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Sherlock Holmes - Das Phantom von Maiwand

von

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Rückkehr in die Baker Street

Anmerkung des Autors John H. Watson: Folgende Erzählungen finden im Juli 1894 statt, drei Monate nach Holmes' Rückkehr nach London, welche ich mit der Geschichte ' Das leere Haus' veröffentlichte und auf die breite Begeisterung der Masse stieß. Zudem möchte ich mich im Vorfeld für meine kritischen Äußerungen gegenüber dem britischen Militärs entschuldigen, denen ich bereits zuvor in meiner Erzählung des 'Erbleichten Soldaten' verfallen bin, mir jedoch trotz jeglicher Kritik herausnehmen möchte. Am Ende möchte ich noch meinem Freund Clifford - seit kurzem mit eigener Arztpraxis in London ansässig - und den ich bereits in der Geschichte des 'Geheimnisses um Rosies Hall' erwähnte für seine Mithilfe danken.
 

Etwas wehmütig hatte ich einen letzten Blick auf meine Besitztümer geworfen, von denen viele in Kartons verpackt waren, wieder andere jedoch unweigerlich den Weg zum Sperrmüll antreten mussten. Ich gestand mir ein, über die Jahre hinweg einfach zu viel an unnötigen Gegenständen angehäuft zu haben. Seien sie der bloßen Dekoration, oder wegen dem alltäglichen Nutzen angeschafft worden. Mit dem Wissen meine Räumlichkeiten nicht mehr so schnell zu betreten, sei es denn, der Mieter würde sich noch anders entscheiden, schloss ich die Tür hinter mir.

Ich schritt die Treppe zu meinen Praxisräumen hinab, in denen sich seit Jahren keine Veränderung mehr bemerkbar gemacht hatte. Als meine Frau Mary noch unter den Lebenden weilte, verstand sie es gut, alles so herzurichten, dass sich meine Patienten wohl fühlten, so dass ich mich meiner eigentlichen Arbeit widmen konnte. Ich verspürte nicht die Muße, diese Tradition fortzuführen und vertraute auf meine Stammpatienten, darüber hinwegzusehen. Ich zog einen schweren Koffer mit mir und wartete draußen auf die bestellte Droschke. Der Kutscher war ein freundlicher Zeitgenosse, der mir sofort half mein Gepäck einzuladen.

Die Fahrt ging los und eine milde Welle der Nostalgie überkam mich. Früher, als ich noch regelmäßig Post von Holmes erhalten hatte, der einen spannenden Fall ankündigte, hatte ich mich häufig auf diese Strecke begeben. Kaum eine Stunde später hatten wir unser Ziel erreicht, die gute, alte Baker Street 221B.

Den Rest des Weges musste ich mein Gepäck alleine tragen. Ich verzichtete sogar zu läuten, in der Erkenntnis, dass Mrs. Hudson mir bestimmt zur Hilfe geeilt wäre. Als Gentleman wäre mir dies selbstverständlich niemals eingefallen. Von Holmes hingegen hätte ich sofort Hilfe angenommen, wusste aber natürlich, dass von Seiten dieser Front jede Hoffnung verloren war.

Nachdem ich meinen Koffer abgestellt und in den Wohnbereich eintrat, roch meine Nase bereits das alt Vertraute. Holmes hatte sich noch nicht wieder vollständig eingerichtet, jedoch war ich mir sicher, dass seine Schränke bereits randvoll mit seiner geliebten Kokainlösung gefüllt waren. Vermutlich hatte er sich in diesem Bereich auch weiterentwickelt, hatte es ihn doch die vergangenen Jahre durch halb Europa und darüber hinaus getrieben.

Obwohl er gerade die Zeitung studierte, bemerkte er mein Eindringen und nickte mir leicht zu.

Gequält nahm ich Platz und schenkte mir ein Glas Whisky ein. Ich bereite es nicht, zurück in die Baker Street gezogen zu sein. Es war eine logische Entscheidung gewesen. Sowohl von finanzieller als auch gesellschaftlicher Seite. Nach dem Tod meiner Frau hatte mich die Trauer überwältigt. Durch Holmes' Rückkehr tat sich jedoch eine Chance auf einen Neuanfang für mich auf.

„Studieren Sie die Times bereits nach neuen Fällen? Ich hatte angenommen, Sie würden es erst mal ruhig angehen lassen, alter Freund.“, begann ich die Unterhaltung.

Holmes strafte mich eines skeptischen Blickes.

„Watson, ich bezweifle, dass Sie während meiner Abwesenheit meine Abneigung zur Untätigkeit vergessen haben. Sie mögen in der Zwischenzeit vielleicht dem Müßiggang verfallen sein, ich jedoch habe mich kontinuierlich weitergebildet.“

Daran hegte ich keinerlei Zweifel. Mein Freund hatte bestimmt auf vielschichtiger Art seinen Horizont erweitert.

„Ich meine ja nur. Der Großteil Englands weiß vermutlich noch gar nicht, dass Sie zurück sind. Es könnte für den Anfang schwer werden, neue Klienten zu akquirieren“, führte ich ihm vor Augen.

Holmes ließ sich davon wenig beeindrucken.

„Doktor, meine Fähigkeiten stehen für sich. Dasselbe gilt natürlich auch für meine Erfolge. Die Klienten werden schon bald Schlange stehen. Neue.... und alt bekannte. Solche, die schon immer sehr penetrant waren.“, erwiderte mein Freund.

Ich wollte mich erkundigen, ob er sich auf jemand bestimmten bezog, doch dann fuhr er bereits fort.

„Ach richtig, von Ihrem Platz aus können Sie nur schwerlich einen Blick aus dem Fenster werfen. Vor kaum einer Minute hat ein junger Mann die Droschke verlassen und mit mehrfachen Blicken die Umgebung abgesucht.“

Ich staunte. Ich war davon ausgegangen, dass er sich gänzlich der Times widmete, doch mein Freund nahm jede Veränderung seiner Umgebung wahr.

„Glauben Sie... dieser junge Mann möchte zu uns? Ein neuer Klient womöglich?“

Holmes verzichtete auf eine Antwort, vermutlich in dem Wissen, dass ich diese ohnehin jeden Moment erhalten würde. Leise Stimmen halten aus dem Treppenhaus. Eine davon nahm ich als die unserer treuen Haushälterin wahr, die andere war eindeutig männlich.

Schwere Schritte zeichneten sich nun ab und wir beide erwarteten unseren Gast gespannt.

Dieser klopfte und Holmes bat ihn herein.

Es handelte sich um einen jungen Mann, vielleicht Mitte 20, sehr adrett gekleidet. Ich erwartete, dass er sich gleich seines Hutes und Mantels entledigen würde, doch dem war nicht der Fall. Er wirkte sehr gehetzt und taxierte sofort Holmes mit seinem Blick.

„Mr. Holmes? Frederic Woodrow mein Name. Es tut mir leid, dass ich einfach unangemeldet hereinstürme, doch Sie müssen mich sofort begleiten.“, platzte er nun heraus.

Mein Freund ließ sich nicht beirren und genoss weiterhin ruhig seine Pfeife.

„So? Muss ich das? Lassen Sie mich raten, die Zukunft des Empires steht wieder mal auf dem Spiel.“, erwiderte er lapidar.

Woodrow aber nickte mehrmals aufgeregt.

„Ja, Mr. Holmes, damit haben Sie absolut recht. Eine Katastrophe ist dabei sich anzubahnen!“, sagte er aufgeregt.

Ich gestand mir ein, den beiden nicht ganz folgen zu können.

„Holmes, kennen Sie unseren neuesten Gast etwa?“, hakte ich nach.

Der Detektiv schüttelte nur leicht den Kopf.

„Nein, aber inzwischen fällt es mir schwer in den Lakaien meines Bruders irgendeinen Unterschied zu sehen. Jedes Mal steht die Welt am Abgrund.“

Diese Bemerkung überraschte mich.

„Ihr... Bruder?“, hakte ich nach.

Holmes nickte.

