céline Durand schwärmt. Doch die hatte nur Augen für Rodriguez. Beide führten seit über einem Jahr eine feste Beziehung.“

Die Ermittlerinnen hörten in demselben Moment mit ihren Notizen auf und sahen den athletischen Mann gleichermaßen erstaunt an. Es war Florence Cassell, die prüfend fragte: „Sind Sie sich absolut sicher, was diese Beziehung angeht?“

„Ich bin mir sicher. Céline hat sehr oft bei ihm übernachtet und bestimmt nicht deshalb, weil sie kein Dach über dem Kopf hätte.“

„Wie kamen Sie selbst mit Mister Rodriguez aus?“, erkundigte sich DS Cassell, wobei sie Gedanken darüber anstellte, dass sie von Seiten dieses Mannes nun die Bestätigung dafür bekommen hatten, was bereits Coralee Morgan zu berichten wusste.

Relativ gut“, gab Bonnet rasch zurück. „Natürlich gab es ab und zu mal Diskussionen darüber, wie eine Szene aufgebaut sein sollte. Doch insgesamt hatten wir ein gutes Arbeitsverhältnis zueinander.“

Sarah Dechiles hakte ein: „Man kann also sagen, dass Sie keinen Streit mit dem Opfer gehabt haben? Zumindest in der letzten Zeit nicht?“

„Exakt das wollte ich damit zum Ausdruck bringen, Sergeant.“

Bevor die Frau nachlegen konnte, legte Florence Cassell kurz ihre Hand auf den Unterarm der Kollegin und sagte zu Bonnet gewandt: „Das wäre vorerst alles, Mister Bonnet. Bitte bleiben Sie vorerst auf der Insel, denn es könnte sein, dass sich noch Fragen an Sie ergeben. Selbst für den Fall, dass Ihr Alibi bestätigt werden wird.“

Sie und Sarah Dechiles verabschiedeten sich von dem Schauspieler. Auf dem Weg zum Rover meinte Florence zu ihrer Untergebenen: „Dieser Lyonel Bonnet war dabei zuzumachen. In solchen Fällen warteten meine bisherigen Vorgesetzten gerne ab, bis sich entweder neue Verdachtsmomente oder aber neue Hinweise ergeben haben.“

Sarah Dechiles nickte verstehend. „Ich wollte, der Chief würde momentan nicht auf der Strafbank sitzen, Sarge. Ich frage mich, seit seiner Suspendierung, wer den Commissioner angerufen hat. Ist er der Täter oder nur jemand, der den Täter schützen will?“

Florence sah ihre Kollegin an, wie ein Wundertier, bevor sie kurz die Augen schloss und seufzend meinte: „Da kann man mal sehen, dass ich noch eine Menge zu lernen habe, bis es zum Detective-Inspector reicht. Ich habe weder an beide Möglichkeiten gedacht, noch daran, dass beide Personen, falls der Anrufer nicht der Täter sein sollte, in irgendeiner Weise in Verbindung stehen könnten. Leider erweitert das den Kreis der Verdächtigen.“

„Und ich hatte gehofft, es würde den Kreis der Verdächtigen verkleinern, weil wir dann die Freundin des Chiefs ausschließen könnten.“

Florence Cassell warf dem Sergeant einen undefinierbaren Blick zu und es dauerte nicht lange, bis sich Erkenntnis auf dem Gesicht ihrer Untergebenen widerspiegelte.

Schnell sagte Florence: „Ich habe nichts andeuten wollen.“

„Und ich habe nichts vermutet“, erklärte Dechiles hastig, wobei ihr Blick die vorangegangenen Worte Lügen strafte.

Auf dem Weg zu Yandel Langevin sprudelte es dann aus Sarah Dechiles heraus: „Ich würde dem Chief so gerne helfen. Besonders, da ihm jetzt auch noch sein Privatleben um die Ohren fliegt. Wenn ich erfahre, wer dieser anonyme Anrufer ist, dann ist was los.“

Florence schmunzelte fein. „Immer mit der Ruhe, Sergeant. Wir werden dahinter kommen, wer dem Chief eins auswischen will. Sobald wir ihn haben und unsauberes Spiel nachweisen können, ist der Inspector wieder im Geschäft. Dann werden wir den Mörder jagen und am Ende überführen. Also Konzentration und Professionalität.“
 

* * *
 

„Ich kann kaum glauben, dass wir schon mit dem Dach der Hütte fertig sind“, lachte Nalani Camara, als sie an demselben Abend auf der Veranda saßen. „Das passt mir hervorragend, da ich ab morgen Früh Bereitschaft habe. Mein Chief hat das gestattet, damit ich endlich mit der Renovierung meiner Wohnung beginnen kann.“

Derrick Faulkner, der ebenfalls zufrieden wirkte, nahm einen Schluck Bier und erwiderte: „So eine Suspension hat auch seine Vorteile. Sie wollen also bereits morgen Früh beginnen? Um wieviel Uhr?“

„Gleich um acht. Carpe diem.“

Das Lächeln des Mannes vertiefte sich. „Ja, nutzen wir den Tag. Ich werde dann, pünktlich um acht, bei Ihnen aufschlagen. Falls meine Suspension vorher aufgehoben werden sollte, melde ich mich vorher bei Ihnen.“

Nalani Camara öffnete den Mund. Sie sagte jedoch nichts, sondern nahm einen Schluck von ihrem Bier, bevor sie verlegen meinte: „Eben hätte ich fast gesagt Ich hoffe nicht. Dabei hatte ich nicht bedacht, wie deprimierend das für Sie sein muss.“

„Frustrierend trifft es eher“, bekannte Faulkner. „Nur deprimierend wäre es, wenn es nicht obendrein einen Mordfall geben würde, der meine Mitarbeit erfordert. Florence ist zwar sehr gut und das Team auch, doch es braucht eine Menge Erfahrung, um die Teile des Ganzen richtig zusammenzufügen. Das hat nichts mit Fähigkeiten zu tun.“

„Ich habe im Internet davon gelesen. Dieser Rodriguez soll ein ziemlich windiger Typ gewesen sein. In dem Bericht hieß es, dass Ihre Freundin darin verwickelt ist. Darüber müssen Sie natürlich nicht reden, wenn es zu persönlich ist.“

Faulkner grinste schief. „Darüber werde ich nicht reden.“

Der Mann sah zum Meer hinaus. Bereits vor einer halben Stunde war die Sonne hinter dem Horizont verschwunden.

Erst als Nalani Camara wieder das Wort ergriff, drehte er sich zu ihr. „Was hat Sie dazu veranlasst, England zu verlassen, Derrick? Sie sind ein gutaussehender Mann. Na ja, für Ihr Alter eben. Da vermutet man doch, dass es eine Frau oder eine Freundin gegeben hat. Ich meine, die meisten Männer, in Ihrem Alter sind verheiratet und haben eine eigene Familie. Eine Frau und Kinder. Sind Sie geschieden?“

Für einen Moment sah Faulkner die junge Frau stumm an. Dabei sagte er sich, dass das ganz normale Fragen waren, die jemand in ihrem Alter wohl unbekümmert stellt. Er nahm es ihr deswegen auch nicht übel, obwohl er einen Knoten im Magen verspürte.

„Ich bin nicht geschieden, sondern verwitwet“, erklärte der Inspector ruhig. „Ich hatte eine Frau und eine Tochter. Beide sind tot. Den Posten hier übernehmen zu können kam mir deshalb wie gerufen. Vermutlich hätte ich England auch ohne diese Chance verlassen.“

Erschrocken sah Nalani Camara zu Faulkner und dieser fügte schnell hinzu: „Sie konnten das nicht ahnen, Nalani. Niemand würde so etwas ahnen. Ich bin deshalb auch nicht sauer, weil Sie gefragt haben. Ist vielleicht sogar ganz gut, wenn ich offen darüber rede.“

Die Feuerwehrfrau schluckte. Leise erwiderte sie: „Das tut mir sehr leid, Derrick.“

Der Inspector bemerkte den verstohlenen Blick zu seiner Armbanduhr. Sie hatte bereits einige Male darauf gesehen, aber keine entsprechende Frage gestellt. Er überlegte kurz, bevor er sagte: „Die Diddl-Uhr hat meiner Tochter gehört. Ich wollte sie Dayana schenken, als sie Geburtstag hatte, doch ich konnte es nicht.“

„Das ist doch verständlich. Irgendwann vielleicht.“

Derrick Faulkner war der jungen Frau dankbar dafür, dass sie keinerlei weitere Fragen zu seiner Tochter stellte. Trotz ihrer zumeist unbekümmert wirkenden Art besaß sie genug Feingefühl, um zu spüren, dass er darüber nicht mit ihr reden wollte. Zumindest heute nicht.

„Ja, vielleicht irgendwann. Für mich ist Dayana fast so etwas, wie eine Tochter. Klingt das irgendwie schräg?“

„Nicht mehr, seit Sie mir erzählt haben, wie es dazu gekommen ist. Dayana hatte Glück, dass sie rechtzeitig hier aufgetaucht sind. Ich glaube auch, dass umgekehrt Sie Glück hatten, dass Dayana rechtzeitig auf Saint-Marie aufgetaucht ist. Denn auch bei Ihnen scheint diese Begegnung etwas Positives ausgelöst zu haben.“

Der Inspector machte eine zustimmende Geste. „Das ist wahr.“

Sie prosteten sich zu und Faulkner wechselte abrupt das Thema, indem er fragte: „Was ist mit Ihnen, Nalani? Leben Sie in einer festen Beziehung?“

„Bis vor einem Monat. Wir waren fünf Jahre zusammen und dann brennt der Kerl plötzlich mit einer reichen Amerikanerin durch. Ich habe in den letzten beiden Jahren bei ihm gewohnt. Deshalb auch das alte, kleine Haus und die Notwendigkeit zum Renovieren.“

„Jetzt muss ich wohl sagen, dass es mir leidtut“, meinte Faulkner ironisch. „Aber wissen Sie was? Ihr Ex-Freund tut mir mehr leid. Ich meine, welcher Mann, der seine Sinne beieinander hat, verlässt eine so bezaubernde junge Frau, wie Sie?

Nalani lachte amüsiert. „Ich habe so meine Macken, Derrick.“

„Die haben wir doch alle. Ich meine es ernst. Wir kennen uns zwar noch nicht lange, doch ich kann es nicht verstehen. Was ist nur los, mit den Leuten?“

Nalani Camara lag eine weitere Frage auf der Zunge, doch sie beschloss, diese Frage erst morgen zu stellen. Stattdessen meinte sie. „Ich werde mir jetzt ein Taxi rufen und zu mir fahren. Morgen will ich fit sein.“

Faulkner beobachtete Nalani dabei, wie sie ihr Smartphone aus der Hosentasche zog und einen Wagen zu seiner Hütte bestellte.

