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Another Side

Another World, another Wesker 1.5
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Soooooooooooooooooooo viel Backstory in diesem Kapitel.
So. Viel. Davon. :,D Komplett anzeigen

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Prolog: Alex?


 

»Mir ist egal, wie die Regeln sind, ich melde mich auf jeden Fall bei dir.«

Das hatte Alex gesagt, an dem Tag, an dem sie mit ihrem kleinen Koffer aus der Tür geführt worden war. An dem Tag, an dem sie adoptiert worden war, vor genau zwei Wochen. Aber sie hatte sich nicht mehr gemeldet.

Albert saß jeden Abend am Fenster, starrte auf das Tor hinunter und wartete. Sie durfte bestimmt keine Briefe schreiben, also würde sie persönlich vorbeikommen müssen, deswegen hatte er ihr versprochen, hier zu warten, bis er sie sah.

Regentropfen liefen die Scheibe hinab, ließen seine Sicht hinaus ein wenig verschwimmen. Kälte strömte herein und erzeugte eine Gänsehaut auf seinen Armen. Aber er harrte aus. Die anderen Kinder schliefen bereits, deswegen war das Licht aus. Doch die Beleuchtung vom nahegelegenen Raccoon Police Department reichte ihm vollkommen. Eines Tages, das hatte er sich bereits vorgenommen, würde er dort arbeiten und als Polizist anderen Menschen helfen. So wie der Officer, der ihn aus dem Haus getragen hatte, nachdem seine Eltern gestorben waren, und der dann im Krankenhaus die ganze Zeit bei ihm und Alex geblieben war, nur um sicherzugehen, dass man sich gut um sie kümmerte.

Während er so dasaß, die Arme auf das Fensterbrett gestützt, ohne auch nur das kleinste Anzeichen von Alex, ergriff die Müdigkeit langsam von ihm Besitz. Doch gerade als er wegzunicken drohte, erweckte eine Bewegung am Tor seine Aufmerksamkeit. Er kniff die Augen zusammen und wartete. Da, in den Schatten zwischen den Straßenlaternen, huschte jemand umher. Auch wenn er die Person nicht erkennen konnte, war für ihn vollkommen klar, dass es sich um Alex handeln musste. Und sie wartete dort unten jetzt auf ihn!

Er zog keine Schuhe an, damit er leise durch das Haus schleichen konnte. Die Betreuer kümmerten sich um diese Zeit nicht mehr um die Kinder, sofern nichts zu hören war, also schaffte er es ohne Zwischenfall bis zur Eingangstür. Die war zwar etwas lauter, aber sobald er erst einmal draußen war, glaubte er nicht, dass sie ihm nachkämen.

Der Regen prasselte auf ihn nieder, aber ihn störte das nicht. Genauso wenig wie der nasse und kalte Steinboden, der sich bis zum Tor zog. Es war abgeschlossen, deswegen hielt er dort wieder inne und sah durch die Metallstreben hindurch. Niemand war hier.

»Alex?« Seine Stimme ging im Rauschen des Regens unter.

Niemand antwortete.

Hatte er sich geirrt? Aber er war sich so sicher gewesen – und sie hatte es ihm versprochen. Vielleicht war ihre neue Familie so großartig, dass sie gar nichts mehr von ihm wissen wollte. Dann wäre er vollkommen allein. Die Einsamkeit und die Enttäuschung setzten sich auf seiner Seele ab und schlugen dort tiefe Wurzeln.

Plötzlich erklang hinter ihm ein rasselndes Atmen. War er erwischt worden? Es kümmerte ihn nicht wirklich, denn keine Strafe konnte noch schlimmer sein als die kalte Einsamkeit in seinem Inneren. Er drehte sich langsam um und starrte direkt in ein geiferndes Maul voller Fangzähne – und dann wurde alles schwarz.
 

Kapitel 1: Hier steht viel Arbeit an


 

Albert rieb sich über die müden Augen. Die Verlockung war groß, gar nicht aus dem Auto auszusteigen, sondern einfach wieder nach Hause zu fahren. Aber dort würde er nur versuchen zu schlafen, um dieser nervigen Realität zu entfliegen, und auf noch einen Albtraum könnte er gut verzichten. Oder er würde Jill anrufen, aber nachdem wie sie vorgestern auseinandergegangen waren, wäre das nur für sie beide unangenehm. Außerdem gab es nach der Mission vorgestern viel zu tun, besonders was die Schadensbegrenzung anging. Er konnte es sich also nicht leisten, einfach nach Hause zu fahren.

So sprach er sich selbst noch einmal Mut zu, dann stieg er aus. Außer ihm war zum Glück gerade niemand in der Parkgarage, also musste er keine tadelnden Blicke für seinen zerknitterten Anzug oder seine Bartstoppeln ignorieren. Im Moment gab es für ihn genug andere Dinge zu tun, da konnte er sich nicht auch noch darum kümmern, wie er aussah.

Die Treppe führte ihn in den Ostflügel des RPD. Ein Umstand, den er schon oft bedauert hatte, weil das bedeutete, dass er fast durch das ganze Gebäude laufen musste, um zu seinem Büro zu kommen. Und je mehr man laufen musste, desto größer war die Gefahr, dass man jemanden traf, der etwas von einem wollte. Besonders als Captain einer Eliteeinheit geschah das leider häufig, wie er auch sofort wieder feststellte, als er in die Haupthalle trat.

»Captain Wesker!«, sprach ein aufgeregter Polizist ihn an. »Wir brauchen hier noch eine Unterschrift von Ihnen.«

Er hielt Albert ein Klemmbrett entgegen, auf dem ein Freigabe-Dokument befestigt war. Albert überflog den Standard-Text, stellte fest, dass es nur darum ging, Chris Redfields Akten an das FBI zu übergeben und unterschrieb einfach. Es gefiel ihm nicht, dass man glaubte, dass er Informationen zu unterschlagen versuchte, während man gegen seinen besten Freund ermittelte, aber sich dagegen zu wehren war ohnehin erfolglos, er hatte es versucht.

Der Polizist huschte zufrieden davon, um die Unterschrift abzugeben und sich dann vermutlich direkt um Chris' Personalakte zu kümmern. Albert setzte seinen eigenen Weg fort, doch er hielt sofort wieder inne, als ein dröhnendes »WESKER!« durch die Halle vibrierte. Schlagartig verstummten alle Anwesenden und starrten zu der Person hinauf, die von der Ost-Galerie auf sie herabsah. Chief Brian Irons lehnte schwer atmend auf der Brüstung, sein Kopf war tiefrot und sein Schnurrbart zitterte wütend, das konnte Albert selbst von unten sehen.

»In mein Büro!« Irons deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Sofort

Schnaubend fuhr er herum und ging bereits vor. Albert fluchte innerlich und folgte ihm. Mitleidige Blicke begleiteten seinen Weg, gepaart mit manch schadenfreudigem Blick. Er wusste nicht, womit er sich seine Feinde verdient hatte, aber es gab sie und die freuten sich gerade diebisch.

Irons saß bereits an seinem extravaganten Schreibtisch und blickte Albert finster entgegen. Er selbst nahm sich die Zeit, die Tür vorsichtig zu schließen, dabei gab er sich Mühe, die unzähligen ausgestopften Tiere im Büro zu ignorieren. Im RPD gingen Gerüchte um, dass Irons' Hobby die Taxidermie war und er jedes einzelne Tier selbst ausgestopft hatte. Albert kümmerte sich normalerweise nicht um so etwas, aber er hoffte inständig, dass es nur gelangweilter Tratsch war, ohne jeden Funken Wahrheit.

Er setzte sich auf einen Sessel gegenüber des Schreibtischs und sah Irons mit neutraler Miene an, als er freundlich »Guten Morgen, Chief« sagte. Diese betonte Ruhe schien seinen Vorgesetzten nur weiter zu reizen: »Es ist überhaupt kein guter Morgen, Wesker! Was ist in Sie und Ihre Truppe gefahren?!«

Sich dumm zu stellen hätte zu noch mehr Ärger geführt, also antwortete Albert ihm aufrichtig: »Wir haben aus einer verlässlichen Quelle den Aufenthaltsort von Chris Redfield in Erfahrung bringen können.« Er erwähnte lieber nicht, dass diese verlässliche Quelle eine anonyme Mail gewesen war. »Als ehemalige Kollegen sahen wir es als unsere Pflicht an, ihn selbst der Justiz zuzuführen.«

Irons ballte die Hände zu Fäusten. »Und das habt ihr ja ganz großartig gemacht! Redfield ist nicht nur entkommen, ich habe gehört, jemand anderes wurde auch noch verletzt!«

»Und sie hat darauf verzichtet, es als Arbeitsunfall anzumelden«, versuchte Albert die Wogen zu glätten. Dabei hatte er sie ewig überzeugen wollen, sich im Krankenhaus durchchecken zu lassen, bevor er sie schließlich nach Hause gebracht hatte. »Das RPD muss also für gar nichts aufkommen.«

»Darum geht es nicht!«, donnerte Irons und schlug mit einer Faust auf den Tisch. »Sie haben ohne meine Zustimmung eine Mission durchgeführt, die ein derart katastrophales Ergebnis aufweist!«

Wäre es in Ordnung gegangen, wenn sie Erfolg gehabt hätten? Albert fragte lieber nicht.

»Ich sollte Sie eigentlich für diesen Scheiß suspendieren! Das FBI ruft mich seit gestern die ganze Zeit an und die von der Internen Ermittlung verlangen jetzt auch Antworten! Ihr habt es verbockt, Wesker! Und ich erwarte, dass Sie es wieder in Ordnung bringen!«

Unwillkürlich fragte Albert sich, ob Irons' Herz diesem Stress noch lange standhalten könnte – und ob ein anderer Chief vielleicht mehr Verständnis für seine Situation aufbrächte. Aber da Irons ihn nach wie vor wütend anstarrte, käme ihm diese Gnade wohl nicht zuteil.

»In Ordnung«, sagte Albert neutral, konnte aber nicht anders, als noch spitz etwas hinzuzufügen: »Ich kann mich jedoch nicht darum kümmern, solange ich hier sitze.«

Eine Ader auf Irons' Stirn schien zu pulsieren, seine Augen verschossen derart hasserfüllte Blitze, dass jeder andere möglichst lautlos aus dem Büro geflohen wäre. Albert erwiderte den Blick aber nur müde und auch ein wenig gleichgültig. Irons hatte nicht die Befugnis, ihn einfach zu feuern, und auch wenn Albert es hasste, sich von diesem Mann anschreien lassen zu müssen, kümmerte ihn das nicht weiter. Er erlaubte einfach nicht, dass dieser Mann sein Ego beeinflusste.

»Raus!«, fauchte Irons einfach nur, statt eines weiteren Wutausbruchs.

Albert kam diesem Befehl sofort nach und atmete auf, als er die Bürotür hinter sich wieder schließen konnte. Innerlich rumorte er bereits, weil er dummerweise zugestimmt hatte, dem FBI Rede und Antwort zu stehen. Und dass es nun zu internen Ermittlungen gegen die S.T.A.R.S. kam, gefiel ihm noch weniger. Niemand von ihnen hatte etwas falsch gemacht, dafür machten sie eine schlimme Zeit durch, deswegen widerstrebte es ihm, sie der Internen zum Fraß vorzuwerfen. Nach Möglichkeit müsste er das allein über die Bühne bringen.

Er ignorierte die neugierigen Blicke, die zuvor noch mitleidig gewesen waren, nun aber nur noch wissen wollten, warum er angeschrien worden war. Zügig durchquerte er die Galerie der Eingangshalle – wobei er bemerkte, dass Kevin am Empfangstresen stand und wieder einmal mit einer der Angestellten dort flirtete – und dann auch den Westgang. Erst als er im S.T.A.R.S.–Büro stand, erlaubte er es sich, innezuhalten und durchzuatmen. Niemand hatte noch etwas von ihm gewollt, er war endlich in Sicherheit.

Barry und Brad blickten von ihrer Arbeit auf und grüßten ihn. Es war das erste Mal, dass er sie seit dieser Mission traf, gestern hatte er für sie alle einen freien Tag eingerichtet, damit sie sich erholen könnten. Mehr war aber nicht drin gewesen, ohne den Zorn von Irons auf sich zu ziehen.

»Alles okay bei euch?«, fragte er.

Beide nickten, wenngleich sie enttäuscht und mutlos wirkten. Albert war froh, dass ihnen vorgestern nichts geschehen war. Wenn er realistisch darüber nachdachte, hätte das alles immerhin sehr schiefgehen können. Im Endeffekt hatten sie alle Glück gehabt – und es war nicht ihm zu verdanken.

Albert wollte sie vorwarnen, dass die Innere Abteilung bald Ermittlungen gegen sie anstellen würde, aber da klingelte das Telefon in seinem Büro.

»Das geht schon die ganze Zeit so«, sagte Brad. »Es muss wichtig sein.«

Innerlich seufzend entschuldigte Albert sich bei ihnen und ging in sein Büro. Er schloss die Tür hinter sich, dann hob er den Hörer ab. »Wesker.«

Ihm fiel selbst auf, dass er genervt klang, aber der Anrufer sah ihm das hoffentlich nach. Außer es war das FBI, die sollten ruhig spüren, wie er drauf war.

Oh Gott, lass es nicht irgendwer vom FBI sein!

Sein kurzes Stoßgebet wurde mit der Stimme von Enrico Marini belohnt: »Albert, du kommst heute aber spät ins Büro.«

»Der Chief hat mich aufgehalten.« Darüber wollte er aber lieber nicht reden. »Wie läuft es bei euch? Geht es voran?«

»Ich glaube, wir haben die wichtigsten Gespräche hinter uns. Der zuständige Richter war sehr beeindruckt von deinem Plädoyer für Coen. Danke, dass du dir die Zeit dafür genommen hast.«

Albert hatte tatsächlich eine schlaflose Nacht dafür hinter sich. Aber wenn es sich gelohnt hatte, war es das wert gewesen. »Nichts zu danken. Billy war wirklich sehr hilfreich. Ohne ihn wären wir bestimmt nicht alle aus dem Anwesen rausgekommen.«

Immerhin hatte niemand von ihnen dort mit Zombies gerechnet. Aber Billy hatte eine Unerschrockenheit an den Tag gelegt, die dafür sprach, dass er Schlimmes im Krieg erlebt hatte. Außerdem hatte er sich derart rührend um Rebecca gekümmert, dass sie selbst als Neuling ohne größere Verletzungen entkommen war. Deswegen war es das Mindeste für Albert, dass er ein gutes Wort für Billy Coen einlegte, damit dieser nicht weiter in Haft bleiben musste.

»Ich habe übrigens gehört, dass ihr vorgestern losgezogen seid, um Chris zu suchen.« Enricos Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass es ein Tadel war.

Albert knirschte leise mit den Zähnen. »Ja, das ist richtig.«

»Und es hat nicht funktioniert.«

»Nein. Jill hat sich mittendrin abgesetzt, um ihn selbst zu stellen und wurde dabei verletzt.« Vor seinem inneren Auge sah er immer noch vor sich, wie er sie auf dem Boden liegend gefunden hatte, wieder spürte er diese stechende Furcht, dass sie tot wäre – und die Erleichterung, als sie wieder aufgewacht war.

»Das wäre nicht passiert, wenn ich da gewesen wäre«, sagte Enrico seufzend. »Du stürmst immer viel zu unüberlegt in solche Situationen, sobald Chris oder Jill etwas damit zu tun haben.«

»Ich kann einfach nicht zusehen, wenn es ihnen schlecht geht.«

»Und damit hast du Jill jetzt in Gefahr gebracht.«

Die Worte waren hart und trafen Albert an seiner einzigen empfindlichen Stelle: seinem Pflichtbewusstsein und seinen Gefühlen für seine Freunde. Er konnte das nicht einfach stehenlassen: »Es geht ihr gut. Ich hab sie am Abend noch gesehen.«

Bestimmt würde Enrico es nicht okay finden, dass er sie nicht ins Krankenhaus gebracht hatte, also ließ er das lieber aus.

»Du bist viel zu emotional bei den beiden«, tadelte Enrico. »Du bist ihr Vorgesetzter, verhalte dich auch so.«

Wie oft hatten sie dieses Gespräch bereits geführt? Albert konnte bei den beiden einfach nicht rational denken. Enrico verstand das, beteuerte er, aber gerade deswegen verlangte er von Albert ein strafferes Regiment bei den beiden. Vielleicht wäre alles nicht so gekommen, wie es gekommen war, wenn Albert wirklich mehr Strenge walten ließe.

Eine Bewegung aus dem offenen Büro zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Seine Brust füllte sich schlagartig mit Eiswasser, als er sah, wie Jill und Kevin hereinkamen. Was wollte sie hier? Eigentlich hatte er erwartet, dass sie ein paar Tage zu Hause bliebe.

Bitte lass sie nicht hier sein, um mit mir über vorgestern Abend zu reden.

»Enrico, hör zu, ich muss Schluss machen. Hier steht viel Arbeit an.«

»Du planst keinen weiteren Einsatz, oder?«, fragte er misstrauisch.

Albert lachte humorlos. »Nein, natürlich nicht. Kümmer du dich weiter um Rebecca und Coen, ich erwarte, dass du mit beiden zurückkommst.«

»Verlass dich darauf.«

Nach einer kurzen Verabschiedung legte er den Hörer auf und ging zu seiner Tür. Er betrachtete Jill durch die Glasscheibe. Sie starrte auf Chris' leeren Tisch, als könnte sie nicht glauben, was sie da sah. Eifersucht regte sich in seinem Inneren. Würde es sie auch so sehr kümmern, wenn er einfach verschwunden wäre? Vielleicht wäre sie dann eher erleichtert. Der Gedanke ließ ihn leise schnauben. Er atmete noch einmal auf und trat hinaus.

»Oh, Boss!«, sagte Kevin, der ihn zuerst bemerkte. »Jill wollte nur was holen.«

Albert musterte Jill. Sie schwankte noch ein wenig, was ihm sagte, dass er sie doch lieber ins Krankenhaus hätte bringen sollen. Enrico erfuhr das hoffentlich nie, das gäbe sonst nur einen weiteren Tadel. Was ihn aber vor allem traf, war der feindselige Blick, mit dem sie ihn ihrerseits trotzig musterte. Hatte er es wirklich so sehr vermasselt?

»Jill«, begann er vorsichtig, »wir waren doch darin übereingekommen, dass du dich ausruhst. Oder soll dich Kevin doch ins Krankenhaus, zu einem Check up, begleiten?«

Bei der Erwähnung seines Namens stellte Kevin sich sofort in Bereitschaft. Als Enrico gehört hatte, dass er Kevin zu einem S.T.A.R.S. ernannt hatte, war sein Vize fassungslos gewesen. Sicher, Kevin redete ein wenig zu viel, schien außerdem dem Alkohol zugeneigt und manchmal griff er zu rabiaten Methoden – aber er war erpicht, zu zeigen, was er drauf hatte. Albert war überzeugt, dass aus ihm noch etwas Großartiges werden würde, wenn man ihm nur die Chance gab.

»Nein«, erwiderte Jill frostig, »es geht mir gut, wirklich. Ich bin auch gleich wieder weg.«

Sie wandte sich abrupt ab und stützte sich mit einer Hand auf ihren Tisch. Barry trat einen Schritt näher zu ihr. »Langsam, Jill. Setz dich doch lieber erst mal.«

»Nein, es geht schon.« Ihr Blick wanderte wieder zu Chris' Platz. »Wo ist er?«

Die anderen sahen Albert an, der sich selbst unsicher war. Hatte der Schlag auf Jills Kopf – der vermutlich von Chris gekommen war – ihr Gedächtnis beeinflusst? Warum hätte er dann nicht auch ihre letzte Begegnung auslöschen können?

Nein, er musste sich selbst Vorwürfe machen. Als sie zurückgekommen waren, wäre es seine Pflicht gewesen, sie ins Krankenhaus zu bringen, statt zu ihr nach Hause. Es war doch nur logisch, dass man eine Kopfverletzung nicht unterschätzen durfte. Was hatte er sich nur gedacht?

»Du weißt es nicht mehr?«

»Captain Wesker-«, setzte Brad an, doch Albert hob nur eine Hand und ließ ihn verstummen.

Enrico hatte recht, er war der Vorgesetzte, er musste sich auch so verhalten. Also war es an ihm, ihr noch einmal zu erklären, was geschehen war. Im Moment sah es zwar nicht so aus, als könnte sie das ertragen, aber er konnte es ihr auch nicht einfach verschweigen.

»Chris Redfield hat uns während des Arklay-Zwischenfalls verraten. Er wird inzwischen international wegen Bio-Terrorismus gesucht.«

Sie schien die Worte nur langsam zu verarbeiten, als wären sie vollkommen neu für sie – und dann fiel sie zu plötzlich zu Boden.

»Jill!«, stießen sie alle gleichzeitig aus.

Barry stand glücklicherweise direkt neben ihr und konnte so verhindern, dass sie sich noch weiter verletzte. Während er sie so hielt, kam sie Albert ungeheuer zerbrechlich vor. Wieder war da diese nagende Furcht, dass sie vielleicht nie wieder aufwachte, aber als er ihren Puls mit seinen zitternden Fingern kontrollierte, stellte er erleichtert fest, dass sie erneut nur bewusstlos war.

»Okay, das war's«, sagte er und stand auf. »Ich bringe sie ins Krankenhaus.«

Brad wandte ein, dass sie auch einen Krankenwagen rufen könnten, aber Albert schüttelte mit dem Kopf. »Ich warte hier nicht darauf.«

Außerdem dürfte er sich dann von den Sanitätern nur Vorwürfe anhören, so wie er es einschätzte. Er bräuchte aber niemanden, der ihn darauf hinwies, dass er Mist gebaut hatte, das wusste er schon allein.

Barry hob Jill mühelos hoch. »Okay, wenn du das Auto zum Westausgang fährst, bringe ich sie dorthin. Dann muss ich sie nicht durch das ganze Gebäude tragen.«

Das war eine gute Idee. Zum Glück war Barry viel besser darin, rational zu handeln. Bevor er aber losstürmen konnte, um sein Auto zu holen, hielt Brad ihn noch einmal auf. »Ich glaube, Jill wollte wahrscheinlich das hier holen.«

Er reichte Albert ein Notizbuch. Erst wollte Albert ihm sagen, dass das nicht so wichtig wäre, aber dann fiel ihm ein, dass sie vielleicht nur noch einmal versuchen könnte, ins Büro zu kommen, um es doch noch zu holen. Also bedankte er sich bei Brad und steckte das Notizbuch in seine Tasche. Dann lief er sofort los, um das Auto zu holen und Jill ins Krankenhaus zu bringen. Selbst wenn er einen Fehler gemacht hatte, weil er sie nicht zu einer Untersuchung überredet hatte, nun würde er das wiedergutmachen. Er konnte nur noch hoffen, dass sie keine schlimmen Folgen zurückbehielt.

Bitte, lass alles mit ihr in Ordnung sein. Ich ertrag es nicht, wenn ich jetzt noch jemanden verliere.

 

Als er schließlich wieder ins Büro zurückfuhr, war Albert froh, sie ins Krankenhaus gebracht zu haben. Die Untersuchung hatte keine Probleme ergeben, ihr Kopf war in Ordnung. Eine Gehirnerschütterung war nicht auszuschließen, deswegen musste sie über Nacht im Krankenhaus bleiben. Dort war sie sicher, alles war in Ordnung.

Dennoch brannte seine Brust. Jill war distanziert und förmlich gewesen, sie hatte ihn nicht auf ihre letzte Begegnung angesprochen, vielleicht erinnerte sie sich nicht einmal daran – aber seltsamerweise schmerzte ihn das sogar noch mehr als wenn sie ihm gesagt hätte, dass sie kein Interesse habe.

Am liebsten hätte er sich einfach betrunken, um das alles zu vergessen und auch keine Albträume zu haben, wenn er wieder einschlief, doch er musste seinen Verpflichtungen nachkommen. Gerade wenn die Innere Abteilung Ermittlungen gegen seine Einheit aufnahm, durfte er ihnen kein Futter geben. Er musste alles abwehren, um die anderen zu schützen.

Deswegen fuhr er zum zweiten Mal an diesem Tag in die Parkgarage des RPD und kehrte möglichst unauffällig ins Büro zurück – nur um dort wie elektrisiert innezuhalten. Barry, Brad und Kevin saßen an ihren Tischen und arbeiteten demonstrativ schweigend vor sich hin. Der Grund dafür waren zwei Männer in Anzügen, die auf den Plätzen von Chris und Jill saßen, dort Kaffee tranken und sich gegenseitig versicherten, dass es verdammt guter Kaffee sei.

Sie blickten sofort auf, als sie Albert bemerkten und erhoben sich von ihren Plätzen. Beide präsentierten ihre Ausweise, die sie als FBI-Agenten kennzeichneten und seine Laune nur weiter in den Keller trieb.

»Agent Morgan und Agent Cooper«, stellte einer der beiden sie vor.

Albert verzichtete darauf, seine Marke vorzuzeigen, als er sich als Captain Wesker vorstellte.

Morgans Mundwinkel hoben sich ein wenig. »Chief Irons hat uns gesagt, dass wir uns wegen Chris Redfield an Sie wenden müssen. Wo waren Sie so lange?«

»Ist das wichtig?«, erwiderte Albert und bedeutete beiden, dass sie ihm in sein Büro folgen sollten.

»Wir sind von Berufs wegen neugierig, Mister Wesker«, antwortete Cooper.

Er schloss die Tür hinter den beiden. »Ich habe eine Kollegin ins Krankenhaus gebracht.«

»Jill Valentine, nehme ich an«, sagte Morgan. »Rebecca Chambers ist ja gerade bei den Anhörungen bezüglich Billy Coen.«

Sie waren gut informiert. Das sollte ihn nicht wundern, aber es besserte seine Laune nicht.

»Wurde Ms. Valentine bei ihrer letzten Mission verletzt?«, hakte Cooper nach.

Er wollte eigentlich die Antwort verweigern, mit dem Hinweis, dass sie eigentlich wegen Chris hier waren. Doch da sie verletzt wurde, als sie versucht hatte, Chris zu stellen, blieb ihm nur, das zu bejahen. »Aber die Untersuchung hat ergeben, dass sie nicht schwer verletzt ist.«

»Das ist schön.« Morgan lächelte, als kümmere ihn das wirklich. »Wir sind aber natürlich wegen Chris Redfield hier. Danke, dass Sie uns bereits die Personalakte haben zukommen lassen. Aber wir haben dennoch offene Fragen.«

Albert machte eine Handbewegung, Morgan fing direkt an: »Hat Mr. Redfield im Vorfeld Anzeichen dafür gezeigt, dass er dem Bio-Terrorismus zugeneigt sein könnte?«

Erwarteten sie, dass er Albert in einem friedlichen Moment gebeichtet hatte, dass er schon immer Terrorist werden wollte, aber bislang nicht dazugekommen war? Er biss sich selbst auf die Zunge, um das nicht schnippisch zu fragen. Mit dem FBI sollte er es sich lieber nicht verscherzen.

»Nein, hat er nicht. Chris war immer ein sehr zuverlässiger Mitarbeiter mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.«

»Das beißt sich dann ja mit seinem derzeitigen Werdegang«, stellte Cooper fest.

Albert sah ihn kurz schweigend an. Da aber beide Agenten nur mild lächelten, statt selbst darüber nachzudenken, musste Albert das doch übernehmen: »Richtig. Deswegen zweifeln wir auch daran, dass Chris das aus eigenem Antrieb heraus tut.«

Cooper notierte sich das auf einem kleinen Notizblock. »Wer ist wir

»Das gesamte S.T.A.R.S.–Team.«

»Sie meinen, diejenigen, die noch leben?«, fragte Morgan.

Albert atmete tief durch und ballte die Hände zu Fäusten. Vor seinem inneren Auge sah er die Gesichter derjenigen, die bei dem Arklay-Zwischenfall gestorben waren. Joseph, Edward, Forest, Kenneth und Kevin Dooley, keiner von ihnen hatte es verdient, zu sterben – und dennoch war es geschehen, weil sie von Zombies und infizierten Hunden überrascht worden waren. Allein der Gedanke erzeugte ein unangenehm prickelndes Gefühl unter seiner Haut.

»Richtig«, presste er schließlich hervor.

Cooper notierte sich erstaunlich viel, deswegen musste Morgan noch eine Frage stellen: »Wo hatten Sie eigentlich die Informationen bezüglich Redfields Aufenthaltsort her?«

»Ehrlich gesagt möchte ich meine Quelle nicht nennen.«

Das Lächeln der beiden schwand kein bisschen. Es machte Albert langsam nervös.

»Warum haben Sie die Information nicht an uns weitergereicht?«, fragte Morgan weiter.

»Chris war einer von uns«, wiederholte Albert das, was er auch schon Irons gesagt hatte, »wir empfanden es daher als unsere Pflicht, ihn selbst der Justiz zuzuführen.«

Zu seiner Überraschung nickten Morgan und Cooper verstehend. Dennoch kam natürlich der Kommentar, den er erwartet hatte: »Nächstes Mal geben Sie uns trotzdem bitte Bescheid.«

»Natürlich.«

Aber Albert wusste bereits, dass er dennoch nichts sagen würde. Chris war seine Verantwortung – und die würde er auch wahrnehmen, egal, was es kostete.

 

Es war bereits dunkel, als Albert endlich zu Hause ankam. Seine Wohnung war wie immer finster und verlassen. Selbst als er das Licht im Wohnzimmer anmachte, kam es ihm vor, als hätte sich die Dunkelheit nur in die Ecken verzogen, um dort besonders dicht zu werden und die Helligkeit zu verdrängen.

Auf dem Tisch stand die Flasche Scotch, die er gestern angefangen hatte, sowie das dazugehörige Glas, daneben lag sein zerlesenes Exemplar von The Great Gatsby, das er irgendwann vielleicht einmal durch eine neue Version ersetzen müsste.

Die Befragung von Morgan und Cooper hatte sich hingezogen, obwohl nicht wirklich etwas herausgekommen war, außer, dass selbst die beiden FBI-Agenten verwirrt über Chris' neue Profession waren. Ferner bekäme er vermutlich noch Post von irgendeinem Vorgesetzten, der ihn auch wegen seiner eigenmächtigen Handlung zurechtweisen wollte.

Aber heute wollte er darüber nicht mehr nachdenken. Eigentlich wollte er schlafen, aber er fürchtete sich vor einem neuen Albtraum; dem könnte er entgehen, indem er sich betrank, aber das würde auffallen, falls die Innere Abteilung morgen vorbeikäme. Außerdem machte er sich Sorgen um Jill. Die Gespräche mit ihr fehlten ihm, gerade in dieser Zeit. Also überwand er seine Furcht vor einer Abweisung von ihr und rief im Krankenhaus an. Er musste sich von der internen Vermittlung weiterleiten lassen, aber dann klingelte es schließlich. Erst da kam ihm der Gedanke, dass er sie vielleicht gerade weckte. Aber noch bevor er es bereuen und auflegen konnte, meldete sie sich.

Er atmete ein wenig auf. »Jill, wie geht es dir?«
 

»Schon besser«, antwortete sie kurz angebunden, was ihm wie ein Messerstich vorkam.

Sollte er sie noch einmal fragen, warum sie so distanziert war? Würde sie ihm diesmal antworten? Oder sollte er sie einfach auf die Ereignisse vorgestern ansprechen? Nein, es war besser, wenn sie sich nicht daran erinnerte. Viel eher war ihr Problem wohl ein anderes: »Ich weiß, dass dir die Ereignisse zugesetzt haben. Chris und du standet euch sehr nahe.«

Er wollte es nicht, aber die Verbitterung übernahm ihm. Wie oft hatte er aus seinem Büro heraus beobachtet, wie die beiden sich angeregt miteinander unterhielten, wie sie gemeinsam zum Schießtraining oder Mittagessen gingen? Wann war er so eifersüchtig auf die beiden geworden?

»Aber heute hast du dich besonders distanziert verhalten. Ich weiß nicht, was zwischen euch vorgefallen ist …« Hoffentlich war es etwas, das zwischen ihnen vorgefallen war, und nicht das, was er vorgestern getan hatte. »Ich will nur, dass du daran denkst, dass du dich jederzeit bei mir melden kannst, wenn etwas sein sollte.«

Vielleicht hatte er Glück und ihre letzte Begegnung war ihren Gedächtnislücken zum Opfer gefallen. Dann könnte alles wieder so werden wie früher. Das war doch alles, was er wollte. Dass sie wieder normal miteinander umgingen, und sie nicht auf die Idee käme, ihn allein zu lassen, so wie Chris. Oder Alex.

»Danke, Albert.«

Ihre Worte ließen seine Brust wieder freier werden. Sie hatte ihn nicht abgewiesen, das tat gut und hob seine Laune ein wenig. »In Ordnung. Dann schlaf gut. Und mach dir keine Sorgen wegen der Arbeit, wir kümmern uns schon um alles. Bis morgen.«

Er legte auf, nachdem sie sich auch von ihm verabschiedet hatte. Selbst seine Vorankündigung, dass er morgen wieder mit ihr reden würde, war bei ihr nicht auf Ablehnung gestoßen. Alles konnte noch gut werden. Vielleicht, so dachte er, könnte er nun sogar etwas schlafen, nachdem er sich wieder besser fühlte. Um das gleich auszutesten, stand er auf und ging ins Schlafzimmer. Er dachte nicht einmal mehr darüber nach, vorher noch einmal ein Glas Scotch zu trinken.
 

Kapitel 2: Hast du noch eine letzte Frage?


 

Wie er gehofft hatte, war seine Nacht ruhig verlaufen. So konnte er am nächsten Morgen früher ins Büro kommen, um dort noch einiges aufzuräumen, was einfach liegengeblieben war, bevor sie zu ihrer Mission aufgebrochen waren. Auch im RPD wollte niemand etwas von ihm, damit schaffte er es problemlos in sein Büro, wo er von einem Fax erwartet wurde, das ihn nur noch einmal darauf hinwies, dass sowohl das FBI als auch die Innere Abteilung Ermittlungen gegen S.T.A.R.S. anstrengte. Er widerstand der Versuchung, das Fax einfach wegzuwerfen und heftete es stattdessen in den zuständigen Ordner. Dann räumte er die Akten wieder weg, die er extra für die FBI-Agenten herausgesucht hatte. Obwohl er sich nicht vorstellen konnte, dass darin irgendetwas Interessantes für sie gewesen war, lediglich der Hinweis, dass Chris über Barry zu S.T.A.R.S. gekommen war und er Forest Speyer bereits im Vorfeld gekannt hatte. Da Forest als Zeuge wegfiel, war vielleicht Barry noch in den Genuss einer Befragung gekommen. Es war natürlich weiterhin lächerlich, aber im Endeffekt machten die Agenten auch nur ihren Job.

Kurz vor 9 öffnete sich die Tür zum Büro. Doch die Begrüßung, die er einem seiner Kollegen vorbringen wollte, blieb in seiner Kehle stecken. Wieder waren es zwei Männer in Anzügen, die vor ihm standen, diesmal aber schon älter, mit verbitterten Gesichtern und grauen Haaren, einer von ihnen trug sogar eine Sonnenbrille. Noch bevor sie sich auswiesen, wusste Albert, dass sie von der Inneren Abteilung waren. Ihm blieb auch gar nichts erspart.

»Albert Wesker?«, fragte der Mann mit Sonnenbrille. »Detective Munch und Detective Briscoe, wir haben ein paar Fragen an Sie.«

Ihm blieb nichts anderes übrig als die beiden in sein Büro zu bitten. Im Gegensatz zu den Agenten vom Vortag, sahen die Detectives ihn finster an; er war sich nicht sicher, ob ihm das lieber war, aber immerhin konnte er so die Blicke einfach genauso finster erwidern.

»Wir haben gehört, Sie haben gestern mit dem FBI geredet«, sagte Briscoe, ohne Sonnenbrille, dafür mit sorgsam zurückgekämmten Haar. »Also haben wir bis heute gewartet.«

»Das ist sehr freundlich«, sagte Albert trocken.

Keiner der beiden störte sich an seinem Tonfall. Munch richtete seine Sonnenbrille, durch die seine Augen nicht zu erkennen waren. »Ich gehe davon aus, dass Sie wissen, warum wir hier sind.«

»Ich gehe davon aus, dass es wieder um Chris Redfield geht.«

Mehr wollte man von ihm aktuell ja nicht. Nur Gespräche über Chris. Warum er ein Terrorist geworden war. Ob er sich vorstellen könnte, dass er so etwas tat. Er war selbst erstaunt, dass er gestern bei den Agenten ruhig geblieben war, obwohl er es nicht leiden konnte, dass sie so über ihn sprachen. Vielleicht lag das an dem Lächeln der beiden. Bei diesen Detectives fehlte das nämlich, und es machte ihn deswegen jetzt schon wütend.

»Richtig«, sagte Munch. »Uns interessiert aber weniger, was er jetzt macht oder wie es dazu kommen konnte. Wir wollen herausfinden, wer bei den S.T.A.R.S. noch damit zu tun hat.«

Albert erstarrte. »Sie denken, jemand von uns arbeitet mit ihm zusammen?«

»Aus den Unterlagen geht hervor, dass Redfield zwei der Mitglieder bereits vor seiner Zeit bei den S.T.A.R.S. kannte.« Briscoe blätterte betont durch einen Ordner, den er mitgebracht hatte. »Speyer ist bekanntlich bei dem Arklay-Zwischenfall zu Tode gekommen. Aber Burton lebt noch.«

»Das können Sie nicht ernst meinen. Barry hat zwei Kinder, er würde sich nie auf so etwas einlassen.«

»Ja, das haben wir uns dann auch gedacht«, bestätigte Briscoe.

Was wollten sie dann von ihm? Albert hob seine Hände ein wenig, um zu zeigen, dass er ratlos war. Munch zog einen Mundwinkel nach oben. »Wir haben aber auch herausgefunden, dass Sie und Ms. Valentine eine sehr enge Beziehung mit ihm haben.«

Wieder war da dieses Eiswasser, das sein Inneres füllte. Aber er versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen. »Ist es verboten, sich gut mit seinen Untergebenen zu verstehen?«

»Nein, natürlich nicht. Wir glauben auch nicht, dass Sie damit zu tun haben.«

Damit blieb nur Jill. Sie glaubten wirklich, dass ausgerechnet Jill mit Chris unter einer Decke steckte. Albert wollte dem direkt widersprechen und darauf hinweisen, wie unwahrscheinlich das war. Aber er konnte es nicht. Da war diese kleine unscheinbare Stimme in seinem Inneren, die ihm zuflüsterte, dass es kein Zufall war, dass Jill sich abgesetzt hatte, um allein mit Chris zu sprechen. Und dass sie nicht schlimmer verletzt oder getötet worden war, erklärte sich so ebenfalls.

»Aber was hätten sie von einer Zusammenarbeit?«, fragte Albert, um seinen eigenen Zweifel zu überspielen.

Briscoe zog seine buschigen Brauen zusammen. »Sie müssen sich nicht dumm stellen, Mr. Wesker. Ein Kontakt zur Polizei, speziell zu einer Eliteeinheit, ist für einen Terroristen sehr wertvoll.

»Und«, ergänzte Munch, »wir gehen davon aus, dass der Kontakt erst vor zwei Tagen hergestellt wurde, als Sie diese Mission durchgeführt haben.«

Hinter Alberts Stirn arbeitete es. Wenn er das alles richtig interpretierte, glaubten die beiden Detectives, dass Chris die anonyme Mail selbst geschickt hatte, um unauffällig mit Jill in Kontakt zu treten, möglicherweise im festen Wissen, dass sie sich von allen anderen absetzen würde. Das ergab für seinen Geschmack viel zu viel Sinn. Konnte er Jill unter diesen Voraussetzungen vertrauen? Sollte er sie einfach direkt darauf ansprechen?

Wieder mischte sich diese kleine Stimme ein, die ihm einflüsterte, dass es nur natürlich war, wenn andere Menschen ihn verrieten. Sogar seine eigene Schwester hatte ihr Versprechen gebrochen und ihn für ihre neue Familie verlassen und vergessen. Was sollte Chris oder Jill bei ihm halten?

»Uns ist bewusst, dass Sie vermutlich noch nichts dazu sagen können«, bemerkte Briscoe, als das Schweigen zu lange anhielt. »Wir wollen nur, dass Sie uns mitteilen, sobald Ihnen etwas auffällt oder Sie gar Beweise dafür finden, dass es einen Kontakt zwischen Mitgliedern Ihres Teams und Chris Redfield gibt.«

»Oder mit anderen Terroristen«, fügte Munch noch hinzu.

Albert nickte schweigend. Er wollte weiterhin nicht glauben, dass Jill ihn derart betrog, aber er durfte es nicht ausschließen. Enrico würde ihm das auch bestätigen: Er war ihr Vorgesetzter, er musste Strenge walten und sich nicht blenden lassen. Selbst wenn das bedeutete, dass er sie verdächtigen musste. Wenn er sie nachher im Krankenhaus besuchte, würde er versuchen, mehr aus ihr herauszubekommen, in der Hoffnung, dass sich alle irrten, auch er selbst.

Es darf einfach nicht wahr sein. Aber falls doch, muss ich das Richtige tun.

Auch wenn er sich noch nicht sicher war, was das Richtige in diesem Fall wäre.

 

Der Rest des Tages verlief ohne größere Zwischenfälle. Genau wie die anderen beendete er seinen Bericht zu der misslungenen Mission, um es bei Irons einzureichen. Während Barry sich um die Waffen kümmerte – auch die von Chris und den Verstorbenen –, Brad den Helicopter wartete und Kevin sich mit früheren Kollegen traf, beschloss Albert, es für den Tag gut sein zu lassen und ins Krankenhaus zu fahren. Seine Gedanken drehten sich ohnehin nur darum, ob und was Jill mit Chris zu tun hatte. Vielleicht standen sie sich auch näher, als er bislang geahnt hatte, dann wäre es doch erst recht verständlich, wenn sie nun zusammen arbeiteten. Aber allein der Gedanke sorgte bei Albert für ein weiteres Zähneknirschen.

Im Krankenhaus waren die Gedanken aber auch sofort weggewischt, da er schon beim Betreten der Station erfuhr, dass Jill vorhatte, nach Hause zu gehen. Natürlich nutzte er diese Gelegenheit und bestand darauf, sie selbst zu fahren. Sie wehrte sich nicht dagegen, sondern ließ es zu und so saßen sie kurz darauf schon zusammen in seinem Wagen. Jill wirkte müde und abgekämpft. Lag das daran, weil sie nicht wusste, ob und wie sie mit ihrer Doppelrolle umgehen sollte?

An der ersten Ampel, an der er halten musste, musterte er sie so eingehend, dass sie endlich die Augen öffnete und ihn ansah, wieder mit diesem misstrauischen, fast feindseligen Blick. Hatte Chris ihr irgendwas erzählt? Oder lag das immer noch an seinem Verhalten von diesem einen Abend? Wie gern hätte er sie einfach gefragt.

»Es ist wirklich alles okay«, sagte sie. »Du hast es doch selbst gehört, es sind keine Schäden sichtbar und ich bin auch nicht mehr bewusstlos geworden. Außerdem habe ich gute Schmerztabletten für zu Hause bekommen.«

Er beteuerte, dass er sich nur Sorgen machte und Vorwürfe, worauf sie ihm erwiderte, dass sie sich so oder so abgesetzt hätte, um Chris zu stellen, egal, was er getan hätte.

Albert lachte unwillkürlich. »Du hast recht. Du wärst in dem Moment weg gewesen, in dem ich das erste Mal woanders hinsehe. Alles nur, um zu Chris zu kommen.«

Warum? Warum lag ihr so viel daran, ihn selbst zu stellen? Die Frage brannte so sehr in seinem Inneren, dass es sich anfühlte, als würde ein Loch in seinem Inneren entstehen.

Sie sagte nichts dazu, sondern versank in eigene Gedanken, über die er gern mehr gewusst hätte. Ihre blauen Augen wanderten in die Entfernung und weckten in seinem Inneren die Sehnsucht, dass sie ihn ansehen würde, nur ihn, für immer. Er wollte nicht glauben, dass sie mit Chris zusammenarbeitete oder sogar in ihn verliebt wäre. Und wenn sie ihn nur mit diesen blauen Augen ansehen und ihm sagen würde, dass sie nichts mit alledem zu tun hatte, hätte er ihr geglaubt.

Innerlich grummelnd stellte er fest, dass Enrico wieder mal recht hatte. Er war zu emotional bei ihr.

»Wie sieht es eigentlich mit deinen Gedächtnislücken aus?«, fragte er, um sich von seinen eigenen Gedanken abzulenken und vielleicht mehr zu erfahren.

Sie zögerte einen kurzen Moment. »Im Großen und Ganzen geht es wieder. Aber ein paar Sachen sind noch schwammig.«

»Falls ich dir helfen kann, frag mich einfach.«

Zu seiner Überraschung fragte sie ihn tatsächlich nach Rebecca. Ihm war nicht mal bewusst gewesen, dass Jill viel von ihrem Neuling mitbekommen hatte. Aber er erzählte ihr bereitwillig, wo Rebecca gerade war, und wie es dazu gekommen war, dass sie nun mit Enrico vor dem Verteidigungsministerium über Billy Coens Fall debattieren mussten. Jill lauschte interessiert, stellte sogar Fragen, die er ihr beantwortete und er erwähnte auch, dass er eine Empfehlung für Billy geschrieben hatte. Er ließ aber aus, dass er dafür eine Nacht nicht geschlafen hatte.

Dann fragte sie nach Chris' Tätigkeiten im Anwesen. Albert hatte Chris' Bericht so oft gelesen, um auch nur den Hauch einer Spur für den kommenden Verrat zu finden, dass er ihr sofort von dem Wohnheim mit den mutierten Spinnen und einer mörderischen Pflanze erzählen konnte. Offenbar erinnerte sie sich, denn sie nickte, als bestätigte sie seine Geschichte.

In diesem Bericht hatte Albert keinen Hinweis gefunden. In jedem einzelnen Satz war Chris' Entsetzen über das Gesehene zu lesen gewesen, sein Unverständnis, warum jemand Dinge erforschen sollte, die eine derartige Gefahr waren, sogar für die Forschenden selbst. Er konnte einfach kein Verräter und vor allem kein Terrorist sein. Egal, wie sehr er bei ihnen streng sein wollte, das konnte er sich einfach nicht vorstellen.

»Ich glaube ihm«, sagte Albert unvermittelt. »Weil ich Chris glauben will. Deswegen will ich auch herausfinden, was bei der Beweissicherung geschehen ist. Ob er uns wirklich verraten hat.«

Er würde es erst glauben, wenn Chris ihm in die Augen sah und es ihm mit seinen eigenen Worten bestätigte. Davor war er einfach unschuldig.

»Ich will es auch herausfinden«, sagte Jill leise.

»Dann lass uns das zusammen machen«, entfuhr es ihm begeistert. »Gemeinsam kann uns Chris nicht mehr entkommen.«

»Aber du hast gesagt, wir sollen ihn als Feind betrachten«, wandte sie ein.

Dass sie sich an etwas erinnerte, das er ihr gesagt hatte, machte ihn seltsam glücklich. »Während einer Mission sollten wir ihn auch als Feind betrachten. So schwer es uns fällt, wir dürfen ihn nicht unterschätzen.« Er griff das Lenkrad so fest, dass seine Handknöchel weiß hervortraten. »Du bist noch einmal glimpflich davongekommen, aber wer weiß, wie es das nächste Mal ausgehen wird. Daran möchte ich nicht einmal denken.«

Allein die Vorstellung, dass Jill sterben könnte, dass sie nie wieder wach wurde, schmerzte so sehr in seiner Brust, dass ihm sogar das Atmen schwerfiel. Wenn sie starb – vor allem durch seine Schuld oder seine Nachlässigkeit – könnte er nicht mehr mit sich leben. Wozu dann auch noch?

Den Rest des Weges fuhren sie schweigend. Ihm war die Lust vergangen, sie auf die Sache mit Chris anzusprechen, sie selbst schien gerade wohl nichts sagen zu wollen.

Erst als er vor ihrem Apartmentgebäude in eine Parkbucht einbog, wurde ihm bewusst, dass es möglicherweise seine letzte Gelegenheit für dieses Gespräch war. Also gab er sich Mühe, möglichst ungezwungen zu wirken, als er sie ansah. »Hast du noch eine letzte Frage?«

Tatsächlich hatte sie noch eine – aber damit hatte er nicht gerechnet: »Sind wir beide eigentlich ein Paar?«

Sein Inneres gefror sofort. Unwillkürlich wich er von ihr zurück. Sie erinnerte sich nicht einmal an so etwas? War ihr Gehirn doch mehr geschädigt, als Dr. Hamilton gesagt oder gedacht hatte? Oder war sein Verhalten zu aufdringlich?

Für einen kurzen Moment liebäugelte er mit dem Gedanken, das einfach zu bejahen und eine falsche Beziehung mit ihr zu führen, herauszufinden, wie weit er gehen könnte und wie lange es dauerte, bis sie sich wieder erinnerte. Aber zum einen wäre das natürlich falsch, zum anderen würde das nachvollziehbare Wut mit sich bringen. Und eine solche Beziehung wollte er mit ihr nicht führen. Selbst der Kuss nach der Mission, der von ihr unerwidert blieb, für den er sich entschuldigt hatte, wurde von ihm bereut. Erinnerte sie sich auch daran nicht mehr? Das wäre zumindest eine gute Sache.

Geduldig wartete sie auf seine Antwort, sah ihn dabei einfach nur an, mit ihren misstrauischen Augen, als wartete sie nur darauf, dass er ihr irgendetwas antat. Das brach ihm fast das Herz.

»Nein, sind wir nicht.« Obwohl er es gern anders hätte. »Warum fragst du?«

»Du weißt genau, wo ich wohne, du warst besorgt, weil ich so distanziert war … Da war ich einfach neugierig.«

»Ich bin eben ein guter Chef?«

Sie erwiderte darauf nichts, so dass sie sich nur schweigend ansahen. Auf diese Art und Weise hatte er das Thema eigentlich nicht noch einmal aufgreifen wollen, schon gar nicht, wenn sie sich nicht einmal an den Kuss und ihre fehlende Reaktion erinnerte. Wenn sie ihn nur aufgehalten hätte, als er nach seiner Entschuldigung gegangen war, wenn sie ihm nur gesagt hätte, dass er sich keine Hoffnungen machen musste. Dann säßen sie nun nicht hier.

Er zuckte seufzend mit den Schultern. »Ich bin wohl nicht sehr gut darin, es herunterzuspielen, hm?«

»Zumindest gestern und heute, ja.«

Also war das bestimmt auch vorher schon gewesen. Wusste oder ahnte sie es schon länger und hatte ihn dennoch derart auflaufen lassen? Wie lange hielt er diese Peinlichkeit schon aufrecht, ohne dass jemand ihn darauf hingewiesen hatte? Konnte man an so viel Scham sterben?

»Mich stört das nicht«, sagte Jill plötzlich. »Ich möchte auch nicht, dass dieses Gespräch jetzt irgendwie negativ auf uns zurückfällt.«

Das … war keine Abfuhr. Keine Zusage (mit der er ohnehin nicht gerechnet hatte), aber eben auch keine vollkommene Zerstörung, die er erwartet hatte. Es erleichterte ihn, immerhin könnten sie auf diese Weise weiter Zeit miteinander verbringen. »Okay, ich versuche, daran zu denken.«

Dann fiel ihm aber noch etwas ein: »Ach ja, so wie ich dich kenne, hast du bestimmt nicht wirklich was zu essen zu Hause. Wie wäre es, wenn ich noch schnell etwas besorge und dann zurückkomme, um mit dir zu Abend zu essen?«

Ihr Blick wurde ein wenig weicher, endlich. So kannte und liebte er sie, selbst wenn sie nicht dasselbe für ihn empfand – und vielleicht mit Chris zusammenarbeitete. Als sie zustimmte, mit ihm essen zu wollen, beschloss er, später noch einmal auf das Thema einzugehen, nur um klarzustellen, dass sie unschuldig war. Innerlich entschuldigte er sich bei Enrico, aber er konnte nicht anders.

Nachdem sie ausgestiegen war, fuhr er erst einmal davon, um das Essen zu besorgen. Glücklicherweise wusste er, was sie gern aß, und er kannte auch ein gutes Restaurant, in dem er das holen könnte, ohne auf Fast Food zurückgreifen zu müssen. Diese Zeit konnte er gebrauchen, um sich wieder zu beruhigen und sich auf das kommende Gespräch vorzubereiten. Und vielleicht – nur vielleicht – gab es am Ende dieser ganzen Sache doch noch ein gutes Ende für sie beide. Hoffen durfte er doch noch.

 

Nicht lange danach suchte er Jill schließlich mit dem Essen und auch zwei Flaschen alkoholfreien Biers auf. Während sie aßen, kam die Sprache noch einmal auf Chris, was Albert gelegen kam – allerdings fragte sie zu seiner Überraschung nach seiner Schwester Claire. Er erinnerte sich, dass die FBI-Agenten ihm erzählt hatten, dass die Gefahrenabwehr sie befragt hatten, aber sie wusste offenbar auch nichts.

»Warum fragst du eigentlich?«, hakte Albert nach, als Jill nichts dazu sagte.

»Ich habe vorhin nur an sie denken müssen. Chris hat früher immer viel von ihr erzählt, deswegen …«

Wie viel Privates hatten sie miteinander geteilt? Die Eifersucht stach wieder in seinem Inneren.

Aber während er noch versuchte, sich wieder zu beruhigen, fragte Jill plötzlich nach seiner Familie. Sie entschuldigte sich noch lächelnd, dass sie es möglicherweise wissen müsste, aber ihre Gedächtnislücken machten ihr das nicht einfach.