„Allein die teure, maßgeschneiderte Kleidung ist bei dem Alter des Burschen aussagekräftig. Schon als er sich draußen nach Verfolgern umgesehen hat und das in einer disziplinierten und vor allem antrainierten Weise wurde es mir klar. Ob er nun von Whitehall oder direkt dem Diogenes-Club aus losgeschickt wurde, spielt dabei keine Rolle. Früher machte sich mein Bruder noch selbst die Mühe mich in meinen Gemächern aufzusuchen, doch während meiner Reise scheint er noch träger geworden zu sein.“

Nun schien das Ganze schon mehr Sinn für mich zu ergeben. Je mehr ich den jungen Mr. Woodrow betrachtete, umso mehr konnte ich in ihm einen Beamten des Geheimdienstes erkennen.

„Also wurden Sie von Mr. Mycroft Holmes entsandt?“, wandte ich mich an ihn.

Der junge Agent zögerte leicht.

„Ja... nein... also... Mr. Holmes, wenn ich Sie nun bitten dürfte mich zu begleiten.“, kehrte er zu seinem ursprünglichen Anliegen zurück.

Ich erkannte, wie mein Freund gereizt die Lippen verzog.

„Mr. Woodrow, sollte das Ihr wahrer Name sein. Richten Sie meinem werten Bruder aus, dass ich ihm dankbar für seine Unterstützung während der letzten Jahre bin, aber nicht vorhabe, dafür ewig in seiner Schuld zu stehen. Ich habe nicht vor, den Schoßhund zu mimen.“, erwiderte er trocken.

Dies war eindeutig nicht die Reaktion, mit der Woodrow gerechnet hatte.

„Ja, aber... ich weiß nicht, ob ich im Stande bin, Ihre Antwort weiterzuleiten, Mr. Holmes.“, antwortete dieser nur.

Nun konnte ich ihm nicht folgen und als ich zu meinem Freund blickte, erkannte ich, dass er es mir gleich tat. Zum Glück führte Woodrow seine Ausführungen gleich darauf fort.

„Ich komme direkt vom Empfang, wo das Treffen mit dem deutschen Würdenträger stattgefunden hat. Ihr Bruder war für seine Sicherheit zuständig und... naja...“, war er schließlich in ein leichtes Stammeln verfallen.

„Jetzt rücken Sie schon raus! Was ist denn nun mit Mr. Mycroft Holmes?“, musste ich meine Stimme etwas erheben um ihn zum Fortfahren zu bewegen.

Woodrow schluckte schwer.

„Mr. Holmes... auf Ihren Bruder wurde geschossen.“, offenbarte er nun endlich sein wahres Anliegen.

Zugegeben, ich hatte Holmes seit Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen. Dennoch zweifelte ich daran, dass er sich in dieser Zeit groß verändert hatte. Er war immer noch der schwer zu beeindruckende Stoiker, der er früher war. Und dennoch... die Regung im Gesicht meines Freundes war etwas, das mir noch nie untergekommen war. Und noch etwas.

Er war sprachlos. Also oblag es mir, die Situation etwas zu beschleunigen.

„Jetzt lassen Sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen! Wie ist sein Zustand?“, musste ich gestehen mehr aus freundschaftlichem, als aus medizinischem Interesse zu fragen.

Woodrow schien zum Glück in sein professionelles Verhalten zurückzufallen.

„Das weiß ich nicht genau. Er wurde ins St. Bartholomew's eingeliefert. Die letzte Anweisung, die ich erhielt war, Sie aufzusuchen und mit den Ermittlungen zu betrauen.“

Weitere Worte waren nicht nötig. In Windeseile hatte Holmes seine Times, sowie seine Pfeife beiseite gelegt und war aufgestanden.

„Ich nehme an, Sie haben der Droschke Anweisung gegeben zu warten? Gut, dann können Sie uns auf dem Weg mit den Details versorgen.“

Als er sich schließlich seinen Mantel und seinen Deerstalker griff, wurde mir bewusst, dass er mich während dieses Vorhabens dabei haben wollte. Auch ich überlegte fieberhaft, wo ich denn meine Ausgehkleidung belegt hatte und stieß zu den beiden zurück, als diese bereits die Treppe hinabstiegen. Mrs. Hudson blickte uns fragend nach, doch es blieb keine Zeit für Erklärungen.

Wie Holmes vorausgesagt hatte, wartete der Kutscher bereit auf uns uns Woodrow gab ihm Anweisungen ins Bartholomew's zu fahren.

Ich und Holmes quetschten uns zusammen mit dem Agenten ins Innere und dann wurden die Pferde bereits angetrieben. Mein Freund musste sich erst räuspern um Woodrow um Reden zu bringen. Vermutlich hatte dieser Bedenken, dass der Kutscher etwas aufschnappen konnte. Schließlich rang er sich dazu durch.

„Ihr Herr Bruder war für den Schutz des deutschen Botschafters zuständig, der im Londoner Wyndham-Hotel abgestiegen war. Es ging um die Besprechung einer neuen Handelsroute, welche mit dem britischen Außenminister diskutiert werden sollte.“

Ich verstand sofort, dass die Lage ernst war.

„Was ist mit den beiden Männern? Wurde auch auf sie geschossen?“, fragte ich stockend.

Woodrow zögerte.

„Der werte Herr Minister war noch nicht eingetroffen. Mr. Mycroft Holmes führte den Botschafter durch die Lobby des Hotels als es geschah. Wir haben bis dato noch keine Ahnung von welcher Position aus der geschossen haben könnte. Der innere Bereich des Hotels war gesichert. Jedenfalls wurde der deutsche Botschafter tödlich getroffen. Ein Kopfschuss. Jegliche Hilfe kam zu spät. Weitere Kugeln drangen ein und eine davon erwischte schließlich Ihren Bruder.“,

Ich konnte nicht anders als mir die Hand vor den Mund zu halten. Ein ausländischer Würdenträger war auf britischem Boden ermordet worden. Ein Skandal sondergleichen. Dennoch war meinem Freund anzusehen, dass ihn dies eher peripher tangierte. Die Sorge um seinen Bruder stand für ihn an oberster Stelle.

Ermittlungen

Als wir endlich vor dem großen Hospital angekommen waren, war mein Freund der Erste, der seinen Fuß auf den Boden setzte. Woodrow befahl dem Kutscher erneut zu warten, womit dieser keine Probleme hatte.

Dann schritten wir in das Gebäude und erkundigten uns direkt am Empfang nach Mycroft Holmes. Die Dame konnte uns verraten, dass die Operation bereits abgeschlossen und dieser auf ein Zimmer gebracht worden war.

Kaum hatte sie die Nummer genannt, setzte sich Holmes wieder in Bewegung.

Zum Glück mussten wir lediglich eine Treppe auf uns nehmen um das genannte Zimmer zu erreichen. Als wir Mycroft Holmes dort vorfanden, überraschte mich sein Anblick. Ich nahm an, ihn noch betäubt in seinem Bett vorzufinden, vielleicht sogar von oben bis unten bandagiert. Doch nein, der Beamte der britischen Regierung war auf den Beinen und stützte sich auf einen Stock.

Als er uns erblickte, erhellte sich seine Miene etwas.

„Sherlock! Gut, dass du gekommen bist. Wir müssen sofort handeln.“, begrüßte er den Detektiv in seiner für ihn überschwänglichen Art.

Mein Freund taxierte ihn skeptisch.

„Dein Mr. Woodrow hier hat vermelden lassen du wurdest angeschossen?“, erwiderte er dann.

Mycroft Holmes nickte schwer.

„Ja, dieser Schweinekerl hat mir direkt eine Kugel in die Schulter gejagt. Zwar ein Durchschuss, aber sicher das schmerzvollste, was ich je erleben musste. Wie dem auch sei, die Ärzte haben das Loch geflickt und ich kann mich wieder der Arbeit widmen.“

Das schwere Schnauben seitens Holmes war etwas, das ich schon lange nicht mehr vernommen hatte. Er warf einen leichten Blick zu Woodrow, der es sich in der Eingangstür zum Zimmer bequem gemacht hatte. Vermutlich hatte Mycroft ihm aufgetragen, seine Verwundung als etwas schwerwiegender darzustellen, als sie eigentlich war. Er kannte seinen Bruder natürlich am besten und wusste, dass so eine Meldung diesen unverzüglich zum Handeln zwingen würde.