Derrick Faulkner brachte die junge Frau noch bis zur Straße. Als das Taxi auftauchte und er erkannte, wer es steuerte, verabschiedete er sich schnell von Nalani und meinte: „Wir sehen uns dann, aller Wahrscheinlichkeit nach, morgen Früh.“

Im nächsten Moment war er verschwunden und nachdenklich stieg Nalani Camara in das Taxi ein. Dabei fragte sie sich, ob sie die Frage überhaupt würde stellen müssen, oder ob Derrick sie ihr eben bereits beantwortet hatte.
 

* * *
 

Derrick Faulkner hielt Wort. An den nächsten beiden Tagen erschien er pünktlich bei Nalani Camara und sie arbeiteten bis zum Abend Hand in Hand. Abends erschienen Ines und deren Freund, sodass sie, zumeist bis Mitternacht, ab da zu viert arbeiteten.

Auf diese Weise verwandelte sich das neue Heim der jungen Frau zusehends in ein behagliches Zuhause, in dem sie sich wohlfühlen können würde.

So waren es gegen Mittag des dritten Tages im Grunde nur noch Kleinigkeiten, die zu erledigen waren. Irgendwann am Vormittag waren sie dazu übergegangen, sich zu duzen. Gleichzeitig hatten sie bis zu diesem Moment gemerkt, dass sich zu dem kameradschaftlichen Mögen keine weitergehenden, komplizierteren Gefühle einstellten, was wohl auch der Grund dafür war, dass sie so ungezwungen und locker miteinander umgehen konnten.

Sowohl Nalani Camara, als auch Faulkner fühlten sich sehr wohl damit. Sie lachten viel bei der Arbeit und erzählten sich Anekdoten aus ihrer Schulzeit.

An diesem Vormittag hatte Faulkner zum ersten Mal damit begonnen, der jungen Frau von der Art des Todes seiner Familie zu erzählen. Zu seiner gelinden Verwunderung reagierte Nalani nicht so schockiert darauf, wie er es zuvor befürchtet hatte. Vielleicht auch deshalb, weil sie bereits zuvor wusste, dass sie beide gestorben waren.

Sie hatten sich gleichfalls darüber unterhalten, wie er und Céline sich begegnet und zusammengekommen waren – und weswegen sie sich kürzlich getrennt hatten.

Sehr vorsichtig hatte die junge Frau sich nach seinen Gefühlen erkundigt. Es wirkte nicht aufdringlich oder zu neugierig auf den Inspector. In dieser Hinsicht ähnelte Nalani seiner Kollegin Florence, die über eine ähnlich empathische Ader verfügte. Vielleicht hatte er sie deswegen von Anfang an so sehr gemocht, weil sie Florence so ähnlich war.

Während sie sich beim Mittagessen über sein Leben auf der Insel unterhielten, fragte Nalani Camara überraschend: „Du magst sie sehr, oder?“

Verwirrt sah Faulkner die Feuerwehrfrau an, die außer Turnschuhen und, zumindest vermutete Falkner das, einen Slip, nur Jeans-Hotpants und ein knallrotes Bikini-Oberteil trug.

„Wen genau meinst du?“

„Deine Kollegin, die du immer wieder erwähnst. Diese Florence.“

„Ja, sie ist sehr kompetent und sie…“

Nalani lachte hell auf und der Inspektor brach ab, als sie mit dem Finger auf ihn zeigte und behauptete: „Oh, nein. Da ist viel mehr, als nur die berufliche Anerkennung. Vielleicht ist dir das wirklich noch nicht aufgefallen, doch man merkt es. So spricht man nicht von einem Menschen, den man lediglich beruflich schätzt und mag. Nein, da ist definitiv mehr. Aber du musst nicht darüber reden, wenn es dir zu peinlich sein sollte.“

„Es ist mir nicht peinlich“, widersprach Faulkner sofort und sah in die funkelnden Augen der jungen Frau, die ihm gegenüber saß. Nach einem Augenblick gab er zu: „Na ja, vielleicht ist es mir doch etwas peinlich. Ich meine, sie ist meine Untergebene.“

„Na und?“

Diese prompte Erwiderung brachte Faulkner etwas aus dem Konzept.

Lachend meinte Nalani Camara: „Ihr seid doch nicht beim US-Militär, wo so etwas wirklich ein Problem wäre. Was spricht also dagegen?“

„Du meinst, außer dass ich gar nicht weiß, wie Florence dazu stehen würde und außer, dass wir erst einmal darüber reden müssten?“

„Das lässt sich doch bestimmt herausfinden.“

„Das sagst du so, in deinem jugendlichen Leichtsinn“, seufzte Faulkner. „Ich war eine lange Zeit vom Markt, und bei meiner ersten Beziehung, nach Freya, da hat sie den ersten Schritt gemacht. Derjenige zu sein, der diesmal den ersten Schritt macht, ist schon ziemlich lange her. Wer weiß, ob ich mich dabei nicht hoffnungslos dämlich anstelle.“

Wieder lachte Nalani. „Wenn ich alles glauben würde, aber das nicht. Du musst es ja nicht gleich überstürzen. Du wirst schon irgendwann merken, wie es bei Florence aussieht und dann redest du einfach mit ihr darüber. Ist doch das Normalste von der Welt.“

„Sollte man meinen“, grinste der Inspector. Danach fügte er zustimmend an: „Aber du hast ganz Recht. Sollte sie auch etwas für mich empfinden, dann spreche ich mit ihr.“

„Das klingt schon besser.“

Nalani erhob sich von ihrem Stuhl und meinte: „So und jetzt lass uns noch den Rest in Angriff nehmen, dann haben wir es heute Abend geschafft. Dann kann ich an diesem Wochenende die Möbel kommen lassen. Ich rechne fest mit deiner Hilfe, beim Aufbauen.“

Auch Faulkner erhob sich und gemeinsam machten sie sich wieder ans Werk.

Wieder vereint

Die Entlastung des Chiefs erfolgte noch am frühen Nachmittag desselben Tages. Auf gänzlich andere Art und Weise, als es das Polizei-Team von Saint-Marie vermutet hätte.

In den letzten beiden Tagen hatten Florence Cassell und ihr Team sich auch mit Yandel Langevin unterhalten.

Der Befragte hatte von der Beziehung zwischen Lyonel Bonnet und Anthony Rodriguez ein etwas anderes Bild gezeichnet, als Bonnet selbst. Auch zwischen ihnen hatte es Spannungen gegeben, wegen einer Gay-Szene, die Bonnet nicht drehen wollte. Nebenbei erwies sich bei der Befragung von Yandel Langevin, dass er für die vermutliche Tatzeit, am frühen Morgen, ein Alibi hatte. Ab 01:30 Uhr war er, mit einer Touristin in mittleren Jahren, am anderen Ende der Insel, intim gewesen. Bis gegen 06:00 Uhr.

Darüber hinaus hatten das Polizei-Team mit weiteren Leuten gesprochen, die in der Umgebung des Tatortes wohnten. Was allen drei Polizisten zu denken gab, war die Tatsache, dass scheinbar niemand etwas gehört oder gesehen hatte, der dort wohnte.

Vor wenigen Minuten war endlich der Bericht des Labors bei ihnen eingegangen. Danach gehörten die gefundenen grauen Fasern nicht zu irgendwelchen Kleidungsstücken, sondern zur Innenausstattung von Auto-Kofferraums. Das Labor hatte es sogar auf die Marke Toyota eingrenzen können, da sie solche Fasern schon einmal im Zuge eines Mordfalls untersucht hatten.

Mit diesem Bericht am Whiteboard stehend sagte Florence Cassell zu ihren beiden Untergebenen: „Dieser Bericht lässt darauf schließen, dass die Leiche bewegt worden ist. Vermutlich wurde Rodriguez gar nicht dort getötet, wo wir ihn fanden. Aufgrund dieser Tatsache habe ich vorhin bei der Gerichtsmedizin angerufen und darum gebeten, dass man den Schusskanal nochmal genau untersucht, um die Todesart definitiv zu bestätigen, oder aber zu widerlegen.“

Beinahe aufs Stichwort klingelte das Telefon auf dem Schreibtisch der momentanen Leitenden Ermittlerin. Rasch war Florence dort, riss den Hörer hoch und meldete sich.

Sarah Dechiles und Wellesley Karr konnten sehen, wie sich die Miene ihrer Vorgesetzten zusehends aufhellte. Sie sagte zu der Person, am anderen Ende der Leitung: „Schicken Sie mir den Bericht per E-Mail. Vielen Dank. Auf wiederhören.“

Als der Detective-Sergeant auflegte, strahlte sie förmlich und sagte: „Halten Sie sich fest: Die Gerichtsmedizin hat festgestellt, dass der Schuss nicht die Todesursache war. Anthony Rodriguez wurde mit einem langen, runden Gegenstand erstochen. Der Schuss auf ihn wurde erst nachträglich abgegeben, um diese Wunde zu tarnen und um uns auf eine ganz falsche Fährte zu locken. Der Chefpathologe behauptet, aufgrund der neuen Erkenntnisse wurde der Schuss erst mehrere Stunden nach der Ermordung abgegeben. Möglicherweise wurde die Leiche nach dem eigentlichen Mord warm gehalten. Man sagte mir, dass der Mord aufgrund der Ergebnisse der zweiten Leichenschau, kurz vor Mitternacht erfolgte.“

Sarah Dechiles brachte es auf den Punkt: „Dann ist der Chief entlastet, denn nach der Aussage von Céline Durand sind beide erst kurz nach Mitternacht eingeschlafen. Er hat also ein bombensicheres Alibi, Leute.“

„Céline Durand damit auch“, warf Officer Karr ein. „Sie können wir dann ebenfalls von der Liste der Verdächtigen streichen.“

„Ebenfalls?“, echote Sarah und hob die Augenbrauen. „Der Chief stand da nie drauf.“

Florence unterbrach ihre beiden Untergebenen, indem sie meinte: „Ich rufe jetzt den Commissioner an und berichte ihm von diesen neuen Daten. Danach fahre ich zum Chief.“

„Der Inspector ist bestimmt bei Nalani Camara. Zumindest habe ich gestern Abend, im LA KAZ, so etwas läuten gehört.“

„So, haben Sie das? Konnte man dabei auch eine Adresse läuten hören?“

Sarah grinste. „Das kriege ich heraus, Sarge. Kostet mich nur einen kurzen Anruf.“

Florence nickte ihr zu und wandte sich zu Karr: „Bitte stellen Sie mir die bisherigen Aussagen unserer Verdächtigen zusammen. Nehmen Sie auch die von Céline Durand dazu.“

Damit begab sich Florence Cassell zu ihrem Schreibtisch. Das Gespräch mit dem Commissioner dauerte nur eine Minute und am Ende sagte sie: „Das werde ich, Sir.“

Als sie aufsah, hatte Sarah Dechiles bereits die Adresse für sie auf einem Zettel notiert. Sie nahm ihn an sich und verließ eilig das Revier.

