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Angel or Demon?

von

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Prolog: Die Wahrheit

Freundschaft…
 

Was bedeutet Freundschaft?

Ist es nur ein Wort? Ein Begriff? Ohne jeden Sinn?

Ein Traum? Eine Illusion?
 

Oder steckt vielleicht doch mehr dahinter?

Gibt es so etwas wie 'beste Freunde' wirklich?
 

Ich weiß es nicht… Aber ich glaube es nicht.

Beste Freunde… Wer behauptet das zu sein, ist ein Lügner oder Tagträumer.
 

Trotzdem… schön wäre es…

Es gibt nur eine Person, bei der ich mir vorstellen könnte, dass wir uns so gut verstehen würden. Ein Junge aus längst vergangener Zeit.
 

Doch… Ich erinnere mich weder an sein Gesicht, noch an seinen Namen. Er hat mich damals einfach verlassen.
 

Und das bedeutet: Ich werde auch weiterhin allein bleiben. Für immer…

#1: Alles auf Anfang?

Blondes, schulterlanges Haar, wirr durcheinander, weht im Wind. Zwei dunkle, geheimnisvolle Augen blicken leer und desinteressiert in die Gegend, beobachten die hektische Menschenmasse auf den Straßen. Warum nur machten sich eigentlich immer alle so einen Stress? Nur um auf Arbeit oder zur Schule zu kommen? Was für eine Zeitverschwendung…

Kopfschüttelnd steckte sich Hideto eine Zigarette an und schlenderte gemütlich in Richtung Oberschule. Es war Frühling und sein zweites Oberschuljahr würde heute beginnen. Mal sehen, mit was für Arschgeigen er diesmal in eine Klasse kommen würde und welcher Spießer von Lehrer ihn ein ganzes Jahr lang nerven würde. Manchmal fragte er sich wirklich, warum er überhaupt noch zur Schule ging. Bis jetzt hatte er noch keine richtige Antwort gefunden, doch er ging trotzdem – warum auch immer. So war ihm wenigstens nicht den ganzen Tag über langweilig…

Ein wenig später saß er in seinem Klassenraum – ganz hinten am Fenster – und sah hinaus. Heute hatte er wieder diesen Traum gehabt. Diesen Traum von früher, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Seit Jahren träumte er regelmäßig immer wieder dasselbe. Immer war er wieder ein kleiner Junge, immer war da noch jemand neben ihm und lachte mit ihm, doch nie konnte er das Gesicht das anderen Jungen erkennen. Kurz darauf lief der kleine Hideto einem Auto hinterher und rief irgend etwas mit Tränen auf den Wangen und das Gefühl der Einsamkeit stieg in ihm auf. In diesem Moment erwachte er jedes Mal.

Natürlich wusste Hideto, was es mit diesem Traum auf sich hatte. Der andere Junge war sein Freund aus Kindertagen, der eines Tages mit seinen Eltern weit weg gezogen war. Doch seinen Namen hatte er vergessen und sein Gesicht war über die Jahre hinweg immer mehr verblasst. Es war seltsam, doch obwohl Hideto sich nicht mehr so gut an ihn erinnern konnte und obwohl er ihn wahrscheinlich niemals wiedersehen würde, war dieser Junge ihm doch manchmal näher als irgend jemand anders… Er fühlte sich diesem Jungen, der eigentlich ein völlig Fremder für ihn sein müsste, sehr viel verbundener als all den anderen Menschen um sich herum. Wie das kam, wusste Hideto nicht, es war nur so ein Gefühl…
 

Das war also seine neue Schule… Mit neugierigen, braunen Augen trachtete der Schwarzhaarige das Gebäude, vor dem er stand. Dann mal auf in den Kampf, wie es so schön hieß… Tetsu machte sich auf die Suche nach seiner Klasse, dem zugehörigen Raum sowie dem Lehrer. Bald schon hatte er sie gefunden und wurde von seinem Klassenleiter vorgestellt. "Dies hier ist Tetsu Ogawa. Er ist neu in der Stadt und wird ab heute mit euch diese Schule besuchen. Seid nett zu ihm und helft ihm sich hier einzugewöhnen, ja?", sprach der Lehrer den Rest der Klasse an. Dann wurde Tetsu gebeten sich zu setzen. Ganz hinten in der mittleren Reihe war noch ein Platz frei, also nahm Tetsu diesen in Beschlag.

Anschließend stellten sich noch die anderen Schüler der Reihe nach vor. Der letzte war der blonde Junge neben ihm. Blond… Das würde sicher Ärger geben, da war sich Tetsu sicher. Ein Schüler mir gefärbten Haaren war immer ein Ärgernis für die Schule und die Lehrer. Außerdem hatte er seine Schulkleidung ein wenig… 'abgeändert'. Die Ärmel der Jacke waren abgetrennt, fransig und mit übergroßen Sicherheitsnadeln wieder angeheftet. Auch die Krawatte hatte er etwas gekürzt und das Hemd hing mit allerlei Aufnähern und Buttons aus der Hose.

Nun stand der Junge auf, ließ aber seine Hände in den Taschen. "Hideto Takarai… 17 Jahre…", murmelte er dann kaum hörbar. Hideto… Davon gab es nun also drei in der Klasse. Tetsu blickte wieder nach vorn.
 

Wenn er den Blick des Lehrers schon sah, wurde ihm regelrecht schlecht… Hideto sah ihn herausfordernd an, nachdem er kurz seinen Namen und sein Alter genannt hatte. Er wusste genau, was in dem Kopf des Erwachsenen vorging.

"Hideto Takarai… Ist blond deine Naturhaarfarbe?", wurde er von ihm gefragt. "Nein…", gab er knapp und gelangweilt zur Antwort. "Und… hat man dir deine Uniform so gegeben, wie du sie gerade trägst?", kam die nächste zynische Frage. "Nein…", wiederholte er seine Antwort von eben. "Warum kommst du dann SO zur Schule?", pflaumte der Lehrer weiter. Hideto schwieg kurz, bevor er lässig antwortete: "Weil es mir gefällt… Außerdem steht es mir, wie ich finde, recht gut." Er sah den Mann an der Tafel auch weiterhin stur und herausfordernd an. Dieser meinte, er solle das ab morgen ändern. Aber wenn der Typ wirklich dachte, dass Hideto DAS tun würde, hatte er sich geschnitten – und zwar gewaltig!!

Er 'durfte' sich wieder setzen, was er auch tat. Diese Person von Lehrer musste ihn anscheinend erst noch richtig kennenlernen. Und Hideto würde schon dafür sorgen, dass das auch geschehen würde…

Er sah wieder kurz aus dem Fenster. Gott, war das hier alles öde!! Doch dann erblickte er etwas in der Fensterscheibe und er wandte sich um.

Dieser Neue starrte ihn die ganze Zeit an. Wie er so etwas doch hasste! Er knurrte den Jungen neben sich an: "Was glotzt du so?!!" Genervt sah er wieder weg und machte es sich auf dem Stuhl bequemer.
 