„Ich verstehe, deine Schulter also. Ich fürchte dann wirst du dein regelmäßiges Golfspielen wohl aufgeben müssen.“, nutzte er Sarkasmus als seine Form der Rache.

Mycroft ächzte verächtlich.

„Wir können gerne tauschen, Sherlock. So weit ich weiß, wurdest du noch nie angeschossen. Es ist kein schönes Gefühl, sage ich dir.“

Hier konnte ich dem Verletzten nur recht geben. Automatisch meldete sich meine Schusswunde in meinem Bein wieder, welche ich mir in Afghanistan zugezogen hatte. Ich konnte mir gut vorstellen, dass Mycroft auch noch in Jahren von einhergehenden Phantomschmerzen an diesen Tag erinnert wurde.

„Ich meine ja nur. Du hast wirklich Glück, dass es nicht dein Bein erwischt hat. Kaum vorzustellen, dass du in Zukunft auf Spaziergänge oder gar das viele Laufen hättest verzichten müssen.“, stichelte er weiter.

Mycroft Holmes ließ sich aber nicht provozieren.

„Schön, dass du deinen Spaß hast, Sherlock. Ich habe diesen nicht. Der deutsche Botschafter wurde unter meinem Schutz ermordet. Kannst du dir vorstellen welche Ausmaße sein Tod hat?“

Mein Freund verdrehte nur die Augen.

„Keine sonderlichen. Es folgt eine förmliche Entschuldigung unseres Premierministers an den deutschen Kaiser, so wie das Versprechen die Verantwortlichen unverzüglich Dingfest zu machen. Es wird nur ein kleiner Schandfleck auf dem Empire zurückbleiben, nichts was dauerhaft haften bleibt. Wie es allerdings mit deiner Karriere aussieht... das lässt sich derzeit noch nicht absehen. Ein verantwortlicher Kopf rollt so gut wie in jedem Fall.“, führte Holmes die realistischen Konsequenzen vor Augen.

Sein Bruder klatschte leicht und demonstrativ.

„Vielen Dank, Sherlock, dass du dein ausgezeichnetes Wissen über internationale Politik unter Beweis stellst. Aber zumindest mit einer Sache liegst du richtig. Wir nehmen das Versprechen die Verantwortlichen zu finden und zu bestrafen sehr ernst. Und genau darum wird dieser Part auch von Londons begabtesten Detektiv übernommen.“, stellte er klar.

Mein Freund fühlte sich aber keineswegs angesprochen.

„Es tut mir leid dich enttäuschen zu müssen. Ich habe mich noch nicht gut genug in London eingelebt. Außerdem habe ich noch andere Verpflichtungen.“, versuchte er sich aus der Affäre zu ziehen.

Doch Mycroft ließ es nicht gelten.

„Sherlock. Entweder du entsprichst meiner Bitte, oder der Außenminister selbst steht vor deiner Tür. Ich möchte sehen, wie du jenen dann abweist.“, drohte er.

Äußerlich zeigte sich Holmes wenig beeindruckt. Doch ich kannte ihn gut genug um zu erkennen, dass sein Pflichtbewusstsein höher angesiedelt war als sein Ego.

Als er nichts erwiderte, gab Mycroft seinem Agenten ein Zeichen.

„Mr. Woodrow wird dich und den werten Doktor zum Wyndham-Hotel begleiten, damit du den Tatort in Augenschein nehmen kannst.“

Sofort reagierte der junge Agent und räumte den Weg frei. Eher missmutig bereite sich mein Freund dann doch bereit den Fall zu übernehmen. Wir ließen den Patienten alleine und schritten hinaus in den Gang.

„Sehen Sie es so, Holmes. Dieser Attentäter könnte sein Werk noch nicht vollendet haben. Was, wenn er als nächstes ein Attentat auf die Königin vorhat? In diesem Fall müssen wir sofort aktiv werden.“, führte ich ihm vor Augen.

Ein mildes Schmunzeln folgte.

„Ihres Fantasie in Ehren, Doktor. Aber ich bezweifle, dass wir es mit einem Verrückten oder gar Anarchisten zu tun haben.“, entgegnete er.

Eine Ansicht, der ich nur schwer folgen konnte. Ich hinterfragte meinen Freund, doch dieser mahnte mich zur Geduld, zumindest bis wir das Hotel erreichten, in dem die Tragödie stattgefunden hatte.
 

Scotland Yard hatte den Bereich weiträumig gesperrt, so dass wir das Hotel ohne Schwierigkeiten betreten konnte. Mr. Woodrow schien bei allen Beteiligten bekannt zu sein, so dass wir uns an keiner Stelle ausweisen mussten. Zu Holmes' Unmut war die Leiche des Botschafters bereits abtransportiert worden. Ein verständliches Vorgehen, bei so einer wichtigen Persönlichkeit, der uns jedoch einen Umweg in das gerichtsmedizinische Institut bescheren würde.

Woodrow wollte dem Detektiv die Leibwächter vorstellen, welche den Botschafter abschirmen hätten sollen, doch mein Freund ignorierte sie. Er inspizierte jedes einzelne Einschussloch und beugte sich schließlich über die Blutspuren. Ich musterte die große Lache, die keinen Zweifel ließ, dass hier ein Mensch gestorben war. Holmes sah sich kleinere Spritzer an, die vermutlich entstanden waren, als das Geschoss Mycrofts Schulter durchstieß.

„Haben... Sie etwas gefunden, Mr. Holmes?“, wagte es Woodrow zu fragen, welcher jedoch einfach stehen gelassen wurde.

Holmes verließ das Hotel und ich unternahm Anstalten ihm zu folgen. Draußen ließ er seinen Blick schweifen und steuerte auf ein Gebäude zu, das sich westlich dem Hotel befand. Es handelte sich um ein Wohnhaus, doch anstatt anzuklopfen verschlug es uns auf die Rückseite, wo wir vor einer hohen Feuertreppe hielten.

„Wie erwartet.“, murmelte Holmes und nahm die erste Stufe.

Ich unternahm zuerst Anstalten zu warten, immerhin war das Treppensteigen für mich inzwischen zur Qual geworden. Nachdem ich aber zu lange in der dunklen Kälte stand, gab ich mir einen Ruck und folgte meinem Freund nach oben.

Auf dem Dach suchte der Detektiv erneut nach Spuren und schien fündig zu werden.

„Holmes! Sie denken doch nicht, dass der Schütze von hier aus geschossen hat?“, eilte ich zu ihm.

Die Antwort folgte unverzüglich.

„Ich weiß es, Watson! Sehen Sie!“

Ich kam neben ihm zu stehen und folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger.

Tatsächlich. Auf der Mauerkante zeichnete sich ein kleiner Gegenstand ab. Nein, es waren zwei kleine Gegenstände. Obwohl es dunkel war, verzichtete Holmes darauf, seine Lupe hervorzuholen. Auch ich identifizierte sie. Es handelte sich um zwei Patronenhülsen.

Die beiden Spitzen neigten sich zusammen und wiesen wie eine Art Pfeil direkt auf das Wyndham-Hotel.

„Doktor, bitte verständigen Sie Scotland Yard, dass sie die Spuren auf diesem Dach hier sichern sollen.“, sagte Holmes und setzte sich wieder in Bewegung.

Ich dachte wieder an mein Bein, verzichtete aber auf eine Beschwerde. Im Moment gab es Wichtigeres.

Dennoch verharrte ich einen Moment und starrte die Hülsen an. Mir war so, als hätten sich mich an etwas erinnert. Zwei Hülsen... die Spitzen aneinander...

Ich strengte mein Gehirn an, kam aber zu keinem Ergebnis. Schließlich folgte ich Holmes und stieg die Treppe hinab. Ich gab den nächstbesten Constable Bescheid und schritt dann wieder Richtung Hotel.