Albert lächelte ihr beruhigend zu. »Da musst du dir keine Sorgen machen, das habe ich tatsächlich noch nie erzählt. Aber da gibt es ohnehin nicht viel zu sagen, denn ich habe keine Familie. Meine Eltern sind gestorben, als ich noch sehr jung war, ich erinnere mich nicht einmal an sie.«

Das war gelogen. Er erinnerte sich nicht mehr an ihre Gesichter, aber der herbe Duft seines Vaters, sowie die melodiöse Stimme seiner Mutter, waren tief in seinem Gedächtnis verankert. Genau wie das Gefühl der Sicherheit, wann immer er bei ihnen gewesen war.

Vor allem erinnerte er sich aber an das Blut auf den Wänden des Schlafzimmers, an den metallischen Geruch, gepaart mit dem Schwarzpulver und das Loch in der Stirn seines Vaters. Selbst nach bald zwanzig Jahren wollte diese Erinnerung ihn nicht mehr loslassen.

»Andere Verwandte hatte ich sonst nicht. Also bin ich hier im Waisenhaus von Raccoon City aufgewachsen.«

Alex erwähnte er nicht. Sie war adoptiert worden und nie zurückgekehrt, hatte sich auch nie bei ihm gemeldet, trotz aller Versprechen. Er konnte sie nicht mehr als seine Familie bezeichnen, denn ganz offensichtlich hatte sie sich für eine andere entschieden.

Jill legte eine Hand auf seine. »Es ist wirklich nicht weiter schlimm. Die Leute dort waren nett zu uns, wir hatten immer genug zu essen und man hatte einen guten Blick auf das RPD. Wahrscheinlich wollte ich deswegen immer dort arbeiten.« Er lachte kurz auf. »Ohne die Unterstützung von Umbrella wäre das vermutlich nicht möglich gewesen.«

Das Unternehmen hatte das Waisenhaus nicht nur gesponsert, damit es ihnen an nichts mangelte, er erinnerte sich sogar an Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke, die von Umbrella geschickt worden waren.

Jills Stimmung schwang sofort um, nachdem er Umbrella erwähnte. Er seufzte innerlich, denn er wusste, dass sie nicht gut auf die Firma zu sprechen war, Kevin hatte ihm ja sogar gesagt, dass Jill gefragt hatte, ob sie gegen Umbrella ermittelten. Eigentlich war Albert davon ausgegangen, dass Chris' Paranoia inzwischen kein Thema mehr wäre. Aber offensichtlich glaubte sie immer noch, dass Umbrella für die Forschung im Arklay-Anwesen verantwortlich war, egal wie sehr das Unternehmen beteuerte, dass es abtrünnige Wissenschaftler waren, die für Terroristen gearbeitet hatten. War ihr Beharren auf Umbrellas Schuld ein Zeichen dafür, dass sie mit Chris zusammenarbeitete? Oder interpretierte er hier zu viel hinein?

»Ich denke, Umbrella ist wohl kein gutes Tischthema«, versuchte er schließlich, das Thema abzuschließen. »Tut mir leid, dass ich sie wieder erwähnt habe.«

»Nein, ich wollte ja, dass du mir mehr über dich erzählst. Ich hätte nicht so reagieren dürfen.«

»Okay, dann ignorieren wir dieses Thema fortan einfach, wenn wir so zusammensitzen. Wir können uns im Büro streiten, sobald du wieder fit bist.«

Er zwinkerte ihr zu, was die Stimmung sofort wieder entspannte. Sie lächelte ihm dankbar zu.

Das danach eintretende kurze Schweigen wurde von seinem Pieper unterbrochen. Albert entschuldigte sich bei ihr und ging zu ihrem Telefon. Da er bereits schon öfter in dieser Wohnung gewesen war – meistens aber in Verbindung mit Chris –, wusste er, wo es sich befand. Er wählte die Nummer der Buchhalterin des RPD und musste glücklicherweise nicht lange warten, bis sie das Gespräch annahm.

»Gut, dass Sie zurückrufen«, sagte sie. »Ich habe heute auf Sie gewartet.«

Da fiel ihm auch siedendheiß wieder ein, dass Kevin ihm während des Gesprächs mit Briscoe und Munch einen Zettel übergeben hatte, der auf diesen Termin hinwies, weil die Buchhalterin über Jills Krankenversicherung sprechen wollte. Nach der Unterhaltung mit der Inneren Abteilung war ihm das aber vollkommen entfallen. Das wollte er aber nicht so offen zugeben.

»Ich habe mich doch um alles gekümmert«, erwiderte er. »Ryman hätte das gar nicht berichten müssen.«

»Sobald ein Beamter im RPD im Zuge seines Diensts einen Arzttermin benötigt, muss die Buchhaltung davon erfahren. Immerhin müssen wir das mit der Versicherung regeln.«

»Ja, das ist mir klar. Aber sie war nicht dienstlich da, deswegen …«

»Solche Dinge können wir in einem Gespräch unter vier Augen klären«, erwiderte sie spitz. »Also ist es absolut unabdinglich, dass Sie persönlich hierher kommen!«

Großartig, noch mehr Termine, auf die er keine Lust hatte.

»In Ordnung«, gab Albert schließlich nach. »Morgen um 9 im Büro der Buchhaltung. Ist sonst noch etwas?«

Er hoffte, dass sie ablehnte – aber stattdessen gab sie zu seinem Horror den Hörer an eine Person weiter, die wohl gerade mit ihr im Büro war. Und es wurde noch schlimmer, als er die Stimme von Agent Morgan erkannte: »Mr. Wesker, wussten Sie, dass Ms. Valentine sich heute mit Claire Redfield getroffen hat?«

Heiße und kalte Schauer liefen über seinen Rücken. Warum hatte Jill das nicht erwähnt? Unter Garantie wussten die Agenten, dass er gerade bei ihr war – und wenn die Innere Abteilung auch noch davon erfuhr, wäre das Chaos perfekt. Er sah bereits alles zwischen seinen Fingern verrinnen, wie Sand, nein, eigentlich eher wie Wasser, das sich nicht einmal mit viel Mühe davon abhalten ließ, einfach zu versickern und zu verschwinden.

»Nein, das wusste ich nicht. Aber ich kümmere mich darum. Bis dann.«

Er legte den Hörer auf und seufzte schwer. Dabei fiel sein Blick auf einen Schlüssel und einen Zettel, die direkt neben dem Telefon lagen. Besonderes letzteres versetzte ihm einen schweren Stich. Er kannte das Motel, dessen Adresse darauf vermerkt war, nur flüchtig, aber nach dem, was er gerade erfahren hatte, konnte er sofort schließen, dass Claire dort untergekommen sein musste. Sie war hier gewesen, hatte Jill diesen Schlüssel und die Adresse übergeben – aber wozu?

Es gab nur eine Person, die ihm das beantworten konnte. Deswegen schnappte er sich beides und kehrte in die Küche zurück, wo Jill unschuldig auf ihn wartete.

»Was ist das hier?«, fragte er ernst.

Sie zuckte zusammen, weswegen es ihm fast schon wieder leid tat, aber er musste hart bleiben. Dass sie wirkte, als wäre sie bereit, aufzuspringen und wegzurennen, ließ ihn nur noch mehr glauben, dass er hier einer Sache auf der Spur wäre. Sie wurde blass, als er ihr Zettel und Schlüssel vor das Gesicht hielt.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, erwiderte sie, wenig überzeugend.

Ihre gespielte Ignoranz machte ihn nur wütend. Er knallte den Zettel und den Schlüssel auf den Tisch. »Verkauf mich nicht für blöd! Das ist das Motel, in dem Claire Redfield abgestiegen ist! Und der Agent, der sie beobachtet, sagt, dass sie heute bei dir war!«

Sie begann zu zittern, etwas, das er nie hatte sehen wollen, jedenfalls nicht, weil er dafür verantwortlich war. Deswegen atmete er betont tief durch. »Ist dir eigentlich klar, was das für Probleme für dich geben könnte? Wenn die Regierung denkt, dass du mit Chris unter einer Decke steckst, sperren sie dich bis an dein Lebensende ein!«

Und das fände er sogar schlimmer, als wenn sie plötzlich Terroristin geworden wäre. Sie nie wieder sehen zu können, weil sie im Hochsicherheitsgefängnis war, käme für ihn einer Abkehr von ihm gleich. Genau wie bei Alex. Oder Chris. Warum vertrieb er jeden? Was war falsch an ihm?

»Warum hast du mir das nicht erzählt? Ich dachte, wir wollten zusammenarbeiten.«

Sie erwiderte seinen Blick zerknirscht. »Ich dachte, du würdest mir vielleicht raten, sie zu ignorieren oder es jemandem zu melden.«

»Und das sollte ich auch!« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber ich dachte, du vertraust mir. Du weißt, dass ich Chris genauso sehr helfen will wie du. Wir hätten darüber reden können.«

Auch wenn es seine Pflicht gewesen wäre, es dem FBI und der Inneren Abteilung zu melden, kannte er sich. Er hätte Claire aufgesucht, um auch mit ihr über Chris zu sprechen und weitere Hinweise zu suchen, die dafür sprachen, dass er unschuldig war. Natürlich wäre es falsch, das hätte Enrico ihm auch bestätigt, aber es ging immerhin um Chris, er konnte nicht anders, selbst wenn er eifersüchtig war.

»Es tut mir leid«, sagte sie nur.

Er glaubte, dass in seinem Inneren etwas zerbrach. Kraftlos ließ er die Arme fallen. »Ja, mir tut es auch leid. Ich hätte wissen müssen, dass du Chris immer vorziehen wirst.«

Damit griff er nach seinem Jackett, das er zuvor ausgezogen hatte, und verließ das Apartment ohne jedes weitere Wort. Wieder hielt sie ihn nicht auf, genau wie vor zwei Tagen.

Mit großen Schritten ging er den Gang hinab. Seine Brust brannte und war gleichzeitig eiskalt, so dass ihm das Atmen schwerfiel.

Sie hatte es nicht explizit gesagt, aber es war eindeutig, dass sie Chris vorzog. Natürlich, warum auch nicht? Er war sympathisch, brachte sie zum Lachen und war enthusiastisch genug, um jeden mitzureißen. Jede Frau könnte sich glücklich schätzen, seine Freundin zu sein.

Was konnte Albert schon bieten? Er war überarbeitet, traumatisiert und schaffte es offensichtlich nicht einmal, ein guter Anführer zu sein. Wegen ihm war Jill verletzt worden, und sie redete nicht einmal mit ihm über so wichtige Dinge wie neue Hinweise bezüglich Chris. Sobald Enrico zurück war, sollte er ihm die Einheit einfach überlassen und sich zurückziehen. Wenn sich alle von ihm abwandten, sollte er die Zeichen verstehen und die Leute lieber in Ruhe lassen. Egal, wie schwer es für ihn war.

Die Stimme flüsterte weiter in seinem Inneren, bestärkte ihn darin, dass es besser wäre, einfach zu verschwinden, vielleicht das Auto gegen eine Wand zu setzen oder es seinem Vater gleichzutun und sich die eigene Waffe gegen die Stirn zu richten. Hauptsache, er wäre fort, und alle anderen wären endlich von seiner unerwünschten Anwesenheit befreit.

Mit diesen Gedanken kämpfend fuhr er nach Hause, entschlossen, sich an diesem Abend zu betrinken, egal, wie sehr sich das am nächsten Morgen noch rächen würde.
 

Kapitel 3: Ich bin heute beschäftigt


 

Albert hasste es, in Innenräumen eine Sonnenbrille zu tragen, aber als er am nächsten Morgen durch das RPD lief, blieb ihm nichts anderes übrig. Selbst die getönten Gläser halfen nicht viel gegen das Licht, das in seinen Augen brannte und seinen Kopf explodieren lassen wollte. Ganz schlimm wurde es in Verbindung mit Geräuschen, von denen er mehr als genug hatte, als er bei der Buchhalterin saß und ihr zu erklären versuchte, dass die Krankenversicherung nicht für Jill einspringen müsste; sie war privat im RPD gewesen und er hatte sich selbst um die Rechnung gekümmert. Die Buchhalterin schien sich einen Spaß daraus zu machen, ihn besonders lang bei sich zu behalten und immer wieder Dinge zu fragen, die er schon mehrmals erklärt hatte.

Schließlich ließ sie ihn aber endlich gehen. Sein Kopf dröhnte inzwischen wie ein Presslufthammer, aber in seinem Büro hatte er Kopfschmerztabletten, deswegen beeilte er sich, dorthin zu kommen, obwohl ihm dabei schwindelig wurde. Er konnte verstehen, wie Jill sich fühlte – aber kaum dachte er das, ärgerte er sich bereits über sich selbst. Gerade an sie wollte er heute eigentlich nicht denken, nicht nach gestern. Dafür schmerzte der Verrat einfach noch zu sehr.

Deswegen war Alberts erste Reaktion, als er ins Büro kam, nur ein leises Fluchen. Agent Morgan saß wieder auf Jills Platz und begrüßte ihn freundlich. Entweder hatte er den Fluch nicht gehört, bezog ihn nicht auf sich oder es war ihm schlichtweg egal. »Mr. Wesker, guten Morgen.«

»Ja«, sagte Albert darauf nur. »Gehen wir einfach in mein Büro.«

Er lief mit großen Schritten voraus, um endlich an die ersehnte Kopfschmerztablette zu kommen. Morgan folgte ihm und musterte mit undurchdringlicher Miene, wie Albert eine Flasche Wasser und eine Tablette aus der Schreibtischschublade zog und letztere direkt einwarf.

»Sie sollten nicht zu viele davon nehmen«, sagte Morgan unbekümmert. »Das ist nicht gesund für den Magen, wissen Sie? Ich hatte mal einen Fall, da-«

»Können Sie nicht einfach zum Punkt kommen?«, unterbrach Albert ihn. »Was wollen Sie?«

Es dauerte mindestens eine Stunde, bis die Tablette wirkte, so lange wollte er Morgan aber nicht in seiner Nähe haben, also kürzte er es lieber ab.

»Ach ja, genau. Sie haben gestern so abrupt aufgelegt, deswegen dachte ich, ich komme heute noch einmal vorbei und frage nach, ob Ms. Valentine Ihnen erzählt hat, was Ms. Redfield von ihr wollte.«

Gott, das hätte er auch gerne gewusst. Wäre er nicht direkt so wütend geworden, hätte sie es ihm vielleicht erzählt. Nein, er stoppte sich selbst in seinen Gedanken. Als er ging, war es ihr problemlos möglich gewesen, ihn aufzuhalten, aber sie hatte es nicht getan. Ihr lag nicht daran, ihn einzuweihen. Für ihn blieb nur der Schluss, dass Jill und Chris unter einer Decke steckten und sie nun auch Claire mit hineinziehen wollten. Und das Richtige wäre, Morgan von seinem Verdacht zu erzählen.

»Claire war nur bei Jill, weil sie mit jemandem reden wollte, der Chris kannte. All die Ereignisse haben auch Claire verwirrt und verunsichert. Sie hat immerhin auch nicht damit gerechnet, dass er plötzlich als Bio-Terrorist gesucht wird.«

Er konnte es einfach nicht. Solange keiner von ihnen es ihm selbst bestätigte, mochten die Beweise noch so erdrückend sein, seine Zweifel noch so groß, er konnte keinen Verdacht aussprechen, der seine Freunde als die Bösen darstellte.

Morgan ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. Dabei tippte er nachdenklich mit dem Zeigefinger auf das Revers seines Anzugs. »Interessant. Wir haben gar nicht darüber nachgedacht, dass sie vielleicht nur emotionale Unterstützung braucht.«

Natürlich nicht. Sie waren FBI-Agenten, darauf trainiert, rational und logisch an ihre Fälle heranzugehen. Außerdem glaubte Albert, dass Morgan und Cooper – der vermutlich gerade Claire überwachte – allgemein Probleme damit hatten, Emotionen nachzuvollziehen. Sie wirkten ein wenig wie die Verbrecher, die sie fangen sollten. Waren sie deswegen Agenten geworden oder hatten all die Fälle, in denen sie in Abgründe gestarrt hatten, sie selbst in Monster verwandelt?

Er fragte lieber nicht.

Schließlich nickte Morgan. »Okay, das klingt plausibel. Danke für Ihre Mithilfe, Mr. Wesker.«

Er wandte sich bereits zum Gehen, Albert wollte schon aufatmen – doch dann fuhr Morgan mit erhobenem Zeigefinger noch einmal zu ihm herum. »Ach, eine Kleinigkeit noch. Sie sollten wirklich nicht mit dieser Sonnenbrille herumlaufen. Man könnte Sie für einen Bösewicht halten.«

Nach diesem nicht sonderlich hilfreichen – und auch noch ungefragten – Ratschlag, verabschiedete Morgan sich und ging dann glücklicherweise wirklich. Barry kam direkt nach ihm herein und kam sofort zu Alberts Tür. Er wirkte besorgt, deswegen winkte Albert direkt ab. »Agent Morgan hatte nur eine Frage an mich. Nichts weiter Wildes.«

»Was ist mit Jill?«, fragte Barry.

Etwas stach in seiner Brust. »Sie bleibt erst einmal zu Hause und erholt sich. Sag das bitte auch den anderen. Ich bin heute beschäftigt und möchte gern ungestört bleiben.«

Schon allein, damit sich seine Kopfschmerzen endlich beruhigten. Im Moment war es schon besser, weil das Licht in seinem Büro gedämpft war, aber er war erst zufrieden, wenn die Schmerzen ganz fort waren. Am liebsten hätte er einfach noch einmal etwas getrunken, um einen Pegel zu erreichen, der seinen Kater verschwinden ließ, doch das war keine Option.

Barry nickte ihm zu. »Geht klar.«

Dann schloss er die Tür hinter sich und ließ Albert in Ruhe arbeiten. Als Brad und Kevin ins Büro kamen, redete Barry kurz mit ihnen, vermutlich, um sie von Alberts Anweisung in Kenntnis zu setzen, denn sie ließen ihn den ganzen Tag in Ruhe. So war der Rest des Tages ereignislos, abgesehen von dem Moment, in dem er aus Gewohnheit zu Jills Platz hinübersah. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, sie dort sitzen zu sehen, wie sie zu arbeiten versuchte, während Chris ihr lebhaft etwas erzählte und sie damit immer wieder ablenkte. Doch natürlich waren ihre Schreibtische leer, keiner von ihnen war hier – und vielleicht würden sie auch nie wieder hier sein.

Entsprechend schlecht gelaunt war er, als er am Abend nach Hause fuhr, wo er sich nur wieder in den Schlaf trank, um am nächsten Tag erneut mit einem ekelhaften Kater zu erwachen.

Ob er an diesem Tag einfach zu Hause bleiben könnte? Nein, wenn man ihn suchte, musste er im Büro sein, schon allein, weil er nicht wollte, dass die Ermittler hierher kamen. Seine Wohnung war unauffällig, aber es widerstrebte ihm, Munch und Briscoe oder auch Morgan und Cooper in der Sicherheit seiner eigenen vier Wände zu empfangen. Es kam ihm einfach falsch vor. Also fuhr er doch zur Arbeit, machte aber einen Umweg über einen Coffee Shop, in dem er sich einen starken Kaffee kaufte. Den konnte er an diesem Morgen gut gebrauchen, da störte es ihn nicht einmal, dass er seinen Mund verbrannte, als er direkt daran nippte.

In der Eingangshalle wurde er nur kurz aufgehalten, diesmal um ein paar Spesenausgaben von Kevin zu bescheinigen. Ein kurzer Blick verriet ihm, dass sein Angestellter genau das tat, was er ihm aufgetragen hatte: Informationen sammeln, indem er sich den Tratsch seiner ehemaligen Kollegen anhörte. Gut.

Albert unterschrieb und setzte seinen Weg ins S.T.A.R.S.–Büro fort. Als er diesmal aber wieder einen nicht angekündigten Gast entdeckte, der gerade mit Barry sprach, wünschte er sich, dass er einfach zu Hause geblieben wäre. Er hätte einen Kuchen und mehr Kaffee für die Agenten und die Detectives kaufen können, vielleicht wäre der Tag dann sogar ganz schön geworden.

»Oh, Jill.« Da sie nichts sagte, musste er wohl anfangen. »Du bist krankgeschrieben, was willst du hier?«

Sie kam langsam auf ihn zu, selbst in diesem Moment sah sie ihn noch misstrauisch und sogar etwas ängstlich an. »Ich wollte mit dir reden.«

Seine Emotionen verrieten ihn mal wieder, denn er freute sich tatsächlich, dass sie gekommen war. Aber er bemühte sich, es nicht zu zeigen. »Ist es denn wichtig?«

Sie blieb vor ihm stehen. »Ist es.«

Innerlich debattierte er mit sich selbst. Er wollte mit ihr reden, um alles, was zwischen ihnen stand, aus der Welt zu schaffen, gleichzeitig war ihm aber auch danach, ihr zu demonstrieren, dass sie so nicht mit ihm umspringen konnte und ihn verletzt hatte. Und dann war da noch der Vorgesetzte in seinem Inneren, der verlangte, dass er sich die Zeit nahm, sie anzuhören, wenn sie schon von selbst kam. Schließlich gab er seufzend nach. »Okay, dann komm in mein Büro. Aber ich habe nicht viel Zeit.«

Eigentlich hatte er nicht viel zu tun, aber sie sollte nicht glauben, dass er darauf angewiesen wäre, dass sie sich herabließ, mit ihm zu sprechen. Er nickte Barry zur Begrüßung nur kurz zu. Jill folgte ihm, schloss die Tür hinter sich und setzte sich dann auf den Stuhl vor seinem Tisch, während er auf seinem Sessel Platz nahm.

»Also.« Er stellte den Kaffee ab, der langsam zu heiß für seine Finger wurde. »Was willst du?«

»Kannst du mir … vorher einen Gefallen tun und die Sonnenbrille abnehmen?«

Das kam unerwartet. »Was?«

»Ich erklär dir das noch, aber sie macht mich wirklich nervös.«

Dem nachzugeben bedeutete, seine Schwäche zu offenbaren. Sie würde bestimmt sofort merken, dass er zu viel getrunken hatte und das ausnutzen. Das durfte er nicht zulassen. Deswegen überlegte er für einen Moment, sie wegzuschicken – aber er spürte selbst, wie wohltuend es war, sie wieder vor sich zu sehen, ihre Stimme zu hören. Selbst wenn sie nur hier war, um ihn zu zerstören, würde er lachend in die Kreissäge rennen.

Er nahm die Brille ab, dämpfte das Licht, das tausend Feuer in seinem Kopf zu entfachen schien, dann lehnte er sich im Sessel zurück. »Ich bin ganz Ohr. Was willst du mir sagen?«

Sogar wenn sie ihm nun sagte, dass sie eine Terroristin, unsterblich verliebt in Chris und schwanger von ihm wäre, hätte er den Moment genossen. Es war fast schon erbärmlich, wie sehr er bereit war, auf sich herumtrampeln zu lassen, nur um nicht allein zu sein. Vielleicht sollte er bei Gelegenheit doch mal über eine Therapie nachdenken. Sobald Enrico wieder hier war, um einen Teil seiner Arbeit zu übernehmen.

»Es tut mir leid, dass ich dir nichts von Claire erzählt habe«, platzte es aus ihr heraus. »Das war definitiv ein Fehler. Aber es gibt einen Grund, warum ich so … misstrauisch bin. Es ist nicht deine Schuld, aber ich kann einfach nicht anders.«

»Und was ist das für ein Grund?«, fragte er ungeduldig. »Hat es irgendetwas mit Umbrella zu tun? Hab ich irgendwann etwas Falsches zu dir gesagt? Oder hat Chris etwas gesagt?«

Er knurrte den Namen fast. Sein bester Freund würde nie etwas Schlimmes über ihn sagen, er weigerte sich einfach, das zu glauben – aber diese leise Stimme in seinem Kopf hatte übernommen und es ihn einwerfen lassen.

Jill wurde sichtbar nervös, sie knetete ihre Hände. »Es ist wirklich schwer zu erklären, garantiert unmöglich in ein paar Minuten. Und vielleicht würdest du es mir nicht mal glauben, weil es einfach so … verrückt ist.«

Er schüttelte leicht mit dem Kopf. »Wir haben vor einigen Monaten ein Herrenhaus gesäubert, in dem uns Zombies und sogar mutierte Pflanzen angegriffen haben. Das war verrückt, aber es war Realität. Warum sollte ich dir andere seltsame Dinge nicht glauben?«

Das ließ sie sich durch den Kopf gehen, dann begann sie mit »Ich bin nicht die Jill, die du kanntest«.

Wirklich neu war das jetzt nicht für ihn. »Schon klar. Es sind viele Dinge passiert, und du wurdest am Kopf verletzt, da kommt es schon mal vor, dass-«

»Das meine ich nicht«, unterbrach sie ihn. »Ich, also meine Erinnerungen, sind aus einer ganz anderen Welt, einer anderen Zeit, in der alles ganz anders gelaufen ist.«

Wie dumm war er eigentlich? Natürlich nutzte sie die Gelegenheit, ihm eine derart lächerliche Geschichte zu erzählen. Wessen Idee war das gewesen? Bestimmt nicht die von Chris, er war zu pragmatisch, um sich so etwas einfallen zu lassen.

»Machst du dich über mich lustig?«, fragte er, in einer Mischung aus Wut und Müdigkeit. »Bist du deswegen hergekommen? Um mich fertigzumachen?«

»Ich sagte ja, dass es verrückt ist«, verteidigte sie sich. »Aber ich schwöre dir, dass es die Wahrheit ist. Ich bin vor ein paar Tagen in dieser Welt aufgewacht, deswegen weiß ich so wenig über das, was hier passiert ist.«

Es war absoluter Schwachsinn, das wollte er ihr auch direkt entgegnen – aber wieder übernahmen seine Emotionen, die Jill betrafen. Sie wiesen ihn darauf hin, dass es die einzige Erklärung war, warum sie sich an so wenig erinnerte und so anders war – dabei pfiffen sie auf die Kopfverletzung – und dass sie sogar den Kuss vergessen hatte. Er musste nur daran glauben, dass sie ihn nicht anlog. Und er wollte so sehr daran glauben. Wenn auch nur der Hauch einer Wahrscheinlichkeit bestand, dass es der Wahrheit entsprach, war er entschlossen, sich an diesen kleinen Faden der Hoffnung zu hängen, selbst wenn sich irgendwann herausstellen sollte, dass es nur ein Köder war, um ihn weiter in die dunkle Tiefe zu ziehen.

Außerdem gab es eine Sache, die Jills Verhalten ihm gegenüber betraf, die ihn interessierte. Selbst wenn alles nur ein riesiges Lügengebilde war, wollte er wissen, was sie sich dafür ausgedacht hatte.

»Okay«, sagte er seufzend. »Nehmen wir an, ich glaube dir das einfach mal. Was genau in dieser … anderen Welt sorgt dann dafür, dass du mir so sehr misstraust?«

Er legte die gespreizte Hand auf seine Brust, genau dort, wo der Schmerz saß, der sich auch in diesem Moment wieder meldete.

»Ich war auch in meiner Welt bei S.T.A.R.S.«, erklärte sie zögernd, »und wir hatten auch einen Captain Wesker, aber er war komplett anders als du. Er war unnahbar, kalt, arrogant – und er hat immer eine Sonnenbrille getragen.«

Sie nickte zu seiner, die er auf dem Tisch abgelegt hatte. Das erklärte natürlich einiges.

»Außerdem hat er für Umbrella gearbeitet und uns alle verraten.«

Er sah sie verwirrt an.

»Der Wesker meiner Welt, meiner Erinnerung, hat uns verraten, um Kampfdaten für die Biowaffen Umbrellas zu erhalten. Das hat eine Kettenreaktion ausgelöst, wegen der Raccoon City von Zombies überrannt und dann von der Regierung vernichtet wurde.«

Jedes einzelne Wort traf ihn wie einen Peitschenhieb. Er sank tiefer in seinen Sessel. »Nein, das kann nicht sein. Das ist unmöglich.«

Er hatte Umbrella vor Chris und Jill immer verteidigt, weil er der Überzeugung war, dass das Unternehmen nur das Beste für alle wollte. Aber wenn sie in dieser anderen Welt – sofern sie natürlich existierte – wirklich Biowaffen entwickelten, was sollte dann dafür sprechen, dass sie es hier nicht auch taten? War Chris dann kein Verräter, sondern nur aus dem Verkehr gezogen worden, weil er unbequem geworden war?

Aber was ihn noch viel mehr traf, war der Status des anderen Albert Weskers als Verräter. Was mochte ihn dazu bewogen haben? Sah Jill ihn deswegen immer so misstrauisch an? Hatte sie darum Angst vor ihm?

Er hasste jeden einzelnen Gedanken, der in diesem Moment durch seinen Kopf schwirrte, ihn verwirrte und mit noch viel mehr Fragen zurückließ, die er aber nicht alle gleichzeitig stellen konnte.

»Und das war noch nicht alles«, begann Jill, doch Albert hob kraftlos die Hand.

»Das reicht erst mal. Ich glaube, bevor ich mir mehr dazu anhöre, brauch ich erst einen guten Drink.«

Vielleicht würde sein Kopf dann auch nicht mehr so sehr schmerzen. Oder seine Gedanken würden langsamer umherschwirren, so dass er mehr dazu sagen konnte.

Zu allem Überfluss klingelte in diesem Moment auch noch das Telefon. Hoffentlich war es nicht wieder Morgan oder vielleicht jemand aus der Inneren Abteilung. Keinen von ihnen konnte er gerade gebrauchen oder ertragen. Dass Kevin sie im offenen Büro an einen Tisch gelehnt beobachtete, half auch nicht gerade, dass er sich wohler fühlte.

»Ich bin mir noch nicht sicher, was ich davon halten soll. Aber ich bin bereit, mir mehr davon anzuhören. Denn ich will dir weiterhin vertrauen, auch wenn du nicht die Jill sein solltest, die ich kenne.«

Wo mochte sie dann jetzt sein? War sie in der anderen Welt und versuchte sich dort zurechtzufinden? Oder war sie nirgendwo? Würde sie überhaupt je zurückkommen? Besonders die letzte Frage schnürte ihm die Kehle zu, deswegen sprach er lieber schnell weiter: »Ist es okay, wenn ich heute Abend wieder zu dir komme? Dann hast du auch mehr Zeit, mir alles zu erzählen – und wir werden dabei nicht die ganze Zeit beobachtet.«

Er nickte zu den Fenstern, um sie auf Kevin aufmerksam zu machen. Tatsächlich zog sie die Brauen zusammen. »Stimmt, wir sollten bei mir weiterreden.«

Sein Telefon klingelte weiterhin. Wer auch immer mit ihm sprechen wollte, ließ nicht locker. Albert seufzte innerlich.

»Gut, ich komm dann gegen Acht zu dir.« Damit hob er bereits den Hörer ab. »Hallo.«

Jill verstand den Wink und verließ das Büro. Seine Verwirrung blieb leider bei ihm und führte dazu, dass er seinem Anrufer erst einmal nicht zuhörte. Erst als die Person ihn bei seinem Vornamen nannte, erkannte er Enricos Stimme. Er rieb sich die Augen. »Tut mir leid, Enrico. Ich war grad noch abgelenkt. Was gibt es?«

»Gibt es viel Arbeit?«, stellte er die Gegenfrage, statt zu antworten.

»Das FBI und die Innere Abteilung nerven mich die letzten Tage nur, das ist alles.«

Enrico gab einen verstehenden Laut von sich, ging dann aber nicht weiter darauf ein. Immerhin müsste er sich denken können, warum sie alle etwas von ihm wollten – und vermutlich konnte er sich vorstellen, dass Albert sich dabei schwertat, weil er Chris einfach zu sehr mochte.

»Eigentlich rufe ich dich aber auch nur an, um dir zu sagen, dass die Entscheidung gefallen ist.«

Albert wurde sofort aufmerksam. »Oh, wie lautet sie?«

Hoffentlich war es eine gute. Er brauchte unbedingt eine gute Nachricht – und Enrico enttäuschte ihn nicht: »Billy Coen ist ein freier Mann. Unter einer Bedingung.«

Er atmete lautlos auf, spannte sich aber sofort wieder an. Was könnte da jetzt noch kommen?

»Das Ministerium möchte, dass wir ihn bei S.T.A.R.S. im Auge behalten«, erklärte Enrico. »Nur um sicherzugehen. Ich habe in deinem Namen zugestimmt. Das war doch in Ordnung, oder?«

Das wäre ein gefundenes Fressen für die Innere Abteilung. Nach einem vermeintlichen Bio-Terroristen und dessen Kontakt auch noch ein verurteilter Kriegsverbrecher, der nur aufgrund der Vorgaben der Regierung bei ihnen anfing. Vielleicht könnten sie sich dann an Coen abarbeiten und würden von Chris und Jill ablassen.

»Vollkommen in Ordnung. Wir brauchen unbedingt Leute.«

Enrico wirkte erleichtert, als hätte er tatsächlich erwartet, dass Albert ihn deswegen zurechtweisen würde. Als wäre das jemals passiert, seit sie zusammenarbeiteten, es war eher Enricos Aufgabe, Albert zu tadeln. Wie hatte er überhaupt Captain dieser Einheit werden können?

Zum Glück riss sein Vize ihn direkt wieder aus diesen Gedanken heraus, indem er ihm mitteilte, dass sie morgen bereits zurückkämen und er Coen dann gern das Büro zeigen und die Leute vorstellen würde. Außerdem müssten sie sich dann noch gemeinsam ansehen, welche Stärken der Neue aufwies, um ihn auf die passende Stelle setzen zu können.

Also sollte er morgen lieber ohne Kater zur Arbeit kommen. Dafür vielleicht auch mal wieder rasiert und in einem besseren Anzug.

Nachdem sie das besprochen hatten, verabschiedeten sie sich wieder voneinander. Albert legte auf und lehnte sich auf seinem Sessel zurück. Sobald Enrico zurück war, müsste er unbedingt mit ihm darüber reden, dass er eine Weile die Führung der S.T.A.R.S. übernahm, damit Albert sich ausruhen konnte. Und einen Therapeuten aufsuchen. Bestimmt konnte das nicht schaden, nicht einmal die Innere Abteilung könnte ihm daraus einen Strick drehen. Bis dahin müsste er aber noch durchhalten – und sich auch anhören, was Jill ihm noch zu erzählen hatte. Mit mehr Informationen fiel es ihm dann sicher auch noch leichter, ihr alles zu glauben. Auch wenn am Ende alles nur ein riesiger Betrugsversuch von ihr wäre, blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Emotionen zu gehorchen und ihr zu folgen, wohin auch immer sie ihn führte.

Vielleicht sollte er das sogar mal bei einer Therapie ansprechen, falls er je zu einer käme. Vorerst kümmerte er sich aber wieder um seine Arbeit, die darin bestand, die Arbeitsprotokolle der S.T.A.R.S. abzusegnen und sich vor allem durchzulesen, was Kevin zusammengetragen hatte. Aktuell war Agent Morgan ein beliebtes Gesprächsthema im Revier, da er offenbar viel Zeit dort verbrachte, um Albert im Auge zu behalten und dabei über Filme aus den 80ern zu philosophieren. Die anderen betrachteten ihn wohl mit einer bizarren Neugier, die Morgan schon fast wie ein Kunstwerk anmuten ließ. Zumindest hatte der Agent damit den neuesten RPD-Rekruten – Leon Scott Kennedy – als wichtigstes Thema im Revier verdrängt. Albert hoffte, dass dieser das gut fände.

Während er diesen Bericht abheftete, kehrte plötzlich Leben in das offene Büro ein. Barry, Brad und Kevin erhoben sich simultan von ihren Schreibtischen. Albert folgte diesem Beispiel, um nachzusehen, was los war.

Als er Jill an der Tür entdeckte, die gerade nach ihm fragte, war er sich nicht sicher, was er darüber denken sollte. Er setzte an, um sie zu fragen, was sie wollte und ob es nicht bis zum Abend warten konnte, doch da fiel ihm etwas auf, was ihn sofort wieder in Sorge versetzte: »Jill, du blutest. Was ist passiert?«

Das Blut lief aus ihrer Nase auf ihre Oberlippe. Sie wischte es weg, blickte kurz auf ihre Finger hinunter und schüttelte dann mit dem Kopf. »Egal! Ich habe die Beweise gefunden, die Chris gesammelt hat.«

Albert hatte das Gefühl, zum ersten Mal seit langer Zeit aus tiefer Schwärze aufzutauchen. Es war Chris wirklich gelungen, Beweise zu sichern, die Umbrellas Verwicklungen in diese Sache aufwiesen? Dann bestand immer noch die Möglichkeit, dass Chris unschuldig war! Er hatte sie nicht verraten, keinen einzelnen von ihnen!

Er beschäftigte sich nicht mit der Frage, wo Chris dann gerade war, denn das hätte seine neu erwachte Hoffnung nur unnötig getrübt. Aber er wollte auch nicht im Vorfeld zu sehr Begeisterung zeigen, falls am Ende doch nichts dabei herauskäme. Deswegen lauschte er Jill nur aufmerksam, während sie erzählte, dass sie alles in einem Lagerraum gefunden hätte und sie dort von Personen in schwarzen Uniformen verfolgt worden war.

Ein Glück, dass ihr nichts passiert ist.

»Und deswegen bin ich jetzt hier«, schloss sie. »Damit wir gemeinsam etwas unternehmen.«

Diesmal vertraute sie ihm also. Das zu wissen machte ihn glücklich, aber er ließ sich immer noch nichts anmerken, sondern fragte Barry und Brad, was sie darüber dachten. Die beiden hatten sich die Dokumente und Chris' Notizbuch angesehen und sie bestätigten ihm, dass sie hier etwas wirklich Wertvolles in der Hand hielten, das Umbrella zu Fall bringen und Chris' Namen reinwaschen könnte.

Unter diesen Umständen musste er nicht lange nachdenken: »Ich will, dass wir uns diese Beweise und das Notizbuch durchnehmen und Kopien anfertigen. Dann finden wir einen Weg, alles an die Öffentlichkeit zu bringen und Chris zu retten.«

Bitte, lass noch etwas zu retten da sein! Wo immer er ist, er muss nur durchhalten.

Er bezweifelte, dass sie Chris einfach getötet hatten. Lebend war er bestimmt viel wertvoller für sie. Vielleicht wollte er das auch nur glauben, weil er nicht wahrhaben wollte, dass sein bester Freund schon tot sein könnte. Nein, sie würde ihn retten! Definitiv!

»Wir werden nicht zulassen, dass einer von uns unter die Räder kommt, nur weil er die Wahrheit sagen will!«

Barry, Brad und Kevin stimmten jubelnd zu und ließen sich von Albert darin unterweisen, dass sie sich die Dokumente teilen sollten, während er das Notizbuch lesen wollte. Es war eine Methode, ihm noch einmal nahe zu sein, etwas, das er seit seinem Verschwinden vermisste. Ihre Gespräche waren nicht die Tiefgründigsten gewesen, aber Chris' unbekümmerte Art und sein unerschütterlicher Gerechtigkeitssinn fehlten ihm. Er wollte deswegen seine Schrift lesen, dabei seine Gedanken verfolgen und sich wieder so fühlen, als würde er mit ihm sprechen.

»Was soll ich tun?«, fragte Jill plötzlich.

Er sah sie wieder an und überlegte für einen Moment, sie nach Hause zu schicken. Aber er wusste, dass sie das ohnehin nicht täte. »Erst einmal solltest du zusehen, dass die Blutung aufhört. Dann kümmern wir uns gemeinsam um das Notizbuch.«

Vielleicht fielen ihr Dinge auf, die für ihn untergingen. Sie hatte öfter mit Chris über seine Verschwörungstheorie gesprochen, da konnte sie auch am ehesten sagen, ob die Angaben im Notizbuch übereinstimmten.

»Chris kann sich glücklich schätzen, dass er dich als seine Verbündete hat«, fügte er hinzu.

»Eigentlich hatte er Pech«, erwiderte sie. »Er hat nicht damit gerechnet, dass ich mich nicht an den Lagerraum erinnere.«

Das war wirklich unglücklich gelaufen, aber: »Niemand hätte sich vorstellen können, dass eine Jill aus einer anderen Welt vorbeikommt, um hier aufzuräumen.«

»Dann glaubst du mir?« Sie wirkte aufrichtig erleichtert, was immer noch alles mögliche bedeuten könnte.

Hoffentlich würden das Notizbuch und die Dokumente ihm helfen, die Zweifel endlich abzuschütteln. Außerdem hoffte er, dass Morgan nicht einen spontanen Besuch einlegte.

»Sagen wir mal, ich vertraue dir mehr als vielleicht gut ist.« Er hob lächelnd die Schultern, damit sie seine Furcht nicht sah. »Nutz das besser nicht aus.«

Jill musterte ihn einen kurzen Moment, dann wurde ihr Blick zum ersten Mal seit vorgestern wieder sanfter, selbst ihr Misstrauen schwand. So dass er wusste, dass ihre folgenden Worte absolut ernst gemeint waren und sein Herz ein wenig leichter werden ließ: »Werde ich schon nicht.«
 

Kapitel 4: Ich bin immer noch dein Vorgesetzter


 

Die Sichtung des Notizbuchs und der Dokumente war erfolgreicher als Albert zu hoffen gewagt hatte. Chris hatte – ganz allein – derart viel zusammengetragen, dass es selbst für Umbrella schwer werden dürfte, sich da wieder herauszureden.

Während er all die Ergebnisse betrachtete, machte er sich aber auch wieder Vorwürfe. Chris war ganz allein durch diese Hölle gegangen, hatte recherchiert und sich in Gefahr gebracht – nur weil Albert ihm nicht hatte glauben wollen. Beim Lesen des Notizbuches hatte er Chris' wachsende Verzweiflung nach jedem missglückten Gespräch, jedem Streit über Umbrella, deutlich gespürt. Albert hatte ihn einfach allein gelassen. Sobald Chris wieder da wäre, müsste er sich erst einmal bei ihm entschuldigen. Außerdem dürfte so etwas nie wieder vorkommen. Ab sofort würde er alles, was seine Kollegen ihm vorbrachten, erst einmal glauben und ihnen dabei helfen, Beweise für oder gegen etwas zu finden.

Außerdem gab es noch eine andere Sache, die ihn nachdenklich machte. Gerade in den Mails der Forscher war ein Name besonders oft erwähnt worden, niemals ausgeschrieben, als fürchtete man, diese Person sonst zu verärgern: Alex W.

Es war ein derart generischer Name, dass es praktisch unmöglich war, dass es sich um seine Schwester handelte, aber dennoch musste er an sie denken. Alex und er waren in einem Waisenhaus gewesen, das von Umbrella gesponsert wurde, sie war adoptiert worden – und dann hatte er nie wieder etwas von ihr gehört. Auch alle anderen Adoptierten waren dann einfach fort gewesen. Er mochte die Erkenntnis nicht, die sich wie ein Raubtier an ihn heranschlich, ihn im Nacken packte und ihn herumschleuderte. Die Adoptierten mussten Teil von Umbrellas Experimenten geworden sein – und das bedeutete, dass sie wahrscheinlich alle tot waren. Auch Alex.

Er hatte gedacht, schon lange mit ihr abgeschlossen zu haben, aber irgendwo tief in ihm war immer die Hoffnung gewesen, dass sie sich eines Tages wiedersahen und vielleicht wieder eine Familie sein könnten – sofern sie das gewollt hätte. Mit diesen neuen Erkenntnissen starb diese Hoffnung und hinterließ nur einen Blutfleck an der Wand.

Nachdem sie darüber gesprochen hatten, wie sie die Informationen am besten an die Öffentlichkeit bringen könnten (Kevin schlug die Kontaktaufnahme mit einer Enthüllungsjournalistin vor, die sie am nächsten Tag in einer Bar treffen wollten), trennten sich die Wege der S.T.A.R.S., damit jeder zumindest noch etwas Schlaf bekam. Albert beschloss, dass es das beste wäre, wenn Jill mit zu ihm käme, da bei ihr zu Hause bestimmt noch mehr Verfolger warteten. Da sie dieses Argument einsah, saßen sie bald zusammen in seinem Wagen, wo Jill ihre Geschichte weitererzählte. Sie erklärte ihm, dass der Wesker ihrer Welt – er weigerte sich einfach, ihn auch als einen Albert zu sehen, deswegen wählte er dieses Mittel der größten Distanzierung, da sie es genauso machte – im Gegensatz zu Chris wirklich ein Verräter war, der auch offen antagonistisch gegen sie vorgegangen war. Als Beispiel erzählte sie ihm von einem Ort namens Rockfort Island, wo Chris und Wesker gegeneinander gekämpft hatten, und dann kam sie zu einer weiteren Begegnung mit ihm: »Er hatte Spencer getötet, bevor wir ihn festnehmen konnten, es kam zum Kampf. Und dabei packte er Chris, vollauf darauf aus, ihn zu töten.«

Ihre Stimme begann leicht zu zittern, Albert wurde übel.

»Ich konnte nicht einfach zusehen, also bin ich auf ihn zugerannt, ich hab ihn aus dem Fenster gestoßen … und dann sind wir die Klippen hinabgestürzt.«

Eiskalte Schauer fuhren über seinen Rücken. Für einen kurzen Moment war da die Befürchtung in seinem Inneren, dass seine Jill tot sein könnte, dass er sie wirklich nie wiedersähe. Die Vorstellung raubte ihm den Atem. »Oh Gott. Dann bist du so gestorben? Und deswegen irgendwie hier gelandet?«

Das wäre für ihn die einzig logische Erklärung – wenn er bei dieser Geschichte überhaupt von Logik sprechen konnte –, warum sie nun hier war. Aber sie schüttelte mit dem Kopf. »Nein. Das war immer noch nicht alles.«

Er stöhnte kraftlos. Wie konnte ihr Tod nicht das Ende sein? Was war geschehen?

»Natürlich habe ich den Sturz nicht überlebt, aber Wesker schon, immerhin war er mit einem Virus infiziert, der ihm übermenschliche Kräfte verlieh. Er hat meinen Körper geborgen – und Experimente daran durchgeführt.«

Zum Glück musste er an einer roten Ampel halten, denn nach diesen Worten musste er erst einmal die Stirn gegen das Lenkrad lehnen und die Augen schließen. Was war los mit diesem Wesker? Wie hatte er so bösartig werden können?

»Geht es noch weiter?«

»Ein bisschen.«

Er stieß ein gequältes Stöhnen aus. Wie viel hatte die andere Jill leiden müssen? Wie konnte sie so viel innere Stärke aufweisen, um in dieser Welt aufzuräumen, wenn sie schon so viel in ihrer eigenen durchgemacht hatte? Er ertrug nicht einmal die Erzählung davon.

»Wesker wusste nicht, dass ich während meiner Flucht aus Raccoon City mit dem T-Virus infiziert worden war. Jemand hat mich mit einem Impfstoff behandelt, deswegen wurde ich nicht zu einem Zombie.«

»Diese Geschichte wird immer wilder«, bemerkte Albert.

Ihr zu glauben fiel ihm damit eigentlich auch immer schwerer – aber zum einen hatte er nach dieser Sache mit Chris beschlossen, jedem erst einmal zu glauben, zum anderen war sie einfach Jill, er konnte ihr nicht nicht glauben, und dann gab es noch den wichtigsten Faktor an dieser Sache: Die Geschichte war derart verrückt, dass sie sich das alles nicht ausgedacht haben konnte. Jill war ähnlich wie Chris eher pragmatisch veranlagt, sie war nicht dafür bekannt, besonders fantasievoll zu sein. Selbst ihre Berichte lasen sich immer einen Tick trockener als sie sein müssten (darin wurde sie lediglich von Brad überboten, dem technische Details wichtiger waren als andere Dinge).

Nein, es musste alles so geschehen sein, wie sie es erzählte, denn sie fuhr immer noch fort, erzählte von Weskers Faszination über den latenten T-Virus und dessen Antikörper in ihrem Blut, davon, dass Wesker sie unter Drogen setzte, um ihn zu unterstützen, dass sie für ihn Leute infizierte und auch Chris und seine aktuelle Partnerin Sheva bekämpfen musste.

»Ich war die ganze Zeit bei Bewusstsein, aber ich konnte nichts dagegen tun. Bis die beiden mich gerettet haben.«

»Das ist grausam.« Er konnte sich nicht einmal in seinen wildesten Träumen vorstellen, jemandem so etwas anzutun. Erst diese Experimente, dann zwang er sie, solche Dinge zu tun. Wie konnte man nur so sein? »Das ist einfach nur grausam. Warum hat er das getan?«

»Er wollte die Menschheit revolutionieren, indem er alle mit seinem Virus infiziert. Nur die Starken hätten überlebt – und Wesker wäre ihr neuer Gott geworden. So wie es Spencers ursprünglicher Plan war.«

Albert schüttelte mit dem Kopf. »Das ist absoluter Wahnsinn.«

Was hätte Wesker davon gehabt, ein Gott zu werden? Was war sein Endziel? Wie gern hätte er ihn gefragt, nur um das zu verstehen. Aber vielleicht war es besser, wenn sie sich nie begegneten. Wenigstens endete alles damit, dass Chris und Sheva den schlussendlich mutierten Wesker töteten.

»Das war vor einigen Jahren. Seitdem sitze ich in einem Labor, in dem erforscht wird, welche Auswirkungen meine erste Infektion und die Experimente bei Wesker auf mich hatten. Ich habe mich furchtbar gelangweilt – und dann bin ich plötzlich hier aufgewacht.«

Also hatte es zumindest von ihrer Seite aus keinen direkten Auslöser dafür gegeben, dass sie hier gelandet war. Vielleicht war es dann von seiner Jill aus geschehen. Wenn es für so etwas überhaupt einen Auslöser geben könnte.

»Das ist alles wirklich schwer zu glauben«, sagte er. »Aber wie ich dir schon sagte: wir haben so viele Dinge erlebt, von denen nie jemand geglaubt hätte, dass sie außerhalb eines Horrorfilms geschehen könnten, da fehlt auch nicht mehr viel, dir auch das zu glauben.«

Lächelnd erklärte er ihr dann, dass er ihr nach der Sache mit Chris auch glauben und vertrauen wollte, um nie wieder einen solchen Fehler zu begehen.

Sein Blick wurde wieder ernst. »Immerhin verstehe ich jetzt, warum du mir gegenüber so misstrauisch bist. Ich würde mich wundern, wenn du es nach dieser Geschichte nicht wärst.«

»Es tut mir einfach nur leid«, erwiderte sie. »Immerhin kannst du nichts dafür, du bist jemand ganz anderes, allein von deinem ganzen Charakter her. Du bist so viel … besser.«

Das zu hören erleichterte ihn – gleichzeitig musste er darüber aber auch lachen. »Ich will ja hoffen, dass ich besser bin als ein größenwahnsinniger Mörder.«

Sie entschuldigte sich schmunzelnd für diese unglückliche Wortwahl. Zu gern hätte er gewusst, ob sie wusste, wie seine Jill über ihn dachte. Vielleicht war es ihr möglich, das in einer Erinnerung abzurufen oder es gab andere Wege – aber er tat es nicht. Wenn überhaupt, würde er irgendwann seine Jill fragen, sobald sie zurückkäme. Hoffentlich kam sie zurück.

Schließlich erreichten sie die Tiefgarage unter dem Haus, in dem er wohnte. Bislang waren keine Verfolger in der Nähe, sie waren vollkommen allein. Mit dem Aufzug fuhren sie in sein Stockwerk. An seiner Tür angekommen, schmunzelte Jill. »Willst du mich nicht vorwarnen, dass du nicht aufgeräumt hast?«

Seine Augen blitzten belustigt. »Nach deiner Wohnung solltest du lieber nicht so anspruchsvoll sein. Sonst verlange ich noch, dass du bei dir aufräumst.«

Spöttisch abwehrend hob sie die Hände. »Oh, bloß nicht.«

Nachdem er aufgeschlossen hatte, kam ihm der Gedanke, dass möglicherweise jemand bereits in seiner Wohnung wartete. Deswegen gab er Jill zu verstehen, dass sie vorsichtig sein sollten. Mit gezogenen Waffen durchsuchten sie die Zimmer, aber zu seiner Erleichterung war niemand hier.

»Alles sicher«, sagte er, nachdem er zum Schluss im Schlafzimmer nachgesehen hatte, und senkte seine Waffe wieder.

Jill steckte ihre Pistole wieder ein. »Schöne Wohnung.«

»Danke. Ich bin kaum hier.«

Meist war er bei der Arbeit oder verbrachte seine Zeit mit Jill oder Chris, was entweder eine Bar oder ein Restaurant oder auch die Apartments der beiden beinhaltete. Deswegen hatte er sich nie Gedanken um Dekoration gemacht. Wozu auch?

Für einen Moment standen sie sich etwas unbeholfen gegenüber, bis Albert sich erinnerte, dass er zumindest so tun könnte, als sei er ein guter Gastgeber und sich räusperte. »Kann ich dir irgendwas anbieten? Wasser? Kaffee? Gin?«

Sie lachte erschöpft. »Nein, danke. Aber falls du was Bequemeres zum Anziehen für mich hast, wäre ich echt glücklich.«

Er bedeutete ihr, ihm ins Schlafzimmer zu folgen. In seinem Schrank fand er einen alten Pyjama, der ihm inzwischen zu klein war. Für sie wäre er bestimmt immer noch zu groß, aber es wäre besser als nichts.

Als er zu Jill trat, die an seinem Schreibtisch stand, deutete sie auf ein Foto. »Wer ist das?«

Er runzelte seine Stirn und fluchte innerlich, dass er das Bild vollkommen vergessen hatte. »Das bin ich – und meine Schwester.«

»Hast du nicht gesagt, du hättest keine Verwandten mehr?«

Er erklärte ihr, dass Alex eine neue Familie hätte und damit nicht mehr zu seiner zählte.