War dieser Hideto unfreundlich, mein lieber Schwan! Lautlos seufzte Tetsu in sich hinein und konzentrierte sich auf den Unterricht. Zumindest versuchte er das, doch nur wenig später war er mit seinen Gedanken ganz woanders.

Auch er hatte diese Nacht seinen immer wiederkehrenden Traum gehabt. Dort war alles dunkel, er konnte kaum etwas sehen. Er spürte nur immer wieder diesen unerträglichen Schmerz überall auf seiner Haut. Als würde man sie ihm einfach so abziehen oder wegschmelzen… Und wie jedesmal war er auch in dieser Nacht kreidebleich und schweißnass aus dem Schlaf geschreckt. In letzter Zeit war dieser Traum wieder häufiger aufgetreten.

Wie lange es wohl dauern würde, bis er nicht mehr damit gequält wurde? Würde es jemals aufhören? Tetsu bekam langsam aber sicher Zweifel… Da wurde er erneut von Hideto angefahren. "Sag mal, soll ich dir ein Passfoto geben??", kam grob von dem Blonden, riss Tetsu damit aus seinen Gedanken und ließ ihn kurz zusammenzucken. Er hatte gar nicht bemerkt, wie er den Blick wieder auf seinen Platznachbarn gerichtet hatte. "Entschuldigung…", murmelte er noch kurz, bevor er seine Nase in eines seiner Bücher steckte.

Aber seltsam war es schon irgendwie. Normalerweise tat Tetsu nichts unbewusst, gar nichts! Er achtete immer ganz besonders darauf nichts unbedacht zu tun, hatte sich sonst immer unter Kontrolle. Er starrte nie irgendwelche fremden Leute an – jedenfalls nicht ohne es zu wollen oder zu bemerken. Doch diesmal…
 

Was für ein Trottel! Hideto fragte sich gerade ernsthaft, ob er es wohl ein ganzes Jahr neben so einer Saftnase aushalten würde. Aber wahrscheinlich nicht… Nicht, wenn das schon am allerersten Tag so losging. Das würde mit Sicherheit nicht einfach für ihn werden! Hideto ahnte Schreckliches…

Stunden später warf er seine Tasche über die Schulter und begab sich – nach einem harten und anstrengenden Tag – auf den Weg in seine Wohnung. Doch dann hörte er auf der Straße Schritte hinter sich. Da verfolgte ihn jemand, das war bis jetzt noch nie vorgekommen. In diese trostlose Ecke der Stadt verirrte sich doch kaum ein Mensch. Wer konnte das sein? Am Ende einer der 'Immortals'? Der würde sich nicht ungestraft mit einem Mitglied der 'Cats' anlegen und schon gar nicht mitten in deren Revier.

Hideto bereitete sich auf eine kurze Schlägerei vor – aus der selbstverständlich ER siegreich hervorgehen würde – und drehte sich blitzschnell um, war schon im Begriff die andere Person am Kragen an sich zu zerren und auf diese einzuprügeln, als er in das erschrockene Gesicht dieses Tetsu’s sah. Er hatte es geahnt, der Junge würde ihm permanent auf den Senkel gehen…

"Sag mal, verfolgst du mich etwa…?!", wollte er mit verschränkten Armen wissen. Tetsu schüttelte den Kopf. "Ich wohne in dieser Richtung, hast du ein Problem damit?", erklärte er. Und das sollte Hideto nun glauben, ja? Dass er nicht lachte… So eine billige Ausrede war ihm noch nie untergekommen. Aber gut, er würde es nachprüfen… Kurzerhand ging er weiter, betrat nach ein paar Metern seine Wohnung und ließ den Anderen vorbeigehen. Danach trat er wieder auf die Straße und schlich hinter Tetsu her.
 

Was war eigentlich das Problem dieses Hideto? Litt er unter Verfolgungswahn? War er vielleicht paranoid, oder was? Großartig, nun ging ihm dieser Kerl nicht mehr aus dem Kopf. Immer wieder musste Tetsu darüber nachdenken. Hatte der blonde Junge heute überhaupt EIN nettes Wort gesagt? Soweit sich Tetsu entsinnen konnte, nein… Und erst der Blick, den er die ganze Zeit über gehabt hatte. Abwertend, gelangweilt und leer. Ja, sein Blick war irgendwie leer. Eigentlich traurig…

Aber durfte Tetsu so urteilen? Nein! Schließlich war sein eigener Blick lange Zeit genauso leer gewesen. Mit Traurigkeit dachte er an diese Zeit zurück, an die schrecklichste Zeit seines Lebens. Damals hatte er sich oft gefragt, warum er noch lebte, was das alles sollte und warum er nicht auch… Aber das war nun endgültig vorbei! Zumindest hoffte Tetsu das. Er wollte nie wieder eine solche oder ähnliche Phase durchmachen müssen.

Seufzend schloss er die Tür zu seiner Wohnung auf und trat ein. Niemand war da, er war wieder allein. Sein Onkel und seine Tante, bei denen er nun lebte, waren oft geschäftlich unterwegs. Was die Beiden genau taten, wusste er nicht zu sagen. Es interessierte ihn aber auch nicht sonderlich. Schnell brachte er seine Sachen in sein Zimmer und ließ sich dann auf sein Bett sinken. Was sollte er nun machen? Auf den morgigen Tag warten? Das würde wahrscheinlich das beste sein, oder? Oder sollte er sich ein wenig die Stadt ansehen? Schließlich war er das letzte Mal mit fünf Jahren hier gewesen.

Hatte er sich nicht auch vorgenommen seinen damaligen Freund ausfindig zu machen? Oft hatte Tetsu's Mutter davon gesprochen, wie gut sie sich doch verstanden hatten… Doch wie sollte er das anstellen, wenn er noch nicht einmal den richtigen Namen wusste. Alles, was ihm seine Mutter immer erzählt hatte, war, dass er ihn immer De-chan genannt hatte und im selben Alter wie Tetsu war. Und wer wusste schon, ob De-chan nicht vielleicht auch irgendwann von hier weggezogen war?

Fragen über Fragen schossen durch seine Gedanken, vermischten sich mit Zweifeln. Was tat er hier eigentlich? Er hatte keinerlei Beziehung mehr zu diesem Ort, zu den Menschen hier. Es war einfach schon zu lange her. Er konnte sich ja nicht einmal mehr richtig daran erinnern, was war, als er fünf Jahre alt gewesen war. Er fühlte sich hier einfach nur fremd, allein gelassen. Die leere Wohnung, die außer ihm eigentlich noch zwei andere Personen bewohnten, war da nicht gerade sehr aufbauend.
 

Dieser Junge wohnte also wirklich in seiner Straße. Und dazu nur ein paar wenige Häuser weiter. Das wiederum bedeutete, Hideto würde ihm höchst wahrscheinlich jeden einzelnen Morgen schon auf dem Schulweg begegnen… Großartig!