Holmes war gerade dabei das seitliche Fenster zu überprüfen, mit Woodrow an seiner Seite.

„Doktor Watson! Vielleicht wären Sie so freundlich etwas beizutragen.“, schien der Agent etwas ungeduldig zu sein.

Ich sprang für Holmes ein und erzählte von den Hülsen, die wir auf dem Dach des Gebäudes gefunden hatten.

„Unmöglich. Er hätte den Botschafter aus dieser Höhe niemals identifizieren können. Das genannte Dach ist zu hoch. Eine derart steile Flugbahn wäre für einen Scharfschützen nicht zu meistern gewesen.“, beharrte Woodrow.

„Und doch war es so!“, kam es nun von Holmes.

„Der Attentäter verschanzte sich auf dem Dach des westlich geneigten Gebäudes und wartete auf sein Ziel. Vermutlich orientierte er sich an den breiten Spiegeln um Eingangsbereich. Der Botschafter könnte eine Eigenart gehabt haben, doch ein besonderes Accessoires an seiner Kleidung. Jedenfalls war er ein leichtes Ziel.“

Woodrow prustete.

„Wohl kaum. Sehen Sie sich hier doch um! Es ist ein reiner Kugelhagel. Und wir sollen es mit einem Profi zu tun haben? Der Botschafter ist der einzige, der tödlich getroffen wurde. Selbst Ihr Bruder kam mit einer leichten Verletzung davon.“, wollte er den Detektiv berichtigen.

Holmes betrachtete ihn nur geringschätzig.

„Und dennoch... sagten Sie, dass der Botschafter als Erster getötet wurde, richtig? Durch einen Kopfschuss.“

Der Agent bestätigte es noch einmal.

Holmes schien nichts anderes erwartet zu haben.

„Dann würde ich nun vorschlagen, dass wir das Leichenschauhaus aufsuchen und einen Blick auf das eigentliche Opfer werfen.“, meinte er an mich gewandt.

Nun zögerte ich leicht.

„Holmes... wenn Sie verzeihen, ich fühle mich nicht sonderlich wohl. Würde es Ihnen ausmachen, dies ohne mich zu erledigen?“, bat ich ihn nun.

Überraschung blitzte in seinen Augen auf, doch schließlich akzeptierte er meine Bitte.

Maiwand

So kam es, dass wir das Hotel verließen, Holmes in Richtung des Yards, ich zurück in die Baker Street. Nachdem ich Mrs. Hudson informierte, wollte diese einen kleinen Snack für Holmes vorbereiten, wenn dieser zurückkehrte. Ich hingegen suchte mein Zimmer auf und kam erst jetzt dazu, meinen Koffer auszupacken. Das meiste landete auf meinem Bett. Der Gegenstand, den ich eigentlich suchte, verbarg sich wider einmal ganz unten.

Es handelte es sich um mein altes Tagebuch, das ich 1880 begonnen und in welchem ich zahlreiche Einträge meiner Zeit in Afghanistan niedergeschrieben hatte.

Ich setzte mich auf mein Bett und studierte Seite für Seite. Ich konnte mich auch irren und etwas verwechseln, wollte aber unbedingt sicher gehen. Meine Hände zitterten jedes Mal, wenn ich von einem weiteren gefallenen Kameraden geschrieben hatte. An die 970 Briten fielen in der Schlacht von Maiwand und 1757 insgesamt in diesem sinnlosen Krieg, vermutlich eine der größten Niederlagen für das britische Empire. Erst im September 1880 beendete General Frederick Roberts diesen Krieg in der Schlacht von Kandahar. Die Briten sahen jedoch ein, dass es für die Durchsetzung ihrer politischen Interessen keine militärische Lösung gab, und zogen sich bald darauf aus Afghanistan zurück. Am Ende des Tages war nichts erreicht worden, kein Ort, der mühsam eingenommen werden konnte, hatte irgendeinen essentiellen Wert. Schließlich fand ich einen Eintrag von 20ten Juli, etwa 7 Tage, bevor mich diese verdammte Kugel ins Bein getroffen hatte. Ich hatte die Seite mit den Worten 'Almawt Algharib' gekennzeichent. Ich durchflog sie schnell und mir stockte der Atem als ich am letzten Satz angekommen war.

Zwei Patronenhülsen. Die Spitzen aneinander gelegt. Ich versuchte mich zur Ruhe zu mahnen. Immerhin konnte es sich immer noch um einen Zufall handeln. Auf der anderen Seite... hatte Holmes von einem sehr begabten Schützen gesprochen.

Ich legte das Tagebuch beiseite und legte mich auf das Laken. Immer wieder spielten sich die Bilder vor meinem Auge ab. 27. Juli, 1880. Maiwand. Der Moment, als ich mich umdrehte und in den Lauf des Jezail starrte, das ein älterer Afghane auf mich gerichtet hatte. Es war nur einem Kameraden zu verdanken, der schnell genug reagierte, dass die Kugel lediglich mein Bein traf.

Es hätte auch anders ausfallen können.

Schließlich hörte ich Holmes die Treppe nach oben eilen und in seinem Arbeitszimmer verschwinden.

Ich raffte mich auf und schritt zu meinem Freund. Dieser war in älteren Ausgaben der Times vertieft, er schien nach etwas zu suchen.

„Watson, mein Guter. Fühlen Sie sich besser?“, hakte er nach.

Langsam schritt ich zu meinem Sessel und ließ mich nieder. Holmes erkannte, dass mit mir etwas nicht stimme und schenkte mir ein Glas Whisky ein.

Ich trank es mit großen Zügen leer und starrte zur Decke.

„Holmes, ich muss mich entschuldigen. Es gab einen Grund, warum ich Sie nicht begleitet habe.“, gestand ich nun.

Jedoch schien ich den Detektiv mit meiner Aussage nicht zu überraschen.

„Sie haben die Hülsen wiedererkannt, die wir auf dem Dach sichergestellt haben? Woher?“

Es überraschte mich keineswegs, dass Holmes mich durchschaut hatte. Für ihn war ich wie ein offenes Buch.

Ich genehmigte mir noch einen Schluck, bevor ich zu erzählen begann.

„Afghanistan. Juli 1880.“, verriet ich dann.

Holmes musterte mich prüfend.

„Sie haben sie zuvor auf dem Schlachtfeld gesehen?“, hakte er nach.

Ich verneinte.

„Nein, gesehen habe ich sie nie. Nur... von ihm gehört.“

Der Detektiv hob eine Augenbraue.

„Von ihm? Auf wen genau beziehen Sie sich?“, wollte er wissen.

Ich holte tief Luft.

„Dem Phantom von Maiwand.“

Ich hatte nicht erwartet, dass Holmes dieser Name auch nur irgendetwas sagen würde. Immerhin handelte es sich nur um eine Spukgeschichte Eine Spukgeschichte unter Soldaten. Dennoch unterbrach mich Holmes nicht, sondern gestand mir die Zeit zu, die ich brauchte.

„Es war der 20te Juli, als das 66te Berkshire-Regiment in Kandahar eintraf. Wir sollten die 65te Einheit unterstützen, doch von jener war kaum etwas übrig geblieben. Es gab mehr Einheimische, die ich zu versorgen hatte als unsere eigenen Leute. Es war schließlich ein kleiner Junge, der immer wieder dieselben Worte murmelte, als ich ihn behandeln wollte. Almawt algharib. Fremder Tod. Ich nahm erst an, er würde uns meinen, doch dem war nicht so. Vor uns hatte ein Monster in Maiwand gewütet. Es machte weder vor feindlichen Soldaten, noch vor Zivilisten halt. Immer wieder hörte ich Geschichten von Leuten, denen dieses Monster begegnet war. Es hatte selbst Kinder und alte Greise getötet. Und immer wenn es sein Gewehr benutzte... legte es zwei Patronenhülsen auf den Boden. Die Spitzen aneinandergelegt, wie ein Pfeil, die auf sein fertiges Werk zeigten. Manche behaupteten dieses Monster wäre selbst getötet worden, andere meinten, es wurde nur verwundet. Jedenfalls blieb es bei Geschichten. Nur sieben Tage später wurde ich verwundet und nach Hause geschickt. Ich habe diese Erzählungen in meinem Tagebuch festgehalten. Aber das Gesicht des Jungen... und die anderen.... sehe ich noch vor mir. Dieses geschockte Gesicht als sie diesem Monster begegnet waren.“, endete ich meinen Bericht.