»Es tut mir leid«, sagte sie zerknirscht, »ich wollte das nicht wieder aufwühlen.«

Er schüttelte mit dem Kopf. »Schon okay. Es ist lange her – und vielleicht wurde sie ja auch nicht adoptiert, sondern als Experiment missbraucht. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie sich nicht mehr gemeldet hat.«

Für einen kurzen Moment dachte er darüber nach, sie zu fragen, ob es in ihrer Welt auch eine Alex Wesker gab und was sie dort gemacht hatte. Aber er tat es lieber nicht. Wenn Wesker so ein unmenschlicher Mistkerl gewesen war, wollte er nicht wissen, was sie getan hatte.

Bevor sie noch etwas sagen konnte, reichte er ihr den Pyjama, worauf sie sich sofort ins Bad zurückzog, um sich umzuziehen. Er nutzte die Gelegenheit, um Enrico anzurufen und ihn von den Planänderungen in Kenntnis zu setzen.

»Ihr wollt also in J's Bar feiern?«, hakte Enrico nachdenklich nach. »Na ja, das kann nicht schaden. Dann hat Billy einen Tag, um sich an die Stadt zu gewöhnen, bevor wir ihn in die Arbeit einführen. Und er könnte die anderen ungezwungen kennenlernen.«

Zum Glück konnte Enrico der Idee doch etwas abgewinnen. Da er aber nicht sicher sein konnte, dass seine Leitung nicht abgehört wurde, erzählte er nichts von den Beweisen oder der geplanten Übergabe. Das war eine Sache für die S.T.A.R.S., niemand, nicht einmal das FBI, sollte ihm da dazwischenfunken.

»Okay, dann treffen wir uns morgen in J's Bar«, bestätigte Enrico noch einmal. »Bis dann.«

Albert verabschiedete sich auch und legte das Mobilteil seines Telefons in die Station, als er hörte, wie Jill wieder ins Wohnzimmer zurückkam.

»Ich hab Enrico Bescheid gesagt, dass wir morgen in J's Bar feiern«, sagte er, dann drehte er sich zu ihr. »Sicherheitshalber hab ich ihm aber nichts von den Beweisen-«

Er verstummte abrupt. Es war das erste Mal, dass er Jill nicht in ihrer Uniform oder ihrer legeren Kleidung sah. Ein Pyjama, selbst wenn er nicht passte, hatte eine ganz andere Wirkung als ihre übliche Kleidung, wie er ihr auch direkt erklärte. Wobei er ausließ, dass ihm gerade wieder auffiel, wie zerbrechlich sie eigentlich wirkte. Nach allem, was sie erzählt hatte, wollte sie so etwas bestimmt nicht hören. Genauso wenig wie seinen Wunsch, sie vor allem Übel – auch dem bösen Wesker – zu beschützen, wenn er sie so sah. Wie gern hätte er sie einfach umarmt. Doch sie war nicht seine Jill, sie brauchte seinen Schutz nicht. Sie war stärker als er.

Glücklicherweise kümmerte sie sich nicht weiter darum, sondern lenkte wieder auf ein anderes Thema. Von der Nachfrage über Enrico, kam sie zu den Büchern in seinem Regal und der Frage, ob er sie alle gelesen hätte.

»Nicht wirklich«, antwortete er. »Wie gesagt, ich verbringe hier nicht sehr viel Zeit. Aber die Leute haben immer das Bedürfnis, mir irgendwelche Klassiker zu schenken.«

Vermutlich, weil man ihn einmal irgendwo mit The Great Gatsby gesehen hatte. Nur weil er einen Klassiker mochte, bedeutete das doch aber nicht, dass er sie alle gut fand oder sich überhaupt dafür interessierte.

Danach wechselte Jill noch einmal das Thema, diesmal zu Fernsehserien, da sie bedauerte, dass er keinen Fernseher besaß. Und so verbrachten sie den restlichen Abend, bis sie schlafen ging, damit ihm Sketche aus einer Comedy-Show vorzuspielen. Er lachte, auch wenn Jill manche der Pointen nicht sonderlich gut rüberbrachte. Doch allein Zeit mit ihr zu verbringen, selbst wenn sie nicht seine Jill war, erzeugte ein warmes Gefühl in seiner Brust, das ihn für den Moment vergessen ließ, was in seinem Leben bislang alles schiefgelaufen war.

 

»Sieh nicht hin, Alby.«

Alex' Stimme hallte in seinen Ohren wider. Das waren ihre Worte gewesen, als sie ihre toten Eltern gefunden hatten – aber nun hörte er sie, während er das Wesen vor sich anstarrte. Es war ein schwarzer Hund oder vielleicht war es früher mal einer gewesen. Tiefe Wunden zogen sich über den Körper, legten Rippen und sogar Organe frei. Selbst Albert war bewusst, dass dieser Hund nicht mehr leben dürfte. Und doch stand er hier vor ihm, musterte ihn mit hervorquellenden Augen und knurrte ihn an. Wie war es durch das geschlossene Tor gekommen?

»Schau einfach nicht hin.«

Aber er konnte den Blick nicht abwenden. Die Furcht hielt ihn fest in ihren Klauen und verhinderte jede noch so kleine Bewegung. Der Regen prasselte weiter auf ihn nieder, aber er hörte nur das Knurren dieses Monsters – es war kein Hund mehr – vor ihm, das sich nicht daran störte, durchnässt zu sein. Es hob die Nase in die Luft und schnüffelte.

Möglicherweise konnte es ihn nicht sehen. Vielleicht ließ es ihn in Ruhe, wenn er lange genug wartete und sich nicht bewegte. Er widerstand sogar der Versuchung, nach Hilfe zu rufen, hoffend, dass dieses Monster endlich weiterziehen würde. Doch diese Hoffnung zersprang wie Glas.

Plötzlich riss der Hund ihn zu Boden. Albert hob den Arm, Schmerzen flammten darin auf, als das Wesen sich darin verbiss. Ein ekelhaft süßlicher Gestank drang in seine Nase und setzte sich dort fest. Albert schrie so laut und lange, dass seine Kehle brannte; das Regenwasser linderte nicht viel von diesem Schmerz.

Das Monster knurrte, während es seinen Arm zerfleischte. Irgendjemand anderes schrie ebenfalls, der Regen rauschte in seinen Ohren.

»Alles ist gut, Alby.«

Alex' Stimme verdrängte alles andere, nur nicht den Schmerz, der wie ein Feuer durch seinen Körper wütete und ihn zu verschlingen drohte, bis nur noch Asche von ihm übrig wäre.

Albert schrie noch einmal – und fuhr hoch. Das Monster war fort, es regnete nicht, er war auch nicht vor dem Waisenhaus, sondern in seiner eigenen Wohnung, auf dem Sofa, weil Jill in seinem Bett schlief. Alles war in Ordnung. Aber der Traum hatte sich so realistisch angefühlt …

Er schob den rechten Ärmel nach oben. Das Monster hatte sich in diesen Arm verbissen, aber davon war nichts zu sehen. Es muss ein Traum gewesen sein. Wahrscheinlich vermischte sich die Enttäuschung, dass Alex damals nicht am Tor gewesen war, mit der Erinnerung an den Arklay-Zwischenfall, das würde auch das Monster erklären. So musste es sein.

Er rieb sich über das Gesicht und warf dann einen Blick auf die Uhr. Es war schon fast 7, also könnte es nicht schaden, aufzustehen und sich fertigzumachen. Wenn er leise genug war, würde er Jill auch nicht wecken. Sie könnte ihren Schlaf gebrauchen.

Mit diesem Plan erhob er sich von dem Sofa, um den heutigen Tag so gut wie möglich anzugehen und ihren neuen Kollegen angemessen zu begrüßen. Die S.T.A.R.S. würden sich wieder erheben, alles besser machen – und vor allem Chris retten, dessen war er überzeugt.

 

Nachdem Jill aufgewacht war, verbrachten sie den Großteil des Tages zusammen. Sie frühstückten miteinander, er kaufte ihr neue Kleidung für den Abend, Mittags gingen sie essen – dabei fiel Albert auf, dass auch Morgan im selben Restaurant saß, sie aber nicht zu beachten schien, vielleicht war es nur ein Zufall – und den Nachmittag verbrachten sie wieder in seiner Wohnung. Er erzählte hauptsächlich von sich, sogar von der kurzen Zeit, in der er Chemie studiert hatte, nur um dann festzustellen, dass es ihn doch nicht interessierte. Manchmal warf sie eigene Anekdoten ein, aber hauptsächlich redete er. Vielleicht wollte sie einfach nur sichergehen, dass er nichts Böses im Schilde führte. Er störte sich nicht daran, so gab es immerhin keine peinliche Stille.

Am Abend suchten sie J's Bar auf. Chris war hin und wieder mit ihm hierher gekommen – bevor sie irgendwann eine Sportsbar entdeckt hatten, in der sie auch Billard spielen konnten. Ab dem Zeitpunkt waren sie immer dort gewesen, obwohl Chris nicht gut beim Billard gewesen war. Immerhin hatte das aber zu einigen lustigen Momenten geführt, in denen Chris versucht hatte, die Regeln neu auszulegen. Irgendwann würden sie das hoffentlich wieder machen können.

Die anderen S.T.A.R.S.–Mitglieder waren alle anwesend, Albert war erleichtert, zu sehen, dass es ihnen gut ging. Offenbar hatte man es nur auf Jill abgesehen. Nach kurzer Zeit kamen auch Enrico, Rebecca und Billy an, so dass sie den Neuen endlich angemessen willkommen heißen konnten. Sie nutzten die Zeit, um sich ein wenig kennenzulernen und sich über den Arklay-Zwischenfall zu unterhalten, Albert hielt sogar einen kurzen Toast, um Billy zu begrüßen und die anderen daran zu erinnern, dass sie zusammenhalten und ehrlich zueinander sein mussten. Irgendwann folgte Jill dann der Journalistin auf die Toilette, wo die Beweisübergabe stattfand.

Albert folgte ihr kurz mit seinem Blick, dann wurde er aber von einer Frau angezogen, die in der Ecke saß und der einzige andere Gast außer ihnen war. Sie hielt den Blick gesenkt, so dass ihr langes Haar ihr Gesicht verdeckte, der Oberkörper schwankte leicht, sie reagierte auch kaum auf Cindy, die Bedienung, die manchmal nachsah, ob alles bei ihr in Ordnung war. Er fühlte sich seltsam angespannt, während er sie ansah, es wurde aber auch nicht besser, als er darüber nachdachte, dass es auffällig wenig Gäste an diesem Abend gab. Die Bar war nie voll gewesen, wenn er mit Chris hergekommen war, aber doch deutlich besser besucht.

Jills Rückkehr lenkte ihn von diesem Gedanken wieder ab.

»Alles gut gegangen?«, fragte Albert flüsternd, als sie sich neben ihn setzte.

Jill nickte. So wie es aussah, war die Journalistin auch bereits eifrig bei der Arbeit, also musste er sich keine Gedanken machen, alles würde seinen Gang gehen.

»Ich habe das erste Mal einen Zombie gesehen«, verteidigte Rebecca sich gerade gegen Billys Aussage, wie sie vor Furcht erstarrt sei. »Im Medizinstudium sind die Toten wenigstens tot geblieben und nicht wieder aufgestanden.«

»Also ich hab immer noch keine gesehen«, meinte Kevin. »Ist das wirklich so eine große Sache?«

»Das Schlimmste ist der Geruch«, antwortete Jill. »An den Anblick und die Geräusche gewöhnt man sich, aber den Geruch vergisst man nie.«

Albert begriff zu spät, dass sie gerade zu viel redete. Die anderen sahen sie fragend an, da keiner von ihnen zu verstehen schien, wie das bereits derart tief in ihrem Gedächtnis verankert sein konnte. Sie lachte wenig überzeugend. »So stelle ich mir das jedenfalls vor. Ich meine … sie riechen schon ganz schön streng, oder?«

Den Großteil schien sie damit zu überzeugen, Albert trank einfach noch einen Schluck. Auf ihn achtete niemand, also konnte er sich erlauben, nicht darauf einzugehen. Außerdem öffnete sich in diesem Moment ohnehin die Tür, was seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er befürchtete immerhin weiterhin einen Agenten oder einen Detective oder vielleicht sogar einen der Uniformierten, von denen Jill gesprochen hatte – aber zu seiner Überraschung war es Claire Redfield.

Er hatte sie bislang nur einmal getroffen, kurz nachdem Chris die Air Force verlassen hatte, was schon eine Weile her war, aber er erkannte sie sofort wieder. Genau wie Jill, die aufstand und direkt zu ihr ging. Albert hätte sich dem gern angeschlossen, um herauszufinden, warum Claire hier war, doch Enrico hielt ihn auf: »Albert, ist alles in Ordnung mit Jill?«

Es war sinnlos, ihm gegenüber zu lügen. Aber die ganze Wahrheit konnte er ihm auch nicht sagen, also blieb nur ein Teil: »Die Situation mit Chris und die Kopfverletzung setzen ihr zu.«

Barrys misstrauischer Blick gefiel Albert nicht. Wenn gerade der gutmütige Barry Misstrauen entwickelte, war Besorgnis angesagt. »Ich verstehe, dass das alles sehr schwer ist, aber sie benimmt sich schon anders als früher.«

Enrico nickte, und sogar Brad stimmte dem zu. Albert nahm noch einen Schluck, um nichts sagen zu müssen und hoffte, dass irgendwer ihn aus dieser Situation herausholte, in der sogar die anderen S.T.A.R.S. an Jill zu zweifeln begannen.

Und seine Hoffnung wurde überraschend schnell erfüllt, als Brad plötzlich von seinem Stuhl hochfuhr. »Jill, da, im Fernsehen! Das ist doch dein Apartmentblock!«

Albert hatte bislang gar nicht auf den Fernseher in der Ecke geachtet, auf dem normalerweise Sportergebnisse angezeigt wurden. Nun hatte eine Sondersendung begonnen, die den Brand eines Apartmentgebäudes beleuchtete – und es war wirklich das von Jill. Neben der Reporterin stand ein sichtlich unbegeisterter Marvin Branagh vom RPD, der routiniert berichtete, dass man noch keine Auskunft zur Feuerursache geben könnte.

»Stimmt es, dass das Feuer seinen Ursprung in der Wohnung von Jill Valentine hat?«

Albert sah zu Jill hinüber, die bleich und schockiert auf den Fernseher starrte. Sie selbst konnte es natürlich nicht gewesen sein, sie hatten den ganzen Tag zusammen verbracht. Waren das ihre Verfolger gewesen? War Umbrella bereit, sie zu töten?

Marvin bestätigte die Aussage der Reporterin, worauf sie eine weitere Frage vorbrachte: »Und trifft es auch zu, dass Jill Valentine die frühere Partnerin des gesuchten Bio-Terroristen Chris Redfield ist? Zeugen sagen aus, dass sie sich mit Redfields Schwester getroffen haben soll.«

»Was geht hier eigentlich vor?«, fragte Enrico, den Blick auf Albert fixiert.

Aber er konnte nicht antworten, er war zu sehr mit seinen eigenen Fragen und seiner Verwirrung beschäftigt. Hatte Umbrella Claire hierher geschickt? Dann wüssten sie, dass sie alle hier waren. Doch woher? Und was hatten sie davon?

Seine Augen weiteten sich ein wenig, als ihm die einzig logische Antwort bewusst wurde: Das hier war eine Falle!

Im selben Moment wurde die Bar in Dunkelheit getaucht. Cindy stieß einen erschrockenen Laut aus, ein Glas zersprang auf dem Boden.

»Der Strom …!«, entfuhr es dem Barkeeper.

Albert stand von seinem Stuhl auf, da flammten grelle Scheinwerfer auf, die von der Straße direkt durch das große Fenster in die Bar leuchteten. Geblendet schirmte er seine Augen mit der Hand ab.

»Was ist da draußen los?«, fragte eine Frau, höchstwahrscheinlich die Journalistin.

»Hier spricht der Umbrella Biohazard Countermeasure Service!«, sagte jemand draußen durch ein Megafon.

Umbrella! Das war wirklich eine Falle! Albert sah sich bereits nach möglichen Fluchtwegen um, doch die Flutlichter ließen die Schatten so stark hervortreten, dass er kaum etwas erkennen konnte.

»In dieser Bar befindet sich eine Person, die mit einer neuartigen Krankheit infiziert ist, die wir eindämmen müssen. Bitte bewahren Sie Ruhe!«

Da kam nur eine in Frage. Alberts Blick wanderte sofort zu der Frau in der Ecke. Inzwischen saß sie vollkommen still, die Situation schien sie gar nicht zu stören. Aber das wunderte ihn auch nicht, denn sie gab ein leeres Stöhnen von sich, ähnlich wie jenes, das sie so oft im Arklay-Anwesen gehört hatten in jener Nacht.

»Jill«, sagte er in Richtung der Erstarrten. »Etwas stimmt mit der Frau in der Ecke nicht.«

Sie fuhr herum. Barry richtete seine Taschenlampe auf die Frau – deren gräuliche Haut sich bereits von ihrem Gesicht abschälte. Die blutunterlaufenen Augen starrten trüb direkt ins Licht, ohne es zu bemerken.

Doch während Albert noch hoffte, dass diese Infektion nicht die gleiche war, wie im Anwesen, stieß die Frau plötzlich ein Kreischen aus und stürzte sich auf Cindy. Jemand entsicherte eine Waffe, Albert wusste nicht einmal, wen er anwies, nicht zu schießen, doch sein Befehl ging ohnehin in dem folgenden Schuss unter. Die Frau wurde zurückgeworfen und stürzte zu Boden. Cindy atmete erschrocken, aber es klang nicht danach, als wäre sie verletzt worden.

Auf der Straße wurden ein Dutzend Waffen entsichert.

»Runter!«, rief irgendjemand.

Albert hatte gerade genug Zeit, sich fallenzulassen, dann feuerten alle Gewehre gleichzeitig und ließen das Fenster zersplittern. Irgendjemand schrie auf, er hoffte, dass es nur der Schreck war. Wenn jemand verletzt worden wäre …

Um sich zumindest den Anschein von Sicherheit zu geben, robbte Albert hinter die Theke, was alle anderen glücklicherweise auch taten. Außer Barry und Cindy, die aber glücklicherweise ohnehin nicht in der direkten Schussbahn waren.

Nach einer gefühlten Ewigkeit – realistisch gesehen war es nicht einmal eine Minute – stellte man draußen das Feuer wieder ein. In dieser Pause verschaffte sich Albert einen kurzen Überblick, dabei stellte er fest, dass niemand ernsthaft verletzt worden war. Ein Glück.

»Albert«, sagte Enrico, der neben ihm saß, streng, »was ist hier los?«

»Es ist gerade ein ganz schlechter Zeitpunkt, das zu erklären. Dauert viel zu lange.«

Außerdem schwirrten wieder all seine Gedanken durcheinander, zu schnell, um sie festzuhalten oder sie auch nur zu ordnen. Enrico würde warten müssen.

Das Megafon sprang wieder an: »Wir können sehen, dass sich noch Zivilisten im Gebäude aufhalten. Bitte identifizieren Sie sich!«

Albert und Jill tauschten einen Blick miteinander. Er war überzeugt, dass es nur eine weitere Falle wäre, eine List, um die erste Person zu erschießen, die aufstand. Dabei wäre das eigentlich seine Aufgabe gewesen. Er war der Captain, er müsste die anderen nicht nur beschützen, sondern auch für sie einstehen, und das bedeutete, dass er versichern müsste, dass die anderen in Ordnung waren. Dennoch tat er es nicht. Die Befürchtung, dass es eine Falle wäre, war einfach zu groß.

Jill dagegen atmete tief durch, nickte ihm zu und stand mit erhobenen Armen auf. Albert konnte sie nur anstarren. Sie war wirklich tapferer als er – andererseits konnte sie es sich aber auch leisten, es war immerhin nicht ihr eigener Körper.

»Mein Name ist Jill Valentine«, sagte sie mit erhobener Stimme. »Ich bin ein Mitglied von S.T.A.R.S. Wir haben die Bedrohung bereits eliminiert, niemand hier ist infiziert.«

Bei letzterem war sich Albert nicht einmal so sicher. Niemand war gebissen worden, aber vielleicht geschah die Übertragung auch anders. So wirklich sicher konnte sie nicht sein. Es gab auch die Möglichkeit, dass sie alle noch vom Zwischenfall im Arklay-Anwesen infiziert waren, ohne es zu wissen. Aber die andere Jill kannte sich besser aus, also war das vielleicht nicht der Fall.

»Jill Valentine«, sagte jemand wieder durch das Megafon, »Sie werden wegen des dringenden Verdachts auf Zusammenarbeit mit einem Bio-Terroristen gesucht! Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus und ergeben Sie sich!«

Alberts Herz setzte für einen kurzen Moment aus. »Mach das nicht, Jill. Wenn Umbrella dich erst mal in seiner Hand hat, wer weiß, was sie dann mit dir anstellen?!«

Sie sah auf ihn herunter, er schüttelte mit dem Kopf und blickte sie beschwörend an. Wenn sie mit diesen Leuten ging, wenn Umbrella sie verschwinden ließ, genau wie bei Chris …

»Garantiert ihr, dass den anderen Zivilisten nichts passiert?«, fragte sie in Richtung der Lichter.

Claire schloss sich dem Protest an: »Jill, du kannst das nicht tun. Chris verlässt sich auf uns! Und denen da draußen ist nicht zu trauen!«

»Ich bin immer noch dein Vorgesetzter!«, bestand Albert. »Ich verbiete dir das!«

Jills Blick wanderte über die anderen. Er konnte sich vorstellen, worüber sie nachdachte und normalerweise hätte er ihr zugestimmt, dass das Leben der anderen wichtig war – aber sie war hier bereit, seine Jill zu opfern, das konnte er nicht zulassen.

Als man draußen versicherte, dass keinem Nicht-Infizierten etwas geschehen würde, ging sie einige Schritte rückwärts, um den Platz hinter der Theke zu verlassen. Albert griff nach ihrem Bein. »Jill, nein! Du kannst das nicht tun!«

Sie schüttelte ihn ab. »Ich muss das tun. Nur so werdet ihr hier rauskommen.«

Langsam ging sie in Richtung des Ausgangs. Albert rappelte sich auf, um ihr zu folgen, doch jemand griff nach seinem Arm und zog ihn wieder zurück.

»Albert!« Enricos Stimme. »Was hab ich dir immer gesagt?! Sei nicht so emotional! Du weißt selbst, dass sie recht hat!«

Er versuchte, sich aus Enricos Griff zu lösen, doch sein Vize schien ihn nur noch fester zu packen und dabei weiter auf ihn einzureden. Albert hörte ihm nicht einmal zu, sondern starrte nur Jill hinterher. Wenn sie nun aus seinem Leben verschwand, das wusste er genau, würde er sie nie wiedersehen. Genau wie Chris. Und Alex. Das würde er nicht ertragen. Er konnte nicht noch jemanden verlieren! Aber Enrico hielt ihn weiter unbarmherzig fest.

Jill trat durch das Fenster und ging im grellen Licht unter.

»Wir werden die anderen Zivilisten nun auf Infektionen testen!«, verkündete der Mann mit dem Megafon. »Bitte kooperieren Sie mit uns!«

Männer mit Testkits betraten die Bar. Enrico ließ ihn endlich los, da er – korrekterweise – davon ausging, dass Albert keinen direkten Vorstoß mehr wagte. Das hielt ihn aber nicht davon ab, nach draußen zu gestikulieren. »Ms. Valentine ist meine Untergebene! Ich habe ein Recht darauf, Sie zu begleiten, wenn Sie verhaftet wird!«

»Tut mir leid«, sagte einer der Männer. »Anweisung von oben, wir dürfen hier niemanden ohne Test rauslassen.«

Jill war auch nicht getestet worden, aber das schien den Mann nicht weiter zu kümmern, er fuhr nach Alberts Einwand einfach fort: »Außerdem ist sie eh verhaftet, Sie können sie später also im RPD wiedersehen.«

Sie käme ins RPD? Vielleicht war also doch nicht alles verloren. Wenn Morgan, Cooper oder die Detectives sie befragten, könnte er dazwischengehen und für sie ein gutes Wort einlegen. Dafür müsste er diesen dummen Test aber hinter sich bringen. Also wehrte er sich nicht mehr, sondern ließ den Mann eine Speichelprobe nehmen, seine Haut und seine Augen begutachten und wartete dann ungeduldig.

Jill wurde inzwischen von einem Mann zu einem schwarzen Fahrzeug gebracht. Albert kannte diesen Kerl nicht, aber er prägte sich dessen Aussehen, besonders das in alle Richtungen abstehende dunkle Haar so gut wie möglich ein. Falls Jill etwas geschah, würde er ihn dafür verantwortlich machen.

Während die anderen auch getestet wurden – wobei Alyssa mit ihrem Presseausweis zu verhindern versuchte, dass man ihr die Tasche mit den Beweisen abnahm, und Claire keinen Ton von sich gab – sprach der Mann, der Albert getestet hatte, gerade mit einem Mikhail Victor, von dem er bereits mitbekommen hatte, dass es sich um den Anführer der Truppe handelte.

Plötzlich kam Mikhail zu ihm rüber und sprach ihn mit einem deutlichen russischen Akzent an: »Captain Wesker, nehme ich an?«

»Richtig«, sagte Albert und nutzte die Gelegenheit direkt noch einmal, um sich bei einem höheren Posten zu beschweren: »Ich bestehe darauf, Ms. Valentine zu begleiten! Sie können meine Untergebene nicht so behandeln!«

»Ich fürchte, ich kann das nicht zulassen«, erwiderte Mikhail ruhig.

Während er das sagte, fuhr der Wagen mit Jill davon, fort aus seinem Leben. Aber nur für kurze Zeit, er musste nur darauf warten, dass er auch ins RPD zurückkäme. Er war derart fokussiert auf diesen Gedanken und dem Anblick des sich entfernenden Autos, dass Mikhails Stimme ihn kaum noch erreichte – bis er eine Frage stellte, die Alberts Blut in seinen Adern gefrieren ließ: »Captain Wesker, ist Ihnen eigentlich bewusst, dass Sie infiziert sind?«

 
 

Kapitel 5: Nicht hier


 

Albert starrte Mikhail fassungslos an. Im Gegensatz zu vorhin waren nun alle Gedanken fort, so dass er sich ganz allein auf den letzten konzentrieren konnte: Ich bin infiziert!

Wann und wie war das geschehen? Hatte er irgendjemanden damit gefährdet? Warum hatte er sich noch nicht in einen Zombie verwandelt? Was sollte er tun? Wäre die andere Jill jetzt hier, hätte er sie wenigstens fragen können, was sie darüber dachte. Sie war auch bereits infiziert gewesen, ihr wäre bestimmt etwas eingefallen.

»Die anderen sind alle sauber«, sagte einer der Tester.

Zumindest hatte er niemanden angesteckt – und keiner der anderen schien etwas von Mikhails Frage mitbekommen zu haben. Dieser schickte den Mann derweil wieder weg, damit sie unter sich bleiben konnten.

»Das kann nicht sein«, erwiderte Albert kopfschüttelnd. »Ich kann nicht infiziert sein. Machen Sie noch einen Test!«

Nach den Ereignissen in Arklay hatte sich jedes überlebende S.T.A.R.S.–Mitglied durchchecken lassen, bei keinem – auch bei ihm – war etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Allerdings war das Krankenhaus eine Einrichtung von Umbrella. Genau wie diese Truppe. Konnte er am Ende niemandem trauen?

Mikhail blickte ihn nachdenklich an. »Nun, Ihre Augen und Ihre Haut weisen tatsächlich keine Symptome auf. Aber ...«

Sein Funkgerät erwachte plötzlich zum Leben. Mikhail bedeutete ihm, dass er eine Sekunde bräuchte, dann zog er sich von ihm zurück, um mit der Person am anderen Ende zu sprechen. Albert starrte ihn durch die Bar hindurch an. Er musste doch das Recht auf einen weiteren Test haben, vielleicht war er nur falsch positiv. So etwas gab es immerhin, davon hörte man dauernd.

Aber wenn er pessimistisch blieb und wirklich positiv war, was würde das dann bedeuten? Sein Blick wanderte zu der toten Frau hinüber, die von einigen U.B.C.S.-Soldaten begutachtet wurde. Müsste man ihn auch töten? Oder würde Umbrella ihn einfach einkassieren und für Experimente gebrauchen?

Er wollte nichts davon. Im Moment wollte er einfach nur bei Jill sein, aber dafür musste er ins RPD. Einfach rauszustürmen und auf das Beste zu hoffen, konnte er jedoch vergessen. Er wusste allerdings auch nicht, ob er hier überhaupt herauskäme, wenn es zu keinem weiteren Test käme. Er schnaubte leise, was seine Unzufriedenheit nur verstärkte.

Mikhail kehrte schließlich zu ihm zurück. »Das war die Zentrale. Einer meiner Männer hat die Ergebnisse direkt durchgegeben – und wir sollen Sie wirklich noch einmal testen.«

Na bitte, genau wie er wollte. Auch wenn es ihn misstrauisch machte, dass sich jemand von Umbrella wegen seines Ergebnisses meldete. Wollten sie nur sichergehen, bevor sie ihn ausschalteten oder loswurden?

Egal, er würde diesen Test einfach nochmal machen und hoffen, dass dieser negativ wäre. Dann würde er ins RPD fahren und sich in das Verhör von Jill einmischen. Und sobald er wieder unter vier Augen mit ihr wäre, würde er über diese Situation mit ihr sprechen. Sie hatte mehr Erfahrung mit Umbrella, sie könnte ihm bestimmt einen Ratschlag geben.

Als wieder jemand mit einem Test zu ihm kam und unter dem aufmerksamen Blick von Mikhail neue Proben nahm und Augen und Haut genau untersuchte, musste Albert sich dazu zwingen, ruhig zu bleiben. Alles war gut, ganz bestimmt. Er war negativ, er konnte nicht infiziert sein.

Ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden tippend, wartete er. Mikhail starrte gemeinsam mit dem Tester auf das Ergebnis, ließ sich von ihm erklären, auf welche Marker er achten musste, scheinbar genauso interessiert wie Albert selbst. Schließlich, nach drei quälenden Minuten, hob Mikhail den Blick. An seinem Gesichtsausdruck war nicht abzulesen, was er gerade dachte. Albert hielt unwillkürlich die Luft an.

»Der Test ist negativ, Captain«, sagte Mikhail schließlich. »Sie können gehen.«

 

J's Bar war nicht weit vom RPD entfernt, deswegen verzichtete Albert darauf, sich mit seinem Auto durch den Verkehr zu quälen und joggte durch die Seitenstraßen. Dabei fiel ihm auf, dass er viel zu schnell aus der Puste war. Spätestens wenn Chris wieder da wäre, müsste er mehr trainieren gehen.

Er hatte darauf verzichtet, die anderen davon in Kenntnis zu setzen, dass er zum RPD zurückkehren würde – oder dass er überhaupt ging. Sie waren gerade noch in gegenseitiges Versichern vertieft, dass alles in Ordnung war. Besonders Cindy und Will brauchten noch ein wenig Bestärkung vor allem von Kevin, der die beiden am besten zu kennen schien. Niemand hatte gemerkt, dass er fort war. Und wenn es ihnen irgendwann auffiel, könnte vor allem Enrico sich bestimmt denken, wo er war und nachkommen.

Albert stürmte in die Haupthalle. Abends war alles mit hellen Lichtern beleuchtet, besonders die große Statue, die stets sämtliche Blicke von Besuchern anzog. Er hatte dafür an diesem Tag aber nichts übrig, sondern ging direkt auf den Empfang zu. Es war bereits so spät, dass die Frauen, die normalerweise hier arbeiteten, Feierabend hatten. Dafür wurde er von zwei Polizisten empfangen, der eine kam ihm vage bekannt vor, der andere – wesentlich jüngere – war ihm unbekannt.

»Captain Wesker«, sagte der erste, »was für eine Überraschung. Gibt es ein Problem?«

»In welchem Verhörraum ist Jill?«

Der Polizist runzelte seine Stirn. Erst glaubte Albert, dass er einfach nicht wüsste, von wem er sprach, doch gerade als er ansetzte, ihm mehr Informationen zu geben, schüttelte der Polizist mit dem Kopf. »Sie ist nicht hier. Wen sollte sie denn verhören?«

Natürlich, er ging davon aus, dass Jill irgendeinen Verdächtigen bei sich hatte, nicht dass sie selbst die Verdächtige war. Vielleicht war das auch der Denkfehler hier.

»Was ist mit Agent Morgen?«, fragte Albert. »Oder Detective Munch oder Briscoe? Ist einer von ihnen hier?«

Der Polizist sah seinen jungen Kollegen an. »Leon, hast du Agent Morgan gesehen?«

»Nicht mehr seit er gestern versucht hat, mit mir über The Shining zu sprechen. Ich glaube, heute war er gar nicht hier.«

Zu viele Details, die interessierten ihn gar nicht. Deswegen stellte er eine definitive Frage: »Wenn ich jetzt den Verhörraum aufsuche, ist also niemand dort?«

Leon nickte. »Es ist niemand reingekommen.«

Er glaubte es nicht, konnte nicht. Deswegen ließ er die beiden stehen und lief mit großen Schritten durch den Ostgang. So spät traf er glücklicherweise kaum jemanden, vor allem niemanden, der Interesse daran hatte, mit ihm zu reden. Deswegen dauerte es nicht mal eine Minute, trotz des Umwegs, den man nehmen musste, bis er die Tür des Verhörraums aufreißen konnte.

Aber er war leer.

Genau wie der Beobachtungsraum direkt daneben. Alberts Herz sank tiefer. Jill war nicht hier. Sie hatten sie nicht hergebracht. Er war belogen worden. Und jetzt würde er niemals erfahren, wo sie war. Umbrella musste die Gelegenheit genutzt haben, um sie loszuwerden. Hätte er sie doch nur aufgehalten, als es ihm noch möglich gewesen war.

Was nun? Er könnte wie bei Chris einfach aufgeben, darauf hoffen, dass sie noch lebte und eine anonyme Mail ihm mehr darüber erzählte – aber das war grandios schiefgelaufen und hatte ihn zu diesem Punkt geführt. Damals hatte er falsch entschieden. Also was sollte er tun?

Ihm fiel nichts ein, denn alles schien ihm unmöglich. Doch er kannte eine Person, die dem Unmöglichen getrotzt hatte und sogar von den Toten zurückgekehrt war. Was täte die andere Jill an seiner Stelle?

Mit geschlossenen Augen stellte er sich vor, wie sie in seiner Situation wäre. Sie würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um eine höhere Stelle dazu zu bringen, ihr zuzuhören und Maßnahmen zu ergreifen – und für ihn entsprach das in diesem dem FBI. Wenn er Morgan und Cooper davon erzählte, könnten sie vielleicht bei Umbrella ermitteln und mithelfen, Jill zu retten.

Mit diesem Entschluss eilte er in Richtung seines Büros. Die Agenten hatten ihm ihre Karten hinterlassen, falls er neue Informationen auftreiben sollte. Und was könnten bessere Informationen sein als diese?

Im S.T.A.R.S.–Büro wurde er bereits von allen anderen erwartet; sie waren also schneller darauf gekommen, dass er hier war, als er gedacht hätte.

»Wo ist Jill?«, fragte Kevin, bevor einer der anderen etwas sagen konnte.

»Nicht hier«, antwortete Albert kurzangebunden. »Die FBI-Agenten sind auch nicht hier. Umbrella muss sie woanders hingebracht haben.«

Er strebte bereits in Richtung seines Büros, doch Enrico stellte sich ihm in den Weg. Er sah ihn mit einer Mischung aus Verwirrung und Ärger an. »Albert, erklär mir endlich, was hier los ist!«

Die Langfassung hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen, deswegen entschied er sich nur für das Essentielle: »Umbrella forscht an Biowaffen, Chris hatte die ganze Zeit recht und wurde vermutlich deswegen auch entführt. Und jetzt haben sie dasselbe mit Jill gemacht.«

Barry, Brad und Kevin nickten zustimmend, doch Enrico war noch nicht überzeugt: »Das ergibt keinen Sinn. Die Mail deines Informanten besagte doch, dass Chris Teil des H.C.F. ist. Jetzt sagst du, er wurde von Umbrella entführt?«

Albert hatte keinem der anderen erzählt, dass die Mail eigentlich aus einer anonymen Quelle gekommen war. Er hätte dieser Person nicht einfach glauben dürfen, und Enrico würde ihm das sicher auch vorwerfen – aber es wurde wohl Zeit für die Wahrheit: »Ich kenne den Absender der Mail nicht. Es ist gut möglich, dass uns da jemand in die Falle locken wollte.«

Enricos Gesicht wurde so finster, wie er es noch nie gesehen hatte. »Das heißt, du hast die Leben von Barry, Brad, Kevin und Jill riskiert, für eine Mission, bei der du von Anfang wusstest, dass sie zu keinem Ergebnis führen wird?«

Während Rebecca mit großen Augen wortlos den Kopf schüttelte, war Barrys Blick geradezu mörderisch, der von Brad ängstlich – nur Kevin zuckte ein wenig mit den Schultern und ergriff auch Partei für ihn: »Wir sind doch alle einverstanden gewesen, ohne Fragen zu stellen. Also warum sollten wir nur dem Boss etwas vorwerfen?«

Enrico wirbelte zu ihm herum. »Wesker ist der Captain! Er trägt Verantwortung für uns alle! Wenn er uns wegen so etwas in den Tod führt, ist er nicht mehr tragbar!«

Nach diesen Worten war Albert tatsächlich geneigt, ihm zuzustimmen. Er war unvorsichtig gewesen, war in eine Situation gestürmt, ohne das Wohl der anderen zu beachten, für den sehr unwahrscheinlichen Fall, Chris zurückzuholen. Dass niemand ernsthaft verletzt worden war, verdankten sie auch nicht ihm, sondern dem Umstand, dass die Anlage verlassen gewesen war. Bis auf die Person, die Jill niedergeschlagen hatte, aber selbst diese war verschwunden, ohne ihnen größeren Schaden zuzufügen.

Da Kevin nichts mehr sagte, wandte Enrico sich wieder ihm zu. »Ich habe dir so oft gesagt, dass du diese Emotionalität bei Chris und Jill ablegen sollst! Dass sie dich irgendwann in Schwierigkeiten bringen wird! Aber ich habe nicht geahnt, dass du auch uns mit hineinziehen würdest! Das war mehr als genug, Albert! Ich werde das der Inneren Abteilung melden!«

Mehr Gespräche mit Briscoe und Munch und vermutlich eine Enthebung von seinem Posten, beides nicht angenehm, aber etwas, das er überleben könnte – sofern er endlich in seinem Büro zum Telefon käme.

»Tu, was du tun musst, Enrico«, sagte Albert möglichst ruhig. »Ich trage dir das nicht nach. Aber ich muss jetzt-«

»Ich bin noch nicht fertig!«, unterbrach Enrico ihn. »Warum hast du nicht mit mir darüber geredet? Wir hätten bestimmt eine Lösung gefunden, ohne irgendwen in Gefahr zu bringen.«

»Du warst nicht hier!«, erwiderte Albert mit wachsender Ungeduld. »Ich mache dir das auch nicht zum Vorwurf, du hast wichtige Dinge erledigt, aber wir waren in der Zwischenzeit hier und mussten damit leben, dass Chris als Verräter gebrandmarkt worden war!«

Und das war nicht nur für ihn schwer gewesen, sondern auch für Jill, Barry und Brad. Erst hatten sie den Tod von gleich vier Kameraden ertragen müssen, und dann auch noch das. Dazu die Verhöre vom FBI, der Inneren Abteilung und die Blicke der Polizisten, das Getuschel hinter ihrem Rücken, das direkt nach Chris' Verrat besonders laut gewesen war. Enrico hatte kaum etwas davon mitbekommen, da er sich mit Rebecca auf den Fall von Billy konzentriert hatte. Er konnte nicht nachvollziehen, wie schwer es für sie gewesen war.

»Ich weiß, dass es dumm war, dass ich alle in Gefahr gebracht habe!«, fuhr Albert wütend fort. »Aber was erwartest du?! Seit dem Arklay-Zwischenfall ist alles anders als früher, und ich werde nicht akzeptieren, noch jemanden aus meiner Truppe zu verlieren!«

Er war noch nie laut geworden gegenüber seinen Untergebenen, aber in diesem Moment brach die Anspannung und der Stress der letzten Wochen durch. Beides verband sich mit seiner Angst, Jill nie wiederzusehen, wenn er nicht endlich die Gelegenheit bekäme, das Telefon zu benutzen.

Die anderen schwiegen betroffen, sogar Billy, der alles relativ unbeteiligt von seinem Sitzplatz neben Rebecca beobachtete. Enrico sah ihn endlich nicht mehr so finster an, stattdessen hatte er die Stirn in besorgte Falten gelegt. »Gerade deswegen hättest du mir sagen sollen, was los ist. Ich bin dein Vize, wir müssen über solche Sachen sprechen und dann gemeinsame Lösungen finden. Auch wenn ich nicht hier bin, kannst du dich immer bei mir melden.«

»Okay«, sagte Albert, wieder etwas ruhiger. »Nächstes Mal machen wir das so.«

Bevor Enrico noch etwas sagen konnte, klopfte jemand an die Tür und öffnete diese. Albert fuhr sofort herum, in der sicheren Erwartung, dass Agent Morgan doch noch einen Grund gefunden hatte, sie aufzusuchen – was außerordentlich passend wäre – nur um enttäuscht festzustellen, dass es lediglich Leon war, der seinen Kopf hereinstreckte. »Die Störung tut mir leid.«

Wie viel von dem Gespräch hatte er mitbekommen? Hoffentlich nicht viel, noch mehr Gerüchte wollte Albert ihnen eigentlich allen ersparen.

»Hier ist jemand, der darauf besteht, mit den S.T.A.R.S. zu sprechen. Er sagt, er ist von der U.B.C.S.« Leon runzelte die Stirn, sichtbar ratlos, was diese Abkürzung sollte.

Kein FBI-Agent, aber immerhin auch niemand von der Inneren Abteilung. Albert rechnete mit einem Besuch von Mikhail, der ihm vielleicht noch etwas zu den Tests erzählen wollte, deswegen nickte er Leon zu. »Er darf reinkommen.«

Der Polizist zog sich von der Tür zurück und gab jemandem draußen Bescheid. Doch als diese Person hereinkam und die Tür hinter sich schloss, explodierte die Wut in Alberts Inneren regelrecht. »Du!«

Er stürmte auf den Mann mit dem abstehenden Haar, der Jill fortgebracht hatte, zu, doch Enrico packte ihn sofort und zog ihn wieder zurück. Der andere – Alberts momentanes Feindbild – wich mit erhobenen Händen zurück. »Woah, ganz ruhig. Ich bin nicht hier, weil ich Ärger will.«

Da Enrico ihn immer noch festhielt und auf ihn einredete, übernahm Kevin es, mit dem Neuankömmling zu sprechen: »Sorry, der Boss ist grad dünnhäutig.«

»Verständlicherweise«, schaltete Barry sich brummend ein. »Was wollen Sie hier?«

»Ms. Valentine sagte, ich solle Ihnen etwas ausrichten.«

Alberts Körper versteifte sich sofort, was für Enrico ausreichte, um ihn wieder loszulassen, aber nicht ohne ihn noch einmal zu ermahnen, keine Dummheiten zu machen.

»Wo haben Sie sie hingebracht?«, fragte Albert.

»Genau darum geht es«, sagte der Mann. »Eigentlich war der Befehl, sie zum RPD zu bringen, weil das FBI sie dort verhören will, wurde uns gesagt. Aber als wir im Wagen unterwegs waren, hieß es von oben plötzlich, dass sie ins R&D Center gebracht werden soll.«

Research & Development. Selbst wenn jemand bei Umbrella persönlich mit ihr sprechen wollte, so wäre das niemals in dieser Einrichtung geschehen. Sie wollten ihr etwas antun, etwas Furchtbares, das er unbedingt verhindern musste.

Doch er machte nicht einmal einen Schritt, da hielt Enrico ihn bereits wieder am Arm fest. »Ich weiß genau, was du vorhast, Albert. Aber so läuft das nicht.«

»Und wenn ihr was passiert?«, erwiderte er.

Enrico schüttelte mit dem Kopf. »Ich bin jetzt hier, du wirst dieses Problem nicht allein angehen.«

Diese Worte waren beruhigend, denn sie nahmen ihm die Last der Verantwortung, aber gleichzeitig ärgerten sie ihn auch, denn es verhinderte, dass er Jill sofort retten könnte. Oder zumindest den Versuch dazu starten konnte. Aber allein wäre er wirklich nicht in der Lage, etwas zu tun. Deswegen nickte er Enrico grummelnd zu.

Sein Vize ließ ihn los und übernahm das Gespräch, indem er sich und Albert erst einmal vorstellte und dann den anderen nach seinem Namen fragte.

»Carlos Oliveira«, antwortete dieser.

»Gut, Carlos«, fuhr Enrico bedächtig fort. »Warum erzählen Sie uns das mit Jill? Umbrella ist Ihr Arbeitgeber, oder nicht?«

Carlos hob seufzend die Schultern. »Ich hab einfach ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Erst diese plötzliche Änderung der Route – und dann sah es nicht danach aus, als wäre das FBI dort.«

Er erzählte von uniformierten und bewaffneten Männern, die den Eingang des R&D Centers und den Manager desselben bewacht hatten. »Das war nicht nur eine reine Sicherheitsmaßnahme. Irgendetwas stimmt da nicht. Und Ms. Valentine war schon im Wagen davon überzeugt, dass man sie verschwinden lassen will. Deswegen hat sie mich gebeten, herzukommen.«

Nachdenklich griff Enrico sich an das Kinn, dabei behielt er Carlos im Auge. Albert glaubte ihm natürlich; nicht, weil er fand, dass Carlos besonders vertrauenserweckend wirkte, sondern nur weil er Jill helfen wollte – aber genau damit hätte er sie wieder in eine unglückliche Situation gebracht, deswegen war es wirklich besser, dass Enrico sich darum kümmerte.

Er brauchte aber derart lange, um zu überlegen, dass Kevin sich irgendwann einmischte: »Hey, ich weiß ja, dass wir das Gespräch gerade hatten, und deswegen ist es vielleicht blöd, aber … ich wär echt dafür, dass wir was unternehmen.«

Davon ermutigt, meldete sich sogar Brad zu Wort: »Wenn Jill unsere Hilfe braucht, sollten wir sie auf jeden Fall unterstützen.«

Von den beiden überrascht, sah Enrico zu Barry, den sie alle als gemäßigter betrachteten, schon allein, weil er eine Familie hatte, zu der er nach seinen Aufträgen zurückkehren wollte. Barrys Gesicht war grimmig und entschlossen. »Wir haben so viele Beweise gesehen, die uns zeigen, dass wir Umbrella nicht vertrauen dürfen. Wir dürfen ihnen nicht noch jemanden von uns überlassen.«

Enricos unsicherer Blick ging zu Rebecca, die ein wenig hilflos wirkte. Sie kannte diese Beweise nicht und war auch noch so neu, dass sie wohl nicht mit Sicherheit sagen konnte, wie sehr sie da auf die Expertise der anderen vertrauen sollte.

Billys Seufzen zog schließlich die Aufmerksamkeit aller auf sich. Er erwiderte ihre Blicke genervt. »Ich weiß nicht, warum wir hier so viel darüber diskutieren. Es klingt, als könnten wir jemanden retten, auch wenn es gefährlich wird. Ist das nicht genau die Aufgabe des Special Tactics and Rescue Service

Am liebsten hätte Albert sich lauthals bei ihm bedankt, aber so freute er sich einfach klammheimlich, dass sie Billy in ihrem Team hatten. Und tatsächlich bewirkten Billys Worte etwas bei Enrico, dessen Gesicht sanfter wurde. »Du hast recht. Ich glaube, die Tatsache, dass wir so viele Kameraden während des Arklay-Zwischenfalls verloren haben, hat mich glatt vergessen lassen, dass wir eigentlich dafür zuständig sind, Leute zu retten.«

Kevin klatschte in die Hände. »Genau davon rede ich doch! Wir holen Jill da raus!«

»Aber wir wissen überhaupt nichts über die Anlage«, wandte Enrico noch ein. »Wir können nicht ohne Plan einfach reinstürmen. Das ist keine Albert-Mission.«

Er lächelte Albert entschuldigend zu, dieser neigte schmunzelnd den Kopf. Enrico hatte immerhin recht, da konnte er ihm das nicht nachtragen.

Zum Glück meldete Carlos, der die Diskussion schweigend abgewartet hatte, sich wieder zu Wort: »Um Pläne zu schmieden, braucht man auch Karten, oder? Da kann ich tatsächlich aushelfen, falls ich an den PC darf.«

Enrico bedeutete ihm, dass er das ruhig machen sollte und zeigte auf Jills Computer. Carlos machte sich sofort daran, ihn hochzufahren und erzählte derweil weiter: »Auf dem Weg hierher hab ich mit einem Kollegen geredet, der die ganze Mission sehr seltsam fand und nach meiner Erzählung jetzt einen ziemlichen Groll gegen Umbrella hegt.«

Er warf einen schmunzelnden Blick in die Runde. »Da kann er sich ja bei euch einreihen, was? Jedenfalls ist er echt gut mit diesem Computerzeugs, deswegen wollte er mir Karten des R&D Centers rüberschicken.«

Das genügte wohl, um Enricos Widerstand ganz zu brechen. Interessiert trat er näher an den Computer. Es dauerte nicht lange, bis Carlos sich triumphierend wieder aufrecht hinstellte. »Na bitte, wie er gesagt hat.«

Albert sah über Enricos Schulter, überflog die Karten und runzelte seine Stirn. Enrico schien genau dasselbe zu stören, denn er drückte es vor ihm in Worte aus: »Warum gibt es in einer Forschungseinrichtung eines Pharmazieunternehmens einen Kampfplatz?«

»Oder einen Zellentrakt?«, ergänzte Rebecca.

Immerhin konnte Albert nun erahnen, was sie mit Jill planten. Die andere Jill hatte ihm erzählt, dass Wesker Kampfdaten gesammelt und verkauft hatte, also waren diese wichtig bei der Bio-Waffen-Forschung, was bedeutete, Umbrella würde ihre Experimente an ihr austesten. Allein der Gedanke ließ wieder Übelkeit in ihm aufsteigen, verbunden mit dem Wunsch, sofort loszurennen, um sie selbst da rauszuholen. Aber das konnte nicht funktionieren – und bestimmt brauchte Jill das auch nicht. Diese andere Jill war stark und sie kannte alles, was Umbrella ihr entgegenwerfen könnte. Sie würde das schaffen.

Aber dennoch lag ihm daran, sie so schnell wie möglich herauszuholen, deswegen konzentrierte er sich gemeinsam mit den anderen auf die Karten, um einen Plan zu erstellen, der dafür sorgen würde, dass sie Jill retten und sicher wieder rauskommen könnten. Das FBI war für ihn wieder vergessen – sie regelten das allein, so wie es sein sollte.
 

Kapitel 6: Ich würde euch niemals im Stich lassen


 

Die Planung dauerte bis spät in die Nacht – und beinhaltete mehrere Telefongespräche von Carlos, während der er Kollegen von sich für die Durchführung des Plans rekrutierte und dabei mindestens einmal mit Spielschulden der anderen Person argumentierte –, dann wies Enrico sie alle an, sich noch einmal auszuruhen. Das war vernünftig, deswegen konnte Albert dem nicht widersprechen. Auch dass Enrico darauf bestand, dass Albert mit zu ihm kam, damit er nicht doch noch einen Alleingang startete, wunderte ihn gar nicht. Außerdem musste er so auch keine Angst haben, dass irgendwer vor seiner Tür stehen und ihn sprechen wollen könnte, was er zumindest Agent Morgan durchaus zutraute. Seinen Pieper ließ er extra im Büro liegen.

Aufgrund seiner Sorgen um Jill konnte er in der Nacht allerdings kaum schlafen. Er fragte sich, wie es ihr ging, was sie mit ihr machten und ob sie darauf wartete, dass er käme oder ob sie bereits aufgegeben hatte und eigene Pläne schmiedete. Vielleicht brauchte sie diese Rettungsaktion gar nicht und sie wäre schon längst wieder frei, bis sie zu ihr kamen. Nun, zu wünschen wäre es ihr.

Während er so dalag, dachte er auch wieder an die Tests zurück. Wie kam es, dass er positiv gewesen war, und dann – nach Umbrellas Einmischung – plötzlich negativ? Offenbar verteilte er keine Viren, also musste er sich darum keine Sorgen machen. Symptome hatte er auch keine. Aber könnte das bedeuten, dass er nach seinem Tod als Zombie wiederkäme? In diesem Fall würde hoffentlich irgendjemand ihm eine letzte Gnade erweisen. Sobald Jill gerettet war, müsste er eine ausführliche Untersuchung bei einem unabhängigen Arzt ersuchen.

Trotz all dieser Gedanken und Sorgen schlief er irgendwann ein, nur um nach gefühlt einigen Sekunden wieder geweckt zu werden. Er störte sich aber nicht daran, immerhin hielt ihn das von Albträumen ab und es brachte ihn endlich der Rettung von Jill näher.

Schweigend fuhren er und Enrico auf den Parkplatz des Saint Michael's Sport Stadium. Da gerade kein Spiel stattfand, war er verwaist, so dass sie niemand beobachtete, während sie dort auf die anderen warteten. Albert stützte den Arm auf der Autotür ab und bettete sein Kinn in seiner Hand. Sein Blick scannte immer wieder die Umgebung, aber er sah keine verdächtigen Autos und vor allem keine ihm bekannten FBI-Agenten oder Detectives. Wahrscheinlich redeten sie entweder gerade mit Claire oder sie warteten im S.T.A.R.S.–Büro und versuchten ihn zu erreichen. Er musste ein wenig schmunzeln, als er sich vorstellte, dass sie immer ungeduldiger wurden, weil sie ihn einfach nicht erwischten.

»Du wirkst gut gelaunt«, sagte Enrico plötzlich.