Dennoch… Die Frage, warum Tetsu ausgerechnet in diese Gegend gezogen war, blieb. Ausgerechnet hier, wo der Putz von den Häusern und manchmal sogar Ziegel von den Dächern fielen… Hier, wo man kaum eine Wand ohne Risse finden konnte… Hier, wo einige Gebäude wie kurz nach einem Bombeneinschlag aussahen… Hier, wo in den Ecken nichts als Müll, Hunde- oder Katzenkot und ab und an auch zerbrochene Fensterscheiben und tote Vögel lagen…

Was hatte Tetsu nur dazu gebracht? Hideto hatte keine Wahl gehabt. Als Schüler konnte er sich keine andere Wohnung leisten. Selbst bei der, in der er nun lebte, hatte er die Miete drücken müssen. Aber sein Vermieter war schließlich auch froh, wenn er überhaupt jemanden hatte, der diese paar Räume haben wollte und wenn das Geld pünktlich und vollständig kam.

Hideto hatte genauso viel Glück gehabt, eine Bleibe gefunden zu haben, die nicht im Revier der 'Immortals' lag. Dort gab es immerhin regelmäßig Einbrüche, Diebstähle, körperliche Attacken und ein paar Mal sogar Morde wegen dieser Bande. Doch die 'Cats' und allen voran ihr Anführer Masanori sorgten schon dafür, dass das in ihrem Herrschaftsgebiet nicht vorkam. In den letzten Monaten war es ihnen sogar gelungen, dieses auszuweiten. Aber… natürlich mussten sie jetzt um so vorsichtiger sein, denn die Anderen würden das nicht einfach so hinnehmen und auf sich sitzen lassen. Sie hatten Vergeltung geschworen, das war allen klar.

#2: Miezekätzchen

Ein paar Wochen später hatte sich Hideto nach dem Unterricht auf den alten Platz begeben, welcher als Stützpunkt der 'Cats' galt. Dort traf er die anderen Mitglieder, unterhielt sich kurz mit einigen über die und das – im Grunde belangloses Zeug. Anschließend hockte er sich eine Zigarette rauchend in die nächste Ecke, holte Notizblock und einen Stift hervor und begann zu schreiben.

Was genau er schrieb, wusste er nicht einmal selbst. Es waren lediglich ein paar Gedanken und Gefühle, denen er so Ausdruck verleihen wollte. Viele wussten nicht, welches Talent in ihm steckte, nicht einmal er selbst glaubte, dass sein Texte besonders gut waren. Theoretisch hätte er daraus sogar Lieder komponieren und sie singen können. Doch allein war das unmöglich, dazu brauchte er schon noch eine Band. Zumindest einen Drummer und einen Bassisten. Die Gitarre hätte er selbst noch übernehmen können, obwohl er seine schon seit einiger Zeit nicht mehr in der Hand gehabt hatte. Aber das musste er auch nicht, denn allein der Gedanke, eine eigene Band gründen zu wollen, war lächerlich.
 

Zur selben Zeit war auch Tetsu in der Nähe unterwegs. Natürlich wusste er nicht, dass Hideto nicht weit war, oder dass er zu nah am Stützpunkt der 'Cats' war und die das gar nicht gern sahen… Er hatte sich nur ein wenig die Beine vertreten wollen. Zu Hause war ihm mal wieder die Decke auf den Kopf gefallen, er hatte es einfach nicht mehr ausgehalten.

Und so saß er irgendwo auf einer Bank, blickte in den blauen Himmel und dachte an nichts bestimmtes. Ein sanfter Wind umspielte seine zarte Gestalt und ließ seine langen, dunklen Haare ein wenig durcheinander wehen. Mit einem Mal tauchte das Bild dieses Hideto wieder vor seinem geistigen Auge auf. Was war nur los? Warum musste Tetsu ständig an ihn denken? Er fand keine Antwort.

Plötzlich wurde er von hinten an der Schulter gepackt und unsanft umgedreht. Ein Junge sah ihn wütend an. Sehr viel älter als Tetsu konnte er nicht sein, vielleicht sogar jünger. Hinter ihm standen noch unzählige andere Jugendliche, die denselben feindseligen Blick aufgesetzt hatten. Was wollte die von ihm?

Da wurde Tetsu auch schon klar, wo er da hineingeraten war, denn er wurde als ein 'Cat' bezeichnet, was er ja eigentlich gar nicht war, und unfreundlich damit beauftragt den Rest zusammen zu trommeln, inklusive irgend eines Masanori. Wer auch immer das sein mochte… Aber Tetsu war hier ganz offensichtlich zwischen die Fronten eines Bandenkrieges geraten und darauf hatte er absolut keine Lust.

Als er freundlich zu erklären versuchte, dass er gar nicht zu der gesuchten Bande gehörte, wurde er mit einem Schlag ins Gesicht unterbrochen. Okay, das war genug. Er war sicher nicht hierher gekommen, um sich die Fresse einschlagen zu lassen!! Er funkelte den Kerl, der immer noch seine Faust erhoben hatte, stumm an und schlug ihn dann mit einem einzigen schnellen und gezielten Schlag in den Magen bewusstlos. Mit einem Stöhner ging der Junge zu Boden und der Rest sah Tetsu geschockt an. Dieser hatte nun einen kalten Blick aufgesetzt. "Hat noch jemand Bedarf…?", fragte er trocken und mit einer Kälte in der Stimme, die bei den meisten eine Gänsehaut verursachte. Im nächsten Augenblick war die ganze Gruppe schon über alle Berge.

Solche Idioten!! Richtig bemitleidenswert… Können nichts anderes als sich zu prügeln und vielleicht noch gegenseitig umzubringen. Wie armselig und jämmerlich manche Menschen doch waren…
 

Das war einfach unglaublich. Hideto traute seinen Augen nicht. "Tetsu…?", flüsterte er immer noch geschockt. Er und noch einige andere 'Cats'-Mitglieder standen nicht weit von dem Schwarzhaarigen entfernt und hatten die Szene beobachtet. Einer von ihnen hatte die 'Immortals' in der Nähe gesehen und sofort Alarm geschlagen.

Masanori drehte sich zu Hideto um. "Du kennst den Jungen?", fragte er ihn dann direkt. Hideto nickte ein wenig. "Er ist in meiner Klasse… Aber 'kennen' würde ich das nicht unbedingt nennen.", gab er zu.

"Rede mit ihm, ob er sich uns nicht anschließen will!", bekam er dann den Auftrag, nickte abermals und ging auf Tetsu zu. Nachdem er diesen angesprochen und er sich umgedreht hatte, überbrachte er Masanori's Angebot. Tetsu aber lehnte ab. "Warum?", wollte Hideto von ihm wissen. "Ich habe keine Lust auf Bandenkriege…", erwiderte der Andere, "Ich weiß nicht, warum ihr das macht, oder warum du in einer dieser Banden bist. Du wirst sicher auch deine Gründe haben… Aber ich möchte nichts damit zu tu haben." Im nächsten Augenblick wollte er gehen, doch Hideto hielt ihn am Handgelenk fest. "Tut mir leid, dich da enttäuschen zu müssen, aber das hast du schon. Spätestens seit du den da…", damit zeigte Hideto kurz auf den Jungen, der noch immer auf dem Boden lag, "… k.o. geschlagen hast. Akira ist der stellvertretende Anführer der 'Immortals' und wird das nicht einfach auf sich beruhen lassen." Tetsu schwieg weiterhin und sah den Blonden nur eindringlich an. "Lass mich bitte los… Egal, was du sagst, ich werde meine Meinung nicht ändern.", erklärte er dann selbstbewusst.