Holmes zündete sich seine Pfeife an und studierte meine Erzählung eine Weile für sich.

Dann kramte er erneut in den alten Ausgaben der Times herum.

„Ich muss gestehen, alter Freund, auch mir sind diese beiden Hülsen nicht fremd.“

Sofort hatte Holmes meine ganze Aufmerksamkeit. Ich wollte ihn drängen zu erzählen, wusste aber, dass dies noch keinen Sinn hatte.

Schließlich wurde er fündig.

„Hier haben wir es ja. Vor fünf Jahren wurde ein Geschäftsmann in Whitechapel Opfer eines Attentats. Ein Scharfschütze jagte ihm eine Kugel in den Kopf und verschwand spurlos. Scotland Yard war es zwar möglich die Position ausfindig zu machen, jedoch...“

„Jedoch war alles was sie fanden zwei Hülsen. Mit den Spitzen auf die Position der Leiche zeigend.“, beendete ich den Satz für ihn.

Holmes nickte.

„Ja, ich erinnerte mich sofort an den Fall, den ich über zwei Ecken bearbeitet habe. Dadurch war mir auch sofort bewusst, dass wir es mit dem selben Täter zu tun haben. Den Mann, den Sie als 'Das Phantom von Maiwand' bezeichnen.“

Ich wurde stutzig.

„Was genau meinen Sie mit 'über zwei Ecken', Holmes?“, hakte ich nach.

Mein Freund lehnte zurück.

„Es war mir möglich die Auftraggeber ausfindig zu machen und der Gerechtigkeit zuzuführen. Leider schwiegen sie was die Identität dieses sogenannten Phantoms anbelangt.“

Ich stand ruckartig auf.

„Also sitzen diese Auftraggeber im Gefängnis? Wenn wir jetzt etwas nachhaken, dann könnten wir diesen Schweinekerl kriegen!“, schlug ich mit der Faust auf den Tisch.

Holmes stimmte mir zu.

„Dieser Meinung bin ich ebenfalls. Die meisten dieser Auftraggeber sind bereits verstorben, doch einer sitzt momentan im Old Baily und wartet auf seine Hinrichtung. Ich habe Inspektor Bradstreet gebeten, diesen morgen in einen Verhörraum des Yards zu bringen um dort mit ihm zu sprechen. Ich hätte Sie gerne dabei, alter Freund.“

Es kostete mich keine volle Sekunde um zuzusagen. Wenn ich etwas dazu beitragen konnte diesen Kerl zu schnappen, umso besser.

Es machte Sinn. Nach dem Krieg waren wir Soldaten nichts weiter als ein Ballast für die britische Regierung. Die meisten verwundet und ein lästiger Kostenfaktor. Für begabte Leute gab es aber immer wieder etwas zu tun. Als Arzt hätte ich natürlich niemals auch nur daran denken können mich als Auftrags-Attentäter zu versuchen. Beim Phantom sah es aber schon anders aus. Wenn es nicht einmal Probleme damit hatte Zivilisten zu töten, dann hatte es inzwischen den perfekten Beruf gefunden. Doch nichts änderte sich daran, dass es aufgehalten werden musste. Und das so schnell wie möglich.

Ein alter Bekannter

Am nächsten Tag war ich sogar noch vor Holmes wach. Unsere Haushälterin verpflegte uns mit einem Frühstück und ließ uns schließlich ziehen. Ich bildete mir ein, den Weg zu Scotland Yard inzwischen schon genauso häufig angetreten zu haben wie den zu meiner eigenen Praxis.

Angekommen betraten wir das belebte Gebäude und warteten am Empfang darauf, dass wir abgeholt wurden. Inspektor Bradstreet winkte uns bereits zu als er uns entgegen kam.

„Mr. Holmes, Dr. Watson! Es ist mir eine Freude Ihnen eine Hilfe zu sein.“, schüttelte er uns die Hände.

„Es ist eine Tragödie, was im Wyndham-Hotel geschehen ist. Ich hoffe, sie können diesen Mistkerl schnell schnappen.“, erwiderte der Scotland Yard Beamte.

Holmes nickte.

„Ich ebenfalls. Hoffentlich kann uns der Gefangene weiterhelfen.“

Der Inspektor zuckte mit den Schultern.

„Ich kann nichts versprechen. Ist ein sturer Kerl, ich habe ebenfalls schon mein Glück probiert. Aber sehen Sie selbst.“

Er führte uns den Gang entlang und bog in den Bereich ein, in dem die Verhörzimmer lagen.

„Halten Sie sich bitte zurück, ich werde mit ihm reden.“, raunte mir Holmes zu.

Ich besaß keinerlei Einwände, auch wenn ich mir den Kerl gerne selbst vorgeknöpft hätte.

Bradstreet schloss die massige Tür auf und ließ uns ins Innere. Dort saß ein älterer Mann mit Halbglatze. Beine und Hände mit Handstellen an Stuhl und Tisch gekettet, den Kopf scheinbar etwas ermüdet auf die Metallplatte gelegt.

Erst als Holmes näher trat, sah der Mann zu uns auf. Und ich erstarrte.

Ein Funkeln keimte in seinen Augen auf als er den Detektiv erblickte. Sein Gesicht war bleich und er wirkte abgemagert. Vermutlich ein üblicher Anblick, wenn man auf den Henker wartete.

„Mr. Holmes, ich habe nicht erwartet, dass Sie mich noch einmal besuchen kommen.“, murmelte der Mann und wartete wohl darauf, dass mein Freund sich setzte.

Dieser schien es aber vorzuziehen zu stehen. Ich tat es ihm gleich.

„Und Dr. Watson. Auch wir haben uns bereits eine Weile nicht mehr gesehen. Wie geht es Ihnen? Halten Sie sich fitt?“, fragte er in einem provokanten Ton.

Ich wollte schon etwas erwidern, doch Holmes hob eine Hand um mir ein Zeichen zu geben ruhig zu bleiben.

Auch wenn mir dies alles andere als leicht fiel. Immerhin hatte der Mann vor uns bereits zweimal versucht den Detektiv zu ermorden. Einmal als dieser versuchte von den Reichenbach-Fällen hinabzuklettern, das andere Mal in seiner Wohnung in der Baker Street, wo er auch nur von einer Wachs-Statue gerettet werden konnte.

Colonel Sebastian Moran ließ sich von seiner momentanen Situation aber nicht unterkriegen. Er hatte im wahrsten Sinne des Wortes nichts mehr zu verlieren.

„Wir sind aus einem bestimmten Grund hier.“, begann Holmes.

Bradstreet trat nun vor und holte einen Beutel hervor, aus dem er zwei Hülsen rollen ließ. Holmes fügte die Spitzen zusammen und wartete auf eine Reaktion seitens Morans.

Diese ließ nicht lange auf sich warten.

„Ah, verstehe! Sie suchen >ihn<!“

Diese lasche Reaktion ließ mich zornig werden.

„Was wissen Sie über das Phantom? Wer ist er? Er hat den deutschen Botschafter ermordet! Und unzählige Unschuldige in Afghanistan!“, platzte es aus mir heraus.

Holmes sah mich mit einem tadelten Blick an.

Ich ballte die Fäuste, machte aber einen Schritt zurück.

Holmes zog die Hülsen wieder an sich.

„Vor fünf Jahren beauftragte Ihre Organisation jenen Attentäter damit einen Konkurrenten auszuschalten. Wie haben Sie Kontakt aufgenommen?“, wolltet er wissen.

Moran lehnte sich nun zurück und spielte an seinen Handschellen herum.

„Natürlich. Ihn zu kontaktieren ist zugleich eine Möglichkeit ihn zu finden. Darauf wollen Sie hinaus, nicht wahr?“

Bradstreet ergriff Morans Kopf und zog ihn zu sich.