Er erklärte ihm nicht, welche Vorstellung ihn dazu gebracht hatte. »Ich bin einfach nur froh, dass wir etwas unternehmen. Ich will Jill nicht auch noch verlieren.«

»Das kann ich verstehen. Und mit einem Plan werden wir das auch schaffen.«

Enricos Optimismus ließ ihn auch daran glauben, obwohl inzwischen so viele Stunden vergangen waren, seit Jill entführt worden war. Aber sie war die andere Jill, sie kam bestimmt klar, ihr war schon Schlimmeres geschehen.

Die anderen trudelten langsam ein – Albert war ein wenig irritiert, dass Billy und Rebecca zusammen kamen, aber er glaubte sich zu erinnern, dass sie auch gemeinsam weggefahren waren –, so dass sie endlich den Plan angehen konnten. Barry, aber auch Carlos hatten tatsächlich eine Auswahl an Waffen mitgebracht, mit denen sie sich eindeckten. Die anderen U.B.C.S.–Mitglieder hielten sich im Hintergrund und betrachteten sie nur misstrauisch.

»Okay«, sagte Carlos schließlich, als jeder von ihnen ausgerüstet war. »Ihr wisst, wie es läuft. Die Jungs und ich lenken die Aufmerksamkeit auf den Vordereingang.«

Was nicht zwingend mit Gewalt geschehen sollte. Carlos wollte mit zwei Kollegen durch den Haupteingang und dort noch einmal nach dem Manager fragen, unter dem Vorwand, die Sache mit Jill zu besprechen. Erst sobald er da war, wollten sie die Sache eskalieren, sofern es Grund dafür gäbe. Aber allein die Anwesenheit mehrerer bewaffneter Männer dürfte dafür sorgen, dass die Security sich auf den Haupteingang konzentrierte. S.T.A.R.S. sollte in der Zwischenzeit durch einen Hintereingang eindringen, den Zellentrakt aufsuchen, Jill befreien und dann einen möglichst geordneten Rückzug antreten. In der Theorie klang das gut. Aber Albert konnte sich bereits denken, dass es in der Praxis schwerer werden würde, so war es doch immer.

Das R&D Center lag westlich von Raccoon City, in der Nähe des Douglas Gefängnis. Als Albert das auffiel, fragte er sich, ob irgendwelche Gefangenen von dort auch schon von Umbrella als Testsubjekt benutzt worden waren. Wenn alles gut ging, auch mit dem Bericht der Enthüllungsjournalistin, hatte das alles hoffentlich bald ein Ende.

Der Hintereingang war mit einem Kartenschloss versehen, aber wie Carlos versprochen hatte, war die Tür offen, als sie es versuchten. Albert wusste, er sollte sich Gedanken machen, dass sie vielleicht in eine Falle tappten, aber er wäre für Jill selbst dann hergekommen, wenn die Chefs von Umbrella ihm selbst die Einladung geschickt hätten, mit der ausdrücklichen Anmerkung, dass es sich um eine Falle handelte. Und Enrico schien sich nicht zu sorgen.

Der Bereich dieses Gebäudes war verlassen, Schilder deuteten darauf hin, dass es sich um einen Fluchtweg handelte, für den Fall, dass es einen Ausbruch gab oder die Selbstzerstörung aktiviert wurde.

»Wofür brauchen sie einen solchen Aktivismus?«, fragte Brad.

»Um Beweise zu vernichten, nehme ich an«, antwortete Billy ihm ruhig. »Stellt euch darauf ein, dass uns das am Ende auch erwartet.

Albert hoffte, dass es nicht so weit käme.

Plötzlich rauschten ihre Funkgeräte, mit denen sie in Kontakt mit Carlos bleiben wollten. Enrico übernahm die Kommunikation, während die anderen die Umgebung im Auge behielten: »Gibt es Probleme?«

»Mehr oder weniger«, antwortete Carlos, im Hintergrund waren Schüsse hörbar. »Everill, der Manager, ist abgehauen. Aber wir haben erfahren, dass Jill nicht in den Zellen ist. Anscheinend findet gerade ein Kampftest statt. Ihr müsst also auf dem Testgelände suchen.«

Sie lebte noch! Jetzt kam es nur noch darauf an, sie rechtzeitig zu erreichen.

Enrico bedankte sich für die Information, dann setzten sie ihren Weg fort. Einmal öffnete sich eine Tür im Gang, aus der ein Forscher in einem weißen Laborkittel herauskam. Als er sie entdeckte, wurde sein Gesicht schlagartig blass, er zog sich sofort wieder in den Raum zurück. Sie ignorierten ihn, wussten nun aber zumindest, dass es hier doch Leute gab – und dass mindestens einer von ihnen sie direkt melden würde –, also mussten sie aufmerksam bleiben.

Sie erreichten den Aufzug dennoch ohne Probleme. Offenbar war der Sicherheitsdienst so sehr mit den U.B.C.S.–Abtrünnigen beschäftigt, dass sie niemanden mehr auf sie ansetzen konnten.

Oder jemand wollte, dass sie sich ohne Widerstand durch das Gebäude bewegten. Ihm blieb nur zu hoffen, dass es keine Falle war, obwohl alles darauf hinzudeuten schien. Auch wenn er sie diesmal nicht reingeführt hatte, wären weitere Verletzungen oder gar Todesfälle, noch ein unerwünschter Albtraum-Grund für ihn.

Angespannt schweigend fuhren sie mit dem Aufzug nach unten. Jeder von ihnen erwartete, überrascht zu werden, sobald sich die Türen wieder öffneten – doch obwohl sie die Waffen im Anschlag hielten, als es soweit war, wurden sie enttäuscht.

Der Gang war leer, sowohl tiefer ins Stockwerk hinein, als auch die Treppe zu einer Zwischenetage hinauf. Niemand außer ihnen war hier.

Brad zog eine Dose aus seiner Tasche und sprühte ein festes Spray auf den Sensor des Aufzugs, damit sich die Tür nicht wieder schließen würde. So wären sie zumindest in dieser Richtung sicher vor eventuellen Angriffen.

Enrico wandte sich Albert zu. »Barry, Brad und ich halten hier die Stellung. Ihr anderen sucht nach Jill. Aber macht keine Dummheiten.«

Der letzte Satz war definitiv nur an ihn gerichtet, deswegen gab Albert ein zustimmendes Geräusch von sich. Dann trennten sich die Wege der Gruppe bereits. Er ging mit Kevin, Billy und Rebecca den Gang entlang, dabei kamen sie an einer Krankenstation vorbei. Sie warfen einen kurzen Blick hinein, doch es sah nicht so aus, als wäre der Raum heute bereits benutzt worden. Immerhin schien Umbrella also daran gelegen, die Kämpfer im Anschluss zu verarzten. War das bei Jill bereits nötig gewesen? Er verdrängte den Gedanken, dafür war im Moment keine Zeit, er musste sich konzentrieren.

Am Ende des Ganges erreichten sie eine Schleuse, deren schweres Eisentor verschlossen war. Kevin beförderte etwas Plastiksprengstoff aus seinen Taschen, den sie extra für solche Fälle eingesteckt hatten. Albert beobachtete ihn dabei, wie er die Masse an der Tür verteilte. Vermutlich wären andere erstaunt gewesen, wie souverän Kevin diese Aufgabe anging, Albert fühlte sich aber nur darin bestätigt, dass es lediglich eine Person brauchte, die an ihn glaubte, damit er beste Ergebnisse erzielte. Wenn er nicht so ungeduldig wäre, weil er sich Sorgen um Jill machte, hätte er das auch lobend anerkannt. Aber so betete er innerlich inständig, dass sie in Ordnung war, dass sie nicht zu spät kämen.

»Captain.« Rebeccas Stimme riss ihn aus furchtbaren Vorstellungen heraus.

Alarmiert sah er sich sofort um, in der Erwartung, dass sie angegriffen wurden, aber Billy wirkte locker, während er den Gang hinabsah und Kevin arbeitete immer noch vor sich hin. Er fokussierte sich auf Rebecca. »Was ist los?«

»Sie wirkten so weggetreten«, erklärte sie. »Alles okay? Fühlen Sie sich gut?«

Er nickte ihr zu und hob sogar die Mundwinkel ein wenig, damit sie sich keine Sorgen machte. »Ja, alles gut. Ich neige nur zu Fantastereien. Aber ich habe keine Zeit dafür. Gut, dass du mich da rausgezogen hast.«

Lächelnd hob sie einen Daumen. »Gut. Wir kriegen das schon hin.«

Im selben Moment trat Kevin zu ihnen. »Okay, fertig. Ich muss nur noch zünden – und dafür sollten wir ein wenig zurücktreten.«

Er scheuchte sie beide mehr in Billys Richtung, bedeutete ihnen, sich zumindest ein Ohr zuzuhalten und drückte dann den Zünder. Albert stemmte sich gegen die Druckwelle der Explosion, wie durch einen Wattebausch hörte er Kevins lapidare Bemerkung, dass er wohl etwas zu viel Sprengstoff verwendet hatte.

Nachdem Albert sichergestellt hatte, dass sie alle unverletzt waren, stürmten sie durch die Schleuse und landeten in einer Halle, die auf den ersten Blick wie ein ganz gewöhnliches Lager aussah, in dem Container in einer nicht wirklich sinnvollen Formation standen. Weiter oben gab es eine Glasfront, von der aus man auf diesen Kampfplatz heruntersehen konnte. Spätestens nun dürfte irgendjemand gemerkt haben, dass sie hier waren.

»Kevin, bleib hier bei der Schleuse«, wies Albert ihn an. »Sicher uns den Fluchtweg.«

»Geht klar, Boss!«

Den anderen beide nickte er zu, dann setzte er sich in Bewegung. Schon auf der Karte hatte der Platz groß gewirkt, aber wirklich hier zu sein und auch noch die Hindernisse zu sehen, die alles mögliche vor seinem Blick abschirmen könnten, erfüllte ihn mit so viel Anspannung, dass er glaubte, die Pistole in seinen Händen würde jeden Moment einfach zerbrechen. Überall könnte ein Monster lauern, das sie anfiel oder das gerade die Überreste von Jill zerfleischte.

Nein, nicht ablenken lassen! Sie muss noch am Leben sein!

Als sie einen Container umrundeten, entdeckte Albert mehrere Dinge vor sich. Eine missgestaltete graue Gestalt lag reglos auf dem Boden, daneben – Alberts Herz vollführte mehrere Sprünge – saß Chris. Er beugte sich über Jill, die neben der Gestalt lag. Alberts Blut gefror wieder in seinem Inneren. Was war mit ihr? Bewegte sie sich noch?

Chris sah in ihre Richtung, Erleichterung wusch über sein Gesicht. »Albert, Rebecca!«

Adrenalin schoss durch Alberts Körper, ließ ihn die Distanz so schnell hinter sich bringen, dass er vermutlich einen neuen Rekord aufstellte. Jill sah ihn an, was seinen Herzschlag beschleunigte. Sie lebte noch – und das bewies sie noch direkter, indem sie etwas sagte: »Albert … du bist hier.«

Er kniete sich neben sie, während Chris noch einmal nach Rebecca rief. Irgendetwas musste sie ablenken, aber Billy war bei ihr, alles war okay, Albert konnte sich auf Jill konzentrieren. »Natürlich. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.«

Ihr Körper war mit Wunden übersät, die an und für sich oberflächlich aussahen. Die auf ihrem Arm allerdings sah schlimm aus. Da er unter ihrer teils zerrissenen Kleidung Verbände entdeckte, mussten die sichtbaren Verletzungen neu sein. Vermutlich von dieser Gestalt neben ihr.

Rebecca kam dazu und kniete sich ebenfalls neben Jill. Sie holte ein Erste-Hilfe-Spray aus ihrer Tasche, aber auch eine Dose mit mehreren Pillen, von denen sie zwei in Jills Mund legte, mit der Aufforderung, sie einfach zu schlucken. Dann sprühte sie das Spray auf Jills verletzten Arm.

Schüsse donnerten irgendwo durch die Anlage. Chris sprang sofort auf und sprintete davon, Alberts Aufmerksamkeit war aber weiterhin bei Jill, deswegen hoffte er, dass die anderen ihm Bescheid sagen würden, falls sie ihn brauchten.

»Wir müssen hier raus«, sagte Jill leise. »Wir können hier nicht bleiben.«

»Gleich«, erwiderte Albert. »Du kannst gerade noch nirgendwo hin.«

Er konnte sich jedenfalls nicht vorstellen, dass sie in diesem Zustand weit käme. Um kampfbereit zu sein, war es ihm aber auch unmöglich, sie zu tragen.

Aber Jill war eben Jill, deswegen richtete sie sich dennoch auf, obwohl Rebecca sofort protestierte: »Du kannst noch nicht aufstehen. Du bist vielleicht schwer verletzt!«

»Wir haben keine Zeit, auf einen Rettungswagen zu warten«, erwiderte Jill. »Wir müssen los.«

Sie war, auch ohne den misstrauischen Blick, eindeutig noch die andere, und vermutlich konnte sie sich aus Erfahrungsgründen denken, dass Umbrella noch mehr aufbieten würde. Egal, was er nun sagen oder tun würde, sie hörte garantiert nicht auf ihn. Deswegen beschloss er, ihr aufzuhelfen und ihren unverletzten Arm um seine Schulter zu legen. Er nickte dabei in Rebeccas Richtung und bedankte sich bei ihr. »Wir kriegen sie hier raus.«

Rebecca runzelte missbilligend die Stirn, doch die immer noch peitschenden Schüsse lenkten ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie zog ihre Waffe und lief hinüber.

»Danke, Albert«, sagte Jill, kaum, dass sie fort war.

Er schmunzelte ihr zu. »Ich kenne deinen Dickschädel. Wenn ich nicht nachgebe, versuchst du es trotzdem auf eigene Faust und verletzt dich dabei noch mehr. Das brauchen wir jetzt wirklich nicht.«

Er blickte auf die Gitter an den Wänden, hinter denen vermutlich noch mehr dieser Kreaturen nur darauf warteten, sie alle zu zerfetzen. »Wir müssen jetzt nur noch zusehen, dass wir dich wirklich hier rausbringen. Dich und Chris.«

Es war immer noch unglaublich, dass er ihn wiedergesehen hatte, ausgerechnet hier, so nah an der Stadt, wo niemand je gesucht hatte. Hätte er doch nur auf Chris gehört, vielleicht wären sie dann auf die Idee gekommen, hier zu suchen.

»Ich hab ihn gefunden«, sagte Jill.

»Ja, das hast du.« Er führte sie an den Überresten dieser Gestalt vorbei, zurück in Richtung der Schleuse.

Auf dem Weg entdeckte er Billy, Chris und Rebecca, die an einem der geöffneten Gitter standen und dort auf grün geschuppte Wesen schossen, die in die Anlage schwärmen wollten. Er war sich sicher, dass er diese Kreaturen in den Unterlagen gesehen hatte, aber ihr Name entfiel ihm.

Kevin wartete an der Schleuse, die noch immer sicher war. Wie es aussah, hatte er den Schließmechanismus für das zweite Tor zerstört. Er hatte wirklich mitgedacht.

Kurz bevor sie bei ihm ankamen, erklang eine kalte Frauenstimme aus einem Lautsprecher: »Was habt ihr vor? Denkt ihr wirklich, ihr kommt hier so einfach raus?«

Albert ignorierte das und ging weiter. Als sie nur noch ein paar Schritte von der Schleuse entfernt waren, änderte sich der Tonfall der Frau: »Albert, willst du dich wirklich gegen deine eigene Schwester stellen?«

Er hielt inne. Das konnte nicht sein. Alex war adoptiert worden und damals höchstwahrscheinlich wegen der Experimente gestorben. Er wollte sich gar nicht erst vorstellen, dass sie überlebt haben könnte. Diese ihm unbekannte Stimmte könnte jedem gehören. Und vielleicht sprach sie ja nicht mal von sich, vielleicht war Alex eines dieser Monster, die hier getestet wurden.

Er sah zur Glasfront hinauf. Ein einzelner Schatten starrte auf sie herab.

»Da treffen wir uns endlich wieder«, sagte sie, »und du möchtest einfach wieder gehen?«

Sie redete doch von sich selbst. Aber es war unmöglich, es konnte nicht sein. Sie war tot, fort.

Du hast nie eine Bestätigung dafür bekommen, flüsterte die leise Stimme in seinem Inneren. Sie könnte noch leben und hier sein. Vielleicht hat Umbrella die Kinder nicht getötet.

Wenn sie noch lebte, dann …

»Alex?«, fragte er leise.

»Richtig, Albert. Ich habe dich die ganze Zeit über beobachtet, darauf wartend, dass du endlich bereit bist, einer von uns zu werden.«

Sie arbeitete für Umbrella. Hatte man sie dafür adoptiert? Alex war immer intelligent und gefasst gewesen, selbst im Angesicht des Todes ihrer Eltern. Jede Firma wäre gut beraten, so jemanden bereits in jungen Jahren an sich zu binden.

Und wenn sie hier war und ihm anbot, ein Teil des Unternehmens zu werden …

»Jetzt ist es fast soweit, aber nicht, wenn du Ms. Valentine zur Flucht verhilfst. Willst du das wirklich alles wegwerfen?«

Könnte er ein neues Leben anfangen, mit ihr als Teil seiner Familie? Wie auch immer das hier ausging, er würde mit Sicherheit suspendiert werden; Chris trug ihm vielleicht für immer nach, dass er ihm nicht geglaubt hatte und Jill … sie war nicht einmal hier und er wusste nicht, ob sie je wiederkäme. Er könnte diesen Moment nutzen, um der Verräter zu werden, von dem die andere Jill ihm erzählt hatte, der böse Wesker, der sich die ganze Welt untertan machen wollte – und das mit seiner Schwester, die er so lange vermisst hatte.

Aber allein die Vorstellung, keinen von ihnen je wiederzusehen, ließ seine Brust eng werden. Barry könnte ihm noch so viel über verschiedene Waffenarten beibringen, Kevin hätte bestimmt noch viele Geschichten zu erzählen, Enrico musste ihm noch die ein oder andere Standpauke halten, über Brad, Rebecca und Billy wusste er bislang so gut wie gar nichts, da gab es viel zu erfahren. Und dann waren da noch Chris und Jill, mit denen er noch so viel Zeit verbringen wollte, selbst wenn er seinen besten Freund erst einmal ewig um Verzeihung bitten und seine Jill erst einmal zurückkehren müsste. Darauf konnte er keinen Einfluss nehmen, doch egal, was hiernach aus ihm wurde, er wollte auf keinen von ihnen verzichten, schon gar nicht, weil er ihnen in den Rücken fiel.

Deswegen gab es nur eine Antwort für ihn: »Ich würde lieber sterben, als meine Kollegen euch Aasgeiern zum Fraß vorzuwerfen.«

Er hörte Jill aufatmen. Sie hatte offenbar wirklich befürchtet, dass er so weit gehen könnte. Gut, da sie nur den Wesker ihrer Welt kannte, verwunderte ihn das nicht weiter.

»Was für eine törichte Entscheidung.« Alex' Stimme war wieder schneidend kalt. »Aber so sei es, dann stirb hier unten mit deinen Kollegen

Der Schatten wandte sich von der Glasfront ab. Nur eine Sekunde später ertönte ein Alarmsignal, gefolgt von einer monotonen Frauenstimme aus den Lautsprechern: »Die Selbstzerstörungssequenz wurde aktiviert. Bitte begeben Sie sich umgehend zu den Notausgängen.«

Orange-farbene Alarmlichter erwachten gemeinsam mit einer Sirene zum Leben. Billy, Chris und Rebecca hasteten in ihre Richtung und direkt an ihnen vorbei zur Schleuse. Keines von den Wesen, gegen das sie gekämpft hatten, kam ihnen nach, sie mussten sie erledigt haben. Albert folgte ihnen.

»Danke«, sagte Jill leise.

»Wofür denn?«, erwiderte er. »Ich würde euch niemals im Stich lassen. Der Albert Wesker in deiner Welt mag ein egoistischer Menschenfeind gewesen sein, aber das trifft nicht auf mich zu.«

Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ich kann wirklich verstehen, warum die andere Jill dich so sehr mag.«

Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Woher wusste sie, was Jill über ihn dachte? Er könnte sie das nicht fragen, besonders nicht in diesem Moment, in dem es andere Probleme für sie gab. Außerdem war es schlussendlich egal, woher diese Worte rührten. Wirklich wichtig war nur eines: »Dann hoffe ich, dass sie irgendwann zurückkommt und ich wieder mit ihr reden kann.«

Jill nickte ihm zuversichtlich zu.

Gemeinsam kehrten sie zum Aufzug zurück, wo Barry inzwischen allein wartete.

»Wo sind Enrico und Brad?«, fragte Kevin.

Barry nickte nach oben. »Anscheinend befindet sich in der Richtung ein Notausgang. Den können wir brauchen.«

»Barry, Kevin, helft Enrico«, wies Albert an. »Wir folgen euch.«

Die beiden liefen voraus. Billy und Rebecca tauschten einen kurzen Blick miteinander, dann bot die Sanitäterin ihnen Rückdeckung an. Albert stützte Jill weiter auf dem Weg nach oben, er merkte aber auch, dass sie immer mehr Kontrolle über ihren Körper zurückgewann.

Der Gang führte zu einer gesprengten Tür. Dahinter befand sich das Kommandozentrum mit der Glasfront, die er von unten gesehen hatte. Enrico, Brad, Barry und Kevin waren bereits hier und sahen sich um, wobei Brad hauptsächlich an einem der Computer saß und auf die Tastatur einhackte, während Kevin ihm zusah.

Hinter sich hörte er Billy und Rebecca zu ihnen aufschließen, schon allein, weil er noch Billys »Ich sagte doch, die Selbstzerstörung wird noch aktiviert werden« mitbekam. Rebeccas Reaktion darauf bestand nur aus einem kurzen Lachen.

»Der Aufzug ist hier drüben!«, rief Enrico ihnen aus einer Ecke zu.

Als Evakuierungsaufzug für die Forscher dieses Beobachtungsraums war er groß genug für sie alle. Jill lehnte sich gegen Albert. Er sah auf sie herab. »Alles okay? Hast du noch Schmerzen?«

»Bis auf meinen Kopf ist alles gut. Du musst mich auch nicht mehr stützen.«

Er runzelte seine Stirn. Offenbar war ihr nicht bewusst, dass sie sich an ihn gelehnt hatte. Aber eine Diskussion mit ihr darüber zu führen, würde ohnehin nichts bringen. Also ließ er sie los und sagte auch nichts dazu, als sie sich wieder aufrecht hinstellte.

Der Aufzug führte sie zurück zum Hinterausgang, der allerdings versperrt war. Ein Mann in einem schlecht sitzenden Anzug stand grinsend neben einem verhüllten Objekt, obwohl die Waffen aller S.T.A.R.S.–Mitglieder auf ihn gerichtet waren. »Wie schade, dass Sie uns alle schon verlassen wollen. Besonders Mr. Redfield war uns ein gern gesehener Gast.«

»Treten Sie einfach beiseite!«, forderte Albert, der keine Lust hatte, sich damit auseinanderzusetzen. Selbst ohne den Countdown der Selbstzerstörung wäre ihm nicht der Sinn danach gestanden; er wollte Chris und Jill nur hier rausbringen.

Der Mann lachte. »Ich bitte Sie. Als ob einer von Ihnen wirklich schießen würde. Ms. Valentine hatte die Gelegenheit dazu bei unserer ersten Begegnung und hat es dennoch nicht getan.«

Er konnte unmöglich von gestern sprechen, aber wann könnten sie sich sonst getroffen haben? Und warum hatte Jill ihn dann nicht zumindest festgenommen?

Jill bot ihm direkt die Antwort: »Sie haben mich niedergeschlagen!«

Selbst ohne weitere Erklärung wusste Albert sofort, wovon sie sprach. Dieser Mann war in der Anlage gewesen, in der sie Chris gesucht hatten, war dort auf Jill gestoßen – und dann war er geflohen.

Er sah zu Jill, nur um sich direkt wieder auf den Mann zu konzentrieren, weil er in seine Tasche griff. »Bravo, Ms. Valentine. Offenbar erinnern Sie sich ja doch noch an mich. Wie schade, dass wir das hier aber schon beenden müssen.«

»Fein«, knurrte Albert, der sich nicht sicher war, was genau ihn an dieser Begegnung gerade am meisten störte. »Wir werden nicht schießen, aber wir verhaften Sie hiermit wegen Körperverletzung!«

Der Mann zog eine Fernbedienung aus der Tasche. »Versuchen Sie lieber, ihn zu verhaften.«

Damit enthüllte er das Objekt neben sich, das sich auch als eine graue Gestalt, wie jene in der Kampfhalle, entpuppte. Da er ihn nun so direkt sehen konnte, erkannte er auch, dass es sich dabei um einen Tyrant handeln musste. Derartige Exemplare waren auch im Labor unter dem Arklay-Anwesen gewesen. Aber dieser sah anders aus, mit ausgeprägteren Muskeln, einem größeren Kopf und einem gepanzerten Herzen.

»Noch zehn Minuten bis zur Explosion«, verkündete die emotionslose Frauenstimme.

»In der Kampfsimulation«, erklärte der Mann ihnen, »haben Ms. Valentine und Mr. Redfield heute gegen den Prototypen unseres wunderschönen Tyrants gekämpft, der die üblichen Schwächen aufwies. Bei diesem Exemplar, das hoffentlich bald in Serie gehen wird, haben wir extra darauf geachtet, diese auszumerzen. Er wird über diese Fernbedienung gesteuert, die bei Bedarf auch Bomben in seinem Körper zündet, um ihn jederzeit unter Kontrolle zu halten. Beeindruckend, nicht wahr?«

Für Albert klang das eher furchtbar. Chris fasste seine Gedanken in passende Worte: »Das ist krank! Ihr gehört für eure Verbrechen angezeigt!«

»Legen Sie die Fernbedienung hin!«, verlangte Albert.

Eine kaum sichtbare Bewegung des Tyrants lenkte seine Aufmerksamkeit in dessen Richtung, so dass er gerade noch sehen konnte, wie das Ungetüm seine Klauen in den Oberkörper des Mannes bohrte, um ihn dann im nächsten Moment gegen die Wand zu schleudern. Die Fernbedienung fiel klappernd zu Boden.

Dann wandte der Tyrant sich ihnen zu.

Es war das erste Mal, dass dieses Team – abgesehen von Chris und Jill – gegen einen Tyrant kämpfte, entsprechend schlecht lief die Auseinandersetzung auch. Kevins Granate wurde einfach weggeschleudert, die Schüsse schienen keinerlei Wirkung zu zeigen, Brad wurde bei einem Ausweichmanöver verletzt, genau wie Billy, der Rebecca vor einem Angriff schützte, und Chris hatte allgemein mit der Erschöpfung zu kämpfen.

Als nur noch fünf Minuten auf dem Timer verblieben, bemerkte Albert, wie Jill sich in Bewegung setzte und auf die Fernbedienung zulief. Allerdings war er nicht der einzige, dem das aufgefallen war. Auch der Tyrant hatte sie nun ins Visier zugenommen. Albert rief ihr eine Warnung zu. Obwohl sie alle versuchten, den Feind aufzuhalten, ließ er sich nicht beirren und rannte weiter auf Jill zu.

Wenn sie hier starb, käme seine Jill nie zurück. Das war alles, was ihm selbst durch den Kopf ging, als er kurzentschlossen zwischen die beiden sprang, zielte und den Tyrant direkt zwischen die Augen traf. Doch die Kreatur holte einfach mit dem Arm aus und fegte ihn beiseite. Albert verlor den Boden unter den Füßen, sämtliche Luft wurde aus seinen Lungen gepresst, als er mit dem Rücken auf die Wand traf. Scharfe Schmerzen, wie er sie noch nie zuvor gespürt hatte, fuhren durch seine Brust. Verbunden mit dem fehlenden Sauerstoff wurde ihm kurz schwarz vor Augen. Er schnappte nach Luft, Flammen wüteten durch seinen Oberkörper.

Jemand trat neben ihm, griff nach seinem Arm und zog ihn nach oben. Es war Enrico, der ihn seltsam besorgt musterte. Sein Anblick beruhigte Albert genug, dass er zumindest endlich wieder problemlos Luft holen konnte. Er sah kurz über die anderen, stellte erleichtert fest, dass alle noch fit genug waren zu laufen, was sie unbedingt tun mussten, denn die Stimme sagte ihnen, dass sie nur noch zwei Minuten hätten. Der Tyrant lag inzwischen reglos auf dem Boden, Jill hatte es geschafft.

»Alles okay mit ihm?«, fragte sie an Enrico gewandt.

»Ich kann laufen«, antwortete Albert selbst, die Hand auf die schmerzenden Rippen gepresst, deren Feuer nicht nachlassen wollte. »Wir müssen hier weg! Los!«

Auch als sie zum Ausgang liefen, wollte der Schmerz ihn immer wieder dazu bringen, stehenzubleiben und sich auszuruhen. Es war natürlich nicht möglich, deswegen lief er einfach dagegen an, versprach sich aber auch, im Anschluss erst einmal eine lange Pause zu machen.

Auf dem Parkplatz standen inzwischen mehrere Geländewagen der U.B.C.S., die eine Barriere bildeten. Carlos und seine Truppe mussten gemerkt haben, dass es für sie derart knapp werden würde, dass sie das brauchen könnten. Sie kletterten über die Wägen, was die Schmerzen in seiner Brust derart verschlimmerte, dass Albert für einen Sekundenbruchteil wieder schwarz vor Augen wurde. Er schaffte es dennoch ohne weitere Schäden auf die andere Seite, wo er zwischen Chris und Jill zum Sitzen kam.

Chris und Jill. Zwei Personen, von denen er letzte Nacht noch geglaubt hatte, sie nie wieder bei sich zu haben. Und nun waren sie doch wieder hier, zu dritt, so wie früher. Trotz der Schmerzen war gerade alles gut.

Dann explodierte das R&D Center. Die Druckwelle war so heftig, dass die Scheiben der Autos klirrend zersprangen und die Splitter auf sie herabregneten. Alberts Ohren klingelten so laut, dass sie alle anderen Geräusche ausblendeten, selbst als der Druck, gegen den er sich stemmte, nachließ und er sich nur noch gegen den Wagen in seinem Rücken presste.

Er atmete durch, dann sah er noch einmal die anderen an, nur um sicherzugehen. Allen ging es gut, Chris schenkte ihm sogar ein schräges Lächeln. Doch als er zu Jill sah, vergaß er seinen eigenen Schmerz, da die Furcht von ihm Besitz ergriff. Sie hielt sich stöhnend den Kopf, ihr Oberkörper schwankte, Blut lief aus ihrer Nase, mehr noch als zu dem Zeitpunkt, als sie mit dem Notizbuch bei ihnen aufgetaucht war.

»Jill!« Er griff nach ihrem Arm – doch da kippte sie bereits zur Seite weg und blieb reglos liegen.

Grauen ersetzte die Furcht. Was war los mit ihr? War sie doch noch verletzt worden?

Die anderen reagierten schneller als er, umschwirrten sie sofort, versetzten sie in eine stabile Seitenlage, irgendwer gab die Bitte weiter, einen Krankenwagen zu rufen. Albert saß einfach nur schweigend da und starrte auf Jill hinab, selbst als jemand ihn antippte und etwas zu ihm sagte, was er gar nicht verarbeiten konnte.

Sein gesamtes Denken konzentrierte sich nur noch auf die Frage, ob sie zu spät gekommen waren – und was aus seiner Jill werden würde, wenn sie nicht mehr aufwachte.
 

Kapitel 7: Es ist keine lange Geschichte


 

Eine Stunde später saß Albert auf einer Liege in der Notaufnahme des Krankenhauses und starrte auf den Boden. Er hatte darauf bestanden, mit Jill ins Krankenhaus zu fahren, wo sie immer noch bewusstlos angekommen war. Sie war sofort untersucht worden, dann hatte man ihm Papiere vorgehalten, ihm von einer Gehirnblutung erzählt, die nur mit einer Operation behoben werden könne und ihn in Kurzfassung über mögliche Risiken aufgeklärt. Er hatte einfach unterschrieben, sie gebeten, sich gut um Jill zu kümmern und sich dann in einen Behandlungsraum führen lassen, wo er selbst noch untersucht werden sollte.

Das Krankenhaus gehörte nicht zu Umbrella, hatte aber viele Spenden des Unternehmens bekommen und mindestens im Forschungsbereich waren sicher auch viele von ihren Mitarbeitern beschäftigt. Er konnte also nicht mit aller Bestimmtheit sagen, dass Jill nichts geschehen würde – aber er konnte natürlich auch nicht im OP-Saal neben ihr stehen, egal, wie gern er genau das getan hätte. Ihm blieb nur zu hoffen, dass alles gut ginge.

Als sich die Tür öffnete, trat Dr. George Hamilton ein, der sich bereits um Jill gekümmert hatte, als sie vor einigen Tagen hier gewesen war. »Ah, Mr. Wesker, ich darf Ihnen ausrichten, dass Ihre Kollegen auch eingetroffen sind. Ich nehme an, das war wieder eine Mission?«

»Kann man so sagen.«

Hamilton lag nicht sehr viel am Small Talk, deswegen ging er direkt zur Untersuchung über, die auch eine Röntgenaufnahme beinhaltete, die wiederum das bestätigte, was er bereits geahnt hatte.

»Eine der Rippen ist gebrochen«, erklärte Hamilton, während er sich etwas notierte. »Ich schreibe Ihnen ein paar Schmerzmittel auf und stelle Ihnen eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aus. Die nächste Zeit sollten Sie es ein wenig ruhiger angehen und vor allem nichts Schweres hochheben.«

Albert nickte nur. Sobald Irons – der auch auf Umbrellas Gehaltsliste stand, wie sie aus Chris' gesammelten Beweisen wussten – erfuhr, was sie unter seiner Anleitung getan hatten, würde er ohnehin suspendiert werden. Und wenn die Innere Abteilung erst einmal mit ihm fertig wäre, hätte er gar keinen Job mehr. Also würde er sich ohnehin erst einmal ausruhen müssen.

»Eine stationäre Aufnahme ist nicht notwendig«, erklärte Hamilton weiter, als er ihm das Rezept für das Schmerzmittel überreichte. »Haben Sie noch Fragen?«

Vielleicht war das seine beste Gelegenheit, jemanden zu finden, dem er in dieser Situation vertrauen konnte. »Arbeiten Sie für Umbrella?«

Hamilton runzelte seine Stirn, sichtlich irritiert über diese für ihn seltsame Frage: »Nein. Das Mittel, das ich Ihnen aufgeschrieben habe, ist von Umbrella, aber nur, weil es so ziemlich das Günstigste ist. Wenn Sie wollen, ändere ich das noch, aber die Wirkstoffe wären die gleichen.«

Albert hatte sich das Rezept nicht einmal genauer angesehen, aber unter diesen Umständen verzichtete er wirklich gern auf das Medikament. Er erklärte Hamilton nicht, warum er gefragt hatte, sondern kam zu seiner eigentlichen Frage: »Wäre es möglich, dass Sie mir Blut abnehmen und es untersuchen lassen? Ohne dass es an Umbrellas Mitarbeitern vorbeigeht?«

Hamilton zögerte. Ein wenig nervös tippte er mit dem Kugelschreiber auf die offene Akte, bis mehrere blaue Punkte neben seinen Notizen zu sehen waren. »Gibt es dafür einen bestimmten Grund?«

»Eine Sicherheitsmaßnahme«, erklärte Albert. »Ich würde die Tests auch selbst bezahlen. Seit dem Vorfall im Arklay-Anwesen bin ich einfach misstrauisch.«

Jeder in Raccoon City wusste von diesem Vorfall. Man hatte die schrecklichsten Details nicht öffentlich gemacht, aber es war allgemein bekannt, dass eine ansteckende Krankheit im Anwesen ausgebrochen war und alle dort Forschenden infiziert hatte.

Hamilton schien sich davon überzeugen zu lassen. »Ich verstehe. Natürlich, ich kann Ihnen Blut abnehmen und es an ein anderes Labor schicken.«

Vermutlich bedeutete das viel Papierkram, Albert beneidete ihn nicht darum, aber es war ihm nun einmal wirklich wichtig.

Nach der Blutabnahme erklärte Hamilton ihm, wo er am besten auf Ergebnisse von Jills OP warten könnte. Albert ging direkt dorthin, auf dem Weg zerknüllte er noch das Rezept und warf es in einen Mülleimer. Nach den heutigen Ereignissen hatte er erst einmal genug von Umbrella.

Der Wartebereich lag etwas abgelegen, mehrere Stühle waren in diesem fensterlosen Raum aufgestellt, Zeitschriften lagen auf einem Plastiktisch, falls es länger dauern sollte. Albert hatte kaum einen Blick dafür übrig, da die Sorgen ihn zu sehr ablenkten. Glücklicherweise waren Enrico, Barry und Kevin bereits hier, sie standen auf, als er hereinkam.

»Alles okay, Albert?«, fragte Enrico ihn sofort.

Er setzte sich erst einmal, was die anderen ihm nachahmten. »Ja, alles gut. Nur eine gebrochene Rippe, nichts weiter Wildes. Wie sieht es bei euch aus?«

»Brad und Billy lassen ihre Verletzungen gerade behandeln«, erklärte Enrico. »Und Chris wird richtig durchgecheckt. Er war so lange bei Umbrella …«

Und hatte dort offenbar an diesen Testläufen teilgenommen. Dass er all das überlebt hatte, war für Albert wie ein kleines Wunder. Gleichzeitig überraschte es ihn auch nicht, Chris war zäh und wenn er entschlossen war, etwas zu erreichen – in diesem Fall zu überleben – dann schaffte er das. So wirklich glauben, dass sie ihn gerettet hatten, könnte er aber erst, sobald er ihn hier im Krankenhaus vor sich sah.

»Wir anderen sind in Ordnung«, führte Enrico weiter aus. »Aber man hat uns gesagt, dass Jill operiert wird, also wollten wir hier warten, bis sie fertig ist.«

»Wir hätten sonst sowieso keine ruhige Minute«, bestätigte Barry.

Irgendwann musste S.T.A.R.S., ohne dass Albert es gemerkt hatte, zu einer kleinen Familie geworden sein. Der Gedanke war schön, und er tröstete ihn etwas darüber hinweg, dass er Alex derart hatte abweisen müssen. Er machte sich allerdings keine Sorgen, dass er damit seine letzte Chance, sie wiederzusehen, verpasst hätte, schließlich ging er davon aus, dass sie nicht einfach aufgab. Sobald sie erst einmal wusste, dass er noch lebte, sähe er sie bestimmt wieder – auch wenn dieses Wiedersehen dann bestimmt auch nicht positiv verlaufen würde. Egal, darum machte er sich Gedanken, wenn es soweit war.

»Ich bin nur froh, dass wir da alle lebend rausgekommen sind«, merkte Kevin an. »Also, klar, wir sind die besten und so, aber wenn da mehr Widerstand gewesen wäre, hätte das auch ganz anders enden können.«

»Warum gab es eigentlich so wenig Widerstand?«, fragte Barry.

Kevin schien etwas sagen zu wollen, doch da öffnete sich die Tür des Wartezimmers und die Agenten Morgan und Cooper kamen herein, gemeinsam mit Claire, die sich besorgt umsah.

»Wo ist Chris?«, fragte sie rastlos.

Enrico erklärte ihr, dass er eine schlimme Zeit hinter sich hatte und deswegen untersucht werden musste, Albert ging derweil zu den Agenten hinüber, die ihn zu sich baten. Cooper nickte zu Claire hinüber. »Als wir gehört haben, dass ihr Bruder hier ist, dachten wir, es wäre ganz nett, sie auch herzubringen.«

Albert bedankte sich für diese Umsicht. »Sie haben aber schnell davon erfahren.«

Morgan tippte sich gegen die Schläfe. »Wenn mitten in Raccoon City eine Einrichtung von Umbrella explodiert, werden wir natürlich darüber informiert. Besonders nach den Ereignissen im Arklay-Anwesen.«

»Und da konnten wir uns bereits denken, dass Sie etwas damit zu tun haben«, ergänzte Cooper. »Und kaum wurde Mr. Redfield als Patient hier aufgenommen, war die Sache klar.«

Das konnte noch gar nicht so lange her sein. Hatten sie Claire einfach sicherheitshalber schon im Auto gehabt, als sie auf dem Weg hierher gewesen waren?

Morgans Blick wanderte über die erschöpften Gesichter der versammelten S.T.A.R.S., die Claire gerade beruhigend erklärten, dass es Chris gut ging und sie ihn wirklich bereits gesehen hatten. »Ich denke, wir verzichten heute auf eine Befragung.«

»Wir behaupten einfach, wir hätten Sie nicht angetroffen«, bestätigte Cooper. »Sie werden ja sicher niemandem erzählen, dass wir hier waren.«

»Natürlich nicht.« Er war froh, wenn sie erst einmal wieder verschwanden.

Bevor sie wieder gingen, griff Morgan noch in seine Tasche und holte etwas heraus, das er Albert reichte. Es war sein Pieper.

»Den müssen sie im Büro vergessen haben«, meinte Morgan gut gelaunt. »Jetzt haben Sie ihn ja wieder, dann können wir uns bei Ihnen melden, sobald wir Fragen haben.«

Albert bedankte sich dafür. Dann verließen die Agenten den Wartebereich wieder, dabei unterhielten sie sich darüber, wie erpicht sie beide auf einen Kaffee wären und dass man unbedingt den im Krankenhaus probieren müsste.

»Die zwei sind komisch«, kommentierte Claire, nachdem sie fort waren. »Ich bin froh, wenn sie nicht mehr dauernd in meiner Nähe sind.«

Sobald sich erst einmal herausstellte, dass Chris kein Bio-Terrorist war und auch nie derartige Pläne gehegt hatte, würden sie den Fall bestimmt abschließen und Claire ihre Ruhe zurückbekommen. Albert konnte kaum erwarten, dass das auch für ihn galt.

Brad, Billy und Rebecca kamen wenige Minuten später zu ihnen. Billys Wunde an seinem Oberarm war verbunden worden, Brad bekundete, dass sein Fußknöchel lediglich verstaucht sei.

»Ich hatte Glück«, sagte er.

»Vielleicht hätten wir dich im Hintergrund behalten sollen«, meinte Enrico. »Du hast nicht so viel Kampferfahrung wie wir andere.«

Brad schüttelte direkt mit dem Kopf. »Nein, das war in Ordnung! Ich wollte ja unbedingt mit – und außerdem hätte sonst niemand die Beweise von den PCs der Forschern sichern können.«

Triumphierend zog er eine MO-Disk aus seiner Tasche. Kevin sprang sofort von seinem Platz auf. »Nicht wahr! Das hast du also gemacht!«

Brad nickte ihm zu und erklärte in knappen Worten, wie genau er das getan hatte. Albert blendete seine Worte vollkommen aus, während er auf die Disk starrte. Sie hatten Chris und Jill gerettet und sogar noch weitere, absolut eindeutige Beweise bekommen. Es war zu schön, um wahr zu sein. Albert hoffte, dass es nicht nur ein Traum war – und dass Jill nicht doch noch während der OP etwas zustieß. So wirklich glücklich könnte er erst sein, wenn die Beweise übergeben wurden und sie alle zusammen darüber reden konnten.

»Gut gemacht, Brad«, sagte Albert lächelnd, als Brad ihn schließlich ansah. »Das wird ein wichtiger Schritt sein, um Umbrella zu Boden zu bringen.«

Zufrieden und stolz über dieses Lob, salutierte Brad, dann fiel ihm offenbar wieder auf, dass sein Fuß schmerzte, deswegen setzte er sich. Kevin nahm neben ihm Platz, um ihn weiter über seine Fähigkeiten auszufragen und zu betonen, wie fantastisch das ausgesehen hatte.

Billy hatte sich bereits mit Rebecca hingesetzt. Als zwei der neuesten Mitglieder, die kaum etwas von Jill mitbekommen hatten, überlegte Albert, ob er sie darauf hinweisen sollte, dass sie nach Hause gehen könnten, wenn ihnen das lieber wäre. Aber Barry legte eine Hand auf Billys Schulter, um ihm zu danken, dass er Rebecca gerettet hatte, und Enrico beruhigte derweil Rebecca, die sich offenbar Vorwürfe machte, dass sie Jill zu früh hatte aufstehen lassen. Sie waren eine Familie, er konnte sie in dieser Situation nicht auseinanderreißen.

Lediglich Claire saß ein wenig abseits von ihnen – nur um sofort aufzuspringen, als die Tür ein weiteres Mal aufging. »Chris!«

Sie umarmte ihn stürmisch, worauf er lachend einen Schmerzenslaut von sich gab. Entschuldigend ließ sie ihn los und betrachtete ihn genauer, so dass auch Albert, der wie die anderen wieder aufgestanden war, einen Blick auf ihn werfen konnte. Er trug immer noch seine abgewetzte Uniform, in der er damals geschnappt worden war. Durch die zerfetzten Risse waren Verbände zu sehen.

»Darfst du wirklich schon rumlaufen?«, fragte Claire. »Du siehst aus, als bräuchtest du eher Bettruhe. Oder eine Dusche.«

»Eine Dusche wäre echt eine tolle Idee«, stimmte er zu. »Und Schlaf wäre auch schön. Aber erst will ich sicherstellen, dass es Jill gut geht.«

Ein kurzes, eifersüchtiges Stechen wühlte Alberts Brust auf. Vielleicht war es bei seiner Jill anders, aber sobald die andere Jill wach wurde, wollte sie bestimmt nur wissen, wie es Chris ging und ihn sehen. Sie und er hatten viel miteinander zu tun gehabt, da wunderte es ihn nicht. Aber es schmerzte dennoch.

Chris wandte sich an seine Kollegen, die ihn schweigend ansahen. Er lächelte schräg. »Was ist? Ihr seht aus, als hättet ihr einen Geist gesehen.«

Enrico sah zu Albert, der ihm zunickte. Ihm war lieber, wenn sein Vize zuerst mit Chris sprach. Er konnte immer noch nicht so recht glauben, dass das hier real war – und außerdem müsste er sich erst entschuldigen, davor könnte er kein Wort an ihn richten. Also übernahm Enrico das: »Wir sind einfach nur froh, dass du noch am Leben bist. Und kein Terrorist.«

»Ja«, stimmte Kevin zu, »wir dachten, du würdest uns irgendwelche komischen Monster auf den Hals hetzen. So wie dieses Tyrant-Ding.«

»Ich persönlich bin erstaunt, dass du das alles überlebt hast«, sagte Billy, der Chris' Fähigkeiten immerhin nie live gesehen hatte. »Ich hab gehört, dass du einen Monat bei denen warst.«

Chris winkte grinsend ab. »Ach, das, was die mir da vorgesetzt haben, war ein Witz. Alles kein Problem für mich. Und der Tyrant, den sie auf mich und Jill gehetzt haben, wurde ja von Jill fertiggemacht.«

Bewunderung klang in seiner Stimme, seine Augen glitzerten ein wenig. Schlagartig wurde er wieder ernst. »Aber dass sie meine Ergebnisse dafür benutzt haben, ihre Waffen zu verbessern, gefällt mir überhaupt nicht.«

»Keine Sorge«, sagte Kevin. »Wir sind dabei, Umbrella richtig fertig zu machen. Die werden nicht lange was von ihren Ergebnissen haben.«

Barry und Brad nickten.

»Wir müssen darüber auf jeden Fall nochmal reden, Albert«, sagte Enrico in seine Richtung. »Ich will genau wissen, was ihr ermittelt habt und woher die Beweise kamen.«

Es überraschte ihn ohnehin, dass Enrico geduldig genug gewesen war, bis jetzt zu warten, um mehr zu erfahren. Das sprach aber auch nur dafür, wie viel Vertrauen Enrico ihnen allen entgegenbrachte. Albert schätzte sich glücklich, ihn als seinen Vize zu haben. »Natürlich.«

Plötzlich war Chris' Blick auf ihn gerichtet. Derart ernst und erwartungsvoll, dass Albert der Überzeugung war, dass Chris ihm nie vergeben könnte. Immerhin war es seine Schuld, dass er von Umbrella geschnappt werden konnte, dass er derart lange dort sein musste. Wenn Albert nur ein besserer Anführer wäre, wenn er besser zugehört hätte, dann wäre es niemals so schlimm geworden.

Doch noch bevor er etwas sagen oder mehr darüber nachdenken konnte, trat Chris auf ihn zu. Er machte sich auf einen Schlag gefasst – nur um überrascht zu werden, als der andere ihn in eine Umarmung zog. Solche emotionalen Bekundungen sahen Chris nicht ähnlich, aber das alles überlebt zu haben, musste ihn derart glücklich machen, dass er einmal sein sonstiges Verhalten ignorierte. Ihn so nah bei sich zu spüren, dass sogar seine Rippe neu schmerzte, ließ Albert sofort glauben, dass das hier kein Traum und keine Einbildung war. Chris war wirklich zurück. Alles war gut – jetzt musste nur noch Jill wieder aufwachen.

Albert erwiderte die Umarmung erleichtert. »Ich bin froh, dass du wieder da bist.«

»Ich auch«, sagte Chris und klopfte ihm auf den Rücken.

Dann löste er die Umarmung wieder und trat einen Schritt zurück, den Blick erneut so ernst wie zuvor. »Jetzt musst du mir aber etwas beantworten.«

Das hörte sich nicht gut an. Schon allein, weil Chris selten derart ernst wurde. Er nickte, erwartete etwas, das ihn aus der Bahn werfen würde – und diesmal tat Chris ihm den Gefallen: »Die leitende Forscherin, Alex Wesker, ist sie wirklich deine Schwester?«

Die Anspannung im Raum stieg sofort so sehr an, dass Albert glaubte, sie mit einem Messer schneiden zu können. Billy, Rebecca und Kevin wirkten nicht überrascht, immerhin hatten sie die Übertragung in der Kampfhalle gehört, für Enrico, Brad und Barry war das vollkommen neu. Deswegen schüttelte sein Vize auch direkt den Kopf. »Das kann nicht sein. Das muss-«

Albert hob die Hand und brachte ihn damit zum Verstummen. Für ihn gab es eine Frage, die gerade wichtiger war: »Was hat Alex dir gesagt?«

»Dass mich niemand retten käme, selbst wenn ihr wüsstet, wo ich wäre, weil du zu deiner Schwester und Umbrella halten würdest. Ich glaube, sie haben versucht, mich zu brechen, was natürlich nicht funktioniert hat.« Er schmunzelte kurz. »Ich will jetzt nur wissen, was da dran ist.«

Obwohl er auch bei der Übertragung in der Kampfhalle dabei gewesen war, hatte er Alberts Antworten nicht hören können. Es war deutlich, dass Alex ihn nicht hatte brechen können, aber der Zweifel war gesät worden, nicht zuletzt durch Alberts eigenes Verhalten im Vorfeld. Er war es Chris schuldig, ihm zu antworten, vorher setzte er sich aber und wies die anderen an, das ebenfalls zu machen. »Es ist keine lange Geschichte, aber wir sind alle müde.«

Chris setzte sich neben Albert, den Oberkörper vorgebeugt. Die anderen folgten dem Beispiel.

Albert atmete durch. Wo sollte er anfangen?

»Alex Wesker ist wirklich meine Schwester. Jedenfalls soweit ich das beurteilen kann. Ich habe heute nur ihre Stimme gehört, sie nicht gesehen. Aber es ist gut möglich.«

»Jill hat gesagt, dass du dachtest, sie sei tot«, führte Chris aus.

»Richtig.« Dann erzählte er den anderen von dem Tod seiner Eltern, seiner Zeit im Waisenhaus – und Alex' Adoption. »Wir haben nie wieder von den Adoptierten gehört, weil es Regeln gab, dass sie sich nicht bei uns melden dürfen. Aber ausgehend von den Geldern, die Umbrella dem Waisenhaus gespendet hat, sind alle Adoptierten wohl als Forschungssubjekte bei ihnen gelandet. Und ich dachte, das gilt auch für Alex.«

Die anderen schwiegen betroffen, besonders Barry wirkte bedrückt. Gerade als Familienmensch musste es eine schlimme Vorstellung für ihn sein, von der geliebten Familie getrennt zu werden.

Nur eine Person ließ sich von der Stimmung nicht beirren – und es war ausnahmsweise nicht Kevin.

»Wo ist das Problem?«, fragte Claire. »Wenn Alex noch lebt, kann er sie jetzt doch einfach wiedersehen, oder?«

»Ganz so einfach ist das nicht«, erwiderte Albert. »Schon allein, weil ich mich heute gegen sie gestellt habe. Und Umbrella wird jetzt vermutlich noch besser auf sie aufpassen.«

Er bezweifelte, dass er sie davon überzeugen könnte, nicht mehr für das Unternehmen zu arbeiten, aber warum sollte Umbrella dieses Risiko dennoch eingehen? Wenn sie leitende Forscherin war, musste sie kostbar genug sein, um sie unter allen Umständen halten zu wollen. Vielleicht wurde es leichter, wenn Umbrella am Boden war – zumindest wäre sie dann vermutlich im Gefängnis und dort könnte er sie besuchen, wann immer es ihm erlaubt wurde. Nicht, dass er unbedingt wollte, dass sie verhaftet wurde, aber alles war besser, als zu wissen, dass sie Bio-Waffen entwickelte.

Claire brummte etwas, das sich ganz danach anhörte, dass man es sich einfach machen könnte, wenn man wollte. Er beneidete sie ein wenig für diese Naivität, die auch Chris manchmal auszeichnete. Im Moment wirkte dieser aber eher ernst und nachdenklich, so hatte Albert ihn noch nie zuvor gesehen, außer es war um das Arklay-Anwesen gegangen. Vielleicht glaubte er ihm nicht, was seinen fehlenden Kontakt mit Alex anging, und Albert könnte ihm das nicht einmal verübeln, nachdem er ihm bei der Umbrella-Sache nicht geglaubt hatte. Wenn sie unter sich waren, müsste er sich unbedingt entschuldigen und hoffen, dass sein Freund das auch annahm.