Hideto wollte gerade etwas erwidern, als er Masanori rufen hörte. "Hide! Komm!", wurde er aufgefordert. Er sah Tetsu noch kurz an, bevor er diesen gehen ließ und sich wieder zu den Anderen begab. Entschuldigend sah er Masanori an. Der schüttelte nur den Kopf und lächelte freundlich. "Im Augenblick hat es keinen Sinn… Aber bleib dran, verstanden?", erklärte er. Nach einem Nicken von Seiten Hideto's und einer kurzen Pause fragte er dann fast beiläufig: "Du hat so etwas nicht von diesem Tetsu erwartet, habe ich Recht?" Hideto musste zugeben, dass er das wirklich nicht von gedacht hatte. Masanori seufzte leise. "Ich habe dir schon einmal gesagt, du sollst andere nicht nur nach ihrem Aussehen beurteilen. Das Können oder die Stärke einer Person kann man daran nicht ablesen, genauso wenig wie den Charakter…", hielt er ihm eine kleine, aber freundlich gemeinte Standpauke. Wieder nickte Hideto und musste sich eingestehen, dass Masanori Recht hatte. Alle gemeinsam verließen sie den Platz wieder und gingen zurück zu ihrem Hauptquartier. Dort hielt es Hideto jedoch nicht sehr lange aus und machte sich schon bald auf den Weg nach Hause.

Als er dort ankam, war es schon fast dunkel draußen. In Gedanken betrat er die leere, finstere Wohnung und sah den langen Flur hinab. Fast schien es, als würde er in ein dunkles, schwarzes Loch führen. Irgendwohin, wo nichts und niemand eine Rolle spielte, weder die Zeit, noch der Ort oder gar die Menschen… Es war seine Wohnung, seine eigene mit der Einrichtung, die er sich größtenteils selbst zusammen gestellt hatte. Seine eigenen vier Wände…

Und dennoch fühlte er sich hier oft unwohl, regelrecht fremd und leer. Diesmal kam noch das Gefühl des Alleinseins und der Einsamkeit dazu. Aber war das denn so verwunderlich? Schließlich war er auch einsam und allein. Niemand war bei ihm. Niemand wartete auf ihn, wenn er die Tür öffnete und nach Hause kam, niemand begrüßte ihn… Niemand brauchte ihn… Niemand… Warum? War er es vielleicht nicht wert? Interessierte sich denn wirklich keine Sau für ihn?! Langsam lief ihm eine einzelne, verstohlene Träne die Wange hinab. Schnell wischte er sie wieder weg. Er durfte nicht weinen, durfte auf keinen Fall irgendein Anzeichen von Schwäche zeigen!!

Anschließend verschwand er kurz ins Bad und duschte, bevor er sich in sein viel zu großes Bett legte. Wieder kam er sich verlassen vor. Gern hätte er jemanden neben sich gewusst. Jemanden, an den er sich hätte kuscheln können… Jemanden, der ihn einfach in den Arm genommen hätte, ohne dafür einen Grund zu brauchen und ohne dabei irgendwelche Hintergedanken zu haben.

Obwohl… es war schon ganz gut, dass er ohne seine Eltern hier lebte. Allein die Vorstellung, sie würden zu dritt hier leben, war beängstigend. Seine Mutter hatte sich nie viel aus ihrem Mann und ihrem Sohn gemacht und sein Vater… Daran wollte Hideto gar nicht erst denken! Also blieb er doch lieber allein. Trotzdem… manchmal wünschte er sich zumindest eine Person, der er nicht egal war, die an seiner Seite sein würde und die ihn nicht so einfach sich selbst überlassen würde.

Plötzlich kam ihm Tetsu wieder in den Sinn. Tetsu… Ja, Hideto würde schon dafür sorgen, dass er doch noch einer der 'Cats' würde!! Gleich morgen früh würde er ihn vor dem Unterricht noch einmal ansprechen. Hideto hatte mitbekommen, dass Tetsu immer sehr viel früher losging, als er eigentlich müsste und das würde er ausnutzen. Selbst als sie die ersten Stunden nur Sport gehabt hatten – so wie auch morgen wieder – , war Tetsu bereits fertig umgezogen gewesen, als Hideto in die Umkleide gekommen war. Und sogar Hideto war zu früh da gewesen, die restliche Klasse war erst zehn Minuten später erschienen.

Tetsu war unterdessen in die Halle gegangen und hatte dem Lehrer beim Aufbauen geholfen. Soweit eigentlich nicht sehr erstaunlich, auf Hideto hatte Tetsu von Anfang an wie ein Schleimer und Streber gewirkt. Was ihn aber hatte stutzen lassen, war die Tatsache, dass Tetsu seine Jacke die gesamte Zeit über anbehalten hatte und das, obwohl sich alle anderen – auch Hideto – selbst nur im T-Shirt fast zu Tode geschwitzt hatten. Dieser Tetsu war also nicht nur ein Schleimer und Streber, sondern auch noch eine Frostbeule.

Als Hideto kurz darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass er Tetsu in der Schule immer nur mit dem langärmeligen Hemd ihrer Uniform gesehen hatte, während die meisten schon die kurzen Sachen herausgeholt hatten. Aber… warum dachte er überhaupt so viel über Tetsu nach? Wichtig war doch nur, dass er ihn dazu bewegen konnte doch bei ihnen einzusteigen.

Hideto versuchte nicht mehr an den Schwarzhaarigen zu denken, was ihm nicht sonderlich gut gelang. Immer wieder tauchte der Andere in seinen Gedanken auf. Immer wieder hörte er irgend jemanden dessen Namen sagen. Immer wieder sah er ihn förmlich vor sich stehen… Irgendwann fielen Hideto dann doch die Augen zu und er sank in einen unruhigen, aber traumlosen Schlaf.
 

Als die Sonne am nächsten Tag aufgegangen war, verließ Tetsu das Haus. er hoffte, dass er sich auch heute wieder ungestört umziehen konnte. Doch als er ein paar Häuser weiter war, sah er, wie Hideto aus einer der Türen kam. Tetsu's erster Gedanke: 'Bitte nicht! Bitte… alles, nur das nicht!!'

Ihm war ja schon klar gewesen, dass Hideto ihn heute nicht in Ruhe lassen würde. Der gestrige Vorfall hatte das deutlich vorausahnen lassen. Aber dass er gleich so früh auf ihn treffen würde… Okay, wie lange er Hideto's Gequatsche hätte ertragen müssen, wäre ihm sogar ziemlich egal gewesen, aber gerade heute war als erstes wieder Umziehen angesagt. Tetsu war dabei lieber allein, ohne irgendwelche lästigen und aufdringlichen Blicke, die ihn förmlich zu durchbohren schienen.