„Selbstverständlich! Spielen Sie nicht den Dummen! Sie wissen genau, worauf Mr. Holmes hinaus will!“

Doch auch davon ließ sich der ehemalige Militärangehörige nicht beeindrucken. Holmes mischte sich ein.

„Was wollen Sie, Moran?“, wurde er konkreter.

Mir hätte gleich klar sein sollen, dass die Information des Colonels einen Preis hatte.

Dieser ließ sich aber Zeit, er wusste, dass er im Moment am längeren Hebel saß.

„Eine Umwandlung der Strafe. Das ist es doch, oder? Sie wollen dem Galgen entkommen.“, sprach es Holmes für ihn aus.

Sowohl ich als auch Bradstreet starrten ihn erschrocken an.

„Holmes, das ist nicht Ihr Ernst! Der Mann hat zweimal versucht Sie zu töten! Und er hat auch andere Opfer zu verantworten, vermutlich genauso viele wie dieses Phantom selbst!“, redete ich auf ihn ein.

Meinem Freund schien dies aber mehr als bewusst zu sein.

„Da haben Sie zwar recht, aber... Moran sitzt bereits im Gefängnis. Das Phantom.. tut es nicht.“, sprach er den springenden Punkt an.

Nun wurde uns allen bewusst, dass wir auf Morans Aussage angewiesen waren. Jeder von uns hätte diesen Mann am liebsten hängen sehen, doch es war unverantwortlich das Phantom weiter frei herumlaufen zu lassen.

„Einverstanden. Je nach Wert Ihrer Information, werde ich mit dem zuständigen Richter...“, begann Bradstreet, wurde aber sofort abgewürgt.

„Bitte beleidigen Sie nicht meine Intelligenz. Mr. Holmes hier weiß genau, dass ich mich in einer Position befand, die den Wert meiner Informationen belegen. Und der Richter ist auch unnötig. Eine Unterschrift seines werten Herrn Bruders und die Strafe wird augenblicklich umgewandelt“, sagte Moran mit fester Stimme.

Es folgte ein Blick-Duell der beiden Männer, doch der Ausgang war von vornherein klar.

„Einverstanden. Ihre Strafe wird umgewandelt. Sie haben mein Wort.“

Ich konnte es nicht fassen, vertraute meinem Freund in dieser Situation allerdings.

Moran beugte sich zu uns.

„Es gibt ein Pub im East End. Dort treffen sich viele Soldaten. Reden Sie mir einem Kyle Shepard. Er diente in derselben Einheit wie das Phantom. Ist seitdem sowas wie sein Manager und karrt Aufträge ran. Er kann sie zu ihm führen.“, gab Moran preis was er wusste.

„Was wird uns erwarten?“, wollte ich wissen.

Der Colonel überlegte einen Moment.

„Er ist ein Meister am Gewehr. Ein besserer Schütze als ich es je sein könnte. Er hat sogar ein selbst gebautes Modell.“

„Von Herder?“, hakte Holmes nach.

Moran schüttelte den Kopf.

„Nein, nichts so Ausgefallenes. Es soll in erster Linie seinen Zweck vollführen. Es ist leicht, aber aus harten Metall geschmiedet. Ich durfte es bereits einmal in der Hand halten. Ich kann verstehen... warum er sich mit dieser Waffe wie ein Gott fühlt.“

Bradstreet ließ sich noch die Details geben, damit er eine schlagkräftige Truppe zusammenstellen konnte. Dann rief er jemanden, der Moran zurück ins Old Baily schaffen sollte.

„Vergessen Sie Ihr Versprechen nicht, Mr. Holmes!“, rief uns dieser noch zu, bevor er weggebracht wurde.

„Ich trommle ein paar Leute zusammen. Begleiten Sie uns, Holmes?“, wollte der Inspektor wissen.

Der Detektiv verneinte aber.

„Ich und der Doktor werden noch einmal meinen Bruder aufsuchen. Zum einen wegen unserer Vereinbarung mit dem Teufel... zum anderen um noch nach einigen Informationen zu fragen.“, erklärte er.

Der Inspektor nickte und setzte sich wieder in Bewegung. Ich räusperte mich.

„Holmes, wenn Sie erlauben... ich würde das gerne Ihnen überlassen. Ich möchte zuvor noch mit einem alten Freund reden.“, gestand ich.

Holmes nickte und so verabschiedeten wir uns vor dem Yard voneinander und stiegen in zwei unterschiedliche Droschken.

Das Attentat

Während der Fahrt ließ ich mir die Ereignisse immer wieder durch den Kopf gehen. Hatten wir am Ende einen schwerwiegenden Fehler begangen? Welche Konsequenzen würde es haben, Moran nicht dem Henker zuzuführen? Zu wach waren die Erinnerungen an unsere erste Begegnung in der Baker Street, in welcher er uns von einem aufstrebenden Professor mit großen Ambitionen erzählte. Nur meiner Deeskalation war es zu verdanken, dass Moran einem versteckten Scharfschützen nicht das Zeichen gab, auf mich und Holmes anzulegen. Jetzt, da ich darüber nachdachte... konnte es sich bei dem Schützen ebenfalls um das Phantom gehandelt haben? In diesem Fall... würde es seinem Namen alle Ehre machen.

Ich erreichte schließlich mein Ziel und verließ die Droschke. Ich hatte meinen Besuch nicht angemeldet, kannte dafür aber die Praxiszeiten meines Freundes und wusste, dass er zugegen war.

Ich klopfte und eine junge Frau ließ mich schließlich ein.

Ich stellte mich sofort als Freund Dr. Smiths vor und bat um ein Gespräch. Zum Glück schien dieser heute nur einen Patienten zu behandeln und so wartete ich geduldig auf einem Stuhl vor der schweren Bürotür.

Schließlich fand mein alter Freund Zeit für mich und ich setzte mich ihm gegenüber.

„John, wie schön dich zu sehen. Wie geht es deiner alten Verletzung?“

Ich klopfte mir demonstrativ auf mein Bein.

„Ach du weißt doch, Unkraut vergeht nicht. Aber... eigentlich gibt es etwas anderes, worüber ich mit dir sprechen wollte.“, kam ich schnellstmöglich zum Punkt.

Clifford lehnte sich zurück und wartete.

„Ihr... wart bereits vor Ort als ich und meine Einheit damals nach Kandahar geschickt wurden. Du hast viele Soldaten der 65ten Einheit zusammengeflickt, nehme ich an?“

Dr. Smith verschränkte die Hände und nickte. Verständlicherweise erinnerte er sich nicht gerne an diese Ereignisse zurück.

„Ja. Viele Patienten habe ich damals verloren. Vielen musste ich einen Arm, oder ein Bein abnehmen. Viele... waren danach nicht mehr sie selbst.“

Ich atmete flach.

„Wir alle... waren damals nicht mehr wir selbst. Bis vielleicht... auf eine Person. Ich habe Geschichten über einen von uns gehört. Einen Soldaten, dem es egal war, auf wen er anlegte. Seien es Soldaten, Kinder, oder Greise. Hast du schon einmal... von dem Phantom von Maiwand gehört?“, rückte ich mit der Sprache heraus.

Cliffords Blick durchdrang mich wie die Kugel des afghanischen Soldaten damals.

„Ja, John, das habe ich. Und du möchtest wissen... ob ich ihn behandelt habe.“

Ich nickte.

„Die Geschichte hörten irgendwann auf. Die logische Annahme ist also, dass er wegen einer Verletzung nach Hause geschickt wurde.“

Mein Freund, der mir nach meiner Verletzung die Kugel aus dem Bein entfernt hatte, stimmte mir zu.

„So war es wohl. Ja, ich denke, ich kenne die Person, von der du redest. Nur habe ich keinen Namen und auch die Akten mussten wir damals zurücklassen.“, offenbarte er.

Dafür brachte ich Verständnis auf, dieser Krieg war an allen Fronten chaotisch gewesen.

„Aber etwas musst du doch über ihn wissen!“, beharrte ich dennoch.