Da Chris nichts mehr dazu sagte, verfielen sie alle in Schweigen. Die Zeit kroch langsam dahin, während sie warteten, ohne dass eine Nachricht für sie käme. Auch sein Pieper blieb glücklicherweise still. Vielleicht hatte die Innere Abteilung noch nichts von den neuesten Ereignissen mitbekommen – oder sie ermittelten gerade noch an einer anderen Front.

Es ging auf den Abend zu, als sie alle unruhig zu werden begannen. Hunger und Müdigkeit setzten ein, besonders bei Chris, der immer wieder wegzunicken schien, nur um direkt aufzuwachen, sobald sein Kopf von seiner Hand rutschte. Albert überlegte bereits, ob er den anderen vorschlagen sollte, irgendwo etwas zu essen zu besorgen, als die Tür sich erneut öffnete, diesmal war es eine Krankenpflegerin. Sie standen alle sofort auf, was die junge Frau in Erstaunen versetzte, wenn er ihren hochgezogenen Augenbrauen glauben konnte. Nichtsdestotrotz war ihre Stimme vollkommen ruhig, als sie fragte, ob es sich bei ihnen um die S.T.A.R.S. handelte.

Als sie alle nickten, blickte sie auf das Klemmbrett hinunter, das sie mit sich führte. »Ich soll Ihnen allen ausrichten, dass die OP von Ms. Valentine erfolgreich verlaufen ist. Sie ist stabil und jetzt im Aufwachraum – wenn Sie sie sehen wollen.«
 

Kapitel 8: Ruh dich etwas aus


 

Jill sah so blass und zerbrechlich aus, wie sie auf ihrem Bett lag. Man hatte ihnen versichert, dass es ihr gut ging, ihre Werte alle normal waren, sie sogar einmal kurz wach gewesen war, und man nun nur noch warten müsste, bis sie richtig wach wurde, was aber bis zum nächsten Tag dauern könnte. Sie lag inzwischen in ihrem Einzelzimmer, das Albert für sie organisiert hatte – das von Chris war sogar direkt nebenan. Deswegen blieb er am längsten an Jills Bett stehen, neben Albert, der ohnehin vorhatte, auf dem Sofa zu schlafen, das dieses Zimmer zu bieten hatte; er würde Jills Seite nicht verlassen, bevor sie nicht aufgewacht war. Die anderen waren bereits gegangen, um sich endlich hinzulegen. Lediglich Claire war auf dem Weg in Chris' Apartment, um ihm neue Kleidung zu bringen, die er unbedingt benötigte.

Jill atmete tief, manchmal zuckte eine ihrer Hände. Der Verband um ihren Kopf ließ sie so krank wirken, dass es Albert schmerzte. Er wünschte sich so sehr, dass sie aufwachte – als seine Jill –, wieder mit ihm redete, ihm zuhörte und ihm das Gefühl gab, an einen Ort zu gehören. Aber noch mussten sie warten.

»Hey, Al.« Chris' Blick war weiter auf Jill gerichtet, in seinen Augen schien ein eigentümliches Feuer zu brennen, das Albert nervös machte. »Ist irgendetwas mit Jill passiert, während ich weg war? Sie wirkte so anders, als wir im R&D Center waren.«

Bestimmt war sie unerschrocken gewesen, in der sicheren Überzeugung, dass sie aus dieser Situation wieder herauskäme, weil sie schon Schlimmeres erlebt hatte. Er konnte das Chris nicht erzählen, das wäre Jills Aufgabe, deswegen zuckte er mit den Schultern. »Vielleicht hat dein Verschwinden sie dazu gebracht, sich noch mehr anzustrengen als sonst.«

»Nein, das glaube ich nicht. Sie war komplett anders. Du musst doch wissen, was ich meine.«

Chris hatte es sofort gemerkt und war nicht gewillt, ihre neue Persönlichkeit irgendwelchen Erlebnissen zuzuschieben, anders als Albert. Vielleicht kannte Chris sie einfach besser als er.

»Natürlich weiß ich es. Aber ich kann dir nicht sagen, was mit ihr ist.«

Er wandte sich Albert zu, das Feuer in seinen Augen glühte stärker. »Ich hab den Eindruck, du willst es mir nicht sagen. Das ist okay, ich werde dich nicht mehr fragen. Sag mir nur, ob es ihr gut geht. Das ist alles, was mich interessiert.«

Er war froh, dass Chris nicht weiter nachbohren wollte, schließlich könnte er ihn nicht lange anlügen oder ihm derart ausweichen. Allerdings wusste er auch nicht, ob es seiner – ihrer – Jill gut ging, er konnte nur hoffen. Dennoch wollte er Chris nicht bedrücken, deswegen nickte er. »Sie ist in Ordnung. Mach dir keine Sorgen.«

Das darauf einsetzende Lächeln ließ das Feuer in seinen Augen erlöschen. »Dann bin ich erleichtert. Danke, dass du dich um sie gekümmert hast.«

Die Worte trafen ihn erneut direkt in seine Brust. Sobald Jill wieder wach wurde und erst einmal Chris gesehen hatte, war er selbst mit Sicherheit abgeschrieben. Hätte er gewusst, wie kurz die Zeit zwischen ihnen beiden war, hätte er sie mehr ausgekostet. Aber er wollte ihnen auch nicht im Weg stehen, wenn sie zusammen sein wollten. Chris war ein guter Mann, er würde sich gut um Jill kümmern, darauf kam es an.

»Tja«, sagte Chris, nachdem sie sich eine Weile angeschwiegen hatten, »ich denke, ich gehe dann mal ins Bett. Ich bin echt ziemlich müde und so, du weißt ja.«

»Nein, warte.« Sie waren gerade unter sich, also sollte er diese Gelegenheit nutzen, bevor er nicht mehr dazukäme – das war jedenfalls Alberts Gedanke, als er ihn aufhielt.

Chris sah ihn wieder eigenartig erwartungsvoll an. Sicher wartete er noch auf eine Entschuldigung, die Albert ihm auch sofort lieferte: »Es tut mir leid, dass ich dir nicht zugehört habe. Du hattest die ganze Zeit recht, und ich hätte dir einfach glauben sollen. Selbst wenn ich anderer Meinung war, hätte ich mir deine Beweise zumindest ansehen müssen. Hätte ich das alles getan, dann wäre dir der letzte Monat bestimmt erspart geblieben.«

Chris blinzelte, fast wirkte er enttäuscht. »Mann, Al, denkst du da echt drüber nach?«

»Natürlich.« Es kränkte ihn ein wenig, dass Chris ihn nicht ernstzunehmen schien. »Ich habe seit deinem Verschwinden ein schlechtes Gewissen deswegen.«

»Das sieht dir ähnlich. Aber dafür gibt es keinen Grund. Ich meine, hey, das kam von mir. Und ich kann nicht mal Kreuzworträtsel lösen. An deiner Stelle hätte ich mir wahrscheinlich auch nicht geglaubt, vor allem nachdem Umbrella sich ja schon rausgeredet hatte. Und inzwischen weiß ich ja auch, wie du aufgewachsen bist, also ...«

Ein wenig hilflos hob er die Hände. »Ich will eigentlich nur noch eines von dir wissen. Wenn du mir da die Wahrheit sagst, verzeih ich dir alles, was du willst.«

Etwa auch, dass er sich für Jill interessierte und sie geküsst hatte? Das würde er ihm lieber erst ein andermal erzählen, für heute nickte er einfach nur.

»Du hast wirklich keinen Kontakt mit Alex, oder?«

Gut, das war zumindest etwas, was er ihm wirklich ganz einfach beantworten konnte: »Absolut keinen, in welcher Form auch immer. Ich war überrascht, dass sie noch lebt.«

Chris atmete auf. Lächelnd klopfte er ihm gegen die Schulter. »Okay, dann mach dir jetzt keine Gedanken mehr. Ich trage dir nichts nach, mir geht es gut, alles ist super.«

Er wollte ihm das gern glauben, aber er wusste selbst schon, dass er sich noch mehr als einmal entschuldigen würde. Das müsste Chris wohl aushalten.

»Dann geh ich mal ins Bett. Pass du weiter auf Jill auf.«

Albert wünschte ihm eine gute Nacht. Chris tippte sich zum Abschied an die Stirn, dann verließ er das Zimmer. Er sah seinem besten Freund hinterher und atmete tief durch. Er war am Leben und sagte, er verzeihe ihm. Alles war besser gelaufen, als Albert es sich zu träumen gewagt hatte. Es fehlte nur noch, dass Jill aufwachte. Er hoffte, dass es seine Jill wäre, aber auch die andere würde ihn zumindest schon beruhigen.

Inzwischen war es Nacht geworden und die Müdigkeit machte sich auch bei ihm bemerkbar. Er zog sein Jackett aus und legte sich auf das Sofa, so dass er aus dem Fenster blicken konnte. Die Stadt war so hell, dass keine Sterne zu sehen waren, aber da er schon immer hier gelebt hatte, kümmerte ihn das nicht einmal wirklich. Er fand den undurchdringlich schwarzen Nachthimmel beruhigend, genau wie die Lichter der Großstadt. Zufrieden schloss er die Augen.

Und als er sie wieder öffnete, blickte er in die vermummten Gesichter mehrerer Ärzte, die sich über ihn beugten. Sein Arm schmerzte, er hörte sich selbst leise schluchzen, dazwischen die Stimmen einiger Männer, die sich im Hintergrund unterhielten: »Er hat viel Blut verloren.«

»Aber die Infektion breitet sich nicht aus.«

»Wir brauchen eine Bluttransfusion.«

»Es ist erstaunlich. Liegt das in der Familie?«

»Sorgt dafür, dass er still ist, dieses Geweine geht mir auf die Nerven.«

Ein kurzer Schmerz brannte in seinem rechten Arm, breitete sich in ihm aus, dann wurde alles wieder dunkel und still.

Es klopfte an der Tür. Albert öffnete die Augen. Sonnenlicht fiel in den Raum, also musste er eine ganze Weile geschlafen haben. Er fühlte sich dennoch erschlagen, was aber sicher auch von dem seltsamen Traum herrührte. Unwillkürlich griff er sich an den rechten Arm, dem es gut ging, keine Schmerzen, keine Verletzungen, nichts. Anders als seine Rippe, die wegen des ungemütlichen Sofas protestierte. Vielleicht sollte er die nächste Nacht doch lieber zu Hause schlafen.

Es klopfte erneut. Albert stand auf, warf einen kurzen Blick auf die immer noch schlafende Jill, dann öffnete er die Tür. Zu seiner Freude stand Barry davor, mit zwei Blumensträußen, die bereits in Vasen steckten.

»Guten Morgen«, grüßte Barry ihn, offensichtlich nicht überrascht, ihn hier vorzufinden.

Albert ließ ihn herein. Barry sah ebenfalls zu Jill. »Sie ist also noch nicht wieder wach?«

»Nein, aber sie ist schon weniger blass. Bestimmt dauert es nicht mehr lange. Denk dran, sie hat einen echten Dickschädel.«

Barry nickte lächelnd. Er stellte die Vasen auf dem Nachttisch ab. »Kathy wollte, dass ich ihr und Chris einen Blumenstrauß bringe. Claire hat mir den für Chris direkt abgenommen – und den anderen hier hat mir eine Schwester in die Hand gedrückt.«

Albert angelte die Karte aus diesem unbekannten Strauß und las sie sich durch. »Ah, der ist von Oliveira. Ihm tut wohl leid, dass er ihr nicht sofort geglaubt hat.«

»Was wird er jetzt wohl machen?«, fragte Barry nachdenklich. »Er kann ja schlecht bei Umbrella bleiben.«

»Er wird schon irgendwo unterkommen. Jemand mit seinen Fähigkeiten findet bestimmt etwas.«

Falls er auf die Idee käme, S.T.A.R.S. beitreten zu wollen, würde sicher auch Enrico ein besonders gutes Wort für ihn einlegen. Aber wahrscheinlich fand Carlos vorher eine für sich interessantere Anstellung.

Da er nun die Blumen nicht mehr trug, bemerkte Albert, dass Barry eine Zeitung unter seinen Arm geklemmt hatte. Er nickte in diese Richtung. »Ist die von heute?«

Barry hatte sie vor lauter Blumen offenbar auch vergessen, denn sein Gesicht hellte sich plötzlich auf. Er reichte Albert die Zeitung. »Es wird dir gefallen.«

Der Hauptbericht – von Alyssa Ashcroft – handelte von Umbrellas Verstrickungen in den Arklay-Vorfall, von der Korruption, die sich durch die ganze Stadt zog und auch von den Experimenten, die Umbrella geheimzuhalten versuchte. Er endete mit der Explosion des R&D Centers, stellte aber Gespräche mit anderen Zeugen in Aussicht, die noch mehr beitragen könnten. Bestimmt hatten Kevin und Brad ihr wegen der neuen Beweise Bescheid gesagt – und vielleicht würde Chris auch mit ihr sprechen.

»Im Radio reden sie über nichts anderes«, führte Barry aus. »Sogar die Regierung hat sich bereits eingeschalten, um das zu untersuchen und ein paar Funktionäre sind schon abgehauen. Da kommen sie nicht mehr raus.«

Albert atmete auf. »Das ist eine echt gute Nachricht.«

Nach dem letzten Monat hatten sie es sich auch verdient, eine Weile nur gute Nachrichten zu bekommen. Für ihn konnte das ruhig so bleiben.

Da Barry ihm versicherte, dass er die Zeitung behalten könnte, legte er sie auf das Sofa, um den Bericht später noch einmal genauer zu lesen und es zu genießen.

»Ach ja, ich hab da noch was.« Barry holte etwas aus seiner Tasche und drückte es Albert in die Hand. »Die von Umbrella willst du ja bestimmt nicht, deswegen hab ich dir andere Schmerzmittel gekauft. Letzte Nacht schienst du dich ziemlich zu quälen.«

Albert seufzte glücklich. »Barry, du bist ein echter Lebensretter. Ich danke dir.«

Er salutierte locker. »Immer gern, Captain. Brauchst du sonst noch etwas? Sonst geh ich zu Chris rüber, um Jill nicht zu stören.«

»Geh ruhig zu ihm. Er braucht ein wenig Gesellschaft.« Wenn er sich nicht derart viele Sorgen um Jill machen würde, hätte er Barry begleitet, aber so müsste Chris eben warten. »Wenn sie wach ist, sag ich euch Bescheid.«

Diesmal war es Barry, der sich bedankte und dann das Zimmer verließ. Nach über einem Monat hatte er Chris bestimmt eine Menge Dinge zu erzählen, und diesem ging es umgekehrt sicher genauso. Bei Gelegenheit müsste er dafür sorgen, dass Chris einen guten Therapeuten bekam, den könnte er nach diesem Monat brauchen.

Ein leises Seufzen lenkte seine Aufmerksamkeit auf das Bett. Er trat näher und erkannte, dass Jill wieder wach war. Fragte sich nur noch, welche der beiden es war, deswegen zügelte er seinen Enthusiasmus erst einmal. Sie lächelte, aber ihr Blick hatte weiterhin etwas Misstrauisches. »Hey.«

»Gleichfalls hey. Wie fühlst du dich?«

»Groggy. Hast du das Kennzeichen von dem Laster, der mich überfahren hat?«

»Dein Humor ist wenigstens noch intakt. Also kann es dir nicht so schlecht gehen.«

Es zeigte ihm außerdem nur noch einmal, dass sie nicht seine Jill war. Sie hätte nach den gestrigen Ereignissen keinen solchen Witz gebracht. Wahrscheinlich wäre sie eher verwirrt gewesen.

Er half ihr, sich aufrecht hinzusetzen, dann erklärte er ihr, was nach ihrem letzten Ohnmachtsanfall geschehen war, beruhigte sie aber auch direkt damit, dass laut den Ärzten alles in Ordnung wäre. »Du brauchst jetzt etwas Bettruhe, dann sollte es dir bald wieder besser gehen.«

»Was ist mit deiner Verletzung?«, fragte sie.

»Ach, nur eine angebrochene Rippe.« Er spielte die Verletzung lieber ein wenig herunter, damit sie sich nicht zu viele Sorgen machte. Außerdem war sie nicht seine Jill, da war es nicht so schlimm, wenn er ein wenig log, wie auch beim nächsten Punkt: »Ich habe jede Menge Schmerzmittel intus, um nichts mehr zu spüren. Ich darf keine anstrengenden Arbeiten verrichten oder schwere Dinge heben. Also erst einmal keine Aktenarbeit mehr für mich.«

Er schmunzelte. Sie atmete dagegen auf. Gut, es war die richtige Entscheidung gewesen, ihr nicht die ganze Wahrheit zu sagen – und er würde die Schmerzmittel ja sofort nehmen, wenn er die Gelegenheit bekäme.

Sie sah zu den Blumensträußen, er erklärte sofort, dass einer von Kathy war, der andere von Carlos. »Er sagte, du sollst ihn als Entschuldigung sehen, weil er dir nicht sofort geglaubt hat und du deswegen einiges mitgemacht hast. Aber ich glaube dir ja, daher kannst du es mir sagen: Kann es sein, dass du ihn aus deiner Welt schon kanntest und ihm deswegen eine so wichtige Aufgabe gegeben hast? Das hätte nämlich echt schief gehen können.«

Sie lächelte schelmisch. »Ja, tatsächlich. Er sieht anders aus, aber ich hab Carlos getroffen, als ich damals aus Raccoon City geflohen bin. Wir haben uns gegenseitig geholfen, um zu entkommen. Darum wusste ich, dass er eigentlich ein guter Kerl ist.«

Aber was hätte sie getan, wenn Carlos doch kein guter Kerl gewesen wäre? Sie das zu fragen war unsinnig, denn es war bereits vorbei und es war gut ausgegangen. Doch er konnte nicht anders, als sich deswegen Sorgen zu machen.

»Was ist mit den anderen?«, fragte sie. »Geht es allen gut?«

Er lächelte ihr beruhigend zu. »Ja, keine Sorge. Billy und Brad durften nach einer ambulanten Behandlung direkt nach Hause, die anderen sind mit Schrammen davongekommen. Chris liegt im Zimmer nebenan. Dafür, dass er so lange bei Umbrella war, hat er sich echt gut gehalten.«

»Ja, das habe ich auch schon gedacht.«

»Wenn Dr. Hamilton später die Erlaubnis gibt, sorge ich dafür, dass alle dich besuchen kommen. Jeder von ihnen hat sich Sorgen gemacht.«

Die anderen waren bestimmt auch glücklich, wenn sie sehen könnten, dass es Jill gut ging. Er könnte eine kleine Feier mit ausreichend Essen organisieren, besonders Chris bräuchte das bestimmt.

Sie nickte und stellte eine andere Frage, die sie interessierte: »Was ist jetzt mit Umbrella?«

Er ging zum Sofa und holte Barrys Zeitung, die er ihr reichte. »Ist heute rausgekommen. Alle sind in heller Aufregung deswegen.«

Während Jill den Bericht las, hellte sich ihr Gesicht immer mehr auf. Er wartete geduldig, bis sie fertig war und ihn wieder ansah. »Umbrella ist erledigt. Da können sie sich nicht mehr rausreden, sogar die Regierung hat bereits angekündigt, sich der Sache anzunehmen. Einige der Funktionäre sollen schon das Land verlassen haben.«

Sie atmete auf und legte sich wieder hin, sichtlich ermüdet nach dieser Erleichterung, die ihre ganze Anspannung gelöst haben dürfte.

»Die Narkose wirkt vermutlich noch nach«, sagte Albert. »Ruh dich etwas aus, ich bleibe hier. Dir wird nichts passieren.«

Sie bedankte sich bei ihm, was er direkt abwehrte. »Du hast uns so viel geholfen, da ist dies das mindeste.«

Ohne sie wäre Chris vermutlich nie gerettet worden und Umbrella könnte auch auf unbestimmte Zeit in der Zukunft weiter ihre Experimente durchführen. Aber dank der Jill aus der anderen Welt war das alles vorbei. Und vielleicht hatten sie sogar früh genug eingegriffen, um den extremen Bio-Terrorismus aufzuhalten, von dem die andere Jill gesprochen hatte.

Sie schloss die Augen und war innerhalb kürzester Zeit wieder eingeschlafen. Diesmal wirkte sie zufrieden und friedlich, weniger zerbrechlich.

Er war froh, dass sie aufgewacht war – und gleichzeitig war er enttäuscht, dass es nicht seine Jill war. Zumindest hatte sie nicht direkt darauf bestanden, zu Chris gebracht zu werden. Aber dennoch … wenn seine Jill nicht zurückkäme, würde für immer etwas fehlen. Ihm blieb nur, weiter zu hoffen.

Er nutzte die Zeit, während sie schlief, um seine Schmerzmittel zu nehmen und sich den Bericht noch einmal in aller Ruhe durchzulesen. Nachher müsste er unbedingt Chris beglückwünschen, dass er derart gute Arbeit geleistet hatte. Irgendwann sollte er ihn dann auch fragen, wie er an all die Beweise gekommen war.

Plötzlich meldete sich sein Pieper. Die Nummer auf dem Display sagte ihm nichts, aber bei allem, was gerade vor sich ging, musste er unbedingt zurückrufen. Um Jill nicht zu stören, verließ er das Zimmer und suchte die Münztelefone auf. Er wählte die Nummer und war nicht sonderlich überrascht, als Detective Briscoe sich am anderen Ende meldete.

»Mr. Wesker, gut, dass Sie zurückrufen. Ich hätte gern persönlich mit Ihnen gesprochen, aber-«

»Ist schon okay«, unterbrach Albert ihn. »Sagen Sie mir einfach, was Sie sagen wollen.«

Das war Briscoe offenbar auch recht: »Wie Sie sicher wissen, haben Ermittlungen gegen Umbrella begonnen. Die haben zutage gefördert, dass Sie der Bruder einer leitenden Forscherin sind.«

Er ahnte bereits, worauf das hinauslief. Also müsste man ihn nicht mal wegen seiner eigenmächtigen Handlung, das R&D Center zu infiltrieren suspendieren. Briscoe bestätigte auch gleich seinen Verdacht: »Da S.T.A.R.S. an den Ermittlungen beteiligt werden soll, haben wir beschlossen, Sie vorerst von Ihrem Posten zu entbinden.«

Der Treffer saß und er sorgte für Schmerzen in seiner Magengrube. Gerade als ihm bewusst geworden war, dass S.T.A.R.S. eine große Familie war, löste man ihn aus dieser heraus. Es war einfach typisch für sein Leben.

»Ich verstehe«, sagte Albert tonlos. »Dann wird Enrico Marini übernehmen, sehe ich das richtig?«

»Korrekt.«

Das war gut. Er hatte kein Problem damit, Enrico die Truppe zu überlassen, denn er würde sich gut um sie alle kümmern und ihn vielleicht auch auf dem Laufenden halten, zumindest in einem Umfang, den Enrico für vertretbar hielt.

»Okay. Muss ich irgendetwas unterschreiben?«

Briscoe blieb einen Moment still, als wartete er eigentlich auf einen Wutausbruch oder Rechtfertigungen. Aber Albert konnte ihm nichts davon bieten. Er verstand die Entscheidung und hätte sie vielleicht genauso getroffen.

»Nein«, sagte Briscoe schließlich. »Mit diesem Anruf sind Sie davon in Kenntnis gesetzt. Wir werden es Mr. Marini mitteilen, sobald er wieder ins Büro kommt.«

Bis dahin hätte Albert es ihm schon gesagt, aber dann könnte er es noch aus offizieller Quelle hören. Außerdem musste die Innere Abteilung ja nicht wissen, dass sie privat Kontakt hielten.

Briscoe verabschiedete sich wieder von Albert und legte auf. Erst dann wagte auch Albert, den Hörer einzuhängen, schließlich hätte ihm im letzten Moment noch etwas einfallen können. Er starrte auf das Telefon, das schon wesentlich bessere Zeiten gesehen hatte.

Dass er suspendiert werden würde, war ihm die ganze Zeit bewusst gewesen, aber es zu hören, war doch eine ganz andere Hausnummer. Er müsste das den anderen noch erklären, was die Schmerzen bestimmt noch stärker werden ließ. Aber das wäre dann eine seiner letzten Aufgaben als Captain, bis Alex gefasst war, also musste er da durch.

Er wandte sich gerade ab, als ein übermüdeter Hamilton in sein Blickfeld trat. »Mr. Wesker, gut, dass ich Sie treffe. Ich wollte die Ergebnisse mit Ihnen besprechen.«

»So schnell?«

Hamilton nickte. »Bei der Durchsicht Ihrer Akten ist mir etwas aufgefallen, deswegen habe ich gebeten, die Analyse so schnell wie möglich durchzuführen. Ich erkläre Ihnen das genauer in meinem Büro.«

Was konnte an seinen Krankenhausakten so ungewöhnlich sein, dass sogar Hamilton Interesse daran entwickelte – und dafür dann die Nacht durchmachte, so wie er aussah?

Neugierig folgte er dem Arzt in dessen Büro und setzte sich Hamilton gegenüber. Dieser griff nach einer Akte, auf der Alberts Name stand, schlug sie auf und drehte sie ihm wortlos hin. Albert beugte sich etwas vor – und runzelte die Stirn. Fast die gesamte erste Seite war vollkommen geschwärzt, abgesehen von seinen grundlegenden Daten, wie Geburtstag und -ort.

Er hob den Blick, um Hamilton anzusehen, der bedächtig nickte.

»Ich war genauso erstaunt«, sagte der Arzt. »Wenn Sie weiterblättern, sehen Sie noch mehr Schwärzungen.«

Albert tat genau das. Hamilton hatte recht, bei all seinen Untersuchungsprotokollen waren einzelne Sätze oder ganze Absätze unkenntlich gemacht. Irgendjemandem war es sehr wichtig, dass man nicht zu viel über ihn erfuhr – und auf der letzten Seite entdeckte er zumindest einen Hinweis darauf: Zugriff auf die vollständige Akte von Wesker, Albert wird nur mit einer Autorisierung von Dr. J. M. gewährt.

Wer war das nun schon wieder? Hamilton war da offenbar genauso ratlos, denn als Albert ihn fragte, zuckte er mit den Schultern. »Es muss ein hochrangiger Umbrella-Mitarbeiter sein. Ich kenne mich in dieser Firma aber nicht aus.«

Er sich auch nicht, aber es wurde wohl Zeit, dass er sich genauer einlas. Vielleicht gab es auch einen Hinweis in den von Chris' gesammelten Beweisen, der ihm bislang nur entgangen war. Ein erneuter Blick schadete jedenfalls nicht.

»Danke, Doktor. Aber was ist nun mit den Ergebnissen?«

Hamilton griff nach einem anderen Umschlag. »Die waren auch sehr interessant. So sehr sogar, dass ich mir dann auch die aktuellen Ergebnisse Ihrer beiden stationären Kollegen näher angesehen habe.«

Albert hielt unwillkürlich die Luft an. Hatte er Chris und Jill und vielleicht noch die anderen Mitglieder doch angesteckt? Waren sie wegen ihm gefährdet? Wortlos starrte er Hamilton an, der direkt eines seiner schlechten Gefühle bestätigt: »Sie sind mit einem uns gänzlich unbekannten Virus infiziert.«

Der zweite Tiefschlag an diesem Tag, auch dieser kam nicht unerwartet, war aber dennoch schmerzhaft. Albert rieb sich über die brennenden Augen. Glücklicherweise fuhr Hamilton fort: »Aber Sie haben Antikörper gebildet, die den Virus nicht nur im Schach halten, sondern es auch geschafft haben, ungefährliche Teile dieses Virus in ihren Körper zu integrieren.«

»Wie kann das funktionieren?«

Hamilton neigte den Kopf ein wenig. »Soll ich Sie wirklich mit Fachtermini oder ausführlichen Theorien langweilen?«

Er überlegte, ihn darauf hinzuweisen, dass er eine Weile Chemie studiert hatte und dadurch einiges sicher verstehen könnte, aber dafür fehlte ihm tatsächlich die Geduld. Deswegen schüttelte er mit dem Kopf und entschuldigte sich für die Unterbrechung.

»Wir müssten ein paar Tests dazu durchführen, wenn Sie mal Zeit dafür haben, aber laut den Ergebnissen sieht es danach aus, als wäre Ihr Immunsystem wesentlich ausgeprägter als das von anderen Menschen. Einer meiner Kollegen und ich gehen davon aus, dass es mit diesem unbekannten Virus zusammen hängt.«

Albert dachte darüber nach, wie lächerlich das eigentlich klang. Aber gleichzeitig könnte das die Erklärung sein, warum er in seinem Leben noch nie wirklich krank gewesen war, egal welche Krankheiten durch das Waisenhaus oder den Rest der Stadt gezogen waren. Bislang war ihm das nie wichtig erschienen, hatte es rein auf Glück geschoben – aber vielleicht steckte ja doch mehr dahinter.

Er sah auf seinen rechten Arm hinab, in den sich dieses Hundemonster damals verbissen hatte. »Kann der Virus auch eine erhöhte Regenerationsrate auslösen?«

»Das ist eine gute Frage«, sagte Hamilton. »Ich möchte die Heilung Ihrer gebrochenen Rippe gern näher beobachten, um das zu klären.«

Möglicherweise könnte er damit auch das Rätsel lösen, warum an seinem Arm nichts zu sehen war, wenn es am Ende doch kein Traum gewesen war. Er neigte einfach zu wenig zu Verletzungen, um es anders beobachten zu können.

Aber wie sah es nun mit Chris und Jill aus? Waren sie auch infiziert?

Hamilton schüttelte mit dem Kopf, als er fragte. »Absolut nicht! Wir konnten auch bei den beiden die gleichen Antikörper beobachten. Bei Mr. Redfield allerdings bedeutend weniger als bei Ms. Valentine. Wissen Sie, was das heißt?«

Albert hatte eine schwache Ahnung, aber sie war zu unglaublich für ihn. Deswegen ließ er Hamilton die Theorie aussprechen: »Allein Ihre Anwesenheit, Mr. Wesker, sorgt für eine Immunität gegen gewisse Viren, zu denen auch dieses T-Virus gehört, das im Arklay-Labor erforscht wurde. Die verlängerte Abwesenheit von Mr. Redfield ließ die Antikörperanzahl in seinem Blut beträchtlich sinken. Also ist es ein aktiver Prozess.«

Alberts Augen weiteten sich bei der Erkenntnis. »Also kann ich niemanden anstecken?«

»Im Gegenteil«, bestätigte Hamilton. »Sie sorgen passiv dafür, dass die anderen immun sind. Wahrscheinlich ist es nur Ihnen zu verdanken, dass von den überlebenden S.T.A.R.S. keiner dem T-Virus erlegen ist.«

Also hatte er schlussendlich doch etwas getan, um ihnen allen zu helfen, vielleicht sogar Chris während des Monats im R&D Center, wo er immerhin auch nicht infiziert worden war. Albert war die Heilung, nicht die Krankheit. Selbst wenn er vorläufig nicht der Captain der Einheit war, selbst wenn Jill sich für Chris entscheiden sollte, er war wichtig für sie alle, sie konnten nicht auf ihn verzichten – und er würde weiter für sie da sein, damit ihnen nichts geschah, während sie gegen Umbrella vorgingen. Er hatte weiterhin eine wichtige Aufgabe.

All die schlechten Nachrichten des Tages waren schlagartig vergessen. Unter diesen Voraussetzungen war sogar seine Suspendierung egal. So könnte er auch problemlos die Feier organisieren, um Chris gebührend willkommen zu heißen und sich bei der anderen Jill zu bedanken – und alle finsteren Gedanken müssten ihn dann erst ein andermal wieder interessieren.
 

Kapitel 9: Ich habe viel Zeit


 

Die kleine Feier verlief so positiv wie Albert es sich gewünscht hatte. Alle waren zusammengekommen – auch Claire –, sie hatten gegessen und gelacht, sogar Billy und Kevin waren sich einmal einig gewesen. Die Nachricht, dass er fortan nicht mehr ihr Captain wäre, war von den anderen nicht gut aufgenommen worden. Sie empfanden es als unfair, dass er nur wegen Alex suspendiert worden war, Enrico hatte sogar angeboten, ein gutes Wort für ihn einzulegen. Aber Albert hatte darauf bestanden, dass sie diese Aufgabe auch ohne ihn lösen könnten und sobald Alex geschnappt war, würde er zurückkommen. Daran glaubte er wirklich. Weniger zuversichtlich war er in seinen eigenen Fähigkeiten, Alex gegenüber wirklich durchgreifen zu können, deswegen störte er sich weiterhin nicht an der Suspendierung.

Der Rest des Abends war dann einfach nur ungezwungen, bis eine Krankenpflegerin sie alle nach Hause geschickt hatte. Um seine Rippe zu schonen, war auch Albert nach Hause gegangen, wo er friedlich und traumlos bis zum nächsten Morgen schlief.

Bevor er dann wieder ins Krankenhaus fuhr – da er kein Captain mehr war, gab es ohnehin nichts anderes zu tun – kaufte er unterwegs noch Kaffee für sich und Jill. Chris legte nicht sonderlich viel Wert auf guten Kaffee, deswegen mochte er den im Krankenhaus vermutlich, also musste er ihm keinen mitbringen.

Als er Jills Zimmer betrat, sah er in ihre Richtung und machte zufrieden eine Feststellung: »Ah, du bist schon wach. Der Kaffee im Krankenhaus ist furchtbar, da dachte ich, dass ich uns besser was anderes hole.«

Sie sagte darauf nichts, was ihn mit einem unguten Gefühl erfüllte. Vorsichtshalber stellte er den Kaffee erst auf dem Tisch ab, dann musterte er sie genauer. »Alles okay? Du bist so ...«

Die Stimme erstarb in seinem Hals. Jill sah ihn mit einer Mischung aus Freude und Sorge an, von dem Misstrauen war keine Spur mehr. Das konnte eigentlich nur eines bedeuten. Sein Herz flatterte aufgeregt, als er sich zu ihr auf das Bett setzte und er ihre Hand in seine nahm. »Jill? Bist du zurück?«

Noch könnte sie ihn enttäuschen, ihm einfach nur sagen, dass sie ihr Misstrauen endgültig abgelegt hatte und sich einfach nur freute, ihn zu sehen – doch ihre Gegenfrage war genug Antwort, die sofort Glück durch ihn hindurchströmen ließ: »Wie erkennst du das?«

Er deutete auf seine eigenen Augen. »Du siehst mich ganz anders an, als sie es getan hat. Weniger scharf und misstrauisch.«

»Dafür hast du viel Zeit mit ihr verbracht.«

Diese etwas patzige Antwort brachte ihn zum Schmunzeln. »Sie sah aus wie du, was sollte ich machen? Du dürftest ja inzwischen mitbekommen haben, dass ich hoffnungslos in dich verliebt bin.«

Nicht zuletzt wegen des Kusses. Oder weil er es der anderen Jill ziemlich deutlich mitgeteilt hatte – und offenbar hatte seine Jill das alles ja mitbekommen. Also wusste sie, was er fühlte. Aber er erinnerte sich auch gut daran, dass sie den Kuss nicht erwidert und ihn auch nicht aufgehalten hatte. Deswegen fügte er noch etwas hinzu: »Auch wenn ich wahrscheinlich absolut chancenlos bin. Aber wenn du dich für Chris entscheidest, weiß ich wenigstens, dass es dir gutgehen wird.«

Er könnte es verstehen. Egal, wie eifersüchtig er immer gewesen war, es war nachvollziehbar, warum man gern Zeit mit ihm verbrachte. Und wenn Jill eben mehr Interesse an Chris hatte, war das vollkommen in Ordnung, sofern sie ihn nicht einfach abschieben würden.

Jill sagte darauf nichts. Hatte er etwas Falsches gesagt? Hatte sie das Gefühl, dass er sich zu sehr für ihr Privatleben interessierte, obwohl ihn das eigentlich gar nichts anging?

Gerade als er sich ein Stück von ihr zurückziehen wollte, um ihr ihren Freiraum zu lassen, legte sie ihre freie Hand in seinen Nacken und zog ihn zu sich. Er kam ihr so nahe, dass er ihren Atem auf seinen Lippen spüren konnte, es weckte die Sehnsucht in seinem Inneren, von der er sich eigentlich für Chris' Glück hatte verabschieden wollen. Jill schloss die Augen und küsste ihn.

Sein Herz setzte für einen kurzen Moment aus, nur um wieder anzuspringen und dann umso schneller weiterzuschlagen. Nie hätte er gedacht, dass sie seine Gefühle erwidern würde – noch viel weniger, dass es so schnell geschehen würde, nachdem sie wieder zurückkäme. Hoffentlich träumte er das alles nicht nur. Aber selbst wenn, dann sollte er es einfach genießen, so schöne Träume bekam er schließlich selten.

Er legte seine Arme um sie und erwiderte den Kuss, in den er all das Glück fließen ließ, das er gerade empfand. Alles war gut, großartig geradezu.

Als sie sich voneinander lösten, sah sie ihn derart intensiv an, dass es ihm glatt den Atem verschlug. »Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet.«

»Ich habe die ganze Zeit bereut, dass ich dich einfach gehenließ«, erklärte sie, als wäre ihr das schon eine Weile ein Bedürfnis gewesen. »Ich mag Chris wirklich … aber ich liebe nur dich. Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, bis ich es gemerkt habe – und dass es eine andere Jill brauchte, um alles wieder ins Lot zu bringen.«

Sie liebte ihn! Wie lange hatte er darauf gewartet, diese Worte einmal von ihr zu hören? Sein Herz kam gar nicht mehr dazu, sich zu beruhigen.

»Das ist okay«, sagte er auf ihre Entschuldigung. »Ich bin schon glücklich, dass du meine Gefühle überhaupt erwiderst. Nachdem du mich abgewiesen hast, dachte ich, ich hätte es total verbockt. Und dann hatte ich Angst, dass du nie zurückkommst. Aber jetzt bist du hier und alles ist gut.«

Außer es war alles nur ein Traum. Die einzige Furcht, die noch an ihm nagte.

»Ich träume das nicht nur, oder?«, fragte er vorsichtshalber.

Jill lächelte und kniff ihn vorsichtig in die Wange. Es schmerzte ein wenig, also war er wach, das hier war die Realität. »Offenbar ist es kein Traum, das ist gut, sonst wäre das jetzt nicht so befriedigend.«

Damit küsste er sie wieder. Für einen kurzen Moment musste er wieder an den Augenblick denken, als sie nicht darauf reagiert hatte, aber der Gedanke war sofort vergessen, als sie ihn diesmal erwiderte. Sie empfand für ihn dasselbe, wie er für sie; er war noch nie so glücklich gewesen.

Plötzlich öffnete jemand ohne zu klopfen die Tür.

»Hey, Jill, ich dachte, du willst vielleicht-«

Chris stoppte abrupt in seinen Worten und seinen Bewegungen. Albert sah ihn an, das Gesicht erhitzter als ihm gerade lieb war, wusste Chris' Blick aber nicht so richtig zu deuten. Da war auf jeden Fall Verwirrung zu sehen, aber auch … Enttäuschung? Vielleicht sogar einen Hauch Verrat, der Alberts Herz wieder schwer werden ließ.

Doch plötzlich setzte Chris ein Grinsen auf und deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Soll ich wieder gehen und euch allein lassen? Ihr solltet vielleicht ein Schild an die Tür hängen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er bereits herum und ging mit den Worten »Viel Spaß noch« wieder hinaus. Aber Albert war überzeugt davon, dass Chris verletzt war. Jill ging es offenbar ähnlich, denn sie seufzte leise. »Wenn er doch nur geklopft hätte ...«

Das gute Gefühl war schlagartig verflogen. Jill bedeutete auch Chris viel, natürlich musste es ihm da wie ein Verrat vorkommen, wenn sein bester Freund sie sich einfach schnappte.

»Vielleicht hätte ich vorher mit ihm reden sollen«, meinte Albert.

Diesmal war es Jills Blick, den er nicht so recht deuten konnte. Vielleicht war sie verärgert, dass er so viel Wert auf Chris' Meinung legte, obwohl es immerhin ihre Entscheidung war, mit wem von ihnen sie zusammen sein wollte. Sanft schob sie ihn von sich. »Rede doch jetzt mit ihm. Das ist wahrscheinlich besser, als wenn du dir darüber erst wieder ewig Gedanken machst.«

Sie lächelte ihn an, also war sie nicht böse, sie war wirklich nur besorgt – und sie wusste, wie sehr ihm solche Dinge nachhingen. Nun, er könnte sich ohnehin auf nichts anderes konzentrieren, also war das vermutlich die beste Entscheidung.

Außerdem kam in diesem Moment bereits eine Krankenpflegerin mit dem Frühstück in den Raum. Während des Essens wäre er vermutlich ohnehin nur störend, deswegen stand er auf, versprach ihr, das alles zu klären und verließ das Zimmer, um nach nebenan zu gehen. Chris hatte sein Frühstück auch bekommen, aber er selbst fehlte. Auf ein kurzes Nachfragen erklärte eine Pflegerin ihm, dass Chris angekündigt hatte, auf dem Balkon der Station rauchen zu gehen. Albert hatte nicht einmal gewusst, dass er schon Zigaretten hatte – und dass er nach einem Monat noch Interesse daran haben könnte.

Er lief zum Balkon, den er nur kannte, weil man daran vorbeilaufen musste, wenn man mit dem Aufzug hochkam. Draußen wurde er von dem üblichen Straßenlärm empfangen, obwohl man von hier aus nicht einmal auf die Straße sehen konnte. Andere Gebäude des Krankenhauses versperrten die Sicht darauf. Nur eine Person saß auf den zahlreichen Bänken, zog an seiner Zigarette und starrte in die Entfernung. Albert atmete noch einmal tief durch, dann setzte er sich neben Chris.

Zuerst schien sein Freund ihn nicht zu beachten, er atmete den blauen Rauch aus, der sofort vom Wind ergriffen und verwirbelt wurde. Albert schwieg.

»Glückwunsch«, sagte Chris schließlich. »Das mit Jill hat also endlich funktioniert?«

Sie hatten nie explizit darüber geredet, weil Albert sich seine Eifersucht nicht hatte anmerken lassen wollen und für Chris war es wohl nie wichtig genug gewesen, aber es musste offensichtlich gewesen sein, wenn sogar die andere Jill es direkt gemerkt hatte.

Für einen kurzen Moment flutete die Freude wieder durch seinen Körper. »Ja, hat es. Ich bin selbst noch ganz … baff.«

»Das freut mich für dich.« Chris' Worte klangen ehrlich, aber er sah ihn weiterhin nicht an.

Von der Seite wirkte er ernst und distanziert, von dem Gefühl des Verrats war nichts mehr wahrnehmbar. Aber in Alberts Erinnerung war es noch deutlich vorhanden.

»Es tut mir leid«, sagte er schließlich. »Ich hätte vorher mit dir darüber reden müssen.«

»Wozu?«, erwiderte Chris kühl. »Denkst du, da wären gute Tipps herausgekommen?«

Dieses distanzierte Verhalten nervte Albert langsam. Sie waren beide erwachsen und kannten sich lange genug, um offen darüber zu sprechen. Warum Chris das nicht hinbekam, war ihm ein Rätsel und ärgerte ihn zunehmend. »Nein, ich denke aber, dass es nur fair gewesen wäre, wenn ich dir sage, dass ich an derselben Person interessiert bin wie du.«

Er blinzelte und wandte sich ihm nun doch zu. »Warte! Du denkst, ich bin in Jill verliebt?«

»Offensichtlich, oder? Ich meine, ihr habt einfach diese bestimmte Chemie miteinander und im Büro seid ihr quasi unzertrennlich.«

Chris schüttelte seufzend mit dem Kopf. »Mann, Jill ist für mich wie eine kleine Schwester. Vielleicht hab ich auch einfach ein wenig viel von Claire in ihr gesehen. Aber ich bin nicht verliebt in sie.«

»Warum bist du dann jetzt so …?« Albert wusste nicht, wie er dieses Verhalten nennen sollte, außer verletzt, aber das hätte Chris bestimmt nicht gefallen, deswegen ließ er es offen.

»Keine Ahnung. Vielleicht bin ich nach dem letzten Monat nur komplett durch. Oder ich mache mir Sorgen, dass ihr beide jetzt keine Zeit mehr für mich haben werdet.« Fahrig führte er seine brennende Zigarette durch die Luft.

Albert konnte diese Ängste nachvollziehen. Hätten Chris und Jill eine Beziehung begonnen, wären das auch seine ersten Gedanken gewesen. »Ich kann dir versichern, dass ich dich nicht aus meinem Leben ausschließen werde. Gerade nach diesem Monat hab ich gemerkt, dass du ein wichtiger Teil davon bist. Da schmeiß ich dich nicht mehr raus.«

Chris verzog die Lippen zu einem halben Grinsen. »Sicher? Beziehungen sind meistens sehr zeitaufwändig, habe ich gehört.«

»Ich habe keine Hobbys«, sagte Albert lapidar. »Ich habe viel Zeit.«

Darauf erntete er ein leises Lachen von Chris. »Ich nehme dich beim Wort, Al. Und ich werde dich dran erinnern, wenn du mir mal wegen Jill absagst.«

»Das wird nicht passieren. Falls doch, mach mir ruhig die Hölle heiß.«

Chris suchte endlich seinen Blickkontakt, er lächelte. Beides beruhigte Albert, auch wenn er glaubte, dass sein Freund nach wie vor verletzt wirkte. Vielleicht waren das aber immer noch seine Sorgen oder Nachwirkungen des letzten Monats – und der Gedanke führte dazu, dass Albert sich noch einmal entschuldigte, dass er Chris nicht geglaubt hatte. Sein Freund seufzte schwer. »Al, lass das doch endlich. Ich hab dir gesagt, ich verzeih dir.«

»Es fällt mir einfach schwer, das so zu glauben.«

Chris nahm einen letzten Zug seiner Zigarette, dann zerdrückte er den Rest im neben ihm stehenden Aschenbecher. »Okay, pass auf. Ich mach einen Deal mit dir. Wenn ich hier rauskomme, lädst du mich auf einen Kneipenabend ein – aber dann lass es endlich gut sein.«

Chris vertrug ziemlich viel Alkohol, also würde Albert einiges an Geld investieren müssen. Danach könnte er vielleicht wirklich loslassen und aufhören, sich immer zu entschuldigen.

»Okay, machen wir das so.«

»Und wir gehen allein«, fügte Chris hinzu. »Ohne Jill.«

»Klar doch.«

So wie Chris wieder lächelte, war die Katastrophe damit abgewendet – da trat noch jemand auf den Balkon. Albert verzog das Gesicht ein wenig, als Morgan und Cooper sie beide grüßten.

»Schön, dass wir Sie zusammen sehen«, sagte Morgan. »Wir wollten ohnehin mit Ihnen reden.«

Cooper nickte in Chris' Richtung. »Mr. Redfield, ich habe da noch ein paar abschließende Fragen an Sie.«

Chris zuckte nur mit den Schultern. Albert dagegen wurde von Morgan gebeten, mit ihm zu kommen. Er führte ihn in eine entferntere Ecke des Balkons, wo er ihn wegen Alex befragte. Albert gab ihm dieselben Antworten, wie jedem anderen, dass er seit dem Waisenhaus keinen Kontakt mehr mit ihr geführt hatte, dass er immer noch nicht mit ihr sprach, schrieb oder sonst irgendeine Art der Kommunikation zwischen ihnen existierte. Morgan wirkte unzufrieden über diese Antworten, doch da er ihm auch nichts vorwerfen konnte, ließ er Albert schließlich wieder gehen. Die Befragung von Chris dauerte offenbar länger, er hatte sich sogar eine weitere Zigarette angesteckt.

Den Rest des Tages verbrachte Albert mit Jill, die sich zufrieden damit zeigte, dass das Gespräch mit Chris gut verlaufen war. Während er bei ihr saß und ihre Hand hielt – wobei er es immer noch nicht fassen konnte, dass sie ihn liebte – erzählte sie ihm, was sie alles von den Ereignissen hier mitbekommen und was sie von der anderen Jill wahrgenommen hatte. Sie hatte es Albert nicht erzählt, aber offenbar schien es dem anderen Chris äußerst schlecht zu gehen. Er hoffte nur, dass Jills Rückkehr ihm geholfen hatte.

Die Stunden vergingen viel zu schnell, so dass es schließlich Abend wurde und er beschloss, nach Hause zu gehen. So gern er auch bei Jill geblieben wäre, da sie endlich glücklich waren, so blieb er bei dem Gedanken, dass es besser für seine Rippe war, zu Hause zu schlafen. Außerdem sollte Chris sich nicht bestätigt fühlen, dass er so viel mehr Zeit mit ihr verbrachte, obwohl er sie genauso bei ihm verbringen könnte. Das war vielleicht der unsinnigste Gedanke daran, aber er beschäftigte ihn dennoch.

Nach einem letzten Kuss fuhr er nach Hause, wo er geradezu verträumt seine Tür aufschloss und ohne weiter nachzudenken in die Wohnung trat. Er legte die Schlüssel in die Schale neben der Tür, ging in sein Wohnzimmer, wo er das Licht einschaltete – nur um wie elektrisiert innezuhalten.

Auf seinem Sofa saß eine Frau in einem weißen Anzug, die ihn süffisant anlächelte. An ihrem Revers war ein kleiner Anstecker von Umbrella befestigt. Innerlich fluchte er über sich selbst. Hätte er ihre Anwesenheit bemerkt, wenn er nicht so verträumt gewesen war?

Er überwand den ersten Schreck, zog seine Waffe und zielte auf die Frau, die sich davon nicht beeindrucken ließ. War sie nicht allein? Hatte sie in den anderen Räumen Leute versteckt?

Warum hab ich Idiot nicht besser aufgepasst?!

»Wer sind Sie?!«, fragte er. »Wie kommen Sie hier rein?!«

Sie lachte darauf. »Und was, wenn ich dir nicht antworte? Erschießt du mich dann?«

Er antwortete nicht, was bei ihr zu einem weiteren spöttischen Lachen führte. »Ja, das denke ich mir. Du erschießt doch nicht einfach Leute, Alby.«

Die Erkenntnis über die Identität dieser Frau ließ ihn scharf Luft holen. Sein Körper wollte, dass er die Waffe senkte, doch sein Verstand ließ das nicht zu, er zielte weiter auf sie. Auch die Stimme passte überein, sie musste es einfach sein – und doch verstand er nicht, warum sie hier war. Warum gerade jetzt, an diesem Tag, an dem er eigentlich so glücklich war?

»Alex«, brachte er angestrengt hervor. »Was willst du von mir?«
 

Kapitel 10: War es das wert?


 

Alex sah anders aus, als er erwartet hatte. Ihr blondes Haar war kurz geschnitten, ihre hellen Augen funkelten ein wenig im einfallenden Licht, nur ihr roter Lippenstift wirkte zu aufdringlich. Der weiße Anzug, den sie trug, ließ sie distanziert und kühl, fast übermenschlich, erscheinen. Wäre ihr aufreibendes Grinsen nicht gewesen, hätte er sie als hübsch bezeichnet. So erzeugte sie aber nur eine Gänsehaut auf seinen Armen.

Sie blätterte in einer Akte, die auf ihrem Schoß lag. »So, Alby, man hat dich also suspendiert, aber deine Dienstwaffe hast du behalten?«

»Woher weißt du von der Suspendierung?«

Sie schmunzelte. »Ach, dachtest du, man würde einen Mann ohne große Erfahrung oder Auszeichnungen direkt zum Captain einer Eliteeinheit ernennen?«

Eigentlich hätte er sich das bereits denken können, spätestens nachdem er Irons auf der Gehaltsliste entdeckt hatte. Enrico war wesentlich erfahrener als er und würde sich mit Sicherheit auch als besserer Captain beweisen, wenn er diese Gelegenheit gerade schon hatte.