Doch was sollte er Hideto sagen? 'Hideto, würdest du dich bitte umdrehen, wenn ich mich ausziehe? Ich will nicht, dass du mir was abguckst…' Nein, was würde er denn denken? Er würde Tetsu garantiert für prüde und ein Weichei halten… Aber irgendwie musste er es schaffen und zwar ohne dass Hideto sah, dass er…

Mit einem mehr als nur mulmigen Gefühl in der Magengegend ging Tetsu weiter und wurde von dem Blonden mit einem freundlichen 'Morgen!' begrüßt. "Morgen…", murmelte er zurück. "und nein, das werde ich nicht…!", hing er in einem jetzt schon leicht genervten Ton an. Hideto sah ihn etwas verwirrt an. "Ich… hab doch nur 'Morgen!' gesagt…", entgegnete er. "Hideto, verarschen kann ich mich auch selber…", meinte Tetsu wieder etwas gereizt und verdrehte dabei die Augen, "meinst du, ich weiß nicht, warum du heute extra früher aufgestanden bist und sogar Ausschau nach mir gehalten hast?! Und du wirst mich nicht dazu überreden können, also spar dir die Mühe lieber…!"

Gut, das mit der Ausschau hatte Tetsu nur angenommen, aber da Hideto nichts darauf sagte oder es abstritt, hatte er wohl – oder übel – mal wieder genau ins Schwarze getroffen…

Sie gingen weiter, Hideto ließ sich einfach nicht mehr abschütteln – und in Tetsu stieg die Panik immer weiter an. Fast hatte er das Gefühl, davon erdrückt zu werden… Er wurde immer nervöser und kleine Schweißtropfen hatten sich auf seiner Stirn gebildet. Ihm wurde sogar regelrecht schlecht vom ständigen Überlegen.

Hideto textete ihn den ganzen Weg über mit irgend etwas zu, doch er achtete nicht darauf. Ein paar Wortfetzen bekam er schon mit. Irgendwas von 'Cats', 'Immortals' und einem Masanori, der – wenn Tetsu das richtig verstand – für Ordnung sorgte. Oder so ähnlich… Aber das interessierte Tetsu im Augenblick wirklich herzlich wenig. Die gesamte Zeit schwieg er still vor sich hin.

Dann hatten sie die Schule und höchstens zwei Minuten später auch die gemeinsame Umkleidekabine erreicht. Langsam aber sicher wurde es für Tetsu echt knapp. Kurz sah er zu Hideto, welcher sofort, als sie den Raum betreten hatten, die Tasche abgestellt, danach seine Sportsachen hervor gekramt hatte und sich nun seiner Oberbekleidung entledigte. Schnell wandte Tetsu den Blick wieder ab, während auch er seine Tasche abstellte und die Jacke auszog. Das musste er sich nicht antun… Sich diesen… wohl garantiert perfekten Oberkörper ansehen… Nein, wirklich nicht! Zumal er sich nicht sicher war, ob er das überhaupt verkraften könnte.

Und schon fühlte er sich wieder unwohl. Wieder wurde ihm verdammt übel, seine ganze Haut fing an zu glühen und brannte. Außerdem war ihm ganz plötzlich kalt. Er fror wie noch nie zuvor und begann zu zittern. Ob das von der Kälte oder der Angst kam, vermochte er nicht zu sagen. Vielleicht war es eine Mischung aus beiden? Aber das spielte an und für sich auch keine Rolle… Er wollte hier weg. Das war alles, woran er noch denken konnte…
 

Was war nur heute Morgen mit ihm los? Irgendwas hatte Tetsu, das konnte Hideto genau spüren, auch wenn er die gesamte Zeit über geredet hatte. Er stand in voller Sportkleidung im Raum und betrachtete den Anderen genauestens. War der eigentlich immer so langsam? Alles, was Tetsu in den letzten paar Minuten geschafft hatte, war die Jacke auszuziehen und die Hose zu wechseln. Aber warum machte sich der Blonde über solch unwichtige Dinge überhaupt Gedanken? Jeder hatte eben sein eigenes Tempo…

Hideto wandte sich der Tür zur Sanitäranlage zu und betrat den anderen Raum. Das war ganz einfach nicht seine gewohnte Zeit, nicht sein gewohnter Rhythmus. Bevor er nach ein oder zwei Minuten wieder zurück zu Tetsu ging, wusch er sich den Schlaf mit kaltem Wasser aus dem Gesicht und blickte kurz in den Spiegel. Er sah nicht gerade sehr ausgeschlafen aus…

Aber egal, er kehrte zu Tetsu zurück und staunte erst einmal nicht schlecht. Dafür, dass der Schwarzhaarige vorhin so langsam gewesen war, hatte er nun ganz schön aufgeholt, denn er saß komplett in Hose, Shirt und Jacke da und schnürte sich in diesem Augenblick seine Schuhe zu.

Wortlos setzte er sich zu dem Anderen und sah ihn genau an. Irgendwie… Irgendwas war immer noch mit ihm, obgleich er schon ruhiger wirkte also zuvor. Doch was war es? Krampfhaft überlegte Hideto, doch da er sich sonst nie so wirklich um jemanden kümmerte, wusste er nicht, worauf er hätte achten müssen.

Da blickte ihm Tetsu plötzlich in die Augen. Hideto war im ersten Moment wie vom Blitz getroffen. Er schluckte leicht und erwiderte den Blick, hatte das Gefühl, fast in diesen zwei dunklen, geheimnisvollen Augen, die beinahe wie Ozeane wirkten, zu versinken. Vielleicht würde er sogar darin ertrinken, wäre für immer darin gefangen…

"Brauchst du n Passfoto…?", konnte er dann gelangweilt von dem Schwarzhaarigen hören, bevor dieser aufstand und sich etwas streckte. Das… Hey, das war SEIN Spruch! Aber gut, er würde nicht darauf anspringen. Statt dessen erhob auch er sich und trat ganz dicht hinter den Anderen, legte seine Hände sanft an dessen Hüfte, zog ihn ein wenig an sich heran, führte seine Lippen dicht an das Ohr Tetsu's und wollte gerade etwas flüstern… Doch damit bewirkte er eine ungewöhnlich große Anspannung in Tetsu. Hideto konnte das Zittern richtig spüren.

Eigentlich hatte er ihn nur ein wenig ärgern wollen, doch nun machte er sich wirklich Sorgen. Was war nur mit Tetsu los?! Sein Verhalten konnte man nicht länger als normal bezeichnen. "Sag mal…", begann er, "Was ist mit dir? Bist du krank…?" Kurz erfüllte Schweigen den Raum. Dann hatte sich Tetsu ganz offensichtlich wieder gefangen. "Krank? Nein… Wie kommst du darauf?", wandte er sich fragend an den Blonden. "Du… siehst nicht gut aus.", antwortete der Angesprochene sofort. "Also…", setzte er nach einer kurzen Weile nach, "Ich meine nicht vom Aussehen her… Du verstehst?" Gott, war ihm das jetzt peinlich… Er spürte, wie er immer mehr die Farbe einer reifen Tomate annahm. Wie kam er überhaupt auf so etwas?!! Es war ihm unbegreiflich…