Clifford ließ sich Zeit und starrte eine Weile zum Fenster hinaus.

„Ich werde niemals seinen Blick vergessen. Alle anderen Soldaten hatten Furcht in ihren Augen, aber er nicht. Er war angeschossen worden, doch ich erkannte... Anerkennung. Anerkennung für seinen Feind.“

Ich schluckte. Es gab in der Tat Männer, die nur im Gefecht richtig aufblühten und ihr wahres Selbst sein konnten. Zum Glück war ich so jemandem bisher nie begegnet. Anders als Clifford.

„Wie schlimm war er verletzt?“, wollte ich erfahren.

Der ehemalige Militärarzt dachte kurz nach.

„Ich habe mehrere Splitter als seinem Knie geholt. Ich überlegte erst sein Bein abzunehmen, doch der Mann machte unmissverständlich klar, dass dies außer Frage stand. Ich weiß nicht, ob ich alle Splitter gefunden habe, jedenfalls benötigte es einer langen Reha. Was aus ihm wurde nachdem er mein Lazarett verließ... kann ich dir nicht sagen.“

Ich ließ mir noch eine Beschreibung des Mannes geben, auch in dem Wissen, dass mich diese nicht weit bringen würde. Zu viele Jahre waren vergangen und als Attentäter würde man sein Aussehen ohnehin stetig verändern. Ich schüttelte Clifford die Hand und verabschiedete mich dann.

„John, glaubst du... dass uns dieser Krieg jemals loslassen wird?“, fragte er mich noch im Gehen.

Ich drehe mich noch einmal zu ihm zu.

„Bestimmt. Wenn wir es zulassen.“
 

Zurück in der Baker Street fand ich Holmes in seinem Arbeitszimmer vor. Er hatte mehrere Akten vor sich ausgebreitet, ich nahm, er hatte diese von seinem Bruder erhalten.

„Holmes, haben Sie bereits Meldung von Inspektor Bradstreet erhalten?“, wollte ich wissen.

Mein Freund schenkte mir einen einen geringen Anteil seiner Aufmerksamkeit.

„Was? Ja... er hat diesen Mittelsmann inzwischen festgenommen.“, verriet er.

Eine freudige Nachricht wie ich fand.

„Aber... er schweigt sich aus?“

Holmes schüttelte leicht den Kopf.

„Nein, er ist geständig um dem Galgen zu entkommen. Bei dem Phantom scheint es sich um einen Corporal Ethan Thompson zu handeln, geboren in Sussex. Er war wie Sie vermuteten in der 65ten Einheit.“

Ich setzte mich sofort und starrte meinen Freund an.

„Das... sind hervorragende Neuigkeiten. Dann nehmen wir den Kerl sofort fest!“

Holmes bedachte mich eines erschöpften Blickes.

„Ich wünschte es wäre so einfach, mein Freund. Unser Gegner ist vorsichtig, er hat Shepard überwacht und weiß, dass wir ihn verhaftet haben. Er ist untertaucht, auch seine bisherigen Verstecke dürften uns wenig bringen.“

Ich fluchte innerlich.

„Dann... wird er bestimmt versuchen aus dem Land zu fliehen! Das dürfen wir nicht zulassen, Holmes!“, sagte ich entschieden.

Doch meinem Freund schien anderes im Kopf herumzugehen.

„Nein, das wird er mit Sicherheit nicht tun. Nicht, solange er seine Arbeit nicht vollendet hat.“, stand für den Detektiv fest.

Ich runzelte die Stirn.

„Seine Arbeit? Aber der Botschafter ist tot. Das würde ich ein definitives Ende nennen.“

Holmes ignorierte meinen Einwand. Scheinbar hatte er eine interessante Stelle gefunden und richtete seine Aufmerksamkeit darauf..

„Ich Trottel! Dort will er also zuschlagen! Das hätte ich mir auch gleich denken können!“, kritisierte er sich selbst und erhob sich dann.

„Los, Watson, wir müssen uns beeilen!“, trieb er mich an.

Ich versuchte erst gar nicht nachzuhaken, wusste ich doch, dass mein Freund sparsam mit Erklärungen war.

Erst in der angehaltenen Droschke kehrte Ruhe ein.

„Holmes, wollen Sie mir nicht endlich verraten wohin wir unterwegs sind?“

Diesmal erhielt ich zum Glück eine Antwort.

„Natürlich zur Geburtstagsfeier des Kronprinzen in den königlichen Gärten, was denken Sie denn?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung was ich denken soll. Hat es Thompson etwa auf den Prinzen abgesehen? Oder gar wirklich die Königin?“, konnte ich es nicht glauben.

Die Miene meines Freundes verriet mir, dass ich wohl nicht ins Schwarze getroffen hatte.

„Ich rede selbstverständlich von Außenminister Holdhurst. Es ging die ganze Zeit über um ihn!“, korrigierte mich Holmes.

Ich versuchte ihm zu folgen, doch dies gelang mir nur schleppend.

„Es war mir bereits klar, dass Mycroft verwundet und mehrere Kugeln ins Leere abgefeuert wurden. Ein meisterhafter Schütze hatte mit dem Kopfschuss des Botschafters bereits die Hälfte seiner Ziele erreicht. Jedoch musste er noch meinen werten Bruder verwunden um die Zahnräder in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken.“

Ich räusperte mich.

„Und die wäre, Holmes?“

Der Detektiv fuhr fort.

„Die Regierung in Aufruhr zu versetzen. Es wäre ein leichtes gewesen auf das Eintreffen des Ministers zu warten, doch es gab zwei Probleme. Eine der Zielpersonen hätte nach dem ersten Schuss in Sicherheit gebracht werden können. Und zweitens sollten die Hinrichtungen eine Botschaft überbringen. Vermutlich eine, die Thompson von seinen Auftraggebern diktiert wurde.“

Ich nickte verstehend.

„Einen ausländischen Botschafter auf britischem Boden zu verlieren ist bereits eine große Schmach. Den Außenminister.. Holmes! Sie denken doch nicht...“

Doch der Detektiv schien meinen Gedanken fortzuführen.

„Normalerweise hätte Holdhurst meinen Bruder vorgeschickt um diesen peinlichen Zwischenfall zu erklären. Nun muss er sich aber selbst dem Thron gegenüber rechtfertigen. Unser Phantom wird die Geburtstagsfeier des Prinzen nutzen um ungesehen an sein Ziel heranzukommen. Den Minister in den königlichen Gärten zu töten, so nahe an der Königin, würde eine eindeutige Botschaft hinterlassen.“

Ich stockte.

„Wir können jederzeit eure Führung auslöschen, wenn wir es wollen.“, murmelte ich.

Doch dies schien genau das zu sein, worauf Holmes hinaus wollte.

Die Akten über das Handelsabkommen, welches mit dem deutschen Botschafter besprochen werden sollte, schien Holmes auf den Ort des Anschlags gebracht zu haben.

Am Zielort verließen wir die Droschke und sahen uns um. Es war Inspektor Bradstreet, der uns zuerst entdeckte. Hektisch kam er angerannt.

„Holmes! Doktor! Ich habe bereits mit de Sicherheitskräften gesprochen. Es wird uns erlaubt die Feier zu betreten, doch wir müssen äußerst behutsam vorgehen. Ein Zwischenfall und eine Katastrophe könnte das Ergebnis sein. Die Königsfamilie darf unter keinen Umständen schaden nehmen.“, stand für ihn fest.

Nachdem wir kurz durchsucht wurden, gewährte man uns schließlich Einlass. Zuerst wollte man mir meinen Webley abnehmen, doch Bradstreet setzte sich für mich ein. Er bezeichnete mich sogar als exzellenten Schützen, einen Titel, von dem ich nicht wusste, ob ich ihn verdient hatte.

Zusammen mit den Sicherheitskräften mischten wir uns unter die Gäste. Immer noch hatten wir keinen Schimmer, wie Thompson heute überhaupt aussah. Cliffords Beschreibungen waren veraltet und die des Mittelsmanns sicher ebenso.