Sarah Dechiles sah ihr hinterher und meinte lächelnd zu Wellesley Karr: „Florence ist genauso erleichtert wie ich.“

„Wie wir“, verbesserte Karr. „Ich bin auch froh, wenn der Chief wieder mitmischt.“
 

* * *
 

Als Florence Cassell vor dem kleinen Haus von Nalani Camara vorfuhr, stand die Haustür sperrangelweit offen. Von drinnen klang Gelächter zu ihr heraus und die Polizistin fragte sich, was im Innern abgehen mochte.

Als Detective-Sergeant Cassell an die Tür klopfte und eintrat, bot sich ihr ein recht komisches Bild, denn Derrick Faulkner trug Nalani Camara auf seinen Schultern. Die Frau ihrerseits trug einen Hut aus Zeitungspapier und strich mit einem breiten Pinsel die Deckenleisten der Diele.

Für einen langen Moment das Bild in sich aufnehmend, wie ihr Vorgesetzter die schlanken Beine der Frau umfasst hielt, räusperte sich die Polizistin schließlich und die beiden so verschiedenen Hobby-Handwerker wandten sich ihr in demselben Moment zu.

Während Nalani amüsiert ihren Papierhut zog, sah Faulkner seine Kollegin neugierig an und fragte: „Was treibt Sie hierher, Florence? Ist etwas passiert?“

Gegen ihren Willen musste die Ermittlerin schmunzeln. Sie erwiderte: „Es ist etwas passiert. Jedoch etwas Positives. Es hat sich herausgestellt, dass der Mord woanders und früher passierte. Sie sind damit entlastet, denn für den neuen Mordzeitpunkt haben Sie ein Alibi. Sie und Céline, um genau zu sein.“

„Gratuliere, Derrick“, ließ sich Nalani vernehmen.

In Gedanken hob der Inspektor Nalani Camara von seinen Schultern und stellte sie auf den Boden. Dabei war er von einem Moment auf den anderen auf seinen Beruf konzentriert. „Wir fahren sofort zu mir. Ich muss mich umziehen. Bitte warten Sie draußen auf mich, ich bin sofort bei Ihnen, Florence.“

Mit einem entschuldigenden Blick wandte er sich der jungen Frau zu, nachdem seine Kollegin das Haus verlassen hatte. „Tut mir leid, Nalani, aber das ist wirklich wichtig.“

„Hey, das versteht sich doch von selbst. Wir sind ohnehin fertig.“

Die junge Frau drückte den Inspector schnell und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Danke für die Hilfe. Vergiss nur nicht, dass du am Wochenende eingeplant bist.“

„Werde ich nicht.“

Damit folgte der Detective-Inspector seiner Kollegin nach draußen. Als er im Land-Rover neben Florence saß, erkannte er die unausgesprochene Frage in ihren Augen und sagte von sich aus: „Nein, da entwickelt sich keine neue Romanze und das ist gut so. Nalani und ich verstehen uns auf einer rein kameradschaftlicher Ebene sehr gut, das ist alles.“

„Danach habe ich nicht gefragt, Sir.“

„Ja“, brummelte der Inspector. „Sie haben ziemlich laut nicht gefragt. Was ich gut verstehen kann, denn vermutlich sah das eben so aus, als würde ich durchaus versuchen, etwas zu kompensieren. Dem ist jedoch nicht so.

Sie erreichten die Hütte des Inspectors und Florence wartete eine Viertelstunde lang auf der Veranda, bis Faulkner wieder bei ihr war. Offensichtlich guter Laune erkundigte sich der Mann bei ihr, während sie zum Rover gingen: „Welche neuen Details haben sich während der letzten beiden Tage ergeben, Florence?“

Die Frau musterte ihren Vorgesetzten von der Seite. „Lyonel Bonnet hat ausgesagt, dass sich Yandel Langevin mit dem Opfer gestritten hatte. Wegen Céline. Beide Männer bestätigten, dass beide seit einem Jahr eine Affäre haben.“

Die von Florence Cassell erwartete emotionale Reaktion des Inspectors blieb aus. Er nickte lediglich in Gedanken und meinte: „Weiter, Florence.“

Sie stiegen ein und die Frau, die ganz selbstverständlich hinter dem Steuer des Wagens Platz nahm und den Wagen startete, fuhr fort: „Bonnet wollte es so hinstellen, als habe er selbst nie eine Auseinandersetzung mit Rodriguez gehabt. Mister Langevin hat da aber ein etwas anderes Bild gezeichnet. Er sagte aus, dass Bonnet einen Streit mit dem Opfer gehabt hat, weil der mit ihm und Bonnet eine Homosexuellen-Szene drehen wollte.“

„Wollte Bonnet nur einen anderen Partner dafür oder war er generell dagegen?“

Die Mundwinkel der Frau zuckten kurz. „Letzteres, Sir.“

Bis zur Polizeistation machte Florence den Inspector mit den restlichen Daten vertraut und Faulkner machte eine grüblerische Miene. Während sie die Treppe zum Büro hinaufschritten meinte der Ermittler: „Wir haben das Wann und das Wie. Bei dem Warum und dem Wer hapert es hingegen, denn alle vier möglichen Motive halte ich für eher schwach.“

Als sie das Büro betraten, sahen Wellesley Karr und Sarah Dechiles, die an ihren Schreibtischen saßen und die Aussagen durchgingen, gleichermaßen erfreut auf. Anders als ihr junger Kollege sprang Sergeant Dechiles von ihrem Stuhl auf und kam zu Faulkner.

„Ich freue mich, dass Sie wieder im Team sind, Sir“, empfing die Polizistin ihren Vorgesetzten begeistert und konnte sich im letzten Moment davon abhalten, ihn zu umarmen.

Derrick Faulkner bedankte sich bei seinen Kollegen, schritt eilig zum Whiteboard und fasste zusammen: „Wir wissen also, dass unser Opfer kurz vor oder um Mitternacht getötet worden ist. Außerdem ist klar, dass Rodriguez nach der Tat bewegt wurde. In einem Toyota. Wenn wir dieses Fahrzeug finden könnten, dann wäre das von Vorteil.“

„Ich halte Kontakt zur hiesigen Kfz-Zulassungsbehörde“, warf Karr ein. „Ich warte im Grunde auf eine Liste von in Frage kommenden Fahrzeugen, auf Saint-Marie.“

Faulkner sah zu dem jungen Mann. „Gute Arbeit, Wellesley. Informieren Sie mich, sobald Sie die Liste der auf dieser Insel angemeldeten Toyotas haben.“

Karr bestätigte und Florence Cassell kam zu Faulkner und meinte: „Ich habe Ihnen die Akten mit den Informationen zu den Verdächtigen auf den Tisch gelegt. Die Akte mit den Daten von Céline Durand habe ich bei mir behalten, da wir sie nun ausschließen können.“

Dankbarkeit lag im Blick des Inspectors, als er erwiderte: „Ich werde mir die Akten ansehen. Wären Sie bitte inzwischen so freundlich, Miss Durand ihren Pass wieder auszuhändigen? Es wird sie freuen, nicht mehr zu den Verdächtigen zu gehören.“

„Natürlich, Sir.“

Unbewusst griff Faulkner mit der rechten Hand an seinen Gürtel, dorthin wo er für Gewöhnlich seine Dienstmarke einhakte.

Eine tiefe Stimme hinter ihm erkundigte sich in demselben Moment: „Fehlt Ihnen etwas, Detective-Inspector?“

Wie so oft zuvor hatte Commissioner Selwyn Patterson das Polizeirevier betreten, ohne dass man ihn bemerkte, bevor er bereits mitten im Raum stand.

Für einen Moment fragte sich Faulkner, wie sich ein Mann seiner Statur so lautlos bewegen konnte. Im nächsten Moment antwortete er: „Es stimmt, Commissioner. Ohne meine Polizeimarke fühle ich mich nur halb angezogen. Es ist beinahe so, als habe man nur einen Schuh an.“

Der massige Mann trat lächelnd zu Derrick Faulkner und reichte ihm die Marke, die er bisher hinter seinem Rücken verborgen hatte. Dabei sagte er ironisch: „Mit nur einem Schuh an den Füßen kann man nicht gut Gangster jagen, Inspector. Ich freue mich sehr, dass ich Ihre Suspension hiermit aufheben darf. Jetzt erwarte ich von Ihnen und Ihrem Team, dass Sie dem Mörder auf die Spur kommen. Sehr bald schon.“

„Das werden wir, Sir.“

In die Runde sehend machte sich der Commissioner auf den Weg nach draußen und beinahe automatisch klappte Faulkner das Etui auf und klemmte sich die Marke hinter den Gürtel seiner Jeans. Danach sah er zu Wellesley Karr und zu Sarah Dechiles die sich bereits wieder in die Arbeit vertieft hatten. Mit einem Lächeln setzte er sich dann an seinen eigenen Schreibtisch und nahm sich die Akten vor. Bereits in den letzten drei Tagen hatte er sich gefragt, ob ihre bisherigen Verdächtigen als Mörder in Frage kamen. Dabei hatte sich ihm immer mehr der Eindruck aufgedrängt, dass sie etwas übersahen. Aus diesem Grund konzentrierte sich der Inspector weniger auf die Daten der Personen selbst, als auf die familiären Hintergründe.

Dabei begann er mit der Akte von Yandel Langevin. Dessen Eifersucht auf Rodriguez schien ihm darüber hinaus noch das stärkste Motiv zu sein, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, dass der Mann in diesem Fall ein ganzes Jahr lang abgewartet hätte.

Nachdem Faulkner in der Akte des Schauspielers nichts fand, was ihm auffällig erschien, machte er mit der Akte von Silvana Da Silva weiter. Eine Abtreibung, weil der Mann sie nicht heiraten wollte. Nach Aussage von Florence besaß die Frau nicht die notwendige Energie, um einen Mord zu begehen und er vertraute auf den Instinkt seiner Kollegin. Dieser Instinkt hatte sich bisher als sehr zuverlässig erwiesen. Auch dort fand der Inspektor keinen Anhalt auf ein Umfeld mit krimineller Energie. Zumal ihre Familie überwiegend auf Antigua zuhause war.