Alex fuhr unbeirrt fort: »Nein, nein, Umbrella hat natürlich dafür gesorgt – um dich weiter im Auge zu behalten.«

»Der Angriff von diesem Monster damals … Er war kein Traum, oder?«

Alex sah ihn an, selbst das stolze Lächeln wirkte eher spöttisch. »Du erinnerst dich also daran. Ja, du wurdest damals von einem Versuchsobjekt gebissen, das irgendwie aus dem Labor entwischt ist. Ein unglücklicher Zufall – aber dadurch konnte man immerhin feststellen, dass du auch gegen Progenitor immun bist.«

»Progenitor?«

Alex hob eine Hand. »Du wirst doch ohnehin nicht auf deine Schwester schießen, nimm die Waffe runter und lass uns reden. Wir sind hier ganz allein und ich habe dich schon ewig nicht mehr gesehen. Freust du dich denn nicht?«

Seltsamerweise freute er sich tatsächlich, obwohl er misstrauisch war. Sie war bestimmt nicht hier, um mit ihm einen Kaffee zu trinken und dabei über ihr bisheriges Leben zu plaudern, schon allein, weil sie seines ja bereits kannte, wie die Akte auf ihrem Schoß bewies. Entgegen seiner Vernunft – und Enricos Tadel, den er sich gut vorstellen konnte – ließ er die Waffe sinken, behielt sie aber in der Hand, als er sich auf den Sessel setzte, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Okay, rede.«

Mit einem zufriedenen Lächeln erzählte sie ihm, dass Progenitor ein uralter Virusstamm sei – laut Theorien ein Treiber der Evolution –, den der Gründer von Umbrella, Dr. Oswell E. Spencer, nach dessen Entdeckung in den 60ern, ausgiebig erforscht hatte. »Er ist in der Lage, Lysis rückgängig zu machen und sogar tote Organismen wiederzubeleben.«

Albert musste in seinem Gedächtnis kramen, um sich zu erinnern, dass Lysis die Auflösung von Zellen nach Zerstörung ihrer Membran beschrieb. Wenn er das richtig verstand, bedeutete es also wirklich, dass der Virus die Regeneration beschleunigte. Und dass er die Basis für das T-Virus war, was sie ihm auch direkt bestätigte: »Die meisten Organismen sind diesem Virus nicht gewachsen, das bringt dann negative Effekte mit sich – wie eben dem Tod.«

Sie zuckte nonchalant mit den Schultern. »Umbrella forscht seit Jahren daran, den Virus zu stabilisieren, die Biowaffen, die sie dabei entwickeln, sind nur eine Möglichkeit Geld zu verdienen.«

An wen verkauften sie diese dann? Nein, das war egal, das hätte ihn bei der Arbeit interessiert, aber im Moment war er suspendiert und Albert interessierten andere Dinge mehr: »Was haben sie mit dir gemacht?«

Ihr Lächeln änderte sich um eine Nuance, sie wirkte gerührt, dass er sich noch immer Gedanken um sie machte. Sogar ihre Stimme wurde etwas sanfter: »Nachdem man mich adoptiert hat, wurde ich in eine Forschungseinrichtung gebracht. Dort hat man mir den Progenitor-Virus injiziert. Oh, du hättest die Gesichter sehen sollen, als gar nichts passiert ist!«

Lachend warf sie den Kopf zurück. »Und als sich zeigte, dass ich den Virus in meinen Körper integriert habe, wurde Spencer auf mich aufmerksam. Er nahm mich unter seine Fittiche, bildete mich aus – und er versprach mir, dich in Ruhe zu lassen, solange ich für ihn arbeite. Beobachtet haben sie dich aber trotzdem, als Vorsichtsmaßnahme und um mich zu kontrollieren.«

Dann war sie nur wegen ihm bei Umbrella? Er fühlte sich seltsam ergriffen deswegen, gleichzeitig freute er sich, dass er all die Jahre nicht umsonst an sie gedacht hatte. Aber etwas nagte da noch an ihm: »Was sollte das dann im R&D Center eigentlich?«

Ihre Zurückweisung, verbunden mit der Tatsache, dass sie ihn tatsächlich sterben lassen wollte, hatte ihn verletzt. Aber vielleicht gab es dafür eine Erklärung – und die präsentierte Alex ihm tatsächlich sofort, während sie abwinkte: »Das hast du ernst genommen? Ich habe den Countdown extra lang gesetzt, damit du rauskommst. Ich konnte nicht wissen, dass Everill« – sie sprach den Namen voller Abscheu aus – »versuchen würde, euch aufzuhalten.«

Sollte er ihr das glauben? Der Countdown hatte 15 Minuten betragen, das war wirklich viel Zeit gewesen, um aus einem derart kleinen Komplex zu entkommen. Ein kleiner Teil in ihm freute sich auch darüber, dass sie ihn nicht einfach töten wollte. Dieser winzige Teil hegte immer noch die Hoffnung, dass sie eine Familie sein könnten.

»Ich wusste, dass du es schaffen würdest«, sagte sie zufrieden, dann verzog sie ihr Gesicht. »Auch wenn mir lieber gewesen wäre, wenn du die anderen S.T.A.R.S. einfach zurückgelassen hättest.«

Störte es sie, dass er eine neue Familie hatte? Aber was erwartete sie, wenn er jahrelang nichts von ihr gehört hatte, im festen Glauben, dass sie nichts mehr von ihm wissen wollte oder gar tot sei?

»Jetzt ist ein wichtiges Gebäude für Umbrella weg«, bemerkte Albert. »Und die Regierung ermittelt gegen die Firma. War es das wert?«

»Absolut. Jeder Schlag gegen Umbrella ist ein guter Schlag.« Jedes einzelne ihrer Worte triefte vor Verachtung. »Sie haben mich vielleicht ausgebildet, aber ich bin darüber hinausgewachsen. Ich habe Pläne, von denen Spencer geträumt haben mag, aber wir werden sie umsetzen!«

Sie reckte das Kinn, ihre Augen funkelten triumphierend. Sein verwirrter Blick schien sie nur anzutreiben: »Du und ich, Alby, gehören zu jenen Menschen, die Progenitor unter Kontrolle halten können. Unsere Gene sind genau dafür ausgelegt, das bedeutet, wir sind der nächste Schritt in der Evolution!«

Plötzlich vibrierte ihre Stimme voller Wahn, die Gänsehaut kehrte zurück. Er schüttelte mit dem Kopf. »Was redest du da?«

»Verstehst du es denn nicht?« Sie sah ihn lächelnd an, in ihren Augen funkelten nicht nur Lichtreflektionen, sie leuchteten von innen heraus. »Wir sind dazu auserkoren, die Menschheit anzuführen!«

Ihm wurde eiskalt, als tausend Schauer über seinen Rücken fuhren. Das war genau das, was Wesker in der Welt der anderen Jill gewollt hatte. Sie ließ sich von seinem entgeisterten Gesichtsausdruck nicht einmal irritieren: »Wir beide können die Geschichte in eine neue Richtung führen und gleichzeitig die Welt retten!«

»Alex, hörst du dir selbst eigentlich zu? Was immer du da vorhast, es kann gar nicht funktionieren.«

Schon allein, weil es bestimmt genug Menschen gab, die sie aufhalten würden. In der Welt der anderen Jill hatte es ganze Organisationen gegeben, die sich nur damit beschäftigt hatten, Bio-Terroristen aufzuspüren und aufzuhalten. Auch hier würde das über kurz oder lang passieren, wenn erst einmal herauskam, was Alex vorhatte. Und er müsste das jemandem erzählen, er konnte sie nicht gewähren lassen, auch wenn sie seine Schwester war.

Alex blieb seltsam vergnügt. »Wenn du meinen Plan kennen würdest, wärst du bestimmt genauso überzeugt wie ich.«

Auf seinen Einwand, dass sie ihm den Plan doch einfach mitteilen könnte, hob sie mahnend einen Zeigefinger. »Uh-uh-uh! Wenn ich ihn dir jetzt erkläre, wirst du damit doch nur zu deinen kleinen Freunden rennen und denen alles erzählen.«

»Warum bist du dann hier?«, fragte er ratlos. »Was willst du von mir?«

»Zwei Dinge. Ich wollte dich einmal direkt sehen. Es ist über zwanzig Jahre her, seit wir im Waisenhaus getrennt wurden. Auch mich treibt die Sehnsucht um.«

Also lag ihr doch noch etwas an ihm? Vielleicht war er nicht der einzige von ihnen, der sich danach sehnte, dass sie wieder eine Familie sein könnten. Aber je mehr er von Alex' Wahn hörte und sah, desto geringer empfand er die Wahrscheinlichkeit, dass es so weit käme.

»Außerdem wollte ich dir einiges mitteilen«, fuhr Alex fort. »Ich arbeite mit Umbrella, um meinen eigenen Plan zu verwirklichen, wenn diese Firma dabei untergeht, ist das nur umso besser.«

Sie beugte sich vor, um ihm eindringlich anzusehen. »Ich will, dass du dich mir anschließt, dass wir zusammen die Menschheit voranbringen.«

»Das kann ich nicht tun«, erwiderte er sofort. »Es ist falsch, und zum Scheitern verurteilt.«

»Ich hatte befürchtet, dass du ablehnen würdest.« Seufzend hob sie die Schultern. »Aber ich kann wirklich sehr überzeugend sein, Alby. Ich werde also nicht einfach aufgeben.«

Dabei gab es nichts, was sie tun könnte, um ihn dazu zu bringen, so etwas Dummes zu tun. Viel eher würde er versuchen, sie davon zu überzeugen, es zu lassen. »Alex, du solltest die Gelegenheit nutzen, Umbrella hinter dir zu lassen. Enrico setzt sich bestimmt dafür ein, dass deine Strafe nicht zu hoch ausfällt, wenn überhaupt eine für dich folgen wird. Ich rede mit dem FBI, wir bekommen das alles geregelt!«

Sie lächelte, vielleicht rührte es sie auch, dass er sich solche Gedanken um sie machte – oder es bestärkte sie nur in ihrem Glauben, dass sie ihn überzeugen könnte. »Ich werde Umbrella hinter mir lassen, aber anders, als du es dir wünschst. Und du wirst mir helfen, da bin ich mir sicher.«

Sie nahm die Akte von ihrem Schoß und legte sie auf seinem Tisch ab. »Nur falls du wissen willst, was Umbrella so alles über dich in Erfahrung gebracht hat. Vielleicht ist das ja Argument genug, dass du einsiehst, wie recht ich habe.«

Nach einem letzten, fast bedauernden Blick erhob sie sich und ging in Richtung seiner Tür. Er sah weiterhin auf die Akte, die überraschend dick war. Ob darin ungeschwärzte Ergebnisse seiner Untersuchungen standen? Am liebsten hätte er sich direkt darauf gestürzt, doch solange Alex noch hier war, hielt er an sich. Selbst als er sie ansprach, sah er sie nicht an. »Was macht dich so sicher, dass ich nicht direkt zum FBI gehe und ihnen von diesem Gespräch erzähle?«

»Oh, gut, dass du mich erinnerst.« Plötzlich kam sie mit raschen Schritten auf ihn zu.

Er wandte den Blick in ihre Richtung, da rammte sie ihm bereits eine Nadel in den Hals, etwas drückte in seine Vene. Überrascht fuhr er hoch, seine Hand griff nach dem Fremdkörper, den er sofort herauszog und ungläubig betrachtete. Es war ein Injektor, er war leer. Verwirrt sah er zu Alex, die sich rückwärts von ihm entfernte. Sie lächelte nicht mehr, es kam ihm sogar vor, als bedauerte sie ihre Handlung.

»Was hast du getan?«, fragte er, seine aufgewühlten Emotionen ließen seine Stimme wegbrechen.

»Wir haben Redfield benutzt, um ein Mittel zu entwickeln, das seine Antikörper unterdrückt«, erklärte sie rasch, als wüsste sie, dass es notwendig war, es ihm schnell zu erklären. »Das ist das Ergebnis davon. Es wird ein paar Tage dauern, bis all deine Antikörper fort sind, aber schlussendlich wird Progenitor dich übernehmen. Es sei denn, du schließt dich mir an.«

Ihre Mundwinkel zuckten ein wenig. »Wenn du dem FBI von meinem Besuch erzählst, war es das für dich – und für alle, die du liebst

Dieser bittere Ton bei dem letzten Wort … sie trug es ihm wirklich nach, dass er jemand anderen gefunden hatte. »Ich hoffe, dass du dich richtig entscheidest.«

Damit fuhr sie herum und ging. Er wollte ihr folgen, sie aufhalten, doch seine Beine versagten ihm den Dienst, er sank in die Knie. »Alex!«

Sie war schon längst nicht mehr da, als er ihr hinterhersah – sein Blick war so verschwommen, dass ihm schwindelig wurde –, dennoch streckte er seine Hand nach ihr aus. »Alex, warte!«

Verließ sie ihn wieder? Und das in diesem Zustand? Jegliche Kraft schwand aus seinem Körper, er fiel ganz zu Boden. Seine Wohnungstür wurde geöffnet und geschlossen. Sie war fort, er nun ganz allein, mit diesem Zeug, das durch seine Adern floss und ihm seine größte Qualität zu rauben drohte. Aber ihm blieb nicht die Zeit, darüber wirklich nachzudenken oder es zu verarbeiten, denn die plötzlich eingetretene Schwäche versenkte sein Bewusstsein gnädigerweise erst einmal in der Dunkelheit.

Eine Sekunde später riss er die Augen wieder auf und schreckte hoch. Er lag nicht auf dem Boden seines Wohnzimmers, sondern saß an seinem Schreibtisch im S.T.A.R.S.–Büro. Einen Wimpernschlag lang glaubte er, dass er die Begegnung mit Alex – und vielleicht sogar noch mehr – nur geträumt hatte, ansonsten könnte er sich nicht erklären, warum er trotz seiner Suspendierung hier war. Doch dann fielen ihm Dinge auf, die ihm sagten, dass es nicht sein Büro war: Auf dem Tisch stand ein Aschenbecher voller Zigarettenkippen, die Bilder an den Wänden zeigten neblige, ihm unbekannte Orte, eine der Glasscheiben war zerbrochen.

Er legte sich die Hände aufs Gesicht und atmete tief durch, ein überwältigender Geruch von Eisen strömte in seine Nase. Dann ertönte ein gellender Schrei aus der Haupthalle. Erst danach fiel ihm auf, wie still es eigentlich war, wenn man von diesem Geräusch absah.

Egal, er musste herausfinden, was los war! Also erhob er sich von seinem Platz und eilte durch das teilweise zerstörte Büro, was ihn sich fragen ließ, was hier geschehen war. Blutige Fußabdrücke waren auf dem Marmorboden des Ganges zu sehen, während er Richtung Haupthalle lief. Dort angekommen, sah er sich nach der Person um, die geschrien hatte. Mehr Blut besudelte den Boden, orange leuchtende Adern zogen sich an den Wänden und der Statue entlang. Als er eine davon berührte, erschauerte sein Körper. Kalte Bosheit vibrierte hindurch. Er musste sich davon abwenden und lehnte sich schwer atmend auf die Brüstung der Galerie. Was immer hier los war, es konnte nicht echt sein. Das RPD sah so nicht aus, diese Adern waren unmöglich.

Während er noch versuchte, sich wieder zu fangen, rannte Jill durch den Haupteingang. Sie warf immer wieder einen Blick über die Schulter, als wäre sie gerade auf der Flucht vor etwas oder jemandem. Albert wollte ihr zurufen, da stürmte etwas bereits auf sie zu und brachte Jill zu Fall. Erst auf den zweiten Blick erkannte er, dass es ein in schwarz gekleideter Mann war, der auf sie herabsah und dabei das Messer in seiner Hand fester packte, scheinbar um direkt zuzustechen und es zu beenden.

Adrenalin floss durch seinen Körper. Selbst wenn das hier nicht real war, er konnte nicht einfach nur zusehen, wie jemand auf sie einstach. »Hey!«

Der Kopf des Mannes ruckte nach oben. Die Augen hinter der Sonnenbrille glühten rötlich. Der andere verzog die Lippen zu einem finsteren Grinsen – dann rannte er mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit auf ihn zu.

Albert wich zurück, wirbelte herum und rannte davon, zurück in Richtung seines Büros. Doch er kam kaum bis in den Gang, da wurde er plötzlich gepackt und im nächsten Moment schon gegen eine Wand geschleudert. Er spürte keinen Schmerz, was noch einmal dafür sprach, dass er das alles nur träumte. Ihm blieb keine Zeit, sich aufzurichten, denn der Mann griff ihn bereits am Hals und hob ihn mühelos nach oben.

Albert schnappte nach Luft, er krallte sich in das Handgelenk des anderen, doch dieser zeigte sich unbeeindruckt, während er ihn musterte. Plötzlich grinste der andere. »Heh. Denkst du wirklich, du kannst mich besiegen?«

Die kalte, schnarrende Stimme gab ihm den letzten Hinweis, den er brauchte, um zu wissen, wer dieser Mann war. Nun konnte er vollkommen verstehen, warum die andere Jill ihn so gefürchtet hatte. Selbst ihn überkam eine lähmende Furcht, die ihn fast hoffen ließ, dass der andere, dass Wesker, ihn einfach tötete. Doch dieser schien seine Angst ausgiebig zu genießen.

Der Sauerstoffmangel – wie konnte das in einem Traum überhaupt eine Bedeutung haben? – ließ schwarze Flecken vor seinen Augen tanzen. Er glaubte schon, noch einmal das Bewusstsein zu verlieren, da stieß Wesker plötzlich einen schmerzerfüllten Laut aus. Albert fiel zu Boden, rappelte sich diesmal aber sofort wieder auf.

Jill stand hinter Wesker, mit einem blutigen Messer in der Hand. Sie nickte in Richtung des Büros. »Lauf, Albert!«

Ihre Stimme war so bestimmend, so voller Selbstvertrauen, dass er nicht zu widersprechen wagte. Er rannte los, hörte hinter sich nur noch Wesker fluchen, gefolgt von einem ekelhaften Knacken, dessen Ursprung er nicht kennen wollte.

Als er am Büro ankam, stellte er fest, dass die Tür zu war. Warum? Er war überzeugt, sie nicht hinter sich geschlossen zu haben.

»Albert!«, rief Wesker mit einem amüsierten Unterton in der Stimme, wie bei einem Jäger, der sich seiner Beute absolut sicher war. »Sich zu verstecken ist sinnlos!«

Er wollte sich nicht verstecken, sondern sich in Sicherheit bringen. Und er war überzeugt, dass das im Büro möglich wäre. Während sich Weskers Schritte näherten, rammte Albert die Tür mit seiner Schulter. Einmal, zweimal, doch sie gab einfach nicht nach.

Was würde passieren, wenn Wesker ihn hier erwischte und ihn tötete? Würde er dann überhaupt wieder in der Realität erwachen oder zu dem werden, was die andere Jill fürchtete?

Nein, er durfte das nicht herausfinden! Er musste hier raus!

Deswegen ging er rückwärts, bis er mit dem Rücken an der Wand stand, atmete noch einmal tief durch, dann rannte er wieder gegen die Tür, die endlich nachgab – und ihn geradewegs in sein Bad entließ.

Albert wirbelte herum, in der sicheren Erwartung, dass Wesker ihm folgte, aber niemand war hier. Seine Wohnung war bis auf ihn vollkommen verlassen. Schwer atmend lehnte er sich auf sein Waschbecken, Schweiß tropfte sein Gesicht hinab.

»Es war nur ein Traum«, murmelte er sich selbst beruhigend zu. »Nur ein Traum.«

Vielleicht war dann auch das Treffen mit Alex nicht real gewesen. Wie verrückt wäre das denn auch, dass sie einfach hier auf ihn wartete? Es war bestimmt seinem Wunsch geschuldet, sie noch einmal zu treffen, sein Unterbewusstsein hatte ihm nur den Gefallen getan, alles war gut.

Doch dann sah er in seinen Spiegel – und da war er überzeugt, dass Alex wirklich hier gewesen war, dass sie mit ihm geredet und ihm dieses seltsame Zeug injiziert hatte. Denn warum sonst wäre er so kreidebleich?
 

Kapitel 11: Darin ist mein gesamtes Leben festgehalten


 

Den Rest der Nacht war Albert wachgeblieben. Nach dem Treffen mit Wesker hätte er ohnehin nicht mehr schlafen können, aus Angst, noch einmal von ihm zu träumen. Also trank er einfach mehrere Tassen Kaffee, während er die Akte durchlas, die Alex ihm zurückgelassen hatte. Seine medizinischen Unterlagen waren nicht vorhanden, Dr. J. M. war wohl nicht damit einverstanden gewesen. Der Rest ließ ihn aber schon mutlos genug zurück.

Wie Alex gesagt hatte, war er sein ganzes Leben lang von Umbrella beobachtet und gelenkt worden. Selbst die (harmlose) Knieverletzung, die er sich in der High School bei einem Baseball-Spiel zugezogen hatte, war dokumentiert worden, genau wie die Namen seiner Lehrer und der eines Mitschülers, den er – mit viel Mühe und einer sehr lockeren Definition – als Freund bezeichnet hätte. Am meisten irritierte ihn, dass sein letzter Chemielehrer tatsächlich von Umbrella bezahlt worden war. Das erklärte ihm aber auch, warum der so sehr darauf bestanden hatte, dass Albert am College Chemie-Kurse belegen sollte.

Auch was das College anging, hatte Umbrella seine Finger im Spiel. Er erinnerte sich, dass er seine Bewerbungen damals ohne großen Elan und nur auf Drängen dieses Chemielehrers verschickt hatte und umso überraschter gewesen war, als ihm ein positives Antwortschreiben überreicht worden war. Durch die Unterlagen stellte sich heraus, dass das College zu großen Teilen von Umbrella finanziert wurde, speziell die Chemie- und Biologie-Zweige, und die Firma noch mehr Geld springen ließ, damit Albert dort studieren konnte. Selbst die Wahl seines Mitbewohners im Wohnheim war von Umbrella veranlasst worden. An William Birkin erinnerte er sich nicht mehr sehr gut, denn William hatte sich meist in seine Bücher vergraben, mit dem eigenen Anspruch, immer die Bestnoten zu erzielen. Seine Strebsamkeit war der absolute Gegensatz zu Alberts schnell aufkommender Langeweile gewesen, und damit noch ein Grund, das College hinter sich zu lassen.

In Gesprächen mit anderen erzählte Albert gern, dass er danach direkt zum Militär gegangen war. In Wahrheit – und Umbrella wusste sogar das – hatte er knapp zwei Jahre erst einmal gar nichts getan, außer ziellos durch die Stadt zu streunen. Finanziert hatte er das mit dem Erbe seiner Eltern und dem ein oder anderen Nebenjob, den er nach Lust und Laune gewechselt hatte. Wie das funktionieren konnte, war ihm heute noch ein Rätsel – zumindest in diesem Bereich sprach Umbrella sich von jedem Einfluss frei.

Eines unglücklichen Tages war er angetrunken mit den falschen Personen aneinandergeraten und deswegen verhaftet worden. Der Polizist auf dem RPD, der dafür zuständig gewesen war, hatte beide Augen zugedrückt und ihm angeraten, endlich etwas aus sich zu machen, was tatsächlich bei Albert für ein Umdenken gesorgt und den alten Wunsch wiedererweckt hatte, selbst Polizist zu werden. Auch hierfür zeigte sich Umbrella nicht verantwortlich, aber er zweifelte nicht daran, dass sie nachgeholfen hätten, wenn er nicht freigekommen wäre.

In Raccoon City war für den Polizeidienst damals noch ein College Abschluss notwendig gewesen – oder alternativ mindestens ein Jahr im Militärdienst. Also war Albert in die Army eingetreten. Der praktische Ansatz hatte ihm wesentlich mehr zugesagt als das theoretische College, deswegen blieb er sogar länger dort, nicht zuletzt, weil er so eines Tages Chris kennenlernte, der zur selben Zeit bei der Air Force gewesen war. Selbst dieses Ereignis war von Umbrella festgehalten worden:

Wesker verbrachte den Nachtausgang in der nahegelegenen Bar, in der auch Soldaten der nahen Air Force Station als Stammkunden gelten. Es kam zu einer Auseinandersetzung zwischen Wesker und einem Air Force Soldaten (Redfield, Chris), die von einem Kollegen (Burton, Barry) geschlichtet wurde. Den Rest des Abends saßen sie zusammen am Tresen. Nichts Außergewöhnliches ist geschehen.

Die Auseinandersetzung hatte nur daraus bestanden, dass Chris bereits angetrunken gewesen war und ihn angerempelt hatte, mit Alberts Bier als Opfer. Bevor es zu einem wirklichen Streit oder gar einer Prügelei kommen konnte, war Barry bereits dazwischen gegangen und hatte ihn auf ein Bier eingeladen, um die Situation zu entschärfen. Daraus waren dann mehrere geworden, allerdings nicht wegen Chris. Albert war eher von Barrys väterlicher Art angetan – ein Vater hatte ihm in seiner Kindheit deutlich gefehlt –, Chris war einfach nur dabei gewesen. Doch je öfter er sich mit den beiden bei Nachtausgängen getroffen hatte, desto mehr war er gezwungen gewesen, sich mit Chris' unbedarfter Art und seinen Prinzipien auseinanderzusetzen, denen er so treu war, dass er sogar regelmäßig Ärger mit seinen Vorgesetzten riskierte– und irgendwann waren sie Freunde geworden und ihre Treffen fanden auch ohne Barry statt.

Als Chris und Barry versetzt worden waren, hatte Albert das zum Anlass genommen, das Militär zu verlassen, nach Raccoon City zurückzukehren und dort endlich als Police Officer zu arbeiten. Er war in Kontakt mit den beiden geblieben, was Umbrella auch wusste und in der Akte aufführte. Glücklicherweise beschränkte sich das aber nur auf kurze Erzählungen ihrer Treffen, keine Inhalte von Telefonaten oder Briefe.

Sein eigenes Leben war dann offenbar derart geregelt und langweilig für Umbrella geworden, dass sie in seiner Akte Dinge beschrieben, die zur Gründung von S.T.A.R.S. führen sollten. So erfuhr er endlich, dass Umbrella Anfang der 90er begann, das RPD finanziell zu unterstützen, offiziell um die Kriminalität in der Stadt zu bekämpfen – die Akte bestätigte ihm aber, dass es hauptsächlich darum ging, Umbrellas Machenschaften unter den Teppich zu kehren. S.T.A.R.S wurde durch die Finanzierung der Firma ermöglicht – und Albert als der Captain bestimmt, weil Umbrella daran gelegen war, seine Progenitor-Infektion, die erhöhte Kraft und Intelligenz verhieß, unter erschwerten Bedingungen zu testen und das während seiner normalen Arbeit (die hauptsächlich aus Streifendienst oder kleineren Einsätzen wegen Ruhestörung bestand) nicht möglich war.

Er musste unwillkürlich schmunzeln. Er konnte weder von der Kraft, noch der Intelligenz berichten. Selbst beim Militär hatte er lediglich durchschnittliche Fähigkeiten bewiesen – vielleicht hatte der Virus vergessen, dass er das bewerkstelligen konnte.

Die Art und Weise, wie Mitglieder der S.T.A.R.S. rekrutiert wurden, ließ ihn schlucken. Umbrella entschied sich für Barry, der zu diesem Zeitpunkt als SWAT-Member in einer anderen Stadt arbeitete, um diesen als Bezugsperson für Albert in die Nähe zu holen; Enrico war Barrys erfahrener und fähiger Kollege gewesen, deswegen empfand Umbrella es als gute Idee, ihn auch mitzunehmen.

Dann hatte Barry Chris überredet, sich auch S.T.A.R.S. anzuschließen. Das war nicht von Umbrella geplant gewesen, aber sie hatten schnell die Möglichkeiten begriffen und dann auch Chris' Freunde Joseph, Forest und auch Jill eingeladen, in der Hoffnung, dass Albert sich auch mit ihnen anfreunden würde und seine Emotionen im Notfall eine Reaktion des Virus herausforderten.

Alberts Kehle verengte sich. Joseph und Forest waren während des Arklay-Zwischenfalls gestorben, er hatte ihnen nicht helfen können – und es hatte nicht einmal zu einer Virus-Reaktion geführt. Sie waren vollkommen umsonst gestorben, nur wegen ihm.

Nein! Er durfte sich keine Vorwürfe machen, denn er war nicht schuld! Umbrella hatte das alles eingefädelt, nur in der fahlen Hoffnung, dass irgendetwas geschehen könnte. Und dann besaßen sie auch noch die Frechheit enttäuscht zu sein, dass keine Änderung bei Albert eingetreten war!

Wenn die Regierung Umbrella nicht fertigmachte, würde er das persönlich übernehmen. Vielleicht reagierte der Virus dann ja endlich und sie bekämen ihre Ergebnisse noch.

Die restlichen S.T.A.R.S.–Mitglieder waren auch von Umbrella gewählt worden, allerdings ohne ein Muster. Man hatte sich verschiedene Spezialisten herausgepickt und das waren dann Brad, Edward, Kenneth, Richard, Kevin Dooley und schlussendlich Rebecca geworden. Nach allem, was er hier las, war seine einzige Entscheidung als Captain wirklich die Einstellung von Kevin Ryman nach dem Arklay-Zwischenfall gewesen – und die hatte Umbrella nur abgesegnet, weil die Firma offenkundig nicht verstand, weswegen gerade er:

Ryman, Kevin absolvierte den Aufnahme-Test zum dritten Mal. Gegen unsere Erwartungen bestand er dieses Mal. (Akteneinsicht beantragen, um den Test zu verifzieren.) Wesker erklärte Ryman trotz dessen Vorgeschichte (Alkoholismus, Überschreitung seiner Kompetenzen) zu einem neuen Mitglied. Beobachtung hält an.

Es ging bereits auf Mittag zu, als Albert mit der Akte fertig war (sie endete mit der Feststellung, dass selbst Chris' Abwesenheit keine Reaktion herausforderte). Doch selbst unter der Dusche ließen ihn die Überlegungen dazu nicht los. Dass Umbrella ihn sein ganzes Leben lang überwacht und in die gewünschte Richtung gelenkt hatte, war schwer zu verdauen. Es war immerhin gut zu wissen, dass er es sich nicht selbst verbockt hatte, aber derart fremdbestimmt zu sein, fühlte sich dennoch unangenehm an. Noch schlimmer fand er aber, dass Alex ihm diese Akte dagelassen hatte, im sicheren Wissen, dass er sie lesen würde. Wollte sie damit seine Wut auf Umbrella schüren, damit er ihr bei ihrem ominösen Plan half? Jedenfalls irrte sie sich da. Er war wütend, aber das war für ihn immer noch kein Grund, die nächste Evolutionsstufe einzuleiten.

Nach der Dusche fuhr er mit dem Taxi ins Krankenhaus. Zu Hause würde er nur wie ein Tiger in einem Käfig hin und her laufen, deswegen wollte er dort nicht bleiben. Durch die Lektüre der Akte hatte er Sehnsucht nach Jill und Chris entwickelt, er wollte sicherstellen, dass es ihnen gut ging, also war das der einzige Ort, wo er hingehen konnte. Er machte sich keine Sorgen, dass er ansteckend sein könnte. Alex hatte gesagt, dass es einige Tage dauern würde, bevor die Antikörper abgebaut waren, und er war sich nicht einmal sicher, ob der Virus über die Luft übertragen werden konnte. Also müsste er vielleicht nur etwas Distanz zu Jill wahren. Alles wie früher also.

Als er nach einem kurzen Klopfen in ihr Zimmer trat, stellte er erleichtert und betrübt fest, dass Chris und Barry auch hier waren. Es hielt ihn davon ab, ihr zu nahe sein zu wollen, aber es erinnerte ihn auch wieder daran, dass sie alle drei nur hier waren, weil er Barry nach einer Zufallsbegegnung in einer kleinen Bar als seine kurzweilige Vaterfigur auserkoren hatte. Wenn er in dieser einen Nacht woanders hingegangen wäre, was für ein Leben könnten sie dann führen?

Nun waren sie aber hier, und sie lächelten ihm alle entgegen, als er eintrat, denn keiner von ihnen wusste, welche Rolle er in ihrem Leben gespielt hatte.

»Hey, Al!« Chris stand sofort von seinem Stuhl auf. »Du kommst heute echt spät.«

Albert entschuldigte sich, während er sich setzte. »Ich hatte ein bisschen zu tun.«

Barry runzelte seine Stirn, aber es war Jill, die ihn besorgt fragte: »Ist alles okay mit dir? Du wirkst so blass.«

Er lächelte ihr beruhigend zu. »Alles gut. Es ist gerade alles nur ein bisschen viel, deswegen habe ich nicht so gut geschlafen.«

Die drei schienen das Problem durchaus zu verstehen, denn sie fragten nicht weiter. Barry brachte dafür etwas anderes vor: »Wenn du mal Ablenkung brauchst – und was Gutes zu essen – komm bei mir vorbei. Kathy und die Mädchen freuen sich bestimmt.«

Und am Ende Umbrella noch darin bestärken, die Burtons für irgendetwas zu benutzen? Darauf konnte er verzichten, aber der Vorschlag rührte ihn, deswegen bedankte er sich dafür. »Ich komme bestimmt darauf zurück. Aber warum bist du eigentlich hier? Gibt es im Büro keine Arbeit?«

»Enrico sieht sich mit Brad, Billy und Rebecca die Beweise an, die Chris zusammengetragen hat. Kevin und mir hat er heute deswegen frei gegeben.« Barry seufzte. »Kevin war vorhin auch hier, aber dann hat er irgendeine Frau gesehen, die ihn wohl mehr interessiert hat.«

Chris und Jill lachten, Albert schmunzelte darüber nur. Er nutzte die Richtung, die Barry mehr oder weniger schon vorgegeben hatte, um Chris etwas zu fragen: »Hey, wie kamst du eigentlich an die Beweise? Ich meine … du bist nicht sehr gut im Rätseln ...«

Das hatte er ja sogar selbst zugegeben, deswegen wunderte Albert sich darüber – und Jill und Barry sahen Chris genauso neugierig an, also interessierte sie das auch. Er zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt habe ich nicht viel getan. Die Informationen wurden mir von einer anonymen Quelle zugespielt. «

Barry seufzte und sah Albert an. »Was ist das mit euch beiden und den anonymen Informanten? Warum vertraut ihr denen so sehr?«

Auf Chris' fragenden Blick, erklärte Albert ihm kurz von der Mission, die sie vor seiner Rettung durchgeführt hatten, bei der Jill verletzt worden war – und dass er die Infos dafür auch nur aus einer anonymen Mail hatte. Dann ging er auf Barrys Frage ein: »Nun, bei mir war es hauptsächlich die Hoffnung, Chris zu finden. Eine Weile hab ich ja gedacht, dass er selbst die Mail geschickt hat, um mit Jill zu reden und sie auf seine Seite zu ziehen.«

Chris kratzte sich an der Wange. »Wow, so was Schlaues wäre mir gar nicht eingefallen.«

Wenn die Innere Abteilung ihm diesen Floh nicht ins Ohr gesetzt hätte, wäre das Albert wahrscheinlich auch aufgefallen.

»Ich hab mir jedenfalls keine Gedanken wegen dem Informanten gemacht«, gab Chris zu. »Die Beweise waren aussagekräftig genug, das war alles, was mich interessiert hat.«

Typisch Chris. Aber Albert konnte ihm keinen Vorwurf machen, deswegen lächelte er nur.

»Hey, Barry, Chris«, sagte Jill plötzlich, »könnt ihr uns vielleicht eine Runde Kaffee besorgen? Der im Krankenhaus ist schlecht, aber wir müssen hier doch nicht so trocken herumsitzen.«

Eigentlich wollte Albert einwenden, dass er keinen Kaffee brauchte – er hatte die ganze Nacht welchen getrunken und damit genug Koffein intus – aber für Barry und Chris schien das irgendeine Art Signal zu sein, denn sie erhoben sich überraschend schnell.

»Okay«, sagte Chris motiviert. »Vielleicht finden wir unterwegs ja auch Kevin wieder!«

Barry schnaubte. »Der kriegt erst mal was von mir zu hören, wenn ich ihn sehe. Er braucht dringend eine Nachhilfestunde, was Disziplin angeht.«

»Wir sind hier nur auf Besuch«, erwiderte Chris ihm, während sie zur Tür gingen. »Wozu braucht er da Disziplin?«

»Ich meinte das allgemein«, sagte Barry seufzend.

Damit schloss sich die Tür hinter ihnen. Für einen Moment hörte er noch die Stimmen der beiden, während sie sich von dem Zimmer entfernten.

Jill ergriff Alberts Hand und lenkte damit seine Aufmerksamkeit auf sie. Er lächelte sie erschöpft an, aber ihre Sorge konnte er damit offenbar nicht lindern. »Ist etwas passiert, Albert?«

Bevor er ihr darauf antwortete, brachte er eine Gegenfrage vor: »Weißt du noch, wie wir uns das erste Mal getroffen haben?«

Sie neigte den Kopf ein wenig, tat ihm aber den Gefallen, zu antworten: »Das war im S.T.A.R.S.–Büro, nachdem ich für die Einheit rekrutiert wurde. Ich wollte Chris erst nicht glauben, dass du der Captain bist. Ich meine … du bist kaum älter als ich, wie hättest du es sein können?«

»Oh, ich war auch von dir überrascht. Du warst die erste Frau, die ich gesehen habe, die bei der Delta Force ausgebildet wurde.«

Deswegen hatte er im Vorfeld mit einer toughen, abgehärteten Veteranin gerechnet – und dann war da eine zierliche Frau vor ihm gestanden, sogar jünger als er. Er war ein wenig enttäuscht gewesen, hatte aber bald festgestellt, dass sie sympathisch und verantwortungsbewusst war. Zwei Qualitäten, wegen denen er gern Zeit mit ihr verbracht und sich dann verliebt hatte.

Jill legte eine Hand an seine Wange. »Albert, sag mir, was passiert ist.«

Ihr besorgter Blick ließ ihn einbrechen. Er erzählte ihr, dass Alex letzte Nacht bei ihm gewesen war, dass sie mit ihm gesprochen und dann eine Akte zurückgelassen hatte.

»Darin ist mein gesamtes Leben festgehalten worden«, sagte er hohl. »Umbrella hat mich die ganze Zeit beobachtet und mein Leben gelenkt. Selbst dass ich Captain der S.T.A.R.S. geworden bin, ist nur dem Einfluss von Umbrella zu verdanken.«

Es derart in Worte zu fassen, versetzte ihm tausend Stiche in die Brust. Sogar die selbst getroffenen Entscheidungen – der College-Abbruch, der Gang zum Militär, seine Freundschaft mit Chris – waren die ganze Zeit von irgendjemandem begleitet worden, dessen einziger Job es gewesen war, ihn genau zu beobachten und sich dabei vermutlich zu langweilen.

Jill strich ihm zärtlich über die Wange, während sie etwas einwandte: »Denk daran, die Akte ist von Alex. Wer weiß, ob es überhaupt die Wahrheit ist?«

»Das habe ich mir auch zu sagen versucht. Aber viele Dinge ergeben dadurch erst richtig Sinn. Deswegen ...« Er atmete durch. »Auch die Rekrutierung der S.T.A.R.S.–Mitglieder erfolgte nach diesem Muster, mit Chris als Mittelpunkt, weil er mein bester Freund ist. Forest und Joseph sind tot, weil Umbrella mich im Auge hatte.«

Jill wusste offenbar nichts darauf zu sagen, denn sie schwieg. Daher stellte er ihr eine Frage: »Bereust du es, S.T.A.R.S. beigetreten zu sein, nachdem du das alles jetzt weißt?«

Statt einer Antwort zog sie an seiner Hand, die sie immer noch hielt, bis er von seinem Stuhl aufstand und sie ihn dazu bringen konnte, sich auf das Bett zu setzen. Dann legte sie ihre Arme um ihn und schmiegte sich an seine Brust. Ihre Nähe war angenehm und tröstend, wie gern hätte er sie einfach immer bei sich gehabt. Wenn sie irgendwann aus dem Krankenhaus entlassen wurde …

»Ich bereue es nicht«, sagte sie. »Wenn ich dich nur kennengelernt habe, weil Umbrella das so wollte, ist es das einzig Gute, was sie getan haben. Ich möchte auf keinen Fall auf dich verzichten.«

»Aber vielleicht ginge es dir besser, wenn du mich nicht kennen-«

»Nein«, unterbrach sie ihn. »Ohne dich würde mir bestimmt etwas fehlen. So wie der anderen Jill. Ich habe viele ihrer Erinnerungen gesehen – und da fehlte immer etwas, weil sie nur den bösen Wesker kannte. Ich bin froh, dass ich dich kenne, also denk da nie etwas anderes.«

Über diese Antwort erleichtert und glücklich, schloss er sie in seine Arme. »Danke, Jill.«

Solange sie es nicht bereute, wollte er sich wirklich keine Gedanken mehr machen. Außerdem gab es ja auch noch andere Themen, die er ansprechen sollte, wie etwa die Injektion und Alex' eigentlicher Grund für den Besuch.

Doch bevor er dazu kam, wurde die Tür geöffnet. Barry verkündete gerade, dass Kevin gut daran getan hatte, nicht mehr hier zu sein, und verstummte abrupt. Albert sah über die Schulter hinüber und bemerkte, dass Barry einen kurzen Seitenblick zu Chris warf, der sie beide lächelnd ansah. Immerhin hatte er sie schon beim Küssen erwischt, da dürfte die Umarmung für ihn kein Problem sein. Barry wirkte dagegen überrascht.

»Wir haben Kaffee für alle«, verkündete Chris gut gelaunt.

Albert löste sich direkt von Jill, setzte sich wieder auf den Stuhl und nahm dankend den Becher für sich entgegen, während Barry einen an Jill weiterreichte. Er setzte sich auch wieder und sah zwischen ihnen hin und her. »Also … war das nur eine freundschaftliche Umarmung oder …?«

»Komm schon Barry«, sagte Chris. »Die beiden sind ein Paar, das sieht man doch. Sie nehmen nur Rücksicht auf uns, sonst hingen sie bestimmt die ganze Zeit aneinander.«

Etwas daran schien Barry weiterhin zu stören, doch er sagte nichts dazu. Und Albert war zu müde, um nachzuhaken. Vielleicht brauchte der andere immerhin noch etwas Zeit, um sich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Damit er diese auch bekäme, beschloss Albert, erst einmal das Thema zu wechseln: »Barry, wie geht es Kathy und deinen Töchtern eigentlich?«

Tatsächlich zeigte das sofort Wirkung. Barrys Gesicht hellte sich auf, während er zu erzählen begann, welch hinreißenden Dinge Moira und Polly in der letzten Woche wieder getan und was sie gelernt hatten. Seine Begeisterung für seine Familie war ansteckend, weswegen sie bald alle genauso sehr lächelten wie er selbst. Selbst Albert vergaß in diesem Moment vollkommen, was ihn eigentlich hergetrieben hatte oder stresste. Alles war gut, solange er mit Jill, Chris und Barry zusammen war. Und nicht einmal Umbrella konnte das zerstören.
 

Kapitel 12: Ich will nur mit ihr reden


 

Albert erwachte zum zweiten Mal in dem albtraumhaften RPD, diesmal im Büro von Chief Irons, das zumindest hier nicht mehr über all die ausgestopften Tiere verfügte. Nachdem er aus dem Krankenhaus nach Hause zurückgekehrt war, hatte die Müdigkeit ihn doch noch überwältigt. Doch die Hoffnung, nicht mehr von diesem seltsamen Albtraum heimgesucht zu werden, erwies sich offenbar als vergeblich.

Die Haupthalle war diesmal verlassen, doch im Gang, der zu seinem Büro führte, lag jemand auf dem Boden. Als er näher kam, erkannte er, dass es sich um Jill handelte, ihr Hals war in einem unnatürlichen Winkel abgeknickt – und sie bewegte sich nicht mehr. Er ging neben ihr in die Knie griff nach ihrer Schulter und flüsterte ihren Namen. Doch ihr starrer Blick war weiter in die Ferne gerichtet.

»Oh Gott, Jill, nein!« Es war nur ein Traum, doch trotzdem schnürte ihm diese Situation und die Tränen die Kehle zusammen.

Ein hämisches Lachen aus der Tiefe des Gebäudes ließ ihn aufhorchen. Wesker war immer noch unterwegs, suchte vermutlich nach weiteren Opfern – oder einfach nach ihm. Aber er konnte das nicht zulassen, sonst wäre Jills Tod umsonst gewesen.

Albert wischte sich hastig die Tränen weg, schloss Jills Augen, dann stand er auf und ging zum S.T.A.R.S.–Büro, das offen war. Hier gab es diesmal keine Sicherheit zu finden. Also lief er möglichst leise weiter, vorbei an der Wäschekammer, in die Bibliothek, die so verwüstet war wie der Rest des Gebäudes. Hier hielt er kurz inne und presste sich mit dem Rücken gegen eines der Regale, als er die schweren Schritte von Wesker vernahm. Aus dem Augenwinkel sah er den anderen vorbeilaufen, das Messer in seiner Hand funkelte im Licht. Er atmete erst auf, als Wesker wieder fort war und er nicht mal mehr seine Schritte hören konnte.

Dann eilte er durch die Eingangshalle, durch die offene Eingangstür– und hielt fassungslos wieder inne, als er an dem Steinbogen ankam, der das RPD vom Rest der Stadt abgrenzte. Normalerweise gab es hier nur ein einfaches Eisengitter, doch jetzt ragte ein riesiges Stahltor vor ihm auf, das sich nicht mal einen Zentimeter von ihm bewegen ließ.

»Was ist hier nur los?«, murmelte er. »Was ist das für ein seltsamer Traum?«

»Ah, da bist du!«

Die Stimme schabte unangenehm an seinem Gehirn und jagte tausend Schauer über seinen Rücken. Wesker stand hinter ihm, ein kaltes Grinsen im Gesicht. »Siehst du endlich ein, dass es sinnlos ist, dich mir zu widersetzen?«

»Was willst du von mir?«, fragte Albert.

»Ist das nicht offensichtlich?«, kam die Gegenfrage. »Ich will, was du hast: deinen Körper. Du hast lange genug gezeigt, dass du nichts mit deinen überlegenen Genen anzufangen weißt. Ich dagegen werde die Gelegenheit zu schätzen wissen.«

Er musste nicht fragen, was er dann vorhatte, Albert konnte sich denken, dass er genau dasselbe tun würde, wie in der Welt der anderen Jill: die Infektion der gesamten Menschheit, um dann der Gott einer neuen Evolutionsstufe zu werden.

Nichts, was Albert erstrebenswert fand. Deswegen zögerte er nicht mehr, sondern rannte nach rechts weg, in die Gasse hinein, die zur Feuertreppe führte.

»Rennen ist zwecklos!«, rief Wesker ihm hinterher. »Ich bin schon ein Teil von dir! Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Infektion dich übernimmt!«

Wenn die Antikörper weiter abnahmen, würde er dann wirklich zu diesem Wesker werden? Zu einer Gefahr für die Menschheit, sofern niemand ihn aufhalten könnte?

Albert weigerte sich, das zuzulassen. Nicht einmal über seine Leiche würde er diesem Wesker erlauben, seinen Körper zu benutzen.

Plötzlich wurde er gepackt, wie schon letztes Mal, aber diesmal wurde er nicht fortgeschleudert, sondern gegen den Zaun vor sich gedrückt. Etwas Schwarzes schlängelte sich um seinen Hals, drohte wieder, ihm die Luft abzuschneiden. Wesker kam ihm viel zu nahe, er konnte den kalten Atem in seinem Nacken spüren. »Sieh es ein, deine Zeit ist um, Albert. Dein Leben hat nicht funktioniert, jetzt sollte es mir gehören!«

»Niemals«, presste Albert hervor. »Eher sorge ich dafür, dass dieser Körper ganz zerstört wird.«

Nach allem, was die andere Jill ihm erzählt hatte, würde er niemals zulassen, dass seine Jill oder Chris oder auch nur einer der anderen, dieselbe Hölle durchleben müsste, nicht wegen ihm. Und wenn er es verhindern konnte, dann würde er das auch tun.

Wesker lachte spöttisch. »Dann beenden wir das lieber schnell.«

Er hob das Messer – dann erklangen Schüsse. Wesker keuchte und ließ Albert los. Wütend fuhr er herum. »Chriiiis!«

Selbst wenn er nicht gemeint war, erschauerte Albert bei der Verachtung, die in Weskers Stimme zu hören war. Deswegen brauchte er einen Moment, bis er selbst Chris erkannte, der einige Schritte entfernt stand, die Pistole immer noch im Anschlag. Als ihre Blicke sich kreuzten, nickte Chris zur Seite. Albert folgte dem Signal sofort und lief weiter zur Feuertreppe. Wesker kümmerte sich nicht um ihn, seine gesamte Aufmerksamkeit galt nur noch Chris, der weitere Schüsse abfeuerte.

Während er die Feuertreppe hinaufhastete, wagte er nicht, zurückzublicken, stattdessen fragte er sich, wohin er gehen sollte. Wo wäre er sicher? Wie käme er hier heraus? Es war nur ein Traum, aber er vertraute nicht darauf, dass er aufwachte, sobald er starb.

Im ersten Stock trat er in den östlichen Gang, wo er ein eigentümliches Geräusch hörte, dem er, in Ermangelung eines richtigen Ziels, folgte. Als er um die Ecke bog, entdeckte er eine offene Luke auf dem Boden, aus der schwarzer Rauch strömte, auch das Geräusch, das er nicht mal zu beschreiben wusste, kam von ihr. Es ergab keinen Sinn, dass sich hier eine Luke befand, die ohnehin nur ins Erdgeschoss führen dürfte. Aber es war immerhin ein Traum, warum sollte da überhaupt irgendetwas Sinn machen?

Er ging auf die Luke zu, im selben Moment hörte er rasende Schritte hinter sich – dann packte etwas seinen Fuß und riss ihn zu Boden. Die schwarzen, schlangenartigen Tentakeln lösten sich wieder von ihm und kehrten zu Wesker zurück, der zufrieden auf ihn herabblickte.

»Dachtest du wirklich, du könntest mir entkommen, Albert?«, fragte er spöttisch. »Egal, wohin du rennst, du kannst nicht vor deiner Bestimmung davonlaufen – und das bin nun einmal ich. Also sieh es ein und hör mit dem Widerstand auf!«

Jedes Wort, das diese Stimme an ihn richtete, brannte auf seiner Seele, stach in sein Gehirn und ließ ihn immer wieder erschauern. Sein gesamter Wille begehrte dagegen auf, von diesem Mann besiegt und übernommen zu werden.

Er hatte keine Zeit, aufzustehen, deswegen kroch er zu der Luke hinüber. In der Army hatte er derartige Übungen mit Leichtigkeit absolviert, selbst im strömenden Regen durch den tiefsten Matsch, und so war er innerhalb weniger Sekunden angekommen und ließ sich – unter Weskers amüsierten Lachen – in den schwarzen Nebel fallen.

Für einen kurzen Moment befürchtete er, für immer zu fallen. Doch dann landete er und öffnete seine Augen. Über sich sah er seine ihm vertraute Schlafzimmerdecke. Er setzte sich aufrecht hin und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Am Tag zuvor hatte er wegen der Akte und den Erkenntnissen daraus fast vollkommen verdrängt, dass Alex ihm dieses Mittel zur Unterdrückung der Antikörper gespritzt hatte. Aber Weskers Worte – vermutlich nur sein Unterbewusstsein, das ihn noch einmal auf diese Sorge hinweisen wollte – hatten es wieder aufgewühlt und zurück in den Vordergrund gedrängt. Er musste irgendetwas tun, um diesem Antikörper-Abbau entgegenzuwirken. Aber was?

Die Uhr verriet ihm, dass es kurz nach zehn war. Deswegen machte er sich für den Tag fertig, während er darüber nachdachte. Alex hatte gesagt, dass Umbrella dieses Mittel entwickelt hatte, also gab es wohl niemand anderen, der sich damit auskannte, und auch dass es ein Gegenmittel höchstens bei ihr zu finden gäbe. Dass er zu ihr kommen sollte, waren immerhin ihre Worte gewesen – aber wo genau war sie gerade? Das hätte sie ihm vielleicht auch sagen sollen.

Nachdem er sich fertig angezogen und rasiert hatte, überlegte er, ob er einen Kaffee trinken sollte, bevor er noch einmal ins Krankenhaus fuhr. Dabei lief ihm die Zeit davon, er müsste irgendetwas tun, um Alex zu finden.

Im selben Moment klingelte es an seiner Tür. Zuerst dachte er, sich das nur eingebildet zu haben, aber da folgte ein Klopfen an seiner Wohnungstür, das er nicht mehr ignorieren konnte. Er öffnete die Tür, in der sicheren Erwartung, Alex vorzufinden – doch es war jemand, mit dem er gar nicht gerechnet hatte.

»Kevin?«, fragte er perplex. »Was gibt es?«

Kevin störte sich nicht an der fehlenden Begrüßung. »Hey, Boss, kann ich reinkommen?«

»Ich bin nicht mehr dein Boss«, erwiderte Albert, trat aber beiseite und ließ ihn herein, was Kevin auch sofort nutzte, um sich dann interessiert umzusehen.

Es erinnerte Albert ein wenig an den Besuch der anderen Jill, die genauso neugierig gewesen war. Aber Kevin stoppte sich selbst, als er im Wohnzimmer stand und wandte sich Albert zu, der ihn noch einmal fragte, was er hier wollte.

»Mehrere Dinge«, antwortete Kevin schließlich. »Zum einen wollte ich dich heute ins Krankenhaus fahren. Chris hat gesagt, Barry hätte dich gestern heimgefahren, also ...«

Tatsächlich hatte Barry ihm das gestern angeboten, nach Alberts nebensächlicher Aussage, dass er sich ein Taxi rufen müsste. Im Auto hatten sie nicht viel miteinander gesprochen, obwohl Albert das Gefühl nicht losgeworden war, dass Barry eigentlich etwas sagen wollte. Vielleicht hatte er gespürt, wie müde Albert war und es deswegen nicht getan.

»Außerdem siehst du echt fertig aus«, sagte Kevin. »Also kein Problem.«

Wenn es sogar Kevin auffiel, musste er wirklich furchtbar aussehen. Es lag also doch nicht nur am Licht im Badezimmer, wie er sich während des Rasierens eingeredet hatte.

»Danke dafür«, sagte Albert. »Was sind die anderen Dinge?«

»Barry hat dir bestimmt gesagt, dass ich gestern auch im Krankenhaus war, aber dann hab ich da diese Frau gesehen ...«

Albert hoffte, dass Kevin ihm nicht einfach nur von irgendeiner Eroberung erzählen wollte. Dafür hätte er im Moment absolut keine Geduld und auch keine Nerven. Zu seinem Glück fuhr Kevin direkt fort, allerdings in eine Richtung, die er nicht erwartet hatte: »Jedenfalls sagte ich ihr, dass ich bei den S.T.A.R.S. bin, darauf wollte sie, dass ich dir etwas gebe, weil du jetzt bestimmt genug Zeit zum Nachdenken hattest.«

Es überraschte ihn nicht einmal, dass Kevin versuchte, bei Frauen zu landen, indem er ihnen erzählte, dass er zu einer Eliteeinheit gehörte. Er brauchte einen Moment, um zu verstehen, was Kevin ihm eigentlich mitteilen wollte.

»Warte, was? Sie hat dir etwas für mich gegeben?«

»Ja.« Kevin griff in seine Tasche und zog einen Zettel heraus, den er Albert reichte. »Sie meinte, du wüsstest schon Bescheid. Hast du vielleicht schon mit ihr angebandelt?«

Albert sagte nichts dazu und nahm den Zettel an sich, um einen Blick darauf zu werfen. Es war eine Adresse im Norden von Raccoon City, so viel konnte er sagen. Aber er erinnerte sich nicht, je dort gewesen zu sein.

»Wie sah die Frau aus?«, hakte er nach.