Bradstreet gab uns ein Zeichen. Er schien die Position von Außenminister Holdhurst entdeckt zu haben. Ihn in Sicherheit zu bringen würde auch die Pläne des Phantoms ruinieren. Ich sah mich nach Holmes um, konnte ihn aber nicht entdecken. Immer wieder rempelten mich Gäste an, während ich ziellos umherirrte. Aber Moment mal. Hatte der eine nicht gerade gehumpelt?

Ich wand mich um, doch der Mann war bereits wieder in der Menge verschwunden.

Ich ließ meinen Blick schweifen und erkannte Holmes und Bradstreet. Beide hatten den Minister inzwischen erreicht und schienen ihm die Lage zu erklären. Schließlich setzten sich die drei in Bewegung und steuerten auf den Ausgang zu. Ich tat es ihnen nach, doch dann hielt ich inne.

Da war er wieder. Der humpelnde Mann. Ich beobachtete, wie er sich erst auf eine Hecke kämpfe und dann auf die Mauer darüber kletterte. Dabei ließ er eine schwere Tasche fallen.

Ich verstand. Durch die Intervention unsererseits war es ihm nicht möglich seinen ursprünglichen Plan von einer sicheren Position aus zu schießen auszuführen. Er öffnete die Tasche und holte sein Scharfschützengewehr heraus.

Der Minister und seine Begleiter hatten den Ausgang fast erreicht, den Schützen konnten sie von dort aus aber nicht erkennen. Als das Phantom seine Waffe in ihre Richtung richtete, wusste ich, dass ich handeln musste.

„Thompson!“, brüllte ich so laut wie ich nur konnte.

Er richtete seine Waffe nun auf mich, ich hob meine Hände. Er schien zu überlegen, ob er abdrücken sollte, zögerte aber.

Ein lauter Schuss würde unweigerlich dazu führen, dass der Minister in Deckung gehen würde. Die Sicherheitskräfte wären sofort vor Ort und die Mission gescheitert.

„Keine Bewegung!“, befahl er mir und wand seinen Blick dann wieder dem Minister zu.

Er musste nun schießen. Und ich... ebenfalls.

Erneut brüllte ich seinen Namen, zog meinen Webley und ließ mich dann auf die Knie fallen.

Thompson bemerkte meine Waffe und richtete sein Gewehr wieder auf mich. Mein einziger Vorteil war es, seine Position auszunutzen. Um mich zu treffen, würde er in die Tiefe gehen müssen. Doch ich erinnerte mich an die Worte meines Freundes Clifford. Mit einer Knieverletzung wie seiner, würde es ihm nicht sofort gelingen, egal wie sehr er seinen Schmerz auch unterdrückte.

Ich konnte zweifelsfrei den ersten Schuss abfeuern. Und das tat ich auch.

Ich richtete meinen Webley nach oben und feuerte. Die Kugel traf Thompson in die Brust und dieser fiel nach hinten die Mauer hinab. Es war ihm nicht einmal gelungen auf mich zu feuern.

Sofort brach Panik aus, dies war unvermeidlich gewesen. Die Gäste drängten aneinander und versuchten zu fliehen. Ich rief in die Menge, dass die Gefahr gebannt wäre, aber nur mit mäßigem Erfolg. Die Sicherheitskräfte taten ihr Möglichstes um die Gäste zu beruhigen, dennoch ließ es sich nicht verhindern, dass es im Nachhinein zu leichten Verletzungen gekommen war. Bradstreet und seine Leuten hatten den Außenminister inzwischen komplett abgeschirmt und brachten ihn gerade in Sicherheit. Holmes tauchte an meiner Seite auf und erkundige sich über mein Wohlergehen.

„Sind Sie verletzt, alter Freund?“, wollte er wissen.

Ich schüttelte leicht den Kopf.

„Nur eine alte Verletzung. Und ein alter Geist. Aber... beides verfolgt mich inzwischen nicht mehr.

Der Abschluss

Es waren drei Tage vergangen und ich, Mycroft Holmes und der Detektiv selbst saßen bei einem angenehmen Glas Brandy beisammen.

„Wie erwartet konnte ich der Times kein Attentat auf unseren werten Außenminister entnehmen.“, spielte Holmes mit seinem Glas.

Mycroft rang sich ein Lächeln ab.

„Ein Attentat in den Königlichen Gärten? Bei Anwesenheit unseres Ministers und des Kronprinzen? Mach dich bitte nicht lächerlich, Sherlock.“

Ich konnte die Vorgehensweise der britischen Regierung nachvollziehen. Vermutlich würde mich Mycroft Holmes noch darum bitten, diese Ereignisse nicht in meinen Berichten zu unseren Abenteuern niederzuschreiben.

„Was ist mit den Deutschen? Ihnen werden Sie doch sicherlich gesagt haben, dass der Mörder ihres Botschafters zur Rechenschaft gezogen wurde.“

Mycroft Holmes rang mit einer Antwort.

„Die haben ihre Augen und Ohren ohnehin überall. Sie sind auch ohne unser Zutun bestens informiert. Aber sie sind uns auch dankbar. Vor allem Ihnen, Doktor Watson. Ohne Ihren rettenden Schuss hätte das Empire schlecht dagestanden.“, lobte er mich.

Ich zuckte mit den Schultern.

„Ich tat nur meine Pflicht. Menschenleben zu retten.“

„Als Soldat?“, fragte mich Mycroft prüfend.

„Als Arzt.“, korrigierte ich ihn.

Diese Zeit... nein, diese Seite an mir war lange vorüber. Weder befolgte ich noch stumpf Befehle, noch besaß die Hitze des Schlachtfelds irgendeine Bedeutung für mich.

„Die Deutschen stimmen uns zu, dass sich der Mord an ihrem Botschafter nicht hatte verhindern lassen. Sein Nachfolger wird die Verhandlungen über die neue Handelsroute also fortführen und am Ende des Tages haben wir keinen großen Rückschlag erlitten.“, sagte der Beamte der Regierung zuversichtlich.

Ich war mir da nicht so sicher.

„Ja, aber was ist mit Thompsons Auftraggeber? Wer sind sie? Und werden sie es nicht erneut versuchen?“, wollte ich realistisch bleiben.

Mein Freund tat die Sache aber ab.

„Mach so einer schmächlichen Niederlage? Wohl kaum. Und was die Identität angeht... mit diesem neuen Handelsvertrag mit den Deutschen erschließen sich uns viel direktere Wege. Weniger Umwege, weniger Zoll... etwas was den Russen flau im Magen liegen bleiben wird.“

Ich hob eine Augenbraue.

„Den Russen? Sie meinen die stecken dahinter?“

Ich erkannte an den Gesichtern der beiden Holmes-Brüdern Einstimmigkeit.

„Sie hätten durch den neuen Handelsvertrag am meisten zu verlieren. Ich denke, der Zarr wird mit dem Ergebnis wenig zufrieden sein.“

Mycroft leerte sein Glas und verabschiedete sich dann. Ich wünschte ihm eine baldige Genesung und öffnete ihm die Tür.

Als er gegangen war, setzte ich mich an seinen Platz um näher an Holmes zu sein.

„Nicht zu glauben worin mich Mycroft wieder verwickelt hat.“, beklagte der Detektiv.

Ich schmunzelte.

„Ach kommen Sie, Holmes. Ich habe es genau gesehen. Als Sie vernahmen, dass Ihr Bruder angeschossen wurde, wurden Sie bleich im Gesicht.“

Mein Freund ging nicht auf die Stichelei ein.

„Ja, das war wohl das Erste Mal. Beim zweiten Mal war ich bestimmt bleicher.“, erwiderte er.

Ich verstand nicht was er meinte und fragte nach.

„Als ich sah, dass dieser Kerl seine Waffe auf Sie gerichtet hat. Ich dachte, ich würde einen treuen Freund verlieren.“, gestand er.

Lächelnd erhob ich mein Glas und stieß mit ihm an.

„Keine Sorge, Holmes. Ich bleibe Ihnen noch eine Weile erhalten.“, beruhigte ich ihn.

Erfreut darüber erwiderte er „Darauf trinken wir.“



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