Also nahm sich Faulkner die Akte von Coralee Morgan vor. Zuerst schien es ihm, als würde er auch dort keine weiteren Anhaltspunkte finden. Doch dann stutzte er. Zu ihrem Vater gab es einen Vermerk der Polizei in Exeter. Gleichzeitig erinnerte sich Faulkner daran, dass es, nach den Worten des Commissioners ein älterer Mann gewesen war, der als anonymer Anrufer aufgetreten war. Er blätterte die Akte durch, konnte jedoch keinen Hinweis darauf finden, welchen Wagen der Mann fuhr.

Zu Wellesley Karr aufsehend sagte der Inspector mit tragender Stimme: „Wellesley, ich möchte, dass Sie herausfinden, welchen Autotyp der Vater von Coralee Morgan fährt.“

Während der junge Polizist bestätigte, betrat Florence Cassell wieder das Büro.

Derrick Faulkner erhob sich, mit einem unternehmungslustigen Blick und schritt zu ihr. Dabei meinte er zu der Frau: „Wir beide werden Coralee Morgan nochmal einen Besuch abstatten. Ich habe da noch ein paar Fragen an diese Dame.“
 

* * *
 

Zwanzig Minuten später saßen Faulkner und Florence Cassell der blonden Frau auf der Terrasse ihres Hauses gegenüber. Diesmal nahm der Inspector einen Fruchtsaft an, den die Frau anbot. Er trank einen Schluck, bevor er zum Grund seines Besuches kam.

„Miss Morgan, Ihr Vater hat sich bis zu Ihrer Geburt sehr stark bei der, als rechtsradikal geltenden, British National Front engagiert. Was wissen Sie darüber?“

Die Miene der blonden Frau verschloss sich fast augenblicklich. „Darüber hat mein Vater nie mit mir gesprochen. Welchen Zusammenhang gibt es zwischen der politischen Ansicht meines Vaters und den Ermittlungen?“

„Oh, ich habe nie gesagt, dass es einen solchen Zusammenhang gibt. Es erscheint mir nur sehr seltsam, dass ein bekennender Rechtsextremist hierher übersiedelt ist. Wie stand er zu der Tatsache, dass Sie selbst einen Lebenswandel führen, der von seiner politischen Überzeugung so drastisch abweicht, um es einmal vorsichtig zu formulieren.“

So etwas, wie Panik, lag plötzlich im Blick der Frau und Florence Cassell hakte rasch ein: „Ihr Vater weiß gar nicht, auf welche Art und Weise Sie Geld verdienen, nicht wahr?“

Für einen flüchtigen Moment streifte Derrick Faulkner seine Kollegin mit einem undefinierbaren Blick, bevor er sich auf die Reaktion von Coralee Morgan konzentrierte.

Die blonde Frau schüttelte hastig ihren Kopf. „Bitte! Er darf das nicht erfahren.“

„Nun, das liegt ganz bei Ihnen“, übernahm Faulkner die Initiative wieder. „Wenn Sie offen mit uns reden, dann müssen wir Ihren Vater vielleicht gar nicht behelligen.“

Es gefiel dem Inspector nicht, Coralee Morgan unter Druck zu setzen. Doch darauf konnte er in einer Mordermittlung keine Rücksicht nehmen. Deshalb unterdrückte er das in ihm aufkeimende schlechte Gewissen.

Coralee Morgan sah von ihm zu Florence, mit der sie sich offensichtlich lieber unterhielt und erklärte: „Mein Vater hat nicht oft über seine politischen Ansichten gesprochen. Auch in England nicht. Als Kind habe ich zwar bemerkt, dass er Ausländern gegenüber keine gute Meinung vertrat, doch weitgehend hat er seine Abneigung im Zaum gehalten. Er war oft am Wochenende unterwegs. Vermutlich wollte er seine Freunde von mir und meiner Mutter fernhalten.“

Florence Cassell fing einen auffordernden Blick ihres Vorgesetzten auf und erkundigte sich: „Glauben Sie, er wollte dadurch verhindern, dass Sie zu viel über seine Meinungen und Ansichten zu Ausländern erfahren?“

Coralee Morgan nickte stumm und die Polizistin fragte unvermittelt: „Besitzt Ihr Vater ein Auto?“

Die Blondine erwiderte den Blick der Ermittlerin verständnislos. Etwas überrumpelt wirkend murmelte sie: „Ja, er fährt einen alten Vauxhall Astra.“

Florence Cassell wechselte einen schnellen Blick mit Faulkner, der ihr zu nickte. „Okay, das war es vorerst.“

Die junge Schauspielerin wirkte erleichtert. Sie brachte die beiden Beamten zur Haustür, wo Faulkner nochmal das Wort an sie richtete: „Ach, Miss Morgan, wissen Sie zufällig, ob einer Ihrer Kollegen einen Toyota fährt?“

Coralee Morgan schüttelte den Kopf. „Keiner von Ihnen.“

Faulkner nickte in Gedanken und wollte sich bereits von der Frau abwenden, als sie hinzufügte: „Die Einzige von uns, die einen Toyota fährt, bin ich selbst. Ist das wichtig?“

„Vermutlich nicht.“

Der Inspector sah seine Untergebene eindringlich an, da er merkte, dass sie drauf und dran war, etwas anderes zu behaupten. Freundlich sagte er zu der Schauspielerin: „Ich danke Ihnen für Ihre Kooperation. Sie können sich auf unsere Diskretion verlassen.“

Florence runzelte die Stirn, folgte ihrem Vorgesetzten jedoch wortlos, nachdem sie sich ebenfalls von der jungen Frau verabschiedet hatte. Erst, als sie wieder im Land-Rover saßen, wollte sie wissen: „Warum haben wir Coralee Morgan nicht zu dem Wagen befragt?“

„Müssen wir nicht, Florence. Ich wette, ich weiß, welche Farbe die Innenausstattung des Kofferraumes von ihrem Wagen hat. Worauf ich auch wetten würde ist, dass Miss Morgans Vater genau weiß, womit sie Geld verdient, wenn vielleicht auch noch nicht lange. Bitte alarmieren Sie den Hafen und den Flugplatz – James-Christian Morgan darf diese Insel nicht verlassen. Bestellen Sie danach den Rest des Teams zu seinem Haus.“

Während Florence Cassell den Anweisungen des Inspectors nachkam, startete er den Wagen und schaltete das Blaulicht des Rovers ein. Er schmunzelte, als ihm bewusst wurde, dass er es zum ersten Mal benutzte. Dabei dachte er: Heute fahren wir über ein paar rote.
 

* * *
 

Als der Rover vor dem Haus von James Morgan anhielt, stiegen Sarah Dechiles und Wellesley Karr soeben von der Royal Enfield und begaben sich zur Gartenpforte. Dort warteten sie, bis ihre beiden Vorgesetzten den Rover verlassen hatten und bei ihnen ankamen. Es war Karr, der fragte: „Was machen wir, falls Mister Morgan bewaffnet ist und auf uns schießt, Inspector?“

„Dann gehen wir in Deckung, Wellesley und ich beantrage beim Commissioner, dass wir zukünftig Dienstwaffen tragen.“

Wellesley Karr, der sich nicht sicher war, ob der Inspector nur in Ironie machte, oder ob er es ernst meinte, verzog missmutig das Gesicht. Erst, als der Inspector ihm zuzwinkerte entspannte sich die Haltung des Officers. Er hielt nichts von Schusswaffen.

Faulkner wurde ernst und sagte raunend zu Karr: „Sie und der Sergeant gehen um das Haus herum, zum Hintereingang. Detective-Sergeant Cassell und ich selbst werden zwanzig Sekunden lang an der Haustür warten, bevor wir anklopfen.“

Die beiden Angesprochenen verschwanden und Faulkner schritt mit seiner Kollegin zur Haustür. Dabei fragte sie leise: „Ich bin erleichtert darüber, dass Sie das mit den Dienstwaffen nicht ernst gemeint haben, Sir. Trotzdem ich im Dienst schon einmal angeschossen wurde, möchte ich nicht bewaffnet durch die Gegend rennen.“

„Wer will das schon?“, erkundigte sich Faulkner ausweichend.

Als sie vor der Tür standen, sog der Inspector prüfend die Luft ein und sah seine Kollegin neugierig an. „Haben Sie gestern Harzer Käse gegessen, Florence?“

Die Frau schüttelte den Kopf. Im nächsten Moment sah sie, dass ihr Vorgesetzter auf die Tür starrte. Er deutete auf das Türschloss und drückte mit seinem linken Zeigefinger dagegen. Zur Überraschung der Frau öffnete sich die Haustür, mit leisem Knarren.

Faulkner legte seinen Finger auf die Lippen und betrat leise das Innere des Hauses.

Nichts war zu hören und Faulkner wandte sich zu Florence: „Rennen Sie zu unseren beiden Kollegen und dringen Sie durch den Hintereingang ins Haus. Ich werde hier warten, bis ich höre, dass Sie ins Haus stürmen. Danach suchen Sie rasch die Parterre ab, während ich mir den ersten Stock vornehme.“

Die Polizistin verschwand leichtfüßig.

Derrick Faulkner musste nicht lange warten. Es krachte im Hintergrund des Gebäudes und der Inspector stürmte umgehend die Treppe hinauf, die von der Diele aus zu den oberen Zimmern führte. Das erste Zimmer, dessen Tür er aufriss, war leer. Beim zweiten Zimmer blieb er wie angewurzelt im Türrahmen stehen. Einen Moment später rief er laut nach unten: „Ich habe Mister Morgan hier oben gefunden! Er ist tot!“

Noch während eine Person die Treppe hinauf polterte schritt Derrick Faulkner in den Raum hinein und musterte den auf dem Boden liegenden Mann. Die Schusswunde am Kopf war nicht zu übersehen. Die Mordwaffe selbst, zumindest schien es sich auf den ersten Blick um diese zu handeln, hielt der Tote in der rechten Hand. Faulkner vermutete, dass es sich um dasselbe Kaliber handelte, welches auch bei Rodriguez verwendet worden war. Doch das würde mit Sicherheit erst das Kriminaltechnische Labor auf Guadeloupe herausfinden.

Florence Cassell erreichte den Raum zuerst.

Sarah Dechiles und Wellesley Karr, die zuerst die Ausrüstung zur Spurensicherung aus dem Rover holen mussten, erschienen erst eine Minute später auf der Bildfläche. Zu diesem Zeitpunkt durchsuchte Faulkner gerade die Schubladen des Schreibtisches im Raum und sah dabei fragend zu Florence Cassell, wobei er auf einige Glaskästen deutete.