»Na ja, kurzes blondes Haar, weißer Anzug, ich dachte, sie wäre eine Ärztin oder Managerin oder sowas da. Ich glaube, sie hatte auch eine Schlüsselkarte für einen gesperrten Bereich.«

Wie hatte er ignorieren können, dass Alex zumindest in einem Bereich des Krankenhauses unterwegs sein könnte, wenn sie leitende Forscherin war? Aber dass sie sich dann sogar seinen Kollegen näherte, um Nachrichten an ihn zu übermitteln, war eine Überraschung. Traute sie sich nicht, noch einmal in direkten Kontakt mit ihm zu treten, sofern er sich ihr nicht näherte? Vielleicht glaubte sie, dass er doch noch schießen würde – oder er überdachte es zu sehr und es war einfach dem Umstand zu verdanken, dass er gestern so spät ins Krankenhaus gekommen war.

Mit dieser Adresse in seiner Hand gab es nur noch einen Weg, den er gehen konnte. Aber davor musste er etwas sicherstellen, deswegen bat er Kevin, ihn direkt ins Krankenhaus zu fahren.

»Klar«, sagte er glücklicherweise sofort. »Ich erzähl dir auf dem Weg, was es sonst noch so gibt. Eigentlich wollte ich dir nämlich Neuigkeiten aus dem Revier berichten.«

»Du weißt, dass du das nicht mehr musst? Ich bin nicht länger dein Vorgesetzter.«

Kevin winkte ab. »Ich hab einfach Lust darauf, also lass uns gehen.«

Im Auto erzählte er ihm dann, dass das FBI Irons verhaftet hatte, nachdem er von der Inneren Abteilung seiner Aufgabe entbunden worden war. Albert schmunzelte zufrieden. Da hatten die Agenten und die Detectives mal gut zusammengearbeitet, er selber würde Irons bestimmt nicht vermissen. Enrico würde es sicher nicht anders gehen. Außerdem wurde offenbar gemunkelt, dass Irons auch für eine ungeklärte Mordserie verantwortlich sei, die besonders junge Frauen getroffen hatte. Albert erinnerte sich an diesen Fall, aber er kannte keine Details, da sie alle zu sehr mit dem Arklay-Anwesen und Chris' vermeintlichem Verrat beschäftigt gewesen waren. Vielleicht waren die ausgestopften Tiere in seinem Büro doch ein Zeichen für ein tiefer liegendes Problem gewesen – oder alles stellte sich als Fehler heraus. Allein wegen der Korruption dürfte er lange genug im Gefängnis landen, das war alles, was zählte.

Als sie im Krankenhaus ankamen, war Albert über alles informiert und müde war er dazu auch, der Schweiß lief ihm erneut die Stirn herab. Offenbar sah er so schlimm aus, dass sogar Kevin ihn wieder besorgt musterte, während sie zu Jills Zimmer liefen. »Fühlst du dich echt gut genug? Du könntest dich hier auch gleich einfach checken lassen.«

Man könnte ihm hier nicht helfen, deswegen war es sinnlos. Aber das wollte er nicht erklären, deswegen schüttelte er mit dem Kopf. »Ich bin schon okay. Ich fahr vielleicht gleich wieder heim, um mich auszuruhen.«

»Soll ich dich fahren?«

Albert hielt vor Jills Zimmer wieder inne. Er wäre gern noch einmal hineingegangen, um sie zu sehen, bevor er etwas tat, das eine wirklich dumme Idee war. Aber er wusste auch, dass er möglicherweise wieder einbrechen, ihr alles erzählen und es sich dann ausreden lassen würde. Damit brächte er sie und alle anderen aber vielleicht in Gefahr – und es könnte ihm die Gelegenheit nehmen, noch einmal mit Alex zu sprechen. Er wusste, dass seine Entscheidung vollkommen egoistisch war, aber nachdem sein ganzes Leben von Umbrella gesteuert worden war, konnte er sich das leisten. Wenn er das alles überlebte, erforderte es nur wahnsinnig viele Entschuldigungen.

»Nein, nicht notwendig, ich nehme ein Taxi. Aber kannst du mir vorher Chris rausschicken?«

Da jeder bei S.T.A.R.S. wusste, wie nah sie sich standen, wunderte Kevin sich wohl nicht darüber. Er nickte ihm nur zu und sah zuerst in Chris' Zimmer nach. Überraschenderweise war er dort sogar, offenbar gemeinsam mit Claire, die aber mit Kevin im Raum blieb, während Chris nach draußen kam.

Albert hatte sich inzwischen gegen die Wand gelehnt und rieb sich mit der Hand über die eigentlich verletzte Rippe, die heute schon nicht mehr schmerzte, obwohl er seit gestern keine Schmerzmittel mehr genommen hatte. War sie vielleicht schon wieder verheilt? Rührte das auch von dem Progenitor-Virus und den nachlassenden Antikörpern?

Seine Gedanken wurden unterbrochen, weil Chris ihn ansprach: »Du siehst echt mies aus. Noch mehr als gestern.«

Albert brachte ein halbes Schmunzeln zustande. »Ich weiß. Deswegen kann ich auch nicht rein. Ich will nicht, dass Jill sich Sorgen macht.«

»Aber wenn ich mir Sorgen mache, ist das okay?«

»Natürlich nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass ich mit dir offener darüber reden kann, dass du es eher verstehst.«

Chris' Blick wurde ein wenig sanfter, seine Augen funkelten sogar etwas. Das ermutigte Albert fortzufahren, indem er Chris den Zettel mit der Adresse reichte, die er sich bereits gemerkt hatte. »Ich werde gleich hierhin fahren. Falls ihr morgen noch nichts von mir gehört habt, möchte ich, dass du Enrico Bescheid sagst, weil ich dann bestimmt Hilfe brauche.«

Oder dann vielleicht schon tot war. Aber er sollte lieber versuchen, optimistisch zu bleiben. Denn Chris übernahm bereits den Pessimismus, als er mit gerunzelter Stirn auf den Zettel hinabsah, ohne ihn anzunehmen. »Was willst du dort machen?«

»Ist das wirklich wichtig?«

Chris hob den Blick, um ihn wieder anzusehen. »Ja, ist es, für mich jedenfalls. Ich kann dich doch nicht einfach in eine Katastrophe rennen lassen.«

Am liebsten hätte Albert frustriert geseufzt, aber er beließ es bei einem knirschenden »Chris«, das ihn ein bisschen zu sehr an Weskers Stimme aus seinem Traum erinnerte. »Ich muss das tun, und zwar allein. Ich weiß, dass es vielleicht dumm ist-«

»Es ist absolut dumm«, unterbrach Chris ihn.

»-aber es gibt keine Alternative dafür«, fuhr Albert unbeirrt fort.

»Warum nicht?«

»Weil ich krank bin und es vielleicht die einzige Chance ist, die ich habe.«

Das fachte Chris' Sorge so sehr an, dass er sogar einen Schritt auf ihn zuging. »Krank? Warum? Was ist passiert?«

»Ich kann dir das jetzt nicht erklären, ich kann dir nur sagen, dass ich dorthin muss.«

Unwirsch riss Chris ihm den Zettel aus der Hand, las sich die Adresse durch, erhielt dadurch aber natürlich keine Antwort, was dazu führte, dass er Albert wieder ansah. »Was ist dort? Was erhoffst du dir davon? Ist das wieder so eine Falle?«

»Dort ist jemand, der mir helfen kann«, erwiderte Albert, doch er wurde von Chris unterbrochen: »Wer kann dir helfen? Jemand von Umbrella?«

»Ich kann es dir nicht sagen.«

Chris blieb stur: »Warum nicht?«

»Weil du sonst verlangst, dass ich es nicht tue, und ich will dich nicht anlügen müssen.«

»Ich sollte das auch von dir verlangen!«, donnerte Chris, in einer Lautstärke, die ihm tadelnde Blicke von Krankenschwestern in der Nähe einbrachte. »Oder es Enrico sofort sagen.«

Albert senkte die Stimme, hoffend, dass auch sein Freund sich dann beruhigte: »Bitte, Chris, tu das nicht. Gib mir eine Chance.«

»Wofür?« Seine zischende Stimme war immerhin leiser. »Dass du dich selbst umbringst?«

»Ich will nur mit ihr reden. Sie wird mich nicht sterben lassen, das garantiere ich dir.«

Chris' Augen weiteten sich, als ihm die Erkenntnis kam: »Du gehst zu Alex?! Al, du hast selbst gesagt, dass sie wahrscheinlich sauer sein wird, weil du dich gegen sie gestellt hast.«

Da Albert nichts sagte, ereilte Chris noch eine Eingebung: »Du hast schon mit ihr geredet! Und sie hat dich infiziert! Und jetzt willst du zu ihr gehen?! Warum tust du so etwas Dummes?!«

Er hatte damit gerechnet, dass Chris sich sperren und ihm Kontra geben würde, aber das war doch heftiger als erwartet. Und es raubte ihm kostbare Zeit. Weskers Stimme echote in seinem Inneren, schabte und kratzte an seinem gesamten Körper, der zu brennen schien. Das alles steigerte seine Frustration so sehr, dass er das einzige ausrief, was Chris noch überzeugen könnte: »Weil sie meine Schwester ist! Ich kann mich nicht einfach von ihr abwenden!«

Tatsächlich brachten diese Worte seinen Freund dazu, nichts mehr zu sagen, aber der Zweifel blieb, deswegen setzte Albert direkt nach: »Was würdest du tun, wenn es Claire wäre? Wenn ich von dir verlangen würde, sie als Feindin zu betrachten?«

Chris presste die Lippen aufeinander. Albert sprach einfach weiter: »Alex ist die einzige Blutsfamilie, die ich noch habe. Ich weiß, dass sie mir nichts tun will und ich werde sie davon überzeugen, das alles sein zu lassen. Bitte, Chris, ich brauche nur diesen einen Tag!«

Als wollte das Universum ihn auch unterstützen, öffnete sich in diesem Moment die Tür zu Chris' Zimmer. Claire kam heraus und sah besorgt zwischen ihnen hin und her. »Stimmt etwas nicht?«

Kevin lief hinter ihr und hob entschuldigend die Hände. Immerhin hatte er wohl versucht, sie aufzuhalten, damit sie dieses Gespräch nicht störte. Erstaunlich, wie ihm bewusst geworden sein musste, dass es für Albert wichtig war.

Chris erkannte dasselbe wohl auch endlich, denn er steckte den Zettel endlich ein. »Es ist alles okay, Claire, keine Sorge. Al muss nur nach Hause und sich ausruhen.«

Ein kaum sichtbares Nicken von Chris in Richtung des Ausgangs war für Albert das Signal, sich zu verabschieden und wirklich zum Taxistand vor dem Krankenhaus zu gehen. Gerade nach diesem Streit hatte er zumindest auch erst einmal kein Verlangen, mit Jill zu reden, weil sie bestimmt auch wissen wollte, was los war – und sie wäre bestimmt nicht so nachgiebig wie Chris.

Während er im Taxi saß, rieb er sich weiter über die Rippe, wo seine Haut inzwischen zu jucken begonnen hatte. Jede einzelne Handbewegung dort führte zu einem leisen, zufriedenen Hm des finsteren Weskers in seinem Inneren, dennoch konnte er nicht aufhören.

Die Adresse führte ihn tatsächlich in den Norden der Stadt, sogar noch weiter, als er gedacht hatte. Es war das letzte Haus, bevor die Wildnis des Raccoon City Forest anfing, wurde von dieser jedoch auch bereits vereinnahmt, da sich niemand um das verwilderte Grundstück zu kümmern schien. Deswegen sah er zuerst nur das Eingangstor, das nicht abgeschlossen war. Nachdem er es hinter sich gebracht hatte, ging er den Weg entlang, wich dabei immer wieder tief hängenden Ästen oder hervorstehenden Wurzeln aus. Nach etwa hundert Metern entdeckte er schließlich das Haus – und hielt überrascht inne.

Da ihm die Adresse so unbekannt gewesen war, hatte er mit nichts Bestimmtem gerechnet, aber das hier war einfach verrückt. Vor ihm ragte eine Villa auf, die einem Märchenschloss zu ähneln schien – in einem Gruselmärchen jedenfalls. Dem Dach fehlten einige Schindeln, der Putz bröckelte von den Wänden, an denen Efeuranken emporkletterten, und die Fensterläden hingen schief in den Angeln. Alles sah verlassen aus, aber dennoch war Albert überzeugt, dass jemand hier war. Nicht nur, weil Alex ihm diese Adresse genannt hatte, sondern weil es sich auch danach anfühlte. Die blinden Fenster schienen ihn zu beobachten, wie er seine Waffe zog und um das Haus herumlief. Dabei versuchte er, einen Blick hineinzuwerfen, doch die Scheiben starrten vor Dreck und im Inneren war es vermutlich ohnehin dunkel.

Kies knirschte unter seinen Schuhen, obwohl er zwischen dem Unkraut nichts davon sehen konnte. Auf der Rückseite des Hauses entdeckte er einen überdachten Steingang, der vom Haus tiefer in den Wald hineinführte. Seine Neugier wollte, dass er dieser Konstruktion folgte, doch ein Geräusch lenkte seine Aufmerksamkeit hinter sich. Er wirbelte herum – und erhielt einen heftigen Schlag gegen seine Schläfe.

Die Welt drehte sich, als er zu Boden fiel, schwarze und rote Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen, während eine Welle von Übelkeit über ihn hinwegrollte. Jemand kniete sich neben ihn, die Person lachte, doch der Laut klang dumpf und kam nur schwer bei ihm an. Albert wollte den Blick heben, um sich anzusehen, wer ihm das angetan hatte, doch der Schmerz und die Übelkeit machten es ihm unmöglich. Kraftlos ließ den Kopf zu Boden sinken und schloss die Augen.

Die Person packte seinen Arm und zog ihn unbarmherzig mit sich, ohne dass er sich wehren konnte. Den Bruchteil einer Sekunde fragte er sich, ob Alex ihn wirklich nur in eine Falle gelockt hatte, dann versank sein Bewusstsein endgültig in einer befreienden Ohnmacht, in der er sich keine Gedanken mehr um so etwas machen musste.
 

Kapitel 13: Das kann niemals funktionieren


 

Albert erinnerte sich, gnädigerweise, nicht daran, was er diesmal geträumt hatte, als er wieder wach wurde. Ihm fiel sofort auf, dass er nicht in seinem Schlafzimmer lag, denn die mit Stuck verzierte Decke war ihm vollkommen unbekannt. Genau wie das riesige Bett, auf dem er sich wiederfand. Erschöpft richtete er sich auf und rieb sich über die getroffene Schläfe. Dort war nichts zu spüren, es schmerzte nicht einmal mehr. Wenn die Antikörper abnahmen, erhöhte das vielleicht die Rate der Regeneration, das könnte auch erklären, warum seine Rippe inzwischen schmerzfrei war.

Wie lange hatte er geschlafen? Wo war er überhaupt?

Es gab keine Uhr in diesem Raum, der eindeutig ein Schlafzimmer war, wie das Bett, der Schrank und ein Spiegeltisch, alle aus dunklem Holz, bestätigten. Seine Armbanduhr war von dem Sturz in Mitleidenschaft gezogen worden, ein tiefer Riss zog sich über das Ziffernblatt, die Zeiger bewegten sich nicht mehr. Die Fenster starrten vor Dreck, also konnte er nur sehen, dass es hell war, vielleicht noch oder schon wieder. Er war sich aufgrund des Zustands der Scheiben ziemlich sicher, dass er sich in dieser Villa befand, zu der Alex ihn bestellt hatte. Aber bedeutete das, sie war auch hier?

Die Tür war nicht verschlossen, deswegen verließ er das Zimmer und trat auf den fensterlosen Gang hinaus. Die wenigen Lampen verbreiteten ein düsteres Licht, seine Schritte wurden von einem dicken Teppich gedämpft. Am liebsten hätte er seine Waffe gezogen, doch natürlich war sie ihm abgenommen worden, also musste er darauf verzichten, während er langsam den Gang hinablief.

Auf dem Weg zur Treppe entdeckte er eine Tür, die nur angelehnt war. Ein ekelhaft süßlicher Geruch kam aus dem Zimmer, erinnerte ihn an das Arklay-Anwesen und an so manch anderen Fall, den er bei den S.T.A.R.S. erledigt und ihn immer zu Leichen geführt hatte. Es war seiner morbiden Neugier zuzuschreiben, dass er die Tür aufdrückte und vorsichtig in dieses andere Schlafzimmer eintrat. Es sah wesentlich opulenter aus, mit einem großen Bett, das mit einem Vorhang versehen war. Das Summen zahlreicher Fliegen verriet ihm bereits, wo er die Leiche finden würde.

Er trat an das Bett und zog den Vorhang auf. Vor ihm lag der reglose Körper eines alten Mannes, die pergament-artige Haut und das Fehlen seiner Augen und seiner Zunge verrieten ihm, dass er schon einige Wochen tot war. Es war nicht die erste Leiche, die er je gesehen hatte, und vor allem war ihm diese Person vollkommen unbekannt, deswegen kümmerte ihn der Anblick nicht weiter. Es gab ihm nur zu denken, dass er im selben Haus wie dieser Tote war.

»Ah, hier bist du.«

Albert wirbelte herum. Diesmal war es nicht Wesker, sondern Alex, die in der Tür stand und ihn mit verschränkten Armen ansah. »Du hast also Spencer gefunden, wie ich sehe.«

Spencer, etwa der Gründer von Umbrella? Albert wusste nur, dass er sich schon vor Jahren aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte. Laut Alex' Worten hatte er sie erzogen, also war es eigentlich nur logisch, dass er hier in der Stadt war. Oder gewesen war.

»Hast du ihn umgebracht?«, fragte Albert.

Alex hob eine Augenbraue. »Natürlich nicht. Spencer war alt und schwer krank. Er hatte zwar große Pläne, aber die waren zu seinen Lebzeiten nicht mehr erreichbar.«

Seufzend ging sie einige Schritte, um einen besseren Blick auf die Leiche zu erhaschen, dabei schmunzelte sie eigentümlich. »Das hat sein Körper irgendwann nicht mehr mitgemacht. Zu schade für ihn, nicht?«

Pläne, genau. Alex hatte doch auch welche, die sie mit ihm teilen wollte. Als er sie darauf ansprach, neigte sie den Kopf ein wenig. »Lass uns erst einmal etwas essen gehen. Du musst am Verhungern sein, Alby.«

Er fühlte sich nicht hungrig, aber er befand sich in Alex' Gebiet und war auf ihre gute Laune angewiesen, also stimmte er zu und folgte ihr wieder hinaus. Sie schloss die Tür, dann ging sie mit ihm die Treppe hinab.

»Ich finde es übrigens schön, dass du mich wirklich aufgesucht hast«, sagte sie dabei. »Ich hatte schon Angst, dass du lieber ein Zombie wirst – oder dass dieser trottelige S.T.A.R.S.–Typ meine Adresse verliert.«

»Kevin ist nicht so«, erwiderte er. »Er hält sich an seine Versprechen.«

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was auch immer, am Ende hat es ja funktioniert.«

Im Erdgeschoss führte sie ihn in einen Speisesaal, der ihn unangenehm an jenen im Arklay-Anwesen erinnerte. Diesmal standen auf dem Tisch aber Teller mit dampfender Suppe, drei Stück, denn sie waren nicht allein.

»Alby, darf ich dir Nicholai vorstellen? Er hat bis vor kurzem bei der U.B.C.S. gearbeitet – und ist jetzt so etwas wie mein Bodyguard.«

Nicholai sah ihn grinsend an, seine Augen funkelten wie die eines Raubtiers, das gerade seine Beute entdeckte, mit der es spielen wollte. Das einzige, was ihn weniger bedrohlich machte, waren die blauen Flecken in seinem Gesicht, sowie die Verletzung an seiner Schläfe.

Alex reckte das Kinn. »Wie du siehst, hat Nicholai seine gerechte Strafe bekommen, dass er dich niedergeschlagen hat. Ich hatte ihm gesagt, er soll dich gebührend empfangen.«

»Ich fand das gebührend«, erwiderte Nicholai, mit einem ähnlichen Akzent wie Mikhail, nur weniger dick. »Normalerweise schieße ich auf Leute, die mit Waffen auf meinem Grundstück herumlaufen.«

»Es ist mein Grundstück«, erinnerte Alex ihn, wofür sie von Nicholai einen finsteren Blick erntete.

Albert sah zwischen den beiden hin und her, unsicher, wer von beidem ihm mehr Sorgen machen sollte. Selbst der Wesker in seinem Inneren beobachtete nur in dieser angespannten Atmosphäre.

Auf Alex' Geheiß setzte er sich neben sie, was dazu führte, dass er gegenüber von Nicholai Platz nehmen musste. Demonstrativ sah Albert deswegen nur seine Schwester an, die kein Problem damit zu haben schien, dieses Raubtier in Männergestalt am Tisch zu haben. Aber sie hatte ihn ja sogar als ihren Bodyguard auserkoren, also was erwartete er da?

Der Höflichkeit halber probierte Albert von der Suppe, aber sie schmeckte für ihn nach nichts. Deswegen legte er den Löffel bald wieder beiseite und warf einen Blick umher, dabei bemühte er sich, Nicholai zu ignorieren. Die laut tickende Standuhr verriet ihm endlich, dass es kurz vor zwölf war, also hatte er einen Tag geschlafen. Chris dürfte Enrico bereits Bescheid gegeben haben, es konnte also nicht mehr lange dauern, bis S.T.A.R.S. diesmal ihm zu Hilfe kam. Hoffentlich gab es nicht noch andere Leute als Nicholai hier, sonst könnte das eine zu große Gefahr für sie werden.

»Wie lange ist es her, dass wir so zusammensaßen?«, fragte Alex plötzlich.

Albert sah kurz zu Nicholai, der auch nicht aß und ihn dafür prüfend fixierte. »Zusammen mit ihm? Das ist noch nie passiert.«

Alex lachte amüsiert. »Du weißt genau, wie ich das meine.«

»Dann war das letzte Mal, als Mom und Dad noch gelebt haben. Also schon eine Ewigkeit.«

Im Waisenhaus hatten sie nie so miteinander gegessen, es hatte feste Sitzordnungen gegeben und getrennte Tische für Mädchen und Jungs; möglicherweise sollte das bestimmte Beziehungen festigen, aber er verstand die Denkweise der Mitarbeiter dort nicht.

»Es war der Abend, an dem sie gestorben sind«, bestätigte Alex ihm. »Alles war gut. Und ein paar Stunden später waren sie tot.«

Sie sagte das so neutral, als kümmere es sie gar nicht, doch ihr Blick ging dabei in die Ferne. Alex stand schon an der Tür, als Albert hatte herausfinden wollen, warum geschossen worden war. Er hatte sie nie gefragt, ob sie Details darüber wusste, schon allein, weil er ein Kind gewesen war. Aber nun konnte er nicht mehr anders: »Alex, weißt du, warum Dad das getan hat?«

»Er hatte keine andere Wahl, man hat ihn gezwungen.«

Albert erinnerte sich an keine andere Person, die an diesem Abend in der Wohnung war, deswegen musste er weiter nachhaken: »Wer hat ihn gezwungen?«

Doch statt einer Antwort legte Alex auch ihren Löffel weg, nur um ihn vorwurfsvoll anzusehen. »Alby, du hast kaum etwas gegessen. Hast du dich etwa schon aufgegeben?«

»Ich bin kein Suppenfan«, wehrte er ab, ein wenig verstimmt darüber, dass sie ihm nicht antworten wollte.

»Oh, das tut mir leid. Ich habe keinen Koch mehr, deswegen konnte ich nichts Aufwändiges machen. Hoffentlich verzeihst du mir das.«

Er sagte nichts darauf, aber sie erwartete das offenbar auch nicht, denn sie stand direkt auf. »Gut, dann zeige ich dir mal das Labor. Dort können wir darüber reden, was ich vorhabe.«

Albert schickte ein kurzes Dankesgebet an den Himmel und stand ebenfalls auf. Alex winkte in Nicholais Richtung, ohne ihn zu beachten. »Kümmer dich um das Geschirr.«

Hätte sie zu ihm gesehen, wäre ihr sicher auch der finstere Blick aufgefallen, den er ihr zuwarf, aber so verließ sie einfach das Esszimmer, Albert folgte ihr. Durch eine Tür kamen sie in den überdachten Steingang, der in den Wald hineinführte.

»Dieses Haus war Spencers Rückzugsort, wenn er sich in Raccoon City aufgehalten hat«, erzählte Alex, während sie den Gang entlangliefen. »Seit meiner Adoption war das sehr oft gewesen, aber die meiste Zeit hat er mich von irgendwelchen Kindermädchen und Lehrern erziehen lassen. Erst in den letzten Jahren, als das Reisen zu schwer für ihn wurde, ist er dauerhaft hier geblieben. Und dann eben auch hier gestorben.«

Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. Da er nicht viel Zeit mit ihr verbracht hatte, kümmerte es sie verständlicherweise nicht wirklich.

»Er hat ein ganzes Labor eingerichtet, damit ich ihm Ergebnisse liefere, selbst wenn ich nicht gerade irgendwo bei Umbrella herumstehe.« Ihre Stimme wurde ein wenig bitter.

»Du arbeitest wohl nicht gern bei Umbrella.«

Ein wenig spöttisch neigte sie den Kopf. »Oh, was hat mich nur verraten? Ich habe damals nur dort angefangen, damit du sicher bist. Mit den Jahren ist mein Groll nur gewachsen. Umbrella kann von mir aus zur Hölle fahren!«

Sie spie die Worte fast aus, was in ihm Schuldgefühle weckte, doch sie legte offenbar keinen Wert auf Entschuldigungen, denn sie fuhr einfach fort: »Ich habe so viele Nächte durchgemacht, obwohl ich schnell wusste, dass es nicht funktionieren kann. Ich kann keinen Virus erschaffen, der ihn zu einem Gott machen würde.«

Vor einer weiteren Tür hielt sie inne, um Albert anzusehen, ihre Augen leuchteten plötzlich aufgeregt. »Aber ich habe herausgefunden, dass wir beide geradezu perfekt dafür sind! Bei den Ndipaya wären wir die Könige geworden!«

Sein verwirrtes Gesicht ließ sie lächeln. Sie erklärte ihm, dass die Ndipaya ein afrikanischer Stamm waren, die den Progenitor-Virus hunderte von Jahren genutzt hatten, um ihren König auszuwählen.

»Wie ist Spencer dann an diesen Virus gekommen?«

Alex lächelte vielsagend, dann öffnete sie die Tür in den Vorraum eines Labors. Neben den vielen Computern standen hier auch mehrere Glasröhren, in denen eine ihm unbekannte Blume in einer dunklen Flüssigkeit aufbewahrt wurde.

»Das ist die Sonnentreppe«, verkündete Alex. »Aus ihr wird der Progenitor-Virus gewonnen, auf dessen Grundlage auch der T-Virus entwickelt wurde.«

Die Blume wirkte derart unscheinbar, dass es ihm schwerfiel, zu glauben, dass sie der Quell allen Übels war. Wenn sie ihm nicht gerade etwas anderes erzählt hätte, wäre er der festen Überzeugung gewesen, dass man diese Blume auf allen möglichen Feldern entdecken könnte, nicht einmal wertvoll oder hübsch genug, dass sie in einem Laden kaufbar waren.

Alex führte ihn in den nächsten Raum, der schon eher einem Labor entsprach. Die meisten der Geräte, die hier standen, kannte er nicht einmal, aber es sah aus, als hätte Spencer mindestens eine sechsstellige Summe in die Ausrüstung gesteckt. Aber zumindest auf den ersten Blick entdeckte er nichts, was ihm helfen könnte, dem Antikörper-Abbau entgegenzuwirken.

»Suchst du das hier?« Alex zog einen Injektor aus ihrer Tasche. »Ich werde dir das Gegenmittel geben, sobald du einwilligst, mir zu helfen.«

Die Lösung war so nah und gleichzeitig so fern, dass er fast frustriert geseufzt hätte. Der Wesker in seinem Inneren lachte dagegen hämisch.

»Was, wenn ich ablehne?«

Sie lächelte. »Ich bin mir sicher, dass du das nicht tun wirst. Oder willst du lieber ein Zombie werden, statt deiner Schwester zu helfen?«

Er wollte ihr wirklich helfen, aber anders als sie dachte. Um seinen guten Willen zu demonstrieren, würde er ihr aber erst einmal zuhören. Vielleicht könnte er sie mit logischen Argumenten davon überzeugen, das alles sein zu lassen; bestimmt hatte sie sich nie mit irgendwem darüber austauschen können, deswegen war ihr nie aufgezeigt worden, welche Mängel ihre Pläne aufwiesen. Er könnte das bestimmt, wenn sie ihn nur ließ.

Alex führte ihn zu einem Schrank und warf dessen Türen in einer schwungvollen Bewegung auf. Im Inneren standen mehr als ein Dutzend Gläser in denen sich – laut der darauf angebrachten Etiketten – der T-Virus ε befand. Wenn er Chris' Unterlagen richtig im Kopf hatte, war genau das auch der Stamm, der im Arklay-Labor ausgebrochen war und alle Forscher in Zombies verwandelt hatte. Albert starrte diese Sammlung an und schüttelte dabei mit dem Kopf. »Warum hast du das alles?«

»Ist das nicht offensichtlich?« Liebevoll sah sie all die Flaschen an. »Ich werde den Virus in der Stadt verbreiten. Ich habe den ε-Stamm noch einmal modifiziert, so dass die Infektion langsamer verläuft. Langsam genug, dass sie auch in andere Städte, vielleicht sogar andere Länder, getragen werden kann, bevor sie ausbricht. Niemand wird in der Lage sein, sie einzudämmen!«

Das klang tatsächlich wesentlich zielführender als das, was bei der anderen Jill geschehen sein musste und was zur Auslöschung von Raccoon City geführt hatte. Dort war die Infektion versehentlich ausgebrochen und es war zu einer raschen Zombiefizierung aller gekommen. Aber wenn man auf Zeit spielte …

»Nur etwa ein bis zehn Prozent der Erdbevölkerung, deren Gene genauso speziell sind wie unsere, wird das überleben. Sie werden die nächste Evolutionsstufe sein – und wir werden als Götter über sie herrschen, denn wir haben den Progenitor in uns!«

Sie sah ihn triumphierend an, als erwartete sie, dass er ihren Plan genauso genial fand wie sie. Deswegen war sie wohl enttäuscht, als er den Kopf schüttelte. »Das kann niemals funktionieren. Raccoon City ist nicht groß genug als Umschlagplatz, besonders wenn Infektionen nur über den Austausch von Körperflüssigkeiten übertragen werden können.«

Die Enttäuschung wandelte sich rasch in Interesse. Alex verschränkte nachdenklich die Arme vor ihrer Brust. »Du meinst also, wenn ich wirklich den gewünschten Effekt erzielen will, muss ich einen wichtigeren Knotenpunkt als Ausgangsbasis wählen?«

Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, ihr Ratschläge zu geben, wie sie die Welt am besten infizieren könnte, deswegen widersprach er sofort: »Nein, ich meine, dass es im Allgemeinen nicht funktionieren kann. Man weiß jetzt schon über dich Bescheid, und wenn irgendetwas über deine Pläne nach außen dringt, wird man dich bald als Bio-Terroristin suchen – und man wird Mittel und Wege finden, dich und diesen wahnwitzigen Plan aufzuhalten.«

»Der einzige, der mich verraten könnte, bist du«, erwiderte Alex. »Aber du wirst bald ein Zombie sein, wenn du mir nicht helfen willst, also mache ich mir da keine Sorgen.«

Wesker lachte noch einmal hämisch, vielleicht sogar ein bisschen stolz, weil sie immerhin auch seine Schwester war. Albert verzog ein wenig das Gesicht, als das Jucken nicht nur wieder einsetzte, sondern sich sogar auszuweiten begann.

»Du würdest mich also opfern?«, fragte er. »Nur um eine Göttin zu werden?«

Alex kam auf ihn zu und legte eine kühle Hand auf seine erhitzte Wange. »Alby, ich habe so viel in meinem Leben geopfert, aber du würdest niemals dazugehören.«

»Wenn ich nicht mitmache, infizierst du niemanden?«

So könnte er zumindest noch verhindern, dass Chris oder Jill oder irgendeiner der anderen ein ähnliches Schicksal erleiden müsste wie die Menschen in der Welt der anderen Jill. Er müsste nur seinen Körper zerstören, genau wie er es schon Wesker angedroht hatte.

Sie tätschelte ihn nachsichtig lächelnd. »Kleiner, dummer Alby. Natürlich würde ich den Plan auch dann durchführen – aber nur, um mich an der Welt zu rächen. Ich würde dir folgen, denn eines musst du wissen.«

Ihr Blick wurde so intensiv, dass er für einen Moment die Luft anhielt. »Meine Methoden mögen rau sein, denn das ist alles, was ich je gelernt habe, aber glaub mir einfach, wenn ich dir sage, dass du mein ganzes Leben bist, Alby.«

Er deutete ein Kopfschütteln an, doch sie fuhr fort: »Ich habe meine Seele verkauft, um dich zu beschützen. Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas zustößt oder dass du mich verrätst.«

Mit einem Ruck löste er sich von ihr und trat einen Schritt zurück. »Denkst du, ich nehme das ernst?! Ich kann akzeptieren, dass du all die Jahre nicht mit mir geredet hast, es ging ja nicht anders – aber du hast mir dieses Mittel gespritzt, das mich in einen Zombie verwandeln wird, wenn ich nicht mit dir zusammenarbeite! Das ist Erpressung!«

Und dennoch, trotz all der Wut, wollte er einfach nur, dass sie ihm versicherte, ihre finsteren Pläne aufzugeben, ihm ein Gegenmittel spritzte und dann einfach nur seine Schwester war, auf die er so lange hatte verzichten müssen.

»Raue Methoden!«, rechtfertigte sie sich. »Wenn ich nichts getan hätte, wärst du nie zu mir gekommen, sondern hättest nur allen erzählt, dass ich bei dir war, damit sie mich jagen!«

»Das ist nicht wahr! Ich hätte dir zugehört, aber ich hätte dir genau dasselbe gesagt, was ich dir heute sage: Hör auf mit diesem Schwachsinn! Es ist noch nicht zu spät, dass du glimpflich aus dieser Sache rauskommst, dass wir wieder eine Familie sein können!«

Alex sah ihn misstrauisch an. »Wir? Eine Familie? Ich dachte, du hättest mich aufgegeben, weil du jetzt deine tollen S.T.A.R.S.–Freunde hast.«

Ihre Eifersucht brachte ihn fast zum Schmunzeln, aber er beherrschte sich, um sie nicht zu reizen. »In einem gewissen Sinne sind sie meine Familie geworden, aber das bedeutet doch nicht, dass ich dich je aufgeben würde. Du bist meine Schwester, für immer.«

Mit einem berührt wirkenden Blick legte sie sich eine Hand auf ihr Herz. »Meinst du das ernst? Wir könnten Geschwister sein, nach all diesen Jahren?«

»Natürlich! Aber nur, wenn du diesen Plan aufgibst. Es ist Umbrella, das dich jahrelang belogen und manipuliert hat, ihnen sollte dein Hass gelten, nicht der Rest der Welt. Und gemeinsam können wir Umbrella für alles büßen lassen.«

»Aber wir könnten Götter werden!«, wandte sie noch einmal ein, mit einer Beharrlichkeit, die ihn fast ein wenig an ein kleines Kind erinnerte.

Aber wen wunderte das? Nachdem sie den erweiterten Selbstmord ihres Vaters und ihrer Mutter beobachtet hatte, und nach all den Jahren in denen sie von Umbrella und vor allem Spencer eingesperrt worden war und nie die Gelegenheit bekommen hatte, ein normales Leben zu führen, musste sie noch eine kindische Ader an sich haben.

Albert hob deswegen beruhigend die Hände. »Glaub mir, es ist wesentlich angenehmer, ein Mensch zu sein. Götter sind furchtbar überbewertet. Und die Pläne dafür funktionieren ohnehin selten, hab ich gehört.«

Sie zog die Brauen zusammen und betrachtete ihn misstrauisch. Offenbar war sie sich nicht sicher, ob er ihr gerade die Wahrheit sagte oder sich nur einschmeicheln wollte. Auch das wunderte ihn nicht. Spencer war sicher nur nett zu ihr gewesen, damit sie tat, was er wollte. Und er wollte jetzt auch etwas von ihr, deswegen musste sie misstrauisch sein.

Lächelnd reichte er ihr die Hand. »Komm, Alex, lass uns wieder eine Familie sein.«

Sie musterte seine Hand, als hätte sie so etwas noch nie gesehen, während sie ihre, in der sie die Injektion hielt, ein wenig anhob, als wollte sie ihm diese anbieten. »Alby ...«

Bedeutete dies, dass sie nachgab? Oder dass sie zumindest bereit war, ihm das Gegenmittel auszuhändigen? Er wäre schon über eines von beidem froh, aber beides würde sein Glück sogar komplettieren.

Doch bevor sie ihm eine Entscheidung darlegen konnte, erklang ein schriller Alarm, das damit verbundene rote Licht tauchte das Labor in eine unheilvolle Atmosphäre. Albert sah sich irritiert um, während Alex ein Funkgerät aus ihrer Tasche zog. »Nicholai, was ist los?«

Ein Rauschen begleitete seine Antwort: »Mehrere Personen sind auf das Grundstück eingedrungen. Ich glaube, es sind diese S.T.A.R.S.–Typen.«

Auch wenn sie zu einem unpassenden Zeitpunkt kamen, freute Albert sich darüber; Chris hatte genau das getan, worum er gebeten worden war. Alex sah ihn dagegen an, als hätte er sie verraten. »Was hast du getan, Alby?«
 

Kapitel 14: Sag mir, dass es nicht zu spät ist


 

Der Alarm dröhnte in Alberts Ohren, während er und Alex sich einfach nur anstarrten. Ihr Blick stach in seiner Brust. Der vermeintliche Verrat schien ihr zuzusetzen – aber so wusste sie immerhin nun auch, wie er sich nach der Sache mit Chris gefühlt hatte.

»Was ich getan habe?«, erwiderte er ihr schließlich wütend. »Du hast mir dieses Zeug gespritzt, mich an diesen von Gott verlassenen Ort bestellt und zugelassen, dass dein gemeingefährlicher Bodyguard mich niedergeschlagen hat!«

»Ich wusste doch, dass du nur versuchst, dich einzuschmeicheln!«, feuerte sie zurück. »Du hattest die ganze Zeit vor, dir nur dieses Gegenmittel zu holen und mich dann auszuliefern!«

»Das ist Schwachsinn! Und das wüsstest du, wenn du mich so gut kennen würdest, wie du zu denken scheinst!«

Trotzig presste sie die Lippen aufeinander. Sie steckte den Injektor wieder in ihre Tasche und ging zu einer anderen Tür hinüber. »Du kannst das Gegenmittel vergessen! Ich werde dir bestimmt nicht helfen, wenn du meinst, mich verraten zu müssen!«

»Alex, warte!«

Sie verschwand durch die Tür, er folgte ihr rasch, bevor sie wieder zufallen konnte. Eine Treppe führte nach oben, wo ihre Schritte zu hören waren. »Alex!«

»Geh weg!«, erhielt er als Antwort.

Er hastete die Stufen hinauf, wo es nur eine weitere Tür gab, die auf das Dach hinausführte. Alex stand am Rand und blickte in Richtung des Hauses, wo Schüsse zu hören waren. Albert blieb einige Schritte entfernt stehen, innerlich hoffte er weiterhin, dass es außer Nicholai keinen Widerstand gab, der seinen Leuten im Weg stehen könnte.

Alex atmete schwer, als sie sich ihm zuwandte. »So sollte das nicht laufen. So sollte das überhaupt nicht laufen!«

Albert hob die Hände, um sie zu beruhigen und redete beschwörend auf sie ein: »Alex, das ist deine letzte Chance. Wenn du jetzt aufgibst, kann ich ein gutes Wort für dich einlegen. Ich werde mit Enrico reden, wir können deine ganze Rolle bei der Umbrella-Sache weniger schlimm erscheinen lassen. Das FBI wird dir nichts tun.«

Vielleicht könnte er ja sogar mit Morgan und Cooper reden. Wenn sie nicht gerade irgendwelche seltsamen Sätze präsentierten, schienen sie immerhin eher vernünftig. Alex sollte eine gerechte Strafe erhalten – aber es sollte auch nicht vergessen werden, dass sie das meiste davon unter Zwang getan hatte. Nur für ihn. Er könnte sie gar nicht hängen lassen.

»Du hast für mich so viel geopfert«, fuhr Albert fort. »Ich werde dafür sorgen, dass eine eventuelle Strafe so mild wie möglich ausfallen wird. Wir werden wieder eine Familie sein. Aber nur, wenn du du jetzt aufgibst.«

Alex zweifelte weiter, aber zumindest wirkte es, als würde sie wieder darüber nachdenken. Jedenfalls hoffte er das, vielleicht überlegte sie aber auch nur, wie sie aus dieser Situation herauskäme und dennoch ihren Plan durchführen könnte.

Jemand trat hinter ihm auf das Dach, Alex' Blick huschte zu der Person hinüber, deswegen sah Albert auch kurz über die Schulter. Zu seiner Erleichterung waren es nur Enrico und Barry, die ihre Waffen auf Alex richteten.

»Alles okay, Albert?«, fragte Enrico.

Er konnte ihnen nicht erklären, was los war, deswegen gab er ihnen nur einen knappen Befehl: »Bleibt zurück!«

Sie mussten nicht mehr auf ihn hören, das war ihnen sicher auch bewusst, aber vielleicht bemerkten sie, wie wichtig ihm das alles war. Erst als die beiden widerwillig nickten und stehenblieben, sah Albert wieder seine Schwester an. Alex erwiderte seinen Blick unsicher.

»War das wirklich dein Ernst?«, fragte sie misstrauisch. »Du willst, dass wir eine Familie sind?«

Er ging einen Schritt auf sie zu und reichte ihr dabei die Hand, wie schon unten im Labor. »Auf jeden Fall. Du musst mir nur vertrauen.«

Ihr Blick huschte von ihm zu Enrico und Barry, die weiter im Hintergrund standen, dann wieder zurück. Mit ihrer eigenen Hand griff sie in ihre Tasche und zog den Injektor wieder hervor. Wesker in seinem Inneren gab ein genervtes Zischen von sich – das von einem plötzlichen Schuss übertönt wurde.

Etwas Warmes spritzte auf Alberts Gesicht, er blinzelte. Alex sah ihn fassungslos an, ihr Mund war geöffnet, als wollte sie noch etwas sagen, doch die Worte kamen ihr einfach nicht über die Lippen. Auf ihrer Brust entfaltete sich eine rote Blüte, deren Bedeutung ihm nicht klar werden wollte.

»Alby …« Mit diesem Hauchen fiel sie zu Boden.

»Alex!« Er erwachte aus seiner Starre und brachte die letzte Distanz hinter sich.

Ein kurzer Blick über den Rand des Daches zeigte ihm einen grinsenden Nicholai, der sich gerade in das dichte Unterholz zurückzog, in seinen Händen hielt er ein Scharfschützengewehr.

Egal, dafür war gerade keine Zeit!

Albert kniete sich neben Alex. Sein geübter Blick sagte ihm, dass die Wunde ein glatter Durchschuss war. Aber das Projektil musste wichtige Gefäße verletzt haben, so sehr wie sie gerade blutete. Selbst sein Versuch, die Blutung zu stoppen half nicht: die rote Flüssigkeit verklebte seine Hände, quoll zwischen seinen Fingern hindurch und verließ ihren Körper unaufhaltsam.

Dennoch versuchte er es fluchend weiter, er wollte sie nicht sterben sehen, sie nicht doch noch verlieren, nachdem er sie endlich wiedergefunden hatte.

»Alby.« Ihre kraftlose Stimme erreichte ihn kaum. »Es ist okay, sieh einfach nicht hin.«

Er blickte in ihr Gesicht. Sie lächelte erschöpft, ein dünnes Blutrinnsal lief aus ihrem Mund. »Sieh nicht hin.«

Dieselben Worte, die sie ihm nach dem Tod ihrer Eltern gesagt hatte. Wieder sah er das Blut an der Schlafzimmerwand, die beiden Leichen, die nichts mit seinen Eltern gemein hatten – aber diesmal lag auch Alex dazwischen. Seine Schwester, die ihm hier gerade aus den blutgetränkten Fingern glitt.

»Du darfst nicht sterben, Alex«, erwiderte er ihr. »Du bist eine Göttin, du kannst nicht sterben!«

Sie lachte, aber es ging bald in ein Husten über, das ihren Körper schüttelte. »Was für ein kindischer Gedanke, nicht wahr? Ich hätte direkt auf dich hören sollen.«

Obwohl es sie unendlich viel Mühe zu kosten schien, hob sie die Hand und reichte ihm den Injektor, den er nur widerwillig annahm, weil er dafür ihre Wunde loslassen musste. Der Gegenstand, den er zuvor noch unbedingt hatte haben wollen, erschien ihm nun absolut sinnlos.

Alex' Hand fiel wieder herab. Ihre Atmung wurde flacher. »Ich wünschte, wir hätten noch mehr Zeit miteinander verbringen können.«

Sie schloss ihre Augen – und ihr Brustkorb hob sich nicht mehr.

»Nein … nein!« Er griff nach ihrer Hand. »Alex, wach auf!«

Doch sie blieb reglos und stumm, ihr Gesicht war so friedlich, wie es wohl zu Lebzeiten schon ewig nicht mehr gewesen war. Dennoch wollte er das nicht akzeptieren, er konnte es einfach nicht. »Alex, bitte ...«

Seine Sicht verschwamm, als seine brennenden Augen sich mit Tränen füllten. Jemand legte tröstend eine Hand auf seine Schulter, ohne etwas zu sagen. Ob Barry oder Enrico, es war ihm egal. Alex war fort, gerade als sich alles zum Guten hätte wenden können. Sie war endgültig fort und er würde sie nie wiedersehen. Der Gedanke stach noch mehr in seiner Brust als die einst gebrochene Rippe und Weskers hämisches Lachen. Dabei gab es keinen Grund dafür, denn er hatte endlich das Gegenmittel, er müsste es nur noch nehmen, dann wäre es vorbei mit dem kaltherzigen Wesker. Es hatte ihn im Endeffekt nur seine Schwester gekostet. Aber warum hatte Nicholai das getan?

Ihm blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, und mit Weskers Präsenz in seinem Inneren, die inzwischen an seinem Rückenmark kratzte, sich in sein Gehirn buddelte und versuchte, sich weiter auszubreiten, fiel es ihm auch schwer, einen vernünftigen Gedanken zu fassen.

Er betrachtete den Injektor für einen Moment. Alex' Blut hatte das Lable verschmiert, so dass er nicht mehr erkennen konnte, was sich darin befand, aber – auch wenn es vielleicht naiv war – er ging nicht davon aus, dass sie in ihrem Tod versuchen würde, ihn hereinzulegen.

Plötzlich riss Alex die Augen auf und schnappte nach Luft. Erschrocken wich die Person hinter ihm zurück, während Albert sie fassungslos ansah. Doch die neu aufkeimende Hoffnung wurde sofort erstickt, als er die schwarzen Adern bemerkte, die sich über ihr Gesicht zogen, als etwas in ihr zu vibrieren schien und ihre Haut geradewegs Wellen schlagen ließ.

Oh nein …

Er realisierte was geschah, noch bevor ihn die rasend schnell gewachsene Klaue, die einst Alex' Hand gewesen war, am Hals packte und in die Luft hob. Panisch um Atem ringend ließ Albert den Injektor fallen. Mit beiden Händen griff er nach der Pranke und versuchte, sie von sich wegzureißen, aber sie lockerte sich nicht.

Inzwischen erhob sich der nun gänzlich mutierte Körper von Alex. Die Muskeln waren derart angeschwollen, dass ihre graue Haut aufgeplatzt war und an manchen Stellen die Sehnen freilegten. Rote Augen blitzten ihm unter einem Vorhang blonden Haares entgegen.

Sein Herz setzte für einen kurzen Moment aus, bei der Vorstellung, dass das innerhalb weniger Sekunden aus Alex geworden war – dass so etwas vielleicht irgendwann aus ihm werden würde.

Das Monster, das einst Alex gewesen war, musterte ihn, während Kugeln von Barry und Enrico wirkungslos auf den Körper prallten. Die Kreatur schnaubte, dann schleuderte sie Albert von sich. Einen Sekundenbruchteil später schlug er mit dem Rücken auf dem Boden auf, scharfe Schmerzen fuhren durch sein gesamtes Rückgrat und ließen schwarze Flecken vor seinen Augen tanzen. Deswegen brauchte er einen Moment, bis er bemerkte, dass sie ihn vom Dach auf den Waldboden hinabgeworfen hatte.

Noch bevor er das verarbeitet hatte, waren Kevin und Rebecca neben ihm und halfen ihm auf.

»Alles okay?«, fragte sie ihn.

Sein Rücken schmerzte immer noch, aber er konnte keine Rücksicht darauf nehmen, denn Alex sprang plötzlich mit einem gewaltigen Satz auf den überdachten Gang und rannte über diesen in Richtung des Hauses. Enrico und Barry feuerten von ihrer erhöhten Position aus weiter auf sie, woran sie sich allerdings kaum störte. Ihre Unbeirrbarkeit sagte Albert sofort, was sie vorhatte: »Sie wird die Stadt infizieren! Wir müssen sie aufhalten!«

Das führte tatsächlich dazu, dass Leben in Kevin kam. Er rannte sofort los, um Alex einzuholen. Rebecca griff nach ihrem Funkgerät und teilte Billy und Brad diese Info mit. Wo auch immer die beiden sich gerade aufhielten, sie könnten ihr hoffentlich den Weg abschneiden.

Albert wollte sich aber nicht nur darauf verlassen, deswegen rannte er selbst los. Er blendete seine Schmerzen aus, sprang über die Wurzeln und ließ die Äste sein Gesicht peitschen, um keine weitere Zeit zu verlieren. Alex hatte bereits einen erheblichen Vorsprung, der nur dadurch gebremst wurde, dass von irgendwo jemand – vermutlich Billy und Brad – auf sie schoss. Kevin lief vor ihm, hatte aber wesentlich mehr Probleme als er, schon allein, weil er gleichzeitig versuchte, zu schießen, obwohl seine Kugeln quasi keine Wirkung zeigten.

Albert entschied sich schließlich, es lieber Alex gleichzutun. Mit einer Behändigkeit, die ihn selbst überraschte, kletterte er auf den überdachten Gang hinauf und rannte dort weiter. Ohne die Hindernisse und mit dem Dauerfeuer, das von Billy und Brad auf Alex einprasselte, gelang es ihm tatsächlich, sie bald einzuholen. Doch gerade, als er sich fragte, wie genau er sie eigentlich aufhalten sollte, da er keinerlei Waffen mit sich führte, kam er an Brad vorbei, der noch immer unten auf dem Boden stand. Vermutlich war sein Knöchel noch von dem Kampf im R&D Center verstaucht, deswegen konnte er nicht weiterlaufen. Als er Albert sah, hellte sich sein Gesicht aber sofort auf. »Das Ding ist sehr widerstandsfähig. Nimm das hier mit!«

Er reichte ihm eine Waffe nach oben, die Albert ihm dankend abnahm, dann rannte er bereits weiter, um Alex nicht zu verlieren. Auch Billy, der nun allein auf sie schoss, könnte sie nicht für immer aufhalten. Während er lief, betrachtete er die Waffe kurz, so stellte er fest, dass es ein handlicher Granatwerfer war, eine kurze Inspektion der Munition zeigte ihm, dass es explosive Granaten waren. Das schien ihm auf den ersten Blick zu viel des Guten zu sein, doch wenn er bedachte, dass sie all die Kugeln aushielt …

Schließlich erreichte Alex das Ende des Weges. Scheinbar ratlos betrachtete sie die Hausfassade vor sich, dann setzte sie zu einem Sprung an. Albert kam zum Stehen, er hob die Waffe. »Alex!«

Tatsächlich hielt sie inne und wandte sich ihm zu. Ihre roten Augen funkelten ihn an, sie fauchte.

Er wusste, er müsste schießen, sein Verstand schrie ihm das geradewegs ins Ohr, um Weskers Worte, dass er Alex einfach handeln lassen sollte, zu übertönen. Doch er konnte es einfach nicht. Besonders nicht, als sie plötzlich etwas mit verzerrter Stimme sagte: »Albyyyy ...«

Er ließ die Waffe ein wenig sinken. War irgendetwas von Alex doch noch in ihr? Gab es irgendeinen wie auch immer gearteten Weg, sie vielleicht zurückzuholen?

»In diesen Körper?«, fragte Wesker spöttisch. »Lächerlich!«

Es erschien wirklich verrückt, es konnte nicht sein. Auch alle sichergestellten Unterlagen sagten eindeutig, dass die Infektion, sobald sie erst einmal diesen Status erreicht hatte, nicht mehr rückgängig zu machen war. Es gab kein Gegenmittel. Keine Hoffnung. Selbst wenn noch etwas von Alex in diesem Ding war, es war vorbei.

Das alles wusste der rationale Teil seines Verstands, doch der emotionale wollte verhindern, dass er die Waffe wieder anhob und abdrückte. Es war dieser Zwiespalt, der ihm so oft Ärger mit Enrico eingebracht und dafür gesorgt hatte, dass Chris erst entführt und dann Jill verletzt worden war. Nun war Alex dieses Ding geworden und das einzige, was er ihr geben könnte, war ein wenig Gnade, indem er den Abzug betätigte.

Und doch konnte er es nicht.

»Alex … bitte … sag noch etwas. Sag mir, dass es nicht zu spät ist.«

Sie neigte den Kopf ein wenig, worauf ihr Haar verrutschte. Ihre roten Augen wurden so noch deutlicher – deswegen sah er auch direkt, als sie sich verengten. Sie stieß ein Fauchen aus und sprang ohne Vorwarnung auf ihn zu.