"Klar…", murmelte Tetsu nur, nachdem er sich von Hideto's Umarmung befreit und sich weiter von ihm entfernt hatte. Er wirkte schon wieder sehr nervös. "Du bist blass…", erklärte Hideto weiter, "Du hast kaum ein Wort gesprochen. Du machst einfach den Eindruck, als wär dir die ganze Zeit schlecht… Und… Wenn du im Sommer, im Sportunterricht wohlgemerkt, eine Jacke trägst, muss dir verdammt kalt sein. Außerdem schwitzt du dir ja jetzt schon einen ab…"

Tetsu's Antwort auf Hideto’s Sorgen war ein strafender Blick, der dem Blonden einen Stich versetzte – mitten ins Herz. Aber warum tat ihm dieser Blick so weh? Es war schließlich nicht so, dass dieser Junge ihm besonders viel bedeutete… "Ich bin immer blass…", wehrte Tetsu dann kalt ab, "Ich habe nichts gesagt, weil DU mich ja nicht zu Wort hast kommen lassen. Dann hätte ich dir schon gesagt, dass du endlich die Klappe halten sollst… Schlecht ist mir nur von DEINEM Gequarke über was weiß ich…! Und dann trage ich eben eine Jacke im Sportunterricht und im Sommer, auch wenn ich schwitze… Was interessiert dich das eigentlich?!!"

Tetsu war bei seinem kleinen Monolog immer lauter und ärgerlicher im Tonfall geworden. Was hatte er nur für ein Problem? In Hideto wuchs immer mehr der Wunsch, den Anderen verstehen zu können. Leicht den Kopf schüttelnd sah er dem Schwarzhaarigen nach, wie er die Umkleide verließ und in Richtung der Halle lief. Es wäre wohl besser, wenn er erst einmal hier bleiben würde, dachte sich der Blonde und setzte sich etwas betrübt wieder.

Plötzlich war Hideto richtig niedergeschlagen. Er dachte nach. Worüber genau er nachdachte, konnte er jedoch nicht sagen. Es war… wie ein Chaos in seinem Kopf, alles war wirr durcheinander und gleichzeitig gähnend leer.

#3: Annäherungen

Seit schätzungsweise zehn Minuten rannten sie nun in der sengenden Hitze ihre Runden um das Schulgebäude. Tetsu hoffte der Rest der Stunde würde so schnell wie möglich vorübergehen. Er hielt es in seiner Jacke jetzt schon kaum aus. Dazu kam noch das hartnäckige Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen… Zwar hatte er es – mit Glück – geschafft sich ohne Hideto's Blicke umzuziehen, doch das seltsame Gefühl in der Magengegend war noch immer nicht verschwunden. Wenn er ehrlich sein sollte, war ihm richtig schlecht.

Nichts desto trotz lief er weiter, immer weiter den Blick stur geradeaus. So merkte er nicht einmal wirklich, dass er immer langsamer wurde, dass seine Muskeln förmlich vor Schmerzen aufschrien und nicht mehr weiter wollten, sich einfach dagegen sträubten. Schon bekam er kaum noch Luft. Jeder Atemzug war eine einzige Qual, doch er rannte weiter. Sein Magen verkrampfte sich, doch er rannte weiter. Seine Gesichtsfarbe verschwand fast vollständig, doch er rannte weiter. Er konnte von weit her das Pfeifen aus seinem Mund, welches wohl der kümmerliche Rest seines Atems war, hören, doch er rannte weiter…

Auch bemerkte Tetsu nicht, wie Hideto an ihm vorbei zog und ihm noch zurief, er solle doch endlich diese blöde Jacke ausziehen. Er bekam rein gar nichts mehr mit, zu sehr drückte die Hitze. Sein Kopf war total leer, sein Blick starr und seine gesamten Bewegungen schienen automatisch zu sein – fast wie die eines Roboters. Immer einen Fuß vor den anderen. Nur weiter, immer weiter…

So dauerte es nicht lange, bis sein Körper aufgab, seine Beine nachgaben und er krachend zu Boden stürzte. Dort blieb er keuchend liegen. Er lag einfach nur da und rings um ihn herum wurde es schwarz. Ein dunkler Vorhang senkte sich über ihn und er fühlte nichts mehr, schien nur im Nichts zu schweben…
 

Gerade war Hideto an dem Wahnsinnigen, der bei dem Wetter die langen Klamotten immer noch nicht abgelegt hatte, vorbei, als er hinter sich ein seltsames Geräusch wahrnehmen konnte und abrupt stehen blieb. Was war…? Mit einer schleichenden Vorahnung wandte er sich um und… seufzte innerlich auf.

Tetsu war wirklich ein VOLLtrottel. Irgendwie hatte Hideto das aber kommen sehen. Es war schlicht und ergreifend unausweichlich gewesen. Kein normaler Mensch war in der Lage das durchzuhalten. Auch jemand namens Tetsu nicht, obwohl der das ganz offensichtlich zu können glaubte…

Und so kniete sich der Blonde neben den reglosen Körper, der schwer nach Atem rang, drehte ihn vorsichtig auf den Rücken und wollte den Anderen von der Jacke befreien, als dieser ihn aufhielt, indem er Hideto's Hand festhielt. "Nicht…", murmelte der am Boden liegende fast tonlos, dafür aber mit nur halb geöffneten Augen, einem seltsam starren Blick und zittrigen Fingern. Hideto wollte gerade etwas darauf erwidern, doch dann sah er an den schon glasig gewordenen Augen, dass jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für endlose Diskussionen war.

Kurzerhand hob er den Anderen auf seine Arme und brachte ihn so schnell wie möglich ins Krankenzimmer. Dort war natürlich gerade wieder niemand anzutreffen – wie immer, wenn man mal dringend Hilfe brauchte! Aber jetzt durfte keine Panik aufkommen. Zunächst legte er Tetsu auf eines der Betten, betrachtete ihn noch kurz und wischte ihm eine Haarsträhne aus dem verschwitzten Gesicht. Danach strich er ihm etwas über die Wange.

Nun hieß es so schnell wie nur irgend möglich den Schularzt finden, wo auch immer der gerade stecken mochte. Hideto hatte ihn schneller gefunden, als er gedacht hätte, denn gerade, als er wieder zur Tür hinaus wollte, kam der Arzt mit einer Tasse Kaffee in der Hand herein. Auf die Frage, was passiert sei, berichtete Hideto kurz von Tetsu's Zusammenbruch. Der Doktor setzte sich an den Schreibtisch und erkundigte sich noch nach dem Namen seines Patientens und holte dessen Akte hervor. Kurz überflog er sie und schickte Hideto danach wieder in den Unterricht.

Den ganzen restlichen Tag fehlte Tetsu in der Klasse. Hideto starrte die ganze Zeit den leeren Platz neben sich an und hing seinen Gedanken nach. Er dachte darüber nach, was mit dem Anderen los war, was er für ein Problem hatte. Und er hatte eins, das stand für Hideto zweifellos fest. Nur… was konnte das sein? So sehr er es auch drehte und wendete, ihm fiel keine passende Erklärung ein.
 