„Kann man das fassen, Florence? Dieser Mann bewahrt ein halbes Waffenlager einfach in nicht gesicherten Vitrinen auf. Der Mörder musste sich nur bedienen. Dieser Tote verkompliziert die Sache, denn ich hatte eine so schöne Theorie, wer der Mörder sein könnte und jetzt haut das alles nicht mehr hin.“

„Sie hatten also auch James-Christian Morgan im Verdacht?“, entfuhr es Florence Cassell und sie sah überlegend ihren Vorgesetzten an. „Vielleicht war er es wirklich und hatte darüber hinaus noch einen Komplizen, der ihn beseitigt hat, Sir?“

Die Augen des Inspectors weiteten sich. „Nein, ich glaube, es handelt sich viel mehr um eine Komplizin, Florence. Eine Schauspielerin, die besser ist, als wir dachten.“

Florence Cassell und der Inspector untersuchten auch die Nebenräume, wobei Faulkner besonders an einigen Bildern Interesse zeigte, auf denen der Tote mit einem Gewehr in den Händen abgelichtet worden war.

Dechiles und Karr nahmen inzwischen die verwertbaren Spuren auf und sicherten sie.

Sarah Dechiles hatte gerade die Ambulanz verständigt, damit der Tote abgeholt werden konnte, als das Handy von Florence den Klingelton der Rufumleitung von sich gab. Aktuell war diese noch zu ihrem Gerät geschaltet.

Derrick Faulkner wunderte sich über die verkniffene Miene. Bereits im nächsten Augenblick sah Florence ihn an und sagte zu dem unsichtbaren Gesprächspartner: „Einen Moment, ich schalte auf Laut um.“

Einen Moment später erklang eine aufgeregte weibliche Stimme aus dem Gerät. Zur Überraschung des Inspectors handelte es sich unverkennbar um die von Céline.

„Coralee Morgan zwingt mich, diesen Anruf zu tätigen. Ich befinde mich in ihrer Gewalt. Sie hält mir eine Waffe an den Kopf. Derrick, du sollst schnellstmöglich zum nördlichen Hafen kommen und den Pass von Coralee Morgan mitbringen.“

Faulkner räusperte sich und antwortete darauf, mit ruhiger Stimme: „Miss Morgan, das hat doch keinen Zweck. Lassen Sie Miss Durand gehen und danach werden wir eine vernünftige Lösung finden.“

„Ich meine es todernst!“, klang eine überkippende, schreiende Stimme aus dem Gerät. „Wenn Sie nicht in spätestens dreißig Minuten hier sind, dann töte ich die Frau!“

Es knackste und Florence sagte: „Sie hat die Verbindung unterbrochen, Chief. Was machen wir jetzt?“

„Sie fahren mich hin, aber im Eiltempo, Florence. Alles Weitere sehen wir dann.“

Die beiden Polizeibeamten rannten die Treppe hinunter und aus dem Haus, zum Rover. Noch bevor Faulkner die Beifahrertür richtig geschlossen hatte, startete seine Kollegin bereits den Motor und meinte: „Schnallen Sie sich an, Sir! Holen wir vorher also den Pass?“

Der Blick des Inspectors verriet der Frau, dass er nicht einmal ansatzweise vorhatte, Coralee Morgan von der Insel entkommen zu lassen. Doch was war sein Plan?

Mit Blaulicht und in rasantem Tempo jagte der Land-Rover der Polizei über die Insel. Bevor sie den Hafen erreichten wies Faulkner seine Kollegin an: „Parken Sie den Wagen so, Florence, dass es die Beifahrerseite ist, die zu Coralee Morgan hin zeigt. Sie steigen gleichzeitig mit mir aus und gehen hinter dem Rover in Deckung. Beobachten Sie, was passiert und greifen Sie nur dann ein, wenn es die Lage erfordert. Ohne sich dabei in Gefahr zu bringen, meine ich damit.“

„Sir, erwarten Sie etwa…“

„Ja“, schnitt Faulkner, der den Einwand von Florence Cassell erahnte, ihr das Wort ab. „Denn das war keine Bitte, sondern eine dienstliche Anweisung ihres Vorgesetzten.“

Es war Florence Cassell anzumerken, dass ihr diese Anweisung überhaupt nicht gefiel, doch sie erwiderte nichts auf die Worte des Inspectors.

Sie entdeckten Coralee Morgan, die Céline mit dem rechten Arm am Hals fest gegen sich presste und ihr mit der Linken eine Pistole an die Schläfe drückte, am Ende des Piers. Andere Personen entdeckten sie nicht. Vermutlich hatte die bewaffnete Blondine sie mit der Waffe eingeschüchtert und vertrieben.

Faulkner war das nur recht. Nachdem Florence den Wagen quergestellt hatte, stiegen sie gemeinsam aus und die Polizistin ging in Deckung, so wie es ihr Vorgesetzter verlangte.

Der Inspector schritt aufrecht und mit ruhigen Schritten auf die beiden Frauen zu, die nicht weiter als zwanzig Meter von ihnen entfernt standen. Etwas seitlich versetzt, damit Florence sie alle drei im Auge behalten konnte. Dabei hatte er seine Hände geöffnet und mit den Handflächen zu der Kidnapperin gedreht. Eine beruhigende Geste, damit die blonde Frau nicht nervös wurde.

Während der Inspector so auf die beiden Frauen zuhielt, fragte sich Florence, woher ihr Vorgesetzter, trotz der bedrohlichen Situation, diese Ruhe nahm.

Faulkner hatte sich indessen bis auf drei Schritte den beiden Frauen genähert. Unverwandt sah er Coralee Morgan in die Augen. Mit fester Stimme sagte er ruhig: „Das hat doch wirklich keinen Sinn, Miss Morgan. Wenn ich Ihnen den Pass gegeben habe, wie weit glauben Sie dann zu kommen?“

Panik blitzte in den Augen der Bewaffneten auf, als sie den Polizisten anschrie: „Ich will meinen Pass! Sonst erschieße ich Ihre Freundin!“

Der Inspector bluffte, indem er amüsiert wirkend lachte: „Meine Freundin? Da haben Sie aber die neuesten Meldungen verpasst, Miss Morgan. Die gesamte Zeit über war Céline nur die Freundin von Anthony Rodriguez. Doch das muss ich Ihnen ja nicht erzählen. Ich empfinde gegenwärtig nur noch Abscheu für diese Frau. Sie wollen sie erschießen? Viel Glück damit. Danach werde ich Sie mir schnappen, bevor sie ein zweites Mal abdrücken können und ich versichere Ihnen eins: Ich verstehe keinen Spaß.“

Faulkner hoffte, dass Coralee Morgan nicht auf den ebenso überraschten, wie ungläubigen Blick von Céline achten würde. Langsam machte er einen weiteren kleinen Schritt auf beide Frauen zu.

Seltsamerweise fühlte Faulkner tatsächlich so etwas, wie Erleichterung, als Coralee Morgan die Waffe von der Schläfe ihrer Geisel nahm und sie nun auf ihn richtete. „Kommen Sie nicht näher, oder ich schieße Sie über den Haufen!“

Der Inspektor machte einen weiteren Schritt. „Sie können mich nicht töten, denn ich bin bereits vor zwei Jahren gestorben. Zusammen mit meiner Frau und meiner Tochter.“

Die Hand der Geiselnehmerin, in der sie die Waffe hielt, begann zu zittern. Als Faulkner schon fast in ihrer Reichweite war, riss sie die Pistole hoch und legte den Lauf der Waffe an ihre Schläfe.

Ein Schuss peitschte auf und die beiden Frauen vor dem Inspector stürzten zu Boden.

Mit einem Satz war Faulkner bei ihnen und kniete sich ab, wobei er nur unterbewusst wahrnahm, dass Florence zu ihnen gerannt kam.

Zur Erleichterung des Polizisten schien Céline unverletzt zu sein, denn sie schlug seine Hand fort und rappelte sich vom Boden auf. Also legte er seine Finger prüfend auf die Halsschlagader der blonden Frau. Zu seiner Kollegin über die Schulter aufsehend, sagte er mit dunkler Stimme: „Sie ist tot, Florence.“

Derrick Faulkner erhob sich und sah entschuldigend zu Céline. Leise sagte er: „Das, was ich eben zu Coralee Morgan sagte, habe ich nicht ernst gemeint. Ich wollte damit lediglich erreichen, dass sie von dir ablässt.“

Céline Durand trat zu Faulkner und funkelte ihn zornig an.

In einem Moment vollkommener Klarheit sah der Inspector vor seinem inneren Auge, was nun folgen würde und er schob seine Finger in die hinteren Taschen seiner Jeans.

Bereits einen Wimpernschlag später klatschte es scharf. Céline hatte dem Inspector eine schallende Ohrfeige gegeben.

Die wütende Taxifahrerin wollte noch einmal zuschlagen, doch Florence war vorher zur Stelle und packte sie fest an den Schultern. Die Freundin von ihrem Vorgesetzten wegschiebend fauchte sie: „Das reicht jetzt!“

Zunächst schien sich die Taxifahrerin gegen die Behandlung durch Florence auflehnen zu wollen, doch der Blick der Polizistin ließ sie davon Abstand nehmen. „Du hältst zu ihm?“

„Verdammt, er hat dir eben das Leben gerettet!“

Céline presste die Lippen aufeinander. Dann wandte sie sich ab und schritt zu ihrem Wagen hinüber. Dabei hörte sie, zu ihrer Überraschung, Florence hinter sich sagen: „Fahre bitte direkt zur Polizeistation. Ich brauche noch deine Aussage zu den Verhältnissen des Schauspieler-Teams untereinander. Der Chief hat das anfangs nicht getan und ich später auch nicht, da du nicht mehr unter Verdacht gestanden hast.“

Über die Schulter hinweg zischte Céline: „Ich habe zu tun!“

„Das ist eine Mordermittlung!“, erinnerte sie Florence in schärferem Tonfall.

Als Céline im Taxi davonfuhr, seufzte Florence entsagungsvoll, bevor sie zu Faulkner zurückging. Mit jedem Schritt selbst etwas wütender werdend. Ohne, dass sie es bemerkte packte sie ihren Vorgesetzten fest am linken Oberarm und fauchte ihn an: „Was für eine wahnsinnige Aktion war denn das eben, Sir? Legen Sie es etwa darauf an zu sterben?“

Unmut lag im Blick des Mannes.

Erst als Faulkner demonstrativ auf ihre rechte Hand sah, bemerkte Florence den Fauxpas und ließ schnell seinen Oberarm los.