»Alex, nein!«

Er riss die Waffe hoch und drückte im selben Moment ab. Die Granate explodierte direkt vor ihm, die Druckwelle riss ihn zu Boden, zähes Blut und Fleisch regneten auf ihn herab. Für einen kurzen Moment glaubte er, noch einmal Alex' Stimme zu hören: »Sieh nicht hin, Alby.«

Aber diesmal sah er hin, aus freien Stücken, nicht weil er vor Angst gelähmt war.

Von dem vor wenigen Sekunden noch so imposant mutierten Körper, der sogar unzählige Kugeln hatte einstecken können, waren nur noch Fetzen übrig. Nun war Alex wirklich fort, auch der Rest, der vielleicht irgendwo in ihr noch verblieben war, und ihr Plan. Die Stadt war sicher, die Welt auch. Nur sein eigenes Herz fühlte sich an, als läge es in Trümmern.

Seine Brust wurde so eng, dass ihm das Atmen schwer fiel. Zumindest waren die Tränen erst einmal versiegt, dafür kehrte das Jucken verstärkt zurück.

Jemand trat neben ihn, doch er hob nicht einmal den Kopf. Es konnten weder Jill, noch Chris sein, und eigentlich wollte er im Moment nur einen der beiden an seiner Seite haben, denn nur sie könnten verstehen, was er durchmachte. Aber davor sollte er das Gegenmittel nehmen, erst dann könnte er guten Gewissens ins Krankenhaus gehen.

Als hätte jemand seine Gedanken erahnt, wurde ihm plötzlich der Injektor hingehalten. Albert nahm ihn automatisch entgegen, dann sah er nach oben. Es war Enrico, der da neben ihm stand und bedauernd auf ihn herabsah, obwohl er sicher nicht mal genau wusste, was hier eigentlich vorgefallen war. Aber das würde er spätestens durch die Ermittlungen bestimmt noch früh genug erfahren. Er nickte in Richtung des Injektors. »Ich hatte den Eindruck, du brauchst das unbedingt.«

Albert sah wieder darauf hinab. Seine Hände waren genauso blutverschmiert wie der Injektor, die Flüssigkeit trocknete bereits. Er musste sich das Gegenmittel spritzen, dafür war er hergekommen, dafür hatte er im Prinzip seine Schwester geopfert. Das durfte nicht umsonst sein.

Er setzte den Injektor an seinen Hals, hoffte, dass alles so funktionieren würde, wie es sollte, und injizierte sich das Gegenmittel. Im ersten Moment geschah gar nichts, deswegen wollte er sich aufrichten und Enrico darum bitten, ihn ins Krankenhaus zu fahren – doch schlagartig begann sich alles um ihn herum zu drehen. Er beugte sich vor, stützte seine Hände auf den Boden und atmete möglichst tief durch.

»Warum hast du das getan?!«, fauchte Wesker in seinem Inneren. »Das wirst du bereuen!«

Kam die Stimme nur aus seinem Unterbewusstsein oder war es wirklich das richtige Mittel gewesen? Aber selbst wenn es das falsche war, diesen bösartigen Wesker derart wütend und verzweifelt zu erleben, wäre es wert gewesen. Die andere Jill würde ihm sicher zustimmen.

Enrico griff nach seinem Arm, fragte, was ihm fehle, was er sich da gespritzt hatte und warum. Aber Albert konnte es ihm nicht beantworten. Seine Stimme war einem Krächzen gewichen, aber auch Worte zu finden, erschien ihm so schwer, weil sie alle in einem schwarzen Loch verschwunden zu sein schienen.

Er seufzte noch einmal, dann wurde alles um ihn herum dunkel – doch inmitten dieser Finsternis echote die Stimme Weskers: »Ich werde dich töten, bevor das Mittel wirkt! Du wirst den nächsten Tag nicht mehr erleben!«
 

Kapitel 15: Ich werde dich immer bekämpfen


 

Diesmal erwachte Albert mit dem Rücken gegen das Ausgangstor gelehnt. Er war allein, was ihn doch überraschte – aber vielleicht wusste Wesker auch einfach nicht, an welchem Ort Albert in den einzelnen Nächten erschien. In den letzten Träumen war ihm das ganz recht gewesen, heute wollte er sich aber nicht verstecken und auch nicht weglaufen. Wenn Wesker sich vornahm, ihn zu töten, würde Albert ihm einen Kampf zum Abschied liefern.

Deswegen betrat er die wie üblich verlassene Eingangshalle und breitete die Arme aus, ehe er mit in den Nacken gelegten Kopf nach ihm rief: »Wesker! Ich bin hier! Komm und hol mich!«

Es dauerte nicht einmal zwei Sekunden, da erschien Wesker bereits am oberen Treppenabsatz und sah mit einem finsteren Grinsen auf ihn herab. Schwarze Tentakel schlängelten sich aufgeregt um seinen linken Arm. »So, ich sehe, du hast beschlossen, einfach aufzugeben. Was für eine miserable Vorstellung – aber es ist in deinem besten Interesse, mich zu unterstützen.«

»Deswegen habe ich dich nicht gerufen«, erwiderte Albert ihm.

In seiner Hand erschien eine leuchtend weiße Waffe, die seiner Samurai Edge, seiner Dienstwaffe bei S.T.A.R.S., ähnelte. Er zielte damit auf Wesker. »Ich bin hier, um die Sache zu beenden.«

Dann drückte er ab. Doch es überraschte ihn nicht wirklich, dass Wesker jeder einzelnen Kugel problemlos auswich, indem er sich so schnell bewegte, als teleportiere er sich von Ort zu Ort. So erreichte er Albert und drückte diesen mit einer einfachen Handbewegung gegen die Wand. Die Tentakel wickelten sich um Alberts Hals, aber diesmal spürte er keine Panik, er war vollkommen ruhig. Dadurch war es ihm möglich, Weskers Blick zu erwidern. Die rötlichen Augen hinter der Sonnenbrille waren nicht mit denen von Alex zu vergleichen, ihre hatten irgendwie traurig gewirkt, seine waren einfach nur voller Hass.

»Du denkst also, du kannst das hier beenden?«, fragte Wesker spöttisch. »Deine Freunde sind schon für dich gestorben, weil du es nicht konntest. Was ist jetzt anders?«

Als hätten sie nur auf dieses Stichwort gewartet, erschienen die Leichen von Jill und Chris in der Eingangshalle. Aber sie waren nicht echt, das wusste er inzwischen. Sie hatten sich nicht für ihn geopfert, das war nur sein Unterbewusstsein, das ihm erlaubt hatte, sich aus Situationen zu retten, denen er nicht gewachsen war. Jetzt war das jedoch nicht mehr notwendig.

»Ich bin anders«, antwortete Albert. »Es wurden genug Opfer für mich gebracht.«

Alex hatte ihr ganzes Leben für ihn und seine Sicherheit geopfert – nie wieder würde er zulassen, dass jemand so etwas für ihn tat. Ab sofort würde er alle, die er liebte, beschützen. Und diese Entscheidung würde er damit unterstreichen, dass er den finsteren Schatten tötete, der in ihm lauerte, ihn die letzten Tage heimgesucht und verunsichert hatte. Wenn ihm das gelang, wäre er auch für alles andere stark genug.

Während Wesker nur schnaubte, hob Albert die Waffe und drückte noch einmal ab. Damit hatte der andere wohl nicht gerechnet, getroffen zuckte er zurück und ließ ihn wieder los. Die Schulter, an der Albert ihn erwischt hatte, leuchtete nun ebenfalls in einem strahlenden Weiß.

»Wie es scheint, bist du nicht unbesiegbar«, bemerkte Albert. »Schlecht für dich.«

Wesker knurrte wütend und sprang auf ihn zu, um ihn anzugreifen. Doch Albert wich mit einem gut abgepassten Seitenschritt aus und feuerte noch einmal auf Wesker, während er sich rückwärts bewegte. Wieder entkam er den Angriffen durch seine überragende Schnelligkeit, die Albert tatsächlich ein wenig Bewunderung abrang. Das fiel Wesker offenbar auch auf, denn plötzlich grinste er für einen kurzen Moment – nur um im nächsten direkt wieder auf ihn zuzustürmen. Diesmal hielt Albert allerdings still, wartete, bis er fast schon den Atem des anderen auf seiner Haut spüren konnte, dann drückte er ab.

Mit einem Schmerzensschrei fuhr Wesker zurück, schlitterte einige Meter über den Boden und hielt sich dabei das Gesicht. Ein kurzer Blick auf die Sonnenbrille, die zerstört dalag, sagte Albert bereits, was geschehen war. Dennoch erfüllte es ihn mit größerer Genugtuung, zu sehen, dass in Weskers Gesicht, genau zwischen seinen Augen, ein weiteres leuchtendes Loch prangte. Davon ausgehend zogen sich Risse über seine Haut. Feindselig starrte er Albert an. »Versuchst du etwa, mich wütend zu machen?!«

»Ich glaube, ich bin sogar ziemlich erfolgreich darin.«

Knurrend schleuderte Wesker ihm sein Messer entgegen. Es war ein Ablenkungsmanöver, nichts weiter, deswegen ließ Albert zu, dass die Klinge sich in seine Schulter bohrte. Die Wucht des Aufpralls verhinderte, dass seine Schüsse trafen, aber immerhin konnte Wesker so auch nicht einfach auf ihn zustürmen.

»Du zögerst das Unvermeidliche nur hinaus!«, murrte er, während er den Kugeln auswich – und es dann schaffte, Albert gegen die Wand zu pressen, seinen Arm mit der Waffe zu packen und schmerzhaft nach hinten zu drücken.

Es ist nur ein Traum, sagte er sich selbst mehrmals, worauf die Schmerzen glücklicherweise nachließen – das galt allerdings nicht für Weskers Bestrebungen, ihn von weiteren Schüssen abzuhalten.

Doch Albert ließ einfach die Samurai Edge verschwinden, um sie dann erneut in seiner linken Hand erscheinen zu lassen. Der damit abgegebene Schuss streifte Wesker höchstens und führte nur dazu, dass er die schlangenartigen Tentakel wieder ausfuhr, um Alberts Arme beide an die Wand zu pinnen. So konnte er beim besten Willen nicht mehr schießen.

Wesker lachte zufrieden. In einer flüssigen Bewegung zog er das Messer aus Alberts Schulter und hielt es ihm an den Hals. »Ich denke, es wird Zeit, Abschied zu nehmen. Ich werde deinen Körper – und Alex' Forschungsergebnisse – gut zu nutzen wissen.«

In anderen Nächten hätte ihm das zu denken gegeben, doch in dieser nicht. Das lag nicht nur an seiner neuen Entschlossenheit, sondern auch an etwas anderem, das sich gerade in ihm auszubreiten begann. Er spürte deutlich, wie es durch seine Adern strömte und ihm die notwendige Kraft gab – und auch die Sicherheit, die er brauchte, um zu tun, was er als nächstes tat: Er sah Wesker geradewegs in das bereits siegessichere Gesicht und lachte.

»Was ist so komisch?«, fragte er knurrend.

»Dass du wirklich denkst, du gewinnst hier gerade. Dabei hattest du die ganze Zeit recht, ich zögere das Unvermeidliche nur hinaus – aber nicht unvermeidlich für mich, sondern für dich.«

Wesker runzelte die Stirn und sah auf seine Tentakel hinab, als er etwas daran zu bemerken schien. Die einstmals schwarzen Schlangen waren grau und brüchig geworden, was ihn zu einer unzufriedenen Feststellung führte: »Die Antikörper.«

»Richtig.« Albert schmunzelte. »Du hast dir offenbar zu viel Zeit gelassen.«

Wesker fuhr mit dem Messer über seinen Hals – doch die Klinge zerbrach an seiner Haut. Im selben Moment zerbröckelten auch die Tentakel und befreiten Albert wieder. Er riss den Arm hoch und schoss, diesmal traf er Wesker genau in die Brust. Wesker taumelte zurück, presste sich die Hand auf den neuen Riss und ging in die Knie.

»Das kann nicht sein!«, fauchte er. »Wie kann ich gegen jemanden wie dich verlieren?!«

Albert empfand fast ein wenig Mitleid, während er beobachtete, wie sich der Riss auf Weskers Brust immer weiter ausbreitete. »Ich bin eben doch stärker als wir beide dachten.«

Die Antikörper mochten ihm geholfen haben, nicht zu sterben, aber die entscheidenden Schüsse waren immerhin von ihm gekommen und die Waffe stammte aus seinem Willen – und genau genommen erzeugte er auch selbst die Antikörper, also hatte er sich den Sieg verdient.

»Ich werde nicht einfach verschwinden!«, schrie Wesker. »Du wirst mich niemals vollkommen loswerden! Ich werde immer als Bedrohung in dir leben!«

Albert hob die Schultern ein wenig. »Mag schon sein. Aber ich habe keine Angst mehr vor dir. Ich werde dich immer bekämpfen, um alle zu schützen, die mir etwas bedeuten. Und solange ich existiere, wirst du diesen Körper niemals bekommen!«

Inzwischen war Wesker so sehr von leuchtenden Rissen übersät, dass seine schwarze Kleidung fast vollkommen weiß war.

»Eines Tages wirst du Schwäche zeigen«, sagte Wesker. »Und dann werde ich da sein, um das auszunutzen. Am Ende werde ich siegen!«

Albert schüttelte mit dem Kopf. »Versuch es ruhig. Du wirst scheitern, genau wie der Wesker in der Welt der anderen Jill.«

Dieser Wesker stieß noch ein kurzes, hämisches Lachen aus – dann zerplatzte sein Körper in einer lautlosen Lichtexplosion; die einzelnen Teile wurden zu leuchtenden Funken, die kurz durch die Luft stoben und sich auflösten, als sie von einem Sonnenstrahl, der plötzlich in die Eingangshalle fiel, erfasst wurden.

Seine Spuren waren fort, aber Albert wusste selbst, dass er noch immer in ihm war. Er war weiterhin infiziert; falls seine Antikörper noch einmal, aus welchem Grund auch immer, absinken sollten, bestand weiterhin die Gefahr, dass er zu Wesker oder etwas Schlimmerem werden würde. Doch wie er gesagt hatte, fürchtete er sich nicht davor. Er würde Wesker immer wieder bekämpfen – und immer wieder besiegen.

Für heute wandte er sich aber von dieser falschen und blutigen Eingangshalle ab. So konnte er endlich sehen, dass der Sonnenstrahl, in dem sich die Funken aufgelöst hatten, durch das inzwischen offene Eingangstor fiel. Einem neuen Tag entgegenzugehen erschien ihm wie eine gute Methode, diese Träume hinter sich zu lassen.

Er atmete noch einmal tief durch, schmunzelte ein wenig über sich selbst und lief dann mit leichtem Herzen und lockeren Schritten durch den Ausgang direkt ins Licht.

 

Als er die Augen öffnete, wusste er sofort, dass er im Krankenhaus war. Neben ihm piepste ein EKG und es roch nach Desinfektionsmitteln. Aber er fühlte sich gut, besser als die letzten Tage auf jeden Fall. Und es wurde noch besser, als er bemerkte, dass er nicht allein war.

Jill saß neben ihm auf einem Stuhl, lehnte aber mit dem Oberkörper auf seinem Bett, den Kopf in ihre Arme gebettet und schlief. Auf dem Sofa in der Ecke lag Chris, ebenfalls schlafend. Um ihn nicht aufzuwecken, berührte Albert vorsichtig Jills Schulter. Sie hob sofort den Kopf, blinzelte aber erst einmal träge. »Was ist los?«

Sie brauchte einen kurzen Moment, bis sie erkannte, was los war, dann erhob sie sich aber rasch von ihrem Stuhl, kletterte auf das Bett, bis sie quasi neben ihm lag und schlang die Arme um ihn. Lächelnd strich er über ihr Haar, das unter ihrem Verband hervorragte.

»Ich bin so froh, dass du wieder wach bist.« Ihre Stimme war durch seine Schulter gedämpft, in die sie hinein murmelte. »Keiner wusste, was mit dir los war oder was du da genommen hast.«

»Es tut mir leid, dass ich euch Sorgen bereitet habe. Ich dachte, ich könnte das Problem lösen.«

Und vielleicht wäre es ihm sogar gelungen, wenn Nicholai Alex nicht erschossen hätte. Allein bei dem Gedanken, dass seine Schwester nun endgültig tot war und ihm nicht mal mehr die Hoffnung blieb, sie irgendwann wiederzusehen, wurde er schwermütig. Aber er selbst war am Leben, genau wie Chris und Jill, das war alles, was zählte – und vor ein paar Wochen wäre ihm das noch wie reines Wunschdenken vorgekommen. Damals hatte alles aussichtslos ausgesehen, Chris war ein vermeintlicher Verräter, Jill nur eine Freundin und Kollegin, und jetzt war alles so anders.

»Wenn du das nächste Mal so eine Aktion durchführen willst, rede erst mit mir«, sagte sie, beinahe schon schmollend. »Ich werde dir dann schon zeigen, was ich von deinen Ideen halte.«

Dann wäre er jetzt vermutlich wirklich schon Wesker. Aber das erzählte er ihr lieber nicht, sie hatte die Erinnerungen der anderen Jill gesehen, er wollte sie nicht glauben lassen, dass er auch zu diesem Monster werden könnte.

»Nächstes Mal nehme ich dich einfach mit«, sagte er. »Dann passt du auf mich auf.«

Sie dachte einen Moment darüber nach. »Ja, klingt wie eine gute Idee.«

»Gute Idee?«, kam es plötzlich schlaftrunken von Chris aus der Ecke. »Gibt es Frühstück?«

Er setzte sich aufrecht hin und rieb sich die Augen, deswegen brauchte er auch einen Moment, bis er erkannte, dass Albert wieder wach war. Kaum war es allerdings soweit, stand er direkt auf, ging die paar Schritte zum Bett hinüber und umarmte Albert ebenfalls. Er ließ ihn schon nach wenigen Sekunden wieder los (anders als Jill, die ihn immer noch umklammerte), um ihn mit einem bedauernden Blick anzusehen. »Das mit Alex tut mir leid.«

Jill drückte ihn ein wenig fester. Er wusste schon, warum er die beiden gern direkt nach Alex' Tod an seiner Seite gehabt hätte. Mit den beiden fühlte sich alles schon weniger schlimm an. Im Moment wollte er aber nicht weiter darüber reden, deswegen fragte er lieber etwas anderes: »Wart ihr die ganze Zeit hier?«

Chris nickte. »Seit gestern Nachmittag, als du eingeliefert wurdest.«

Jill löste sich wieder von ihm, damit sie auch aktiv am Gespräch teilnehmen konnte. »Da warst du schon untersucht worden und die Ärzte haben nichts Außergewöhnliches feststellen können, aber du bist einfach nicht aufgewacht. Enrico hat uns nur gesagt, was passiert ist und dass du dir irgendetwas injiziert hast, von dem auch das Krankenhaus nicht wusste, was es ist.«

Wahrscheinlich wusste der ein oder andere Forscher hier durchaus, worum es sich handelte, aber sie taten besser daran, zu schweigen, als die Aufmerksamkeit des FBI doch noch auf sich zu ziehen. Und Albert erzählte lieber nicht, wie es überhaupt dazu gekommen war, dass er sich das injizieren musste. Chris hatte schon ein schlechtes Gewissen, weil er unfreiwillig bei der Verbesserung der BOWs helfen musste, dass auf der Grundlage seines Bluts ein Mittel entwickelt worden war, Antikörper abzusenken, wäre sicher nicht hilfreich für ihn.

»Hast du gesehen, wer auf Alex geschossen hat?«, fragte Chris, er schnaubte. »Wir könnten den Kerl finden und ihn dafür festnehmen und ihn die Härte des Gesetzes spüren lassen.«

»Es war Nicholai, von der U.B.C.S.«

Jills Gesicht verfinsterte sich sofort, möglicherweise kannte sie irgendwelche Erinnerungen der anderen Jill, die mit ihm im Zusammenhang standen. Chris schlug sich mit der Faust in die offene Hand. »Wir machen den Kerl fertig, das verspreche ich dir!«

»Danke, Chris.« Albert lächelte. »Arbeiten wir zusammen daran, sobald wir alle wieder gesund sind.«

»Du hast es verstanden.« Jill nickte zufrieden. »Wir erledigen das als Team. Keine Alleingänge mehr, für niemanden.«

»Du hast gut reden«, erwiderte Chris. »Du hast dich von Umbrella festnehmen lassen und dann diesen Tyrant fertiggemacht.«

Für ihn musste es nach wie vor seltsam sein, dass Jill so anders gewesen war, als er sie wiedergesehen hatte – und nun war sie wieder genau wie früher. Falls sie Chris nichts von der anderen Jill erzählen wollte, müsste Albert darüber nachdenken, ihm einfach noch einmal die Geschichte aufzutischen, dass sie einfach durch seine Abwesenheit so gewesen war. Vielleicht glaubte Chris es ihm, wenn Albert es lange genug erzählte.

Im Moment ließ sie sich aber nicht von Chris' Worten einschüchtern: »Ich habe sogar zwei Tyrants fertiggemacht, deswegen darf ich jetzt auch bestimmen, dass keiner von uns noch einmal so etwas macht. Ich will, dass wir alle noch lange leben können. Und dafür müssen wir zusammenarbeiten.«

Albert nickte ihr zu. »Das finde ich gut. Ich bin auf jeden Fall dabei.«

»Du auch, Al?« Chris seufzte schwer. »Okay, dann kann ich mich ja schlecht dagegen sperren. Aber ich werde euch daran erinnern, wenn ihr mir mal wieder nicht glauben wollt.«

Wenn er es so darstellte, konnte Albert durchaus verstehen, dass Chris diese Zusammenarbeit skeptisch sah. Aber …

»Gerade weil wir dir nicht glauben wollten, ist ja alles erst so eskaliert«, sagte Albert. »Aber genau darum müssen wir das machen. Ab sofort arbeiten wir immer zusammen, selbst wenn einer von uns Theorien bringt, die wir nur schwer glauben können. Wir können dann immer noch Beweise oder Gegenbeweise finden, solange wir mit einem offenen Geist darangehen.«

»Klingt wie der Beginn einer neuen Partnerschaft«, meinte Chris zufrieden. »So wird uns niemand mehr entkommen. Nicht mal dieser Nicholai.«

Albert hoffte, dass er damit recht behielt. Alex' Tod sollte nicht ungesühnt bleiben, Nicholai hatte eine Strafe verdient – schon allein, weil es bestimmt auch andere Opfer dieses Mannes gab. Jeder von ihnen sollte Gerechtigkeit erfahren.

Aber zuerst würde Albert – hoffentlich – ungestört genießen, dass er wieder mit Jill und Chris zusammen sein konnte, ohne die Gefahr seiner Infektion im Hinterkopf. Dann könnte er sich noch die Zeit zum Trauern nehmen, aber er wusste schon, dass er auch dafür nicht allein bleiben würde, denn die beiden standen ihm sicher auch dabei bei – so wie bei allem anderen in seinem Leben.
 

Kapitel 16: Komm doch einfach zu mir


 

»Dann brauchen wir hier noch eine Unterschrift.« Briscoe legte ihm das Dokument vor und deutete auf die genaue Stelle.

Es war lediglich der Abschlussbericht der Inneren Abteilung bezüglich seiner Verbindung mit Alex, da keinerlei Kontaktaufnahme zwischen ihnen beiden seit dem Waisenhaus stattgefunden hatte. Aber Albert verstand die bürokratische Notwendigkeit, alles festzuhalten, auch seine Mitarbeit in dieser Sache.

Nachdem er unterschrieben hatte, reichte er Briscoe das Dokument zurück. Der Detective blickte etwas genervt darauf hinab, deswegen musste sein Kollege Munch die weiteren Worte übernehmen: »Wir entschuldigen uns für den Verdacht gegen Sie, Mr. Wesker, aber wir bedanken uns für Ihre Kooperation dabei, jegliche Verdachtsmomente auszuräumen.«

Wie immer klang seine Stimme dabei leicht sarkastisch, aber Albert war zu sehr darauf erpicht, die beiden Männer endlich loszuwerden, deswegen nickte er nur knapp. »Kein Problem.«

»Und Sie sind sich immer noch sicher?«, fragte Briscoe dann. »Nachdem alles geklärt ist, könnten Sie Ihren Posten als Captain wiederbekommen.«

Eine Position, die er nur durch Umbrellas Einmischung bekommen konnte. Er legte keinen Wert darauf, solange er als einfaches Mitglied der S.T.A.R.S. weitermachen könnte – und das war ihm bereits von dem neuen Chief versichert worden.

»Nein, danke. Das ist schon okay so.«

Briscoe und Munch zuckten mit den Schultern. Sie kannten seine Akte, die er an sie weitergegeben hatte, also wussten sie von Umbrellas Rolle in seinem Leben, aber vielleicht fiel es ihnen schwer, zu verstehen, warum jemand freiwillig auf das größere Gehalt verzichten würde. Statt das Thema aufzurollen, verabschiedeten sich die beiden endlich.

»Machen Sie es gut, Mr. Wesker«, sagte Briscoe, während er schon zur Tür lief.

»Stellen Sie nichts an«, ergänzte Munch. »Sonst sehen wir uns wieder.«

»Bloß nicht«, murmelte Albert.

Obwohl er leise gewesen war, schien Munch ihn dennoch gehört zu haben, jedenfalls wenn er dessen amüsiertes Grinsen zum Schluss richtig deutete. Dann schloss sich die Tür hinter ihnen und Albert konnte seine Aufmerksamkeit auf die beiden anderen Männer richten, die noch hier waren.

Morgan und Cooper lächelten freundlich an, was er ein wenig nervös erwiderte. Auch sie konnten nichts mehr von ihm wollen, da alles erledigt war und er mit keinen Bio-Terroristen in Verbindung stand, aber ihr Verhalten machte ihn doch noch unruhig.

»Von unserer Seite gibt es auch nicht mehr viel«, versicherte Morgan ihm. »Captain Marini hat uns bereits geschildert, was mit Ms. Wesker geschehen ist, und wir haben ihr Labor untersucht und Dinge beschlagnahmt.«

»Die Verbindungen mit Umbrella sind unübersehbar«, ergänzte Cooper. »Es wird nicht lange dauern, bis wir den Konzern zumindest in den USA auflösen können.«

Albert wusste bereits, dass es dazu führen würde, dass die Forschungsergebnisse und verschiedene Virusproben nur an die unterschiedlichsten Gruppen und andere Unternehmen verkauft werden würden. So viel hatte er von der anderen Jill gelernt. Aber selbst das schreckte ihn nicht. S.T.A.R.S. waren vielseitig, sie könnten auch als Kontergruppe für Terroristen agieren. Solange Enrico zustimmte, würde Albert alles in seiner Macht Stehende tun, um die Situation nicht so sehr eskalieren zu lassen wie in dieser anderen Welt.

»Machen Sie Umbrella fertig«, ermutigte er die beiden. »Die haben es verdient.«

Beide Agenten nickten. Morgan seufzte. »Ich bin fast neidisch, ich hätte Sie auch gern etwas unterschreiben lassen. Aber ich habe dafür ein Geschenk für Sie.«

Er griff in die Tasche seines Jacketts und zog ein kleines Kästchen hervor, das er vor Albert auf den Tisch stellte. Es war mit Schnitzereien des Mondes, der Sonne und einiger Sterne verziert und sogar in sanften Farben lackiert. Hübsch war es auf jeden Fall, aber er verstand nicht, warum Morgan ihm das schenken sollte.

»Das haben Sie hoffentlich nicht gekauft«, bemerkte Albert. »Es sieht teuer aus.«

Der Agent hob lächelnd den Zeigefinger. »Eigentlich kommt es nicht von mir. Es gehört zum Nachlass Ihrer Schwester – und nachdem wir das Kästchen eingehend untersucht haben, kamen wir zu dem Schluss, dass wir es Ihnen geben können.«

Alex hatte ihm etwas vererbt. Er seufzte lautlos. Vor zwei Tagen war er im Krankenhaus wach geworden, seitdem hatte er sich viel damit auseinander gesetzt, dass sie endgültig fort war und dass er den finalen Schuss dafür geliefert hatte. Jill war die ganze Zeit bei ihm gewesen, hatte ihn umarmt, ihm tröstend zugeflüstert und immer wieder versichert, dass er das Beste getan hatte, dass es bestimmt das war, was Alex sich gewünscht hätte. Aber dennoch wurde seine Brust noch eng.

»Es ist nichts drin«, erklärte Morgan. »Deswegen ist es kein Beweismittel und wir dürfen es Ihnen übergeben.«

»Danke.« Albert sah von dem Kästchen zu beiden Agenten, deren Lächeln ihm plötzlich gar nicht mehr so seltsam vorkam. »Das bedeutet mir wirklich viel.«

»Dann haben wir ja das Richtige zum Abschied ausgesucht«, sagte Morgan. »Leben Sie wohl, Mr. Wesker. Vielleicht sieht man sich ja bei einem anderen Fall wieder.«

Albert sagte dazu nichts, dachte da aber auch Bitte nicht – und er war sich ziemlich sicher, dass Cooper und Morgen das beide genau wussten.

Nachdem sie sich von ihm verabschiedet hatten, gingen sie zur Tür, wo Morgan wieder einfiel, dass sie zusammen Kaffee trinken könnten. »Ich kenne da einen ganz tollen Laden, nur ein paar hundert Meter entfernt.«

Mehr bekam Albert nicht mehr mit, da Jill hereinkam und die Tür wieder schloss. Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter und schüttelte mit dem Kopf. »Diese Agenten sind echt seltsam.«

»Wir werden sie nicht wiedersehen«, erwiderte Albert, »also kann es uns egal sein.«

Jill setzte sich zu ihm an den Tisch. »Bist du schon auf deine Entlassung vorbereitet?«

Inzwischen war es zwei Tage her, seit er wieder aufgewacht war. Er hatte nicht mehr von Wesker geträumt, nicht einmal von dem Angriff des infizierten Monster vor dem Waisenhaus. Auch seine Werte waren normal, seine Antikörper wieder genauso stark und ansteckend wie vor Alex' Besuch. Deswegen hatten die Ärzte angekündigt, ihn heute entlassen zu wollen. Genau wie Chris, der vor den Agenten und den Detectives bei ihm gewesen war und ihm bereits vorgeschwärmt hatte, dass er mit Claire erst einmal zu Moon's Donuts gehen würde, noch bevor er sein Apartment aufsuchen wollte.

»Ich musste ja nicht viel packen«, sagte Albert und nickte zu der Tasche auf dem Sofa, die Enrico ihm vorgestern aus seiner Wohnung gebracht hatte. »Also gab es nicht viel vorzubereiten.«

Jill seufzte. »Ich wünschte, ich könnte auch schon gehen. Aber mich wollen sie noch eine Woche behalten.«

Dann fiel ihr aber etwas ein, weswegen sie die Stirn runzelte. »Ich weiß aber ohnehin nicht, wo ich hingehen soll. Mein Apartment wurde ja von Umbrella abgebrannt.«

In all den Ereignissen der letzten Tage war das auch aus Alberts Gehirn vollkommen verschwunden gewesen. Da sie ihn nun daran erinnert hatte, dachte er direkt darüber nach, wie man das klären könnte.

»Enrico hat gesagt, dass er mich in einem Motel unterbringen kann«, fuhr sie fort. »Die Rechnung würde das RPD solange übernehmen.«

Begeistert wirkte sie davon nicht, nur deswegen brachte er seinen eigenen Vorschlag vor: »Komm doch einfach zu mir.«

»Bist du sicher?«

Er deutete ein Nickten an. »Du hast meine Wohnung gesehen, sie ist groß genug für uns beide – und ich bin normalerweise ziemlich einsam dort. Du kannst es ja auch nur als vorübergehende Maßnahme sehen, bis du dir wieder was anderes gesucht hast.«

Jills plötzliches Schmunzeln ließ ihn stutzen. Auf seine Nachfrage, was so lustig wäre, musste sie tatsächlich lachen. »Ich habe gerade nur daran gedacht, dass Rebecca bei ihren Besuchen auch immer betont, dass Billy nur vorübergehend bei ihr wohnt. Enrico hat mir aber gestern verraten, dass die beiden sich gemeinsam eine größere Wohnung suchen.«

Dass die beiden sich nahestanden, hatte Albert sich inzwischen bereits gedacht, aber dass es so sehr war, überraschte ihn doch. Er freute sich aber für die beiden. Allerdings war das keine Antwort auf seinen Vorschlag. Glücklicherweise musste er nicht nachhaken, denn Jill lächelte. »Ich würde gern zu dir kommen. Vielleicht vorübergehend, vielleicht längerfristig, wir werden sehen.«

Albert erwiderte ihr Lächeln erleichtert. »Oh, gut. Ich hab befürchtet, du würdest ablehnen. Oder lachen. Oder das lustig finden.«

Ein wenig befürchtete er auch immer noch, dass sie ihre Beziehung plötzlich für eine schlechte Idee halten könnte. Selbst wenn er nicht mehr ihr Vorgesetzter war, bestand immer die Möglichkeit, dass sie es nicht gut fand, mit einem Kollegen in einer Beziehung zu sein – oder mit Albert selbst. Aber letzteres war ein zu negativer Gedanke, den wollte er nicht mehr zulassen.

Sie beugte sich ein wenig zu ihm, um ihm einen kurzen Kuss zu geben. »Nein, ich bin dir sehr dankbar. Allein in einem Motel zu wohnen, wäre mir auf Dauer doch sehr einsam geworden.«

»Dann hol ich dich an deinem Entlassungstag ab.Willst du, wie Chris, auch erst einen Umweg zu Moon's Donuts machen?«

»Oh, das überlasse ich dann ganz dir. Überrasch mich~.«

Ihr Blick fiel auf das Kästchen, das noch immer vor ihm auf dem Tisch stand. »Was ist das?«

Er hatte es fast vergessen, aber nun erklärte er ihr in knappen Worten, dass es aus Alex' Nachlass stammte. Dabei öffnete er es sogar kurz, um wirklich zu demonstrieren, dass es leer war. Nachdem er fertig war, nahm Jill das Kästchen vorsichtig an sich um es eingehender zu betrachten. »Es ist echt hübsch. Meinst du, Alex hatte eine Neigung für so etwas?«

Vorstellen konnte er sich das nicht. Zumindest bei ihren letzten Treffen war sie eher pragmatisch gewesen, sie hatte nicht einmal darauf geachtet, das Haus nicht verkommen zu lassen. So etwas Hübsches wie dieses Kästchen wäre ihr bestimmt viel zu verspielt gewesen.

Jill drehte es in ihren Händen, um es aus allen Blickwinkeln zu betrachten. »Hmm.«

Bevor er fragen konnte, was sie irritierte, drückte sie den hervorstehenden Halbmond auf der Seite des Kästchens, worauf er ein bisschen nachgab. Dasselbe tat sie mit der Sonne auf der gegenüberliegenden Seite, darauf wurde ein leises Klacken aus dem Inneren hörbar.

Albert tauschte einen verwunderten Blick mit Jill, ehe sie verschmitzt lächelte. »Spencer war ein Fan von Rätseln, wie wir im Anwesen gelernt haben – ich dachte mir, das muss auch auf dieses Kästchen zutreffen. Immerhin hat sie es bestimmt auch von ihm.«

So weit hatte er gar nicht gedacht, aber es ergab Sinn. Nun interessierte ihn aber eher, was für ein Mechanismus ausgelöst worden war. Jill öffnete das Kästchen. Der hölzerne Boden stand ein bisschen hoch, so dass Albert ihn ganz heben konnte und darunter eine mit Samt verkleidete Einbuchtung freilegte. Mitten darin lag ein kleiner Schlüssel. Albert nahm ihn in die Hand und betrachtete die daran befestigte Plakette, die ihm verriet, dass er zu einem Schließfach am Bahnhof von Raccoon City gehörte.

»Alex hat da bestimmt etwas für dich versteckt«, sagte Jill. »Du solltest es dir ansehen.«

Das würde er auf jeden Fall – und das hoffentlich ohne neue Probleme.

 

Drei Stunden und ein letztes Mittagessen im Krankenhaus später, war Albert endlich am Bahnhof. Immer wieder warf er einen Blick umher, aber er glaubte nicht, dass irgendjemand ihn beobachtete. Zumindest schien sich keiner um ihn zu kümmern und er entdeckte auch niemanden, von dem er auch nur den Eindruck hatte, ihn zuvor gesehen zu haben. Vielleicht hatte Umbrella diese Beobachtung endlich aufgegeben, nachdem er nun Bescheid wusste.

Am entsprechenden Schließfach angekommen, öffnete er es mit dem Schlüssel – und war seltsamerweise wirklich überrascht, dass er passte. Noch im Taxi auf dem Weg hierher, hatte er sich gefragt, was er tun sollte, falls das doch eine falsche Fährte wäre. Aber das war nun kein Thema mehr.

Im Fach selbst lag eine Aktentasche, etwas vollkommen Normales eigentlich. Albert starrte sie dennoch einen Moment lang nur an, als erwartete er, dass sie jeden Moment lebendig werden und ihn anspringen würde. Erst als das nicht geschah, zog er die Tasche näher zu sich und öffnete sie. Im Inneren waren ein dicker Ordner und mehrere lose Dokumente verstaut, dazu ein Briefumschlag, auf dem in einer geschwungenen Schrift An Alby stand.

Das hier war wirklich alles für ihn, von Alex. Aber das hieß auch, dass er den Inhalt hier nicht näher untersuchen sollte, schon allein, weil seine Brust erneut eng wurde.

Mit der Tasche verließ er den Bahnhof wieder und kehrte nach Hause zurück. Diesmal ging er sicher, dass jedes einzelne Zimmer leer war, bevor er sich auf sein Sofa setzte und dann den Briefumschlag anstarrte. Was könnte Alex ihm noch mitteilen wollen? Würde sie ihn darum bitten, ihren Plan doch noch in die Tat umzusetzen? Nun, das wäre ohnehin nicht möglich, denn das FBI hatte das Labor gesperrt und alles darin beschlagnahmt.

Um sich nicht selbst im Vorfeld wahnsinnig zu machen, öffnete er den Brief und begann zu lesen:

 

Mein lieber Alby,

wenn du diesen Brief liest, bedeutet das, ich bin tot. Wahrscheinlich hat irgendwer bei Umbrella beschlossen, dass ich ein zu großes Risiko wurde. Oder ich stand jemandem im Weg.

Aber wie auch immer es dazu kam, das hier ist quasi mein Testament. Wahrscheinlich hast du immer noch viele Fragen oder du hast ein schlechtes Gewissen, weil du der Meinung bist, es sei deine Schuld, dass ich diesen Weg eingeschlagen habe.

Ich werde dir nie alles beantworten können, aber ich kann dir zumindest eines versichern: Nichts ist deine Schuld. Ich habe freiwillig entschieden, Spencers Protegé zu werden, nicht nur, um dich zu schützen, sondern auch, weil ich selbst Angst hatte, einfach entsorgt zu werden. Ich wusste damals nichts über Umbrella, außer, dass sie Medikamente entwickelten. Wie schlimm könnte es also werden, dachte ich. Oh, wie naiv ich doch war.

Mein Hass auf Umbrella wuchs mit den Jahren, in denen ich mehr über die Firma und ihre Geschichte erfuhr. Spencer gründete sie nur, um seine Forschungen zu verdecken, die ihm helfen sollten, eines Tages ein Gott zu werden. Es kostete mich einiges an Überwindung, ihm nicht direkt ins Gesicht zu lachen, als er mir das vortrug. Aber ich tat so, als sei ich sehr interessiert daran, ihm zu helfen, damit ich meinen eigenen Plan vorantreiben konnte, der auf jeden Fall im Untergang Umbrellas gipfeln sollte.

Und dann tauchtest du im R&D Center auf.

Endlich war dir aufgegangen, wer der Feind war. Auch wenn du mich abgewiesen hast, sah ich meine Chance, dir endlich wieder nahezukommen. Deswegen werde ich dir von meinem Plan erzählen, sobald ich diesen Brief fertig habe und ihn gemeinsam mit allen Dokumenten versteckt habe. Denn auch wenn ich dich nicht überzeugen kann und ich am Ende sterbe, möchte ich, dass Umbrella bekommt, was es verdient. In dieser Tasche findest du daher eine ausführliche Dokumentation über die Gründung von Umbrella, die einzelnen Standorte ihrer Labore – inklusive des geheimen Labors in Afrika – und anderer wichtiger Einrichtungen.

Ich vertraue darauf, dass du wissen wirst, was du mit diesen Informationen tun musst. Lass Umbrella für alles büßen, was sie uns angetan haben.

Zum Schluss möchte ich dir nur noch schreiben, was ich dir vermutlich nie sagen kann: In all den Jahren, in denen wir voneinander getrennt waren, wollte ich nichts lieber, als dich wiederzusehen. Ich habe alle Berichte über dich gelesen, manchmal Videos gesehen, etwa von dem Moment, als du zum Captain der S.T.A.R.S. ernannt wurdest. Du sahst so gut in dieser Uniform aus, und du warst so stolz – aber in deinen Augen konnte ich auch deine Einsamkeit sehen, ein tiefer Schmerz, den ich ganz genauso empfand. Dieser Ausdruck wurde nicht besser, selbst wenn du in den Nachrichten erleichtert davon berichten konntest, dass deine Einheit einen schweren Fall gelöst und der Stadt wieder Frieden geschenkt hatte. Immer sahst du so traurig aus, und ich hätte dich gern umarmt und dich getröstet, dir versichert, dass du nicht allein bist. Aber Spencer erlaubte es mir nicht, wies mich immer wieder auf meine eigentliche Aufgabe hin, die mich nicht einmal wirklich interessierte.

Die ganze Zeit wollte ich einfach nur, dass alles wieder wie früher ist, dass du und ich Geschwister sind, dass ich nichts von all diesen seltsamen Dingen bei Umbrella weiß. Ich will einfach nur wieder Alex Wesker sein und all die Zeit nachholen, die wir nicht miteinander haben konnten.

Aber das ist nicht möglich. Und deshalb hasse ich Umbrella, weil sie mir all das genommen haben. Weil sie uns das alles genommen haben. Ich kann ihnen das nicht verzeihen, und ich weiß, dass du nicht zulassen kannst, dass sie eine Bedrohung für die Menschheit werden. Deswegen überlasse ich alles deinen Händen.

Bitte bring es zu Ende, Alby. Und vergiss dabei niemals, wie sehr ich dich liebe und vermisse.

Auf ewig deine Alex.

 

Er ließ den Brief wieder sinken. Mit der freien Hand fuhr er sich über seine nun brennenden Augen, um sich die Tränen wegzuwischen. Alex hatte ihm gesagt, dass sie ihn vermisst hatte, aber es so noch einmal ausführlich in einem Brief zu lesen – den er vor allem aufheben und immer wieder ansehen könnte – traf ihn noch einmal ganz anders. Er wünschte wirklich, er hätte ausführlicher mit ihr reden können. Es gab so viel, das noch zu bereden gewesen wäre. Aber nun war sie fort. Die Gelegenheit käme nie wieder. Ihm blieb nur noch, das zu nutzen, was sie ihm hinterlassen hatte, um ihren gemeinsamen Wunsch zu verwirklichen: Umbrella zu Fall zu bringen.

Die Entschlossenheit ließ die Tränen wieder versiegen, so dass er sich den anderen Unterlagen widmen konnte. Innerhalb kürzester Zeit stellte er fest, dass Alex nicht übertrieben hatte. Nicht nur die Standorte der verschiedenen Labore waren vorhanden, teilweise gab es sogar Angestelltenlisten, ganze Karten und Informationen über die Forschungen und Gegebenheiten vor Ort. Darunter war sogar das eigentliche Anwesen von Spencer aufgeführt, das jahrzehntelang der Familiensitz der Spencers in Europa gewesen war. Mit all diesen Informationen sollte es möglich sein, auch den letzten Rest von Umbrella zu verbrennen.

Albert lehnte sich auf dem Sofa zurück, er atmete tief durch und blickte noch einmal auf Alex' Brief, der ihren ausdrücklichen Willen beinhaltete.

»Ich werde das schaffen, Alex«, sagte er leise. »Mit deiner Hilfe werden wir Umbrella und all seine Spuren auslöschen, das verspreche ich dir.«

Diesmal ging er das auch nicht allein an. Sobald er wieder zu S.T.A.R.S. zurückkäme, würde er die Pläne vorlegen und darum bitten, es als Team-Aktion anzugehen. Die von Umbrella gegründete Einheit wäre damit auch ihr endgültiger Untergang – und diese Ironie fand sicher nicht nur Albert einfach köstlich.
 

Epilog: Hat Enrico es euch nicht gesagt?


 

Enrico gab ihm zwei Wochen, sich von allem zu erholen und seinen eigenen Plänen nachzugehen. So blieb ihm eine Woche, um allein durch Alex' Material zu gehen, dann eine weitere, um Zeit mit Jill zu verbringen, nachdem er sie aus dem Krankenhaus abgeholt hatte. Seine Wohnung erschien ihm viel angenehmer, während sie bei ihm war, und sein ganzes Leben allgemein viel … heller. Selbst wenn sie nur über triviale Dinge wie andere Restaurantgäste um sie herum sprachen, fühlte es sich für ihn wie etwas Wichtiges und Tiefgreifendes an.

Manchmal, wenn sie abends zusammen auf dem Sofa saßen, sie mit dem Rücken an seine Brust gelehnt, erzählte sie ihm vereinzelte Dinge, die sie in den Erinnerungen der anderen Jill gesehen hatte und die ihr jetzt Sorge bereiteten. Ein Virus auf einem Kreuzfahrtschiff, der das gesamte Mittelmeer zu infizieren drohte, mysteriöse Versuchsobjekte im Keller von Spencers Europa-Anwesen und natürlich das Uroboros-Virus, mit dem Wesker hantiert hatte. Wann immer sie ihm davon erzählte und ihre Stimme zu zittern begann, küsste er vorsichtig ihre Finger und versicherte ihr, dass alles gut gehen würde und bei ihnen nie so weit käme. Das gab ihr wieder neue Sicherheit, wie er zu spüren glaubte.

Er zeigte ihr alle Unterlagen, die Alex ihm überlassen hatte, denn sie waren ein Team und er hatte ihr versprochen, keine Alleingänge mehr zu unternehmen. Sie zeigte sich genauso interessiert daran und erging sich mit ihm in Gesprächen darüber, wie man Enrico am besten davon überzeugen könnte, den Plänen zur endgültigen Zerschlagung Umbrellas zuzustimmen.

Zwei Wochen nachdem er entlassen worden war, zog Albert das erste Mal seit langem wieder seine dunkelblaue S.T.A.R.S.–Uniform mit der schwarzen kugelsicheren Weste an. Wenn er zuletzt im Büro gewesen war, hatte er immer einen Anzug getragen, weil ihm so viele Treffen und Gespräche bevorgestanden waren, bei denen er einen guten Eindruck machen musste. Das war jetzt aber vorbei, er konnte einfach ein normales Mitglied sein, das sich nicht um so etwas kümmern musste.

Er griff sich Alex' Tasche, bevor er mit Jill die Wohnung verließ und zum RPD fuhr. Schon in der Eingangshalle wurde er von Polizisten, die er zum größten Teil gar nicht kannte, freundlich begrüßt, manche klopften ihm sogar kameradschaftlich auf die Schulter, als wäre er Jahre nicht mehr hier gewesen.

So dauerte es mehrere Minuten, bis sie es zum Büro schafften. Jill ließ ihm den Vortritt – und als er durch die Tür trat, wusste er auch sofort, warum. Alle anderen waren schon anwesend, sogar Chris, und sie erhoben sich sofort von ihren Plätzen, als er eintrat, um vor ihm zu salutieren. Zuletzt war das geschehen, als sie zu S.T.A.R.S. ernannt wurden, was ihm wie eine Ewigkeit vorkam, und außerdem waren es da nicht alle gleichzeitig gewesen. Überwältigt sah er zu Jill zurück, die inzwischen die Tür geschlossen hatte und nun ebenfalls salutierte.

»Willkommen zurück, Captain«, sagte Brad. »Wir haben Sie schon erwartet.«

Albert bedeutete ihnen, sich wieder zu rühren. »Hat Enrico es euch nicht gesagt?«

Er sah zum aktuellen Captain, der lächelnd mit den Schultern zuckte. »Ich dachte, sie nehmen es besser auf, wenn du es ihnen erzählst.«

Albert wandte sich wieder den anderen zu, die ihn inzwischen irritiert musterten – jedenfalls abgesehen von Barry und Chris. Letzterer wusste bereits Bescheid, ersterer konnte es sich vermutlich zumindest bereits denken.

»Nach allem, was ich in den letzten Wochen erfahren und getan habe«, begann er, »empfand ich es als vernünftigeren Schritt, von der Position als Captain zurückzutreten. Mit dem Chief und Enrico ist auch bereits alles besprochen, er wird Captain bleiben und ich weiterhin Teil der S.T.A.R.S., also ändert sich nicht viel.«

Zumindest war keiner enttäuscht, Barry und Billy nickten sogar verständig. Gerade Billy hatte durch die letzten Monate viel von Enrico mitbekommen, er könnte ihn bestimmt besser als Captain akzeptieren als ihn.

»Aber wer wird dann Vize-Captain?«, fragte Kevin nachdenklich.

»Das werde ich noch entscheiden«, antwortete Enrico. »Du bist aber nicht in der engeren Wahl.«

Kevin schmunzelte, während die anderen leise lachten. »Hab ich auch kein Interesse. Zu viel Papierkram. Ich wollte nur wissen, wem ich demnächst meine Krankmeldungen schicke.«

Da Barry bereits mit den Augen rollte und offenbar zu einem Vortrag darüber ansetzen wollte, dass Kevin sich eine bessere Arbeitsmoral zulegen sollte, ging Albert dazwischen, bevor es zu einem Streit kommen könnte: »Überleg dir das mit der Krankmeldung vorerst lieber noch mal. Ich habe nämlich einen Vorschlag, womit wir uns demnächst erst mal beschäftigen könnten. Und ich glaube, es könnte euch allen gefallen.«

Tatsächlich erregte das die Aufmerksamkeit von allen. Albert nutzte das aus, stellte die Tasche auf einem der Tische ab und holte die Dokumente heraus. So knapp wie möglich erklärte er, was sich in diesen Unterlagen alles an Informationen fand und wie sie das nutzen könnte. Je mehr er erzählte, desto interessierter schienen alle zu werden, sogar Billy beugte sich irgendwann vor, um einen Blick auf die Karte der Umbrella-Ausbildungsstätte zu werfen, die Rebecca gerade betrachtete.

»Damit könnten wir sichergehen, dass nichts von Umbrella zurückbleibt?«, hakte Chris nach.

»Ganz genau. Sogar der Ort, an dem sie die Sonnentreppe, die Grundlage für den T-Virus, anbauen, ist hier aufgeführt. Wenn wir sie davon abtrennen ...« Albert beendete den Satz nicht, aber Chris' Augen funkelten bereits aufgeregt.

Auch die anderen schienen überzeugt zu sein. Deswegen wandte er sich zum Schluss nur noch an Enrico, der während dieser ganzen Erzählung eine neutrale Miene behalten hatte.

»Verstehe ich das richtig?«, fragte er. »Du willst das alles mit uns im Vorfeld besprechen, statt allein und blindlings hineinzustürmen?«

Albert fuhr ein wenig zusammen, aber er wusste, dass er das durchaus verdient hatte. Schon sich allein mit Alex zu treffen, war eine dumme Idee gewesen und Enrico hatte es ihm bislang nicht vorgehalten, da wurde es tatsächlich Zeit. Äußerlich ließ er sich daher nichts anmerken, sondern nickte nur. »Korrekt.«

Endlich lächelte Enrico etwas. »Dann bin ich einverstanden. Aber sobald du nur eine eigenmächtige Entscheidung triffst, werde ich dich direkt von diesem Projekt abziehen.«

»Das wird schon nicht passieren«, versicherte Jill und klopfte auf Alberts Schulter. »Ich passe ab sofort darauf auf, dass er keinen Unsinn macht.«

»Ich auch«, stimmte Chris zu.

»Ich werde auch ein Auge auf ihn werfen«, meinte Barry. »Er wird nicht für Ärger sorgen.«

Diese geballte Aufsicht – die manchen vielleicht gestört hätte, aber Albert empfand es als schön, dass so viele Leute sich Sorgen um ihn machten – überzeugte Enrico endgültig. »Gut. Dann nehmen wir uns die Unterlagen vor und erstellen auf deren Basis Pläne. Mal sehen, was wir reißen können.«

Aufgeregt beteiligten sich alle direkt an der Verteilung der Unterlagen für die einzelnen Einrichtungen, was eine rege Betriebsamkeit in das Büro brachte; zuletzt hatte er das an jenem Abend erlebt, als die andere Jill mit Chris' Beweisen zurückgekehrt war.

Er wünschte, er könnte sich bei der anderen Jill bedanken, dass sie ihnen derart unter die Arme gegriffen hatte, aber so blieb ihm nur zu hoffen, dass sie in ihrer Welt wieder aufgewacht war und dass es ihr und Chris dort gut ging.

Während seine Jill und sein Chris sich zu ihm setzten und die Karte von Rockfort Island ausbreiteten, fühlte er selbst sich außergewöhnlich gut. Zum ersten Mal seit langem – oder vielleicht sogar zum allerersten Mal in seinem Leben – fühlte er sich nicht wie ein Außenseiter, der in eine ungeliebte Rolle gedrückt wurde, nicht wie jemand, der versuchte, sich krampfhaft zum Teil eines großen Ganzen zu machen. Er fühlte sich als nützlicher Teil eines Teams, zwischen Leuten, die er mochte – und das war ein großartiges Gefühl, das er niemals wieder missen wollte.
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich hab diese ganze FF eigentlich nur angefangen, weil ich Carlos' Besuch im Büro zeigen wollte. :,D Komplett anzeigen

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