Nur wenige Stunden später stand Hideto vor der Tür, in die er Tetsu immer hatte verschwinden sehen und drückte den Knopf, auf dem 'Ogawa' stand. Er wusste nicht wirklich, was er hier überhaupt wollte. Seine Füße hatten ihn wie von selbst hierher gebracht. Und was sollte er nun sagen? Mit welchem Vorwand sollte er diese fremde Wohnung betreten? Er konnte schließlich nicht behaupten, er hätte sich nur Sorgen gemacht…

Da wurde die Tür auch schon aufgemacht und ein bekanntes Gesicht sah ihn etwas überrascht an. "Hideto…?", murmelte Tetsu nur. Einen Augenblick später hatte er sich wieder gefangen und wies den Blonden ohne eine weitere Frage an, einzutreten. "Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass außer mir keiner zu Hause ist…", erklärte Tetsu noch kurz. "Möchtest du etwas trinken?" "Nur etwas Wasser…", entgegnete Hideto nach einer kleinen Pause. Er hatte sich Tetsu ein wenig genauer angesehen. Der Junge trug schon wieder ein langärmeliges Hemd. Dieses schien zwar aus dünnem Stoff zu bestehen, aber trotzdem…

Während Tetsu in der Küche verschwunden war, sah sich Hideto etwas um. Alles wirkte irgendwie hell… Das Sonnenlicht blendete schon fast. Er stellte seine Tasche ab und schlenderte in das Zimmer, das allem Anschein nach Tetsu’s sein müsste. Langsam ließ er den Blick umher schweifen. Ein Schrank, ein Schreibtisch mit Computer, ein ziemlich großes Bett und viele volle Bücherregale an den Wänden. Im Grunde war es eine ähnliche Einrichtung wie seine eigene… Aber dennoch schien es hier wesentlich freundlicher. Woran das wohl liegen mochte…?

Gerade wollte Hideto sich ein paar der eingerahmten Bilder auf den Regalen ansehen, als Tetsu auch ins Zimmer kam. "Fühl dich hier ruhig wie zu Hause…", meinte dieser noch, während er sich an den Schreibtisch setzte und Hideto ein Glas Wasser reichte. "Mach es dir bequem…", wurde der Blonde freundlich aufgefordert. Nach kurzem Überlegen setzte sich dieser einfach auf den Boden neben Tetsu und wurde fragend angeschaut. "Das ist bequem…", erwiderte Hideto nur. Tetsu sagte daraufhin gar nichts dazu und erkundigte sich nach dem Grund dieses Besuchs. Kurz darauf bekam er Notizen aus dem Unterricht in die Hand gedrückt und nickte. Er hatte verstanden… "Ich beeile mich mit Abschreiben.", murmelte er noch und holte seine Hefter hervor. "Lass dir Zeit…", meinte Hideto gelassen, legte sich auf den Boden, verschränkte die Arme unter dem Kopf und starrte an die Decke. "Werden deine Eltern nicht sauer, wenn du zu spät nach Hause kommst…?", wunderte sich Tetsu, fragte aber mehr beiläufig… "Nein, ich wohne allein. Theoretisch könnte ich die ganze Nacht hier bleiben…", kam als Antwort. "Was ist mit deinen Eltern? Wann werden sie ungefähr hier sein…?", ging dann die nächste Frage an Tetsu. In diesem verkrampfte sich für einen Augenblick alles und er musste die aufkommende Leere im Kopf schnell wieder verscheuchen. "Gar nicht…", versuchte er dann so normal wie möglich zu antworten, "Sie sind tot. Ich lebe hier mit meinem Onkel und meiner Tante… Deshalb gehe ich jetzt auch hier zur Schule." Dabei sah er nicht von den Aufzeichnungen vor sich auf.

Hideto aber hatte sich wieder aufgesetzt und sah Tetsu nun prüfend an. Diese Sache war ihm anscheinend nicht so egal, wie er alle anderen – Hideto eingeschlossen – gern glauben machen wollte, das konnte er ihm deutlich ansehen. Doch Hideto war sehr unsicher, was er nun tun sollte. Er hatte die Wahl zwischen Weiterfragen und Ignorieren. Beides erschien ihm jedoch nicht besonders taktvoll. Doch da wurde ihm die Entscheidung abgenommen, denn Tetsu ergriff das Wort wieder: "Was ist mit deinen Eltern? Warum lebst du allein…?" Kurz schwieg der Blonde, bevor er zur Antwort ansetzte. "Sie… waren nie das, was man im Allgemeinen 'vorbildliche Eltern' nennt… Sobald ich die Möglichkeit hatte, bin ich ausgezogen.", erklärte er kurz und knapp. Er hatte keine große Lust das noch weiter auszubauen… Er wollte die ersten seiner Lebensjahre nur so schnell wie möglich vergessen… "Vermissen sie dich denn nicht…?", kam es dann etwas zögerlich von Tetsu. "Keine Ahnung…", gab Hideto zurück, "Ich glaube es aber nicht…" Hätte seine Mutter ihn jemals vermisst, hätte sie in all den Jahren, in denen sie ihren Sohn und dessen Vater im Stich gelassen hatte, zumindest von sich hören lassen und den Kontakt gesucht. Doch das hatte sie nicht… Und sein Vater selbst vermisste ihn höchstens, weil er niemanden mehr hatte, an dem er seine Wut – durch gezielte Schläge – auslassen konnte.

Was sollte er jetzt dazu sagen? Er hatte noch nie offen mit jemandem über seine Familie geredet. Entweder die Leute um ihn herum wussten bereits von dieser Sache – meistend war es an Verletzungen Hideto's erkannt worden – oder niemand hatte nachgefragt. Und nun interessierte sich jemand dafür? Dass er diese Situation nicht gewohnt war, schien man Hideto anzumerken, denn Tetsu fragte nicht weiter nach. Oder er wusste nicht genau, was er dazu sagen sollte. Für Tetsu war es einfach unvorstellbar, dass man sein eigenes Kind so schlecht behandeln konnte, dass es nur noch von einem weg wollte. Er wusste zwar genau, dass es solche Familien gab, doch verstehen konnte er es noch nie. Es wollte es auch gar nicht verstehen können! Dafür hatte er zu viel Liebe von seinen eigenen Eltern erfahren.

Seine Eltern… Der Gedanke an sie schmerzte unglaublich! Tetsu bemerkte die Träne nicht einmal, die ihm langsam die Wange hinab lief. Hideto hatte da besser aufgepasst. Ohne ein Wort hatte er sich erhoben und wischte seinem neuen Mitschüler das Gesicht wieder trocken. Tetsu war zwar zunächst etwas erschrocken gewesen, ließ es aber geschehen. Es war lange her, seit er das letzte Mal getröstet wurde. Einen kurzen Augenblick ließ er sich gehen, ließ sich von Hideto umarmen und lehnte sich an ihn. Doch schon wenige Sekunden später löste er sich wieder von ihm. Er durfte Hideto auf keinen Fall zu nahe kommen, sonst würde er es wohlmöglich noch bemerken. Heute morgen hatte er so viel Glück beim Umziehen gehabt, da wollt er das nicht durch eine kleine Unachtsamkeit zunichte machen.