Der Inspector nutzte die Gelegenheit, um eindringlich zu erklären: „Es ist, wie ich es bereits Céline erklärt habe. Es war ein Bluff. Allerdings hatte ich Miss Morgan nicht wirklich zugetraut, dass sie sich erschießt.“

Die Polizistin machte ein zweifelndes Gesicht und fragte ablenkend, eingedenk dessen, was er im Büro des Commissioners mit seinem Vorgesetzten besprochen hatte: „Denken Sie, dass wir unseren Mörder wirklich haben?“

Der Tonfall in der Stimme des Inspectors ließ Florence aufhorchen. Sie hatte ihn bereits einige Male bei verschiedenen anderen ihrer bisherigen Vorgesetzten bemerkt. Zumeist dann, wenn sie nicht davon überzeugt gewesen waren, den Fall bereits aufgeklärt zu haben. Diese Ahnungen hatten sich danach durchwegs bestätigt.

„Schwierig, Sir. Ich glaube zwar schon, dass Miss Morgan Rodriguez getötet hat. Aber nicht ihren Vater, und ich denke da auch nicht an Selbstmord. In den Fall ist noch jemand verstrickt. Ich würde auf dem Revier gerne nochmal Céline befragen und danach zusammenfassen, was wir bisher wirklich wissen.“

Faulkner sah kurz zur Seite, als die Ambulanz vorfuhr, bevor er sich wieder auf seine Kollegin konzentrierte. „Das halte ich für eine sehr gute Idee, Florence. Dieser Freitagabend ist ohnehin bereits verdorben, also arbeiten wir weiter an dem Fall.“

Emotionen

Auf der Fahrt zum Revier wollte Florence nochmal das Verhalten des Chiefs thematisieren. Doch sie wusste nicht wie sie das machen sollte, ohne Faulkner dabei zu nahezutreten oder ihn gegebenenfalls sogar zu beleidigen. Vielleicht war ja auch alles so, wie ihr Vorgesetzter es behauptet hatte.

Faulkner seinerseits schien ihren Fauxpas nicht weiter thematisieren zu wollen, wofür sie ihm dankbar war. So fuhren sie schweigend zum Revier zurück.

Erst, als sie gemeinsam die Stufen des Gebäudes hinaufschritten, richtete Faulkner das Wort an seine Kollegin. „Ich denke, dass Sie in diesem Fall weiterhin als Leitende Ermittlerin fungieren sollten. Ansonsten entsteht bei allen Beteiligten nur Konfusion. Ich traue Ihnen absolut zu, die Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammensetzen zu können.“

„Danke, Sir.“

Sarah Dechiles und Wellesley Karr sahen ihre Vorgesetzten erleichtert an, als sie ins Büro schritten. Bevor die beiden Beamten Fragen stellen konnten, meinte Faulkner: „Coralee Morgan hat sich selbst erschossen. Doch unsere Leitende Ermittlerin in diesem Fall ist der Ansicht, dass damit der Fall noch nicht abgeschlossen ist.“

Sarah Dechiles sah verstehend zu Céline Durand, die sich vor den Schreibtisch des Chiefs gesetzt hatte.

Florence, die dem Blick ihrer Kollegin folgte, sagte zu der Freundin: „Ich übernehme die Befragung, Céline. Bitte komm zu mir an den Schreibtisch.“

Die Taxifahrerin folgte der Anweisung von Florence. Auf dem Weg zum Schreibtisch ihrer Freundin warf sie Faulkner einen finsteren Blick zu. Und Sarah raunte ihrem Vorgesetzten zu: „Die hat Sie gefressen, Sir.“

Der Blick des Inspectors hielt den Sergeant davon ab mehr zu sagen. Als er zu Florence schritt um die Befragung zu verfolgen, raunte Wellesley Karr seiner Kollegin zu: „Vielleicht solltest du dir abgewöhnen, immer den Finger draufzuhalten, Sarge. Sonst hat vielleicht er irgendwann dich gefressen.“

Inzwischen saß Florence konzentriert hinter ihrem Schreibtisch und fragte die Frau vor ihrem Schreibtisch direkt: „Was kannst du mir zu dem Verhältnis zwischen Yandel und Coralee sagen?“

Céline streifte Faulkner, der einen Schritt neben dem Schreibtisch stand mit einem kurzen Seitenblick, bevor sie antwortete: „Yandel ist mit Coralee anders umgegangen, als mit dem Rest von uns. Ich meine, er war sehr aufmerksam ihr gegenüber. Hat ihr immer die Tür aufgehalten, den Vortritt gelassen und so. Er hat sie sehr zuvorkommend behandelt.“

Florence, die an ihrem PC mitschrieb, hakte ein: „Glaubst du, er hat das gemacht, weil er eifersüchtig auf Rodriguez und dich war und dir damit eins auswischen wollte?“

Céline lachte humorlos auf: „Das Interesse an mir hat Yandel doch nur vorgetäuscht. Die anderen haben das nicht gemerkt. Ich bin mir sicher, dass er gar kein Interesse an mir hat, sondern dass da etwas mit ihm und Coralee lief. Hätte jedoch ihr Vater auch nur davon flüstern gehört, dann hätte er vermutlich Hundefutter aus Yandel gemacht. Darum der ganze Aufriss von Yandel meinetwegen. Ich habe ihn mehrmals deswegen zur Rede gestellt, doch Yandel hat stets den Ahnungslosen gespielt.“

Florence sah vielsagend zu Faulkner und der nickte ihr kurz zu.

Wieder zu Céline sehend erklärte der Detective-Sergeant: „Danke, Céline. Das wäre so weit alles. Ich drucke aus, was ich mitgeschrieben habe, und wenn du die schriftliche Aussage gelesen und unterschrieben hast, war es das.“

Damit erhob sich Florence und Céline tat es ihr nach, um der Freundin zum Drucker zu folgen. Dort überflog die Taxifahrerin den Text, legte das Papier kurz auf den Schreibtisch von Officer Karr und unterschrieb die Aussage.

Nachdem Céline grußlos das Revier verlassen hatte schritt der Detective-Inspector zum Board, schnappte sich einen Filzschreiber und sah auf das, was dort bereits zusammengetragen worden war. Bei den Notizen zu Yandel Langevin stutzte er kurz und sah zu Wellesley Karr, in dessen Schrift dort nun, neben allen anderen Fakten zu ihm, auf der Tafel stand: Synchronisation. Dabei meinte er zu dem Officer: „Ich wusste gar nicht, dass schlüpfrige Filme nachsychronisiert werden müssen.“

Wellesley Karr grinste breit. „Das werden sie auch nicht, Sir. Yandel Langevin hat, so wie die anderen Darsteller auch, oft verschiedene Charaktere in demselben Film dargestellt. Damit die nicht alle gleich klingen, hat er ihnen verschiedene Stimmen gegeben. Dieser Typ ist dabei ein Naturtalent. Ich glaube, der könnte sogar Frauen synchronisieren.“

„Danke, Officer Karr. Also, Florence. Dann legen wir nun unter Ihrer Leitung los. Ich würde gerne zuvor nochmal den chronologischen Ablauf hören, Team.“

Sergeant Dechiles übernahm an diesem Punkt und führte aus: „Wir wissen, dass der Mord an Anthony Rodriguez, von Sonntag auf Montag, um Mitternacht herum verübt wurde. Mit einem Gegenstand, wie einem Schraubendreher oder etwas Ähnlichem. Später wurde die Leiche in einem Toyota vom Tatort fortbewegt und in den Wagen des Ermordeten verfrachtet. Dort wurde auf ihn geschossen, um den Einstich zu tarnen, der Rodriguez getötet hat.“

Als Sarah Dechiles mit der Aufführung der Fakten abschloss, übernahm Florence, indem sie erklärte: „Silvana Da Silva war schwanger von Rodriguez. Als er sie nicht heiraten wollte, trieb sie das Kind ab. Während der Befragung machte sie den Eindruck, als wäre sie, im Nachhinein, damit zufrieden, dass sie ihn nicht geheiratet hat. Lionel Bonnet hatte Streit mit dem Opfer, weil er es ablehnte eine Schwulenszene zu spielen, was auch kein starkes Motiv ergibt. Coralee Morgan wollte mehr Geld von Rodriguez. Auch das alleine wäre kein Mordmotiv, doch nach Durchsicht ihres E-Mail-Verkehrs scheint es so, als hätte sie Rodriguez mit der Abtreibungsgeschichte ihrer Kollegin erpressen wollen. Yandel Langevin seinerseits war scheinbar eifersüchtig auf Anthony Rodriguez, weil dieser mit Céline Durand eine Beziehung führte. Im Gegensatz zu Bonnet hat er kein Alibi für die falsche Mordzeit, wohl aber für die richtige. Das Alibi von Silvana wiederum wurde inzwischen von einer Nachbarin bestätigt.“

Officer Karr fasste zusammen: „Damit haben Silvana Da Silva, Lyonel Bonnet und Céline Durand ein Alibi. Coralee Morgan hat sich erschossen. Yandel Langevin hat als einziger noch lebender Verdächtiger kein Alibi für die falsche Mordzeit, was uns nicht weiterbringt. Bleibt die Frage: Wer erschoss Mister Morgan und vor allen Dingen – warum?“

Derrick Faulkner deutete auf Karr und forderte: „Wiederholen Sie das nochmal!“

Prompt sagte der Officer: „Wer ermordete Mister Morgan und warum?“

„Das ist genau der Punkt!“, erwiderte der Inspector und sah fragend zu Florence. „Sie wissen jetzt, wie sich die Dinge zugetragen haben und auch, warum uns das fehlende Alibi für die falsche Mordzeit sehr wohl weiterbringt, Detective-Sergeant?“

Florence Cassell sah intensiv auf die Daten am Whiteboard. Zuletzt auf den Zusatz unter dem Bild von Yandel Langevin. Als sie wieder zu Faulkner blickte, leuchteten ihre Augen und sie erwiderte: „Ja, aber das klingt ziemlich fantastisch, Sir.“

„Macht nichts! Was wir unbedingt noch brauchen, ist der ungefähre Todeszeitpunkt von James-Christian Morgan. Doch ich bin mir sicher, dass er annähernd mit dem von Anthony Rodriguez übereinstimmt. Ist Ihnen übrigens aufgefallen, wie er auf den Fotos in seinem Haus, das Gewehr in seinen Händen hielt?“

Florence Cassell erinnerte sich und nickte lebhaft. Doch dann zögerte sie für einen Moment, weil es ihr fast wie ein Sakrileg erschien, bevor sie zu Sarah Dechiles sagte: „Versammeln Sie die verbliebenen Verdächtigen in der Villa von Anthony Rodriguez. Das gilt auch für Miss Durand, denn das wird sie vermutlich interessieren. Officer Karr, Sie durchsuchen das Studio, im Keller der Villa, nach einem Schraubendreher. Sarah, Rufumleitung auf Ihr Handy, damit uns die Gerichtsmedizin erreichen kann.“

Derrick Faulkner machte ein zufriedenes Gesicht. „Ich werde ebenfalls den Commissioner dorthin bitten. Ihre Ausführungen werden ihn sicherlich interessieren.“
 

* * *
 

Eine Stunde später saßen die Verdächtigen auf der Dachterrasse der Villa von Anthony Rodriguez. Außer Wellesley Karr befand sich außerdem die gesamte Polizei der Insel dort.