Also tat Tetsu wieder so, als wäre alles in bester Ordnung und lächelte leicht. In den vergangenen Monaten hatte er gelernt, seine wahren Gefühle glaubbar hinter einem solchen Lächeln zu verbergen. Die Erwachsenen um ihn herum hatten es ihm auch abgenommen, andernfalls wäre er jetzt nicht einmal hier, sondern immer noch im Hospital. Ob Hideto dasselbe tat, konnte er jedoch nicht genau erkennen. Auch er schien sein Innerstes ungern preiszugeben und hatte eine Maske, die er auf- und absetzen konnte. Doch was wirklich in Hideto vorging, konnte Tetsu nicht wirklich ahnen.

"Wollen wir nicht Freunde werden…?", fragte der Blonde dann ganz direkt. Etwas ungläubig zog Tetsu die Augenbrauen nach oben. Wollte er ihn gerade verarschen? Wer war denn am ersten Schultag so unfreundlich zu ihm gewesen…? Oder… war das vielleicht nur ein Mittel, damit er doch bei diesen – wie hießen sie noch – 'Cats' einsteigen würde…? Wenn ja, fand Tetsu das nicht sehr toll… Als hätte Hideto Gedanken lesen können, sprach er nach einer kurzen Pause weiter: "Ich meine… einfach nur Freunde… Du musst auch nicht bei uns Mitglied werden, wenn du nicht willst. Ich zwing dich zu nichts. Aber…" Danach schienen ihm die Worte zu fehlen. Mit leicht betrübtem Gesichtsausdruck und kaum erkennbar geröteten Wangen ließ er den Kopf hängen. Er hatte sich mal wieder einer Peinlichkeit hingegeben und sich komplett zum Löffel gemacht. Wieso sollte sich Tetsu auch mit ihm anfreunden wollen? Ausgerechnet mit ihm… Auf so eine absurde Idee konnte auch nur er kommen! Es gab nicht einen ersichtlichen Grund… Gerade wollte sich Hideto für seinen blöden Gedanken entschuldigen, da spürte er Tetsu’s Hand an seinem Gesicht, wie sie es langsam und vorsichtig wieder nach oben zog, so dass er ihn wieder ansehen musste.

"Aber…?", wurde er vorsichtig aber gleichzeitig ermutigend gefragt. Doch damit wurde Hideto nur noch unsicherer. "Aber…", begann er vor sich hin zu stammeln, "Ich… also… Ich meine… Es… wäre nur schön… Aber wenn du nicht magst, ist auch okay! Ehrlich, ich kann das verstehen…" Himmel, er redete sich hier noch um Kopf und Kragen! Warum nur musste er sich immer wieder in solche Situationen bringen!? Konnte er denn wirklich nicht ein einziges Mal seinen Mund halten? Dass Tetsu ihn schweigend und mit ausdruckslosem Blick – fast schon durchdringend – ansah, half ihm nicht unbedingt viel weiter! Schon wieder wollte er sich dafür entschuldigen, was er da von sich gegeben hatte, da wurde er schon wieder unterbrochen. "Okay…", lächelte Tetsu ihn an, "Lass es uns ruhig versuchen…" "Versuchen?", fragte der Blonde leicht verwirrt. Was sollte man da versuchen? Freund war Freund, oder…?

"Freundschaften schließt man nicht von heute auf morgen oder von jetzt auf gleich.", meinte Tetsu, "Wenn du mir jetzt sagen willst, wir sind Freunde, nur weil wir das gesagt haben, dann wird das nichts. Solche Dinge brauchen Zeit, verstehst du? Lass uns einander besser kennen lernen und sehen, ob wir miteinander auskommen, okay?" Wie es aussah, hatte Hideto noch viel zu lernen, was zwischenmenschliche Beziehungen anging… Aber das machte nichts, Tetsu würde sich die Zeit für ihn nehmen. Er hielt dem Blonden die offene Hand hin, welcher dieser annahm. "Ist gut…"

#4: Der Fluch des Sofas

Seit dem Tag Tetsu's Zusammenbruchs waren ein paar Wochen vergangen. Ein ähnlicher Vorfall hatte sich nicht wieder ereignet und Tetsu hatte mehr Zeit mit Hideto verbracht. Sie unterhielten sich in den Pausen, aßen gemeinsam ihr Frühstück und Mittagessen und ab und zu kam Hideto nachmittags mit zu Tetsu und blieb bis abends. Beide merkten schnell, dass sie gut miteinander auskamen. Auch fühlte sich Hideto bei seinem neuen Freund wirklich wohl. Er war gern mit ihm zusammen oder in dessen Wohnung. Sie strahlte immer etwas Warmes aus. Er hatte sich einmal genauer dort umgesehen. Das Bad war recht großzügig angelegt, sodass sowohl Wanne als auch Dusche hinein passten. Die Küche hatte viele weiße Schränke, Cerankochflächen, jedoch keinen Platz für einen Tisch und Stühle, sodass im Wohnzimmer gegessen werden musste. Dort standen ebenfalls einige Schränke, ein Sofa, das schon etwas älter aussah und an einer Wand war ein kleiner Kamin eingebaut. Alles in allem machte dieser Ort einen sehr gemütlichen Eindruck. Nur das Zimmer der Erwachsenen konnte er nicht betreten, denn es war abgeschlossen, wenn Tetsu's Onkel und Tante nicht zu Hause waren.

Aber was Hideto trotz allem irritierte, war, dass Tetsu immer irgendwie auf Distanz blieb. Er hatte immer öfter das Gefühl, nicht richtig an den Anderen heranzukommen. Da bestätigte sich für ihn sein Verdacht, dass der Schwarzhaarige irgend ein Problem haben musste. Tetsu’s Verhalten war an manchen Tagen durch und durch seltsam und äußerst merkwürdig. Dann redete er kaum, gab nur kurze Antworten, war extrem nervös und kontrollierte ständig seine Kleidung. Doch Hideto wollte auch nicht unbedingt nachfragen und damit vielleicht in alten Wunden herum stochern. Er hatte sich vorgenommen zu warten, bis Tetsu von sich aus darüber reden wollte.

Eines Tages war Hideto bereits nach Hause gegangen, als es bei Tetsu klingelte. Langsam trat dieser im Schlafanzug auf den Eingang der Wohnung zu und öffnete die Tür einen kleinen Spalt. Zu Gesicht bekam er seinen verzweifelt aussehenden Freund namens Hideto. "Hast du etwas vergessen…?", wollte Tetsu von ihm wissen. War der Blonde denn nicht schon längst bei sich und schlief? "Ich kann meinen Schlüssel nicht finden…", erwiderte Hideto leicht geknickt, "Ich hab schon überall gesucht, aber… Stört es dich, wenn ich heute hier schlafe?" Einen Augenblick starrte Tetsu ihn fassungslos an. Er wollte…? Ob das wohl gut gehen würde? Er hatte da erhebliche Zweifel. Es sei denn, er würde Hideto das Sofa geben. Ja, genau. Das würde er tun. Er trat von der Tür zurück, sodass der Andere eintreten konnte. Sogleich schloss er die Tür hinter Hideto sorgfältig zu und lief ins Wohnzimmer. Dort holte er schnell ein Kissen und eine Decke aus einem der Schränke, bereitete das