Selwyn Patterson bemerkte, dass es nicht der Chief war, der diesen Fall vorzutragen gedachte, sondern dass an seiner Stelle Florence Cassell zu den Männern und Frauen trat, die mit Rodriguez in Kontakt gestanden hatten. Er lächelte dünn und nickte Faulkner zu, wobei er leise fragte: „Ich dachte, Miss Durand wäre entlastet?“

„Ist sie auch, Sir. Doch ich finde, sie hat das Recht, die Hintergründe dieser beiden Morde zu erfahren.“

Pattersons Miene sagte nichts darüber aus, ob er dem Inspector zustimmte oder nicht.

Inzwischen hatte sich Florence Cassell gesammelt und sagte: „Wir wissen nun, was sich zugetragen hat und ich möchte Ihnen allen mitteilen, wer die Täter in dieser Mordermittlung waren. Denn es handelt sich hierbei um zwei Mörder. Um jene Person, die Anthony Rodriguez tötete, und der Komplize und Mörder von Mister Morgan.“

Raunen entstand unter den anwesenden Personen, die mit Anthony Rodriguez zu tun gehabt hatten. Es war Céline Durand, die ruhig fragte: „Was hat den Coralee Morgans Vater mit dieser Angelegenheit zu tun?“

„Dazu komme ich noch“, beschied ihr Florence Cassell und fuhr fort: „Wir konnten ermitteln, dass Mister Rodriguez weder auf der Kreuzung getötet wurde, noch zum zuerst von uns vermuteten Zeitpunkt. Rodriguez wurde nicht einmal erschossen, sondern viel mehr erstochen. Später wurde die Leiche dann vom Tatort wegbewegt. Im Wagen von Miss Morgan, die sich selbst erschossen hat. Die Fasern, die wir am Toten fanden, stimmen mit jenen überein, die wir als Probe aus dem Kofferraum von Miss Morgans Toyota entnahmen. Bevor diese Ergebnisse feststanden, kam es zu einem ziemlich dreisten anonymen Anruf beim Commissioner. Jemand behauptete, er habe zu dem von uns angenommenen Zeitpunkt den Inspector am Tatort gesehen. Das ist insofern interessant da sowohl die Mörderin, als auch deren Komplize, die tatsächliche Mordzeit gekannt haben. Dieser Komplize wollte den Inspector damit diskreditieren und aus der Ermittlung halten. Dadurch, dass er jedoch die von uns vermutete Mordzeit angeben musste, hat er dem Inspector und auch Miss Durand letztlich, wenn auch ungewollt, ein Alibi verschafft. Nach der Aussage des Commissioners handelte es sich um die Stimme eines älteren Mannes.“

Die Polizistin machte eine Kunstpause und sah vom Commissioner zu Wellesley Karr, der aus dem Innern der Villa trat und einen Beweismittel-Beutel hochhielt, in dem sich ein befleckter Schraubendreher befand.

Als der Officer neben seine Vorgesetzte trat, deutete Detective-Sergeant Cassell auf das eingetütete Werkzeug und sagte: „Das hier ist die tatsächliche Waffe, mit der Anthony Rodriguez getötet wurde. Wir werden den Schraubendreher im Anschluss noch untersuchen, doch ich bezweifele nicht, dass wir darauf die DNA des Ermordeten und die Fingerabdrücke von Coralee Morgan finden werden. Denn dieser erste Mord war nicht geplant. Viel mehr handelte es sich dabei um eine emotionale Reaktion. Darauf lässt auch der SMS-Verkehr zwischen Miss Morgan und Anthony Rodriguez schließen, denn in den letzten Mitteilungen von Miss Morgen droht sie Rodriguez ganz offen damit, sich wegen der Abtreibung von Silvana Da Silva an die Presse zu wenden. Daraufhin schlug ihr Anthony Rodriguez in seiner Antwort ein Treffen in seiner Villa vor. Wir vermuten, dass Mister Rodriguez nicht auf die Erpressung der jungen Frau einging, sondern vielmehr Coralee Morgan seinerseits damit erpresste, ihrem Vater von ihrem kleinen Nebenerwerb zu berichten. Vermutlich wurde er deshalb von ihr im Affekt getötet. Aus Angst davor, was James-Christian Morgan dem Geliebten seiner Tochter in diesem Fall antun würde.“

„Wenn Sie wissen, wer es war, warum sind wir dann hier?“, ereiferte sich Lyonel Bonnet. Was soll das?“

„Beruhigen Sie sich bitte“, versetzte Florence Cassell. „Wie ich bereits ausführte, gab es noch einen zweiten Mord. Keine Sorge, Mister Bonnet, denn Sie waren nicht darin verstrickt. Ebenso wenig, wie Miss Durand, die für die tatsächliche Mordzeit ein Alibi hat. Ebenso, wie Miss Da Silva. Womit nur eine Person übrig bleibt, nämlich Sie, Mister Langevin. Sie waren der Komplize von Coralee Morgan. Wir haben nicht nur herausgefunden, dass Sie offensichtlich sehr viel für Coralee Morgan empfunden haben. Wir fanden auch heraus, dass ihre Eifersucht auf Rodriguez wegen Miss Durand nur vorgetäuscht war. Denn Sie wussten was ein Rassist, wie James-Christian Morgan, mit Ihnen gemacht hätte, wäre er jemals hinter die Liaison zwischen Ihnen und Coralee gekommen.“

„Das sind doch Hirngespinste!“, tobte Yandel Langevin und wollte sich von seinem Stuhl erheben, doch Sarah Dechiles drückte ihn mit erstaunlichem Kraftaufwand zurück.

„Ach wirklich?“, erkundigte sich Florence Cassell kühl. „Wissen Sie, wenn sie nicht den Fehler gemacht hätten, den Commissioner anonym anzurufen, dann wären wir Ihnen vielleicht nie auf die Schliche gekommen. Ihre Fähigkeiten beim Synchronisieren verschiedener Charaktere der Video-Produktionen hat es Ihnen sehr einfach gemacht, dem Commissioner am Telefon einen alten Mann vorzugaukeln. Nachdem Coralee Mister Rodriguez getötet hatte, weil er ihr vermutlich androhte, ihrem Vater alles zu verraten, wandte sie sich an Sie. War es nicht so?“

Yandel Langevin schwieg, doch seine Miene sprach Bände.

„Sie sahen die einmalige Gelegenheit, den Vater Ihrer Geliebten loszuwerden, nachdem Coralee Sie aus dieser Villa angerufen hatte. Bevor Sie herkamen, brachen Sie bei James-Christian Morgan ein, holten sich eine seiner Waffen aus dessen Arbeitszimmer und töteten ihn. Das Ganze ließen Sie aussehen, wie einen Selbstmord. Sie dachten wohl, wir würden vermuten, dass er Rodriguez tötete und anschließend Selbstmord beging. Allerdings begingen Sie dabei gleich zwei Fehler. Zum Ersten war Mister Morgan Linkshänder, so wie seine Tochter. Zum Zweiten haben wir vor Ort sofort einen Moulage-Test gemacht. Dazu braucht man nur etwas Wachs. Wie vermutet fanden wir keinerlei Rückstände eines Schusses. Diese Rückstände lassen sich übrigens auch nach zwei Wochen noch feststellen. Sie haben doch bestimmt nichts dagegen, dass wir hier und jetzt einen solchen Test bei Ihnen machen? Es tut nicht weh, es erzeugt lediglich ein bisschen Wärme auf der Haut.“

Yandel Langevins Blick wurde unstet.

„Sie sollten endlich gestehen“, empfahl ihm Florence Cassell. „Das könnte einen Unterschied machen, zwischen fünfzehn Jahren und Lebenslänglich.“

Langevin sackte förmlich in sich zusammen, als ihm klar wurde, aus dieser Angelegenheit nicht ungeschoren herauszukommen. „Es war so, wie sie gesagt haben. Ich habe Coralee geholfen und ihren Vater getötet, weil ich sie liebte.“

„Festnehmen!“, sagten Florence Cassell und Derrick Faulkner, wie aus einem Mund und der Inspector lächelte entschuldigend. „Die Macht der Gewohnheit, Detective-Sergeant. Ach, bevor ich es vergesse. Das war ganz große Klasse. Nur wäre es peinlich geworden, wenn Langevin nicht gestanden hätte, denn ich habe kein Wachs dabei.“

Die beiden Polizisten grinsten sich gleichermaßen vergnügt an. Als der Commissioner zu ihnen kam wurden sie schnell wieder ernst.

„So, so, der berühmt-berüchtigte Moulage-Test“, grollte der beleibte Polizeichef. „Detective-Sergeant, Sie bluffen besser, als Hercule Poirot selbst, und Sie, Chief, haben einen fabelhaften Colonel Race gegeben. Erinnern Sie mich daran, dass ich nie mit Ihnen pokere.“

Damit ging der Commissioner, und beinahe vergnügt meinte Faulkner: „Er hat recht. Ich wusste gar nicht, dass Sie sich so gut mit Tod auf dem Nil auskennen, Florence.“

„Ich liebe diesen Film, Sir. Natürlich war es ein Risiko, denn wenn Yandel Langevin ebenfalls ein Fan gewesen wäre, so wäre der Bluff sofort aufgeflogen. Eine Frage, Chief. War dieser Bluff überhaupt zulässig?“

„Yandel Langevin hat freiwillig gestanden“, erwiderte Faulkner. „Das kann man nicht Ihnen anlasten, Florence. Besonders nicht, da es Moulagen tatsächlich gibt. Nur verwendet man sie nicht zu kriminalistischen Ermittlungen. Dafür, dass Yandel Langevin nicht weiß, was das ist, können Sie nichts.“

„Das erleichtert mich.“

Während sie zum Rover schritten sahen sie Céline Durand, die ihnen von ihrem Taxi aus einige lange Blicke zuwarf, bevor sie einstieg und davonfuhr.

Die beiden Senior-Ermittler wandten sich um, als sie hinter sich schnelle Schritte vernahmen. Es war Sarah Dechiles, die ihr Handy noch in der Hand hielt und aufgeregt erklärte: „Die Gerichtsmedizin hat mir mitgeteilt, dass Mister Morgan tatsächlich etwa zu demselben Zeitpunkt starb, wie Mister Rodriguez. Den Bericht kriegen wir morgen Früh, als E-Mail zugeschickt.“

Faulkner dankte. Nachdem Langevin, im hinteren Bereich des Land-Rovers, auf der Bank saß, kamen er und Florence überein, Yandel Langevin direkt zum Gefängnis zu bringen, anstatt ihn über Nacht, in einer der Zellen des Reviers einzusperren.

Auf dem Rückweg sah Florence ihren Vorgesetzten von der Seite an und meinte sanft: „Das mit Ihnen und Céline wird sich bestimmt irgendwann wieder einrenken, Sir.“

„Ja, auf einer rein platonischen Ebene wird es das vermutlich.“

„Sie denken also, es ist vorbei?“

Derrick Faulkner nickte und sah dabei auf die Straße hinaus. „Ja, das ist es. Wissen Sie, was daran verrückt ist? Ich bin fast erleichtert deswegen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch Florence. Ich bin traurig deswegen und sie wird mir fehlen, doch ein Teil von mir hat bereits seit einiger Zeit geahnt, dass das passieren wird. Wie entnervend das Warten darauf war, stelle ich gerade erst jetzt fest.“

„Kommen Sie noch mit, auf ein Bier ins LA KAZ?“

Der Inspector zögerte, bevor er meinte: „Im Grunde würde ich heute Abend etwas Abgeschiedenheit vorziehen. Was halten Sie davon, wenn wir auf der Veranda meiner Hütte ein Bier trinken und über das reden, was am Pier passierte, bevor sich Coralee Morgan erschoss. Wir sollten das nicht aufschieben, finden Sie nicht auch? Außerdem habe ich noch viel zu viel selbstgemachte Lasagne im Ofen, um sie alleine zu essen.“

„Klingt gut“, stimmte Florence zu. „Über diese Sache am Nordpier sollten wir wirklich ernsthaft reden, Chief.“
 

* * *
 

Eine Stunde später schob Florence Cassell den Teller von sich und sagte: „Diese Lasagne war wirklich ausgezeichnet, Sir.“

Sie saßen an dem kleinen Tisch auf der Veranda der Hütte des Inspectors und prosteten sich mit ihrem zweiten Bier zu.

Nach einem genießerischen Schluck stellte Derrick Faulkner seine Bierflasche auf den Tisch und sagte nachdenklich: „Na schön, dann werde ich den Anfang machen. Vorhin am Pier, da bin ich nicht auf Coralee zu gegangen, weil ich es darauf anlegen würde, getötet zu werden. Zu Ihrer Beruhigung Florence: Davon bin ich weit entfernt. Es war viel mehr so, dass ich mir ganz sicher war, sie würde mich nicht erschießen. Denn im Grunde hatte sie diese rote Linie innerlich nie überschritten. Rodriguez zu töten geschah ohne Vorsatz.“

Florence trank ihr Bier aus und machte eine zweifelnde Miene. „Klingt für mich nicht so ganz überzeugend, Sir. Immerhin hatte sie keine Hemmungen, die Waffe gegen sich selbst zu richten und abzudrücken.“

„Ja, in dem Wissen, keinen Dritten zu verletzen. Sie werden das vielleicht komisch finden, doch während meiner Zeit bei der NCA habe ich so etwas mehrmals erlebt.“

Florence Cassell sah für einen Moment auf das dunkle Meer hinaus, dessen Rauschen eine beruhigende Wirkung auf sie hatte. Erst nach einer Weile sah sie Faulkner wieder direkt an und ihre Augen schimmerten feucht, als sie ernsthaft sagte: „Sir, machen Sie das nie wieder, denn ich will mir nicht permanent Sorgen um Sie machen.“

Bei ihren letzten Worten schob sie das Geschirr auf dem Tisch zur Seite, beugte sich vor und ergriff mit der Rechten die Hand des Mannes, die er auf den Tisch gelegt hatte. „Bitte, versprechen Sie mir das.“

Etwas überrascht von dieser emotionalen Reaktion der sonst so ausgeglichenen Frau verschränkten sich die Finger seiner Linken mit ihren. Ohne es zu bemerken, sanft mit dem Daumen über die glatte Haut ihrer Hand streichelnd versicherte er der Frau: „Ich werde mich möglichst nie wieder in eine solche Situation begeben, Florence. Das Letzte, was ich möchte, ist Ihnen Kummer zu bereiten. Dazu… Sind Sie mir zu wichtig.“

Faulkner hatte zuerst etwas anderes sagen wollen, doch das erschien im nicht angemessen. Zumindest, solange er nicht wusste wie seine Kollegin dazu stand.

Doch Florence Cassell besaß ein viel zu feines Gespür, um sein kurzes Innehalten nicht richtig einzuordnen. Entgegen ihres sonst eher zurückhaltenden Wesens erwiderte sie offen: „Das war es nicht, was Sie wirklich sagen wollten, habe ich Recht?“

Faulkner spürte, dass ihre Finger sich etwas fester um seine schlossen und nachdem er sich etwas gefasst hatte, gab er zu: „Ja, das ist richtig. Ich wollte eigentlich sagen, dass ich Sie dazu viel zu sehr mag, Florence.“

Ein fast verschmitztes Lächeln stahl sich auf die Lippen der Frau, als sie erwiderte: „Ich mag Sie auch sehr, Chief. Gehen wir ein Stück am Strand spazieren?“

„Sehr gerne.“

Sie erhoben sich und Faulkner ließ zögerlich die Hand seiner Kollegin los.

Nachdem sie die Stufen der Veranda hinter sich gelassen hatten schritten sie langsam nebeneinander an dem einsamen, nächtlichen Strand entlang. Dabei schien es Faulkner so, als würde Strom durch seine rechte Hand fließen, als Florence sie erneut ergriff und in ihrer hielt. Gleichermaßen verlegen sahen sie sich an, ohne ein Wort zu sagen.

Erst, als sie die Hütte hundert Meter hinter sich gelassen hatten, sagte Florence leise: „Es ist mehr, als nur mögen, Chief. Zumindest, was mich betrifft.“

„Es ist mehr, als nur mögen“, verbesserte Faulkner, darum bemüht nicht nervös zu klingen. „Das ist schon seit einiger Zeit so, doch richtig realisiert habe ich das erst, seit wir an dem Zehn-Meilen-Lauf teilgenommen haben. Vielleicht auch schon seit dem Training dafür.“

„Ja, etwa seit dieser Zeit“, stimmte Florence zu.

Wieder schritten sie für eine Weile schweigend durch die lauwarme Nacht, bis Florence stehenblieb und auch die zweite Hand des Mannes in ihre nahm. Leise, fast flüsternd, fragte sie: „Was machen wir jetzt?“

Den fragenden Blick der Frau erwidernd erinnerte sich der Inspector an die Worte von Nalani Camara. Beinahe ebenso leise wiederholte er sie nun, indem er sagte: „Nun, wir sind nicht beim US-Militär, Florence. Dienstlich hätte das keine Auswirkungen.“

Die schlanke Frau lachte leise und Faulkner erklärte: „Zumindest nicht offiziell. Natürlich ist es nicht ganz einfach, in einem solchen Fall das Berufliche vom Privaten zu trennen. Doch wir gehören beide nicht zu den leichtfertigen, unprofessionellen Typen. So viel weiß ich inzwischen von dir, Florence.“

Damit zog er Florence sacht zu sich heran. Als ihre Körper sich berührten, legte die Polizistin ihre Arme in den Nacken des Mannes, der sich an dem hier zum Meer hin stärker abfallenden Strand so hingestellt hatte, dass sie etwas höher stand, als er. Während er seine Arme um sie legte, vibrierte ihr Körper und ihr Herzschlag beschleunigte sich spürbar. Für einen langen Moment sahen sie sich nur an, bevor sich ihr Kopf zu ihm hin bewegte. Einen Augenblick später lagen ihre Lippen auf seinen und sie küssten sich – sanft und beinahe übervorsichtig. Mit geschlossenen Augen versank sie in dem Kuss und zum ersten Mal, seit dem Tod von Patrice ließ sie sich wieder ganz fallen. Es schien ihr fast wie ein Rausch und sie spürte nur noch die Sanftheit des Mannes. Alles andere um sich herum blendete sie aus.

Derrick Faulkner löste sich irgendwann zögernd von ihr und sie hatte dabei den Eindruck, aus einem Traum zu erwachen. Der Blick, mit dem Derrick sie ansah, sagte ihr, dass es ihm kaum anders erging. Sie selbst spürte erst die Tränen auf ihren Wangen, als er sie behutsam mit seinen Fingern wegwischte.

Der Kuss musste ziemlich lange gedauert haben, denn anders, als zuvor schien der Mond über die Wipfel der Bäume hinweg und tauchte die Landschaft und sie beide in silbriges Licht. Sich eng an den Mann in ihren Armen schmiegend genoss Florence für einen nicht messbaren Zeitraum einfach den Moment. Schließlich gab sie ihn wieder frei, nahm das Gesicht des Mannes sanft in ihre Hände und sagte heiser: „Irgendwie schlich sich eben so etwas, wie ein schlechtes Gewissen ein. Nur ganz kurz.“

Der Mann schluckte und antwortete sanft: „Das ist verständlich, Florence. Mir selbst ging es ebenso, als Céline mich zum ersten Mal küsste. Da war plötzlich dieses Kribbeln am gesamten Körper. Es dauerte eine Weile, bis es nachließ und der Erkenntnis Platz machte, dass mich Freya nicht einsam und unglücklich sehen wollen würde. Dein ehemaliger Chief hat ganz Recht gehabt, als er dir erklärte, wofür der Ring steht.“

„Ja. Jack Mooney sprach da aus eigener Erfahrung. Seine Frau war nach schwerer Krankheit verstorben und gerade erst seit einem Monat tot, als er hierherkam.“

Sie machte eine kleine Pause, bevor sie mit vibrierender Stimme fortfuhr: „Es war eben zwar ungewohnt und verunsichernd, doch es war auch unglaublich schön. Zum ersten Mal, seit Patrice starb, habe ich mich wieder ganz und gar fallen lassen können. Ohne düster und traurig darüber nachzugrübeln. Das macht mich sehr glücklich. Weißt du, damit hätte ich an jenem Vormittag, nach unserem ersten Gespräch auf der Fähre, nie gerechnet, Derrick. Damals dachte ich wirklich, du wärst ein geradezu fürchterlicher Mensch.“

Faulkner lachte lautlos. „Vertrauen gegen Vertrauen, du warst in meinen Gedanken damals auch näher an dem Begriff Furie, als an dem Begriff Freundschaft.“

Sie küssten sich erneut. Diesmal jedoch deutlich weniger lange dafür aber spürbar leidenschaftlicher. Nachdem sich diesmal Florence von dem Mann getrennt hatte, sah sie auffordernd in Richtung der Hütte und flüsterte ihm zu: „Komm mit…“
 

ENDE
 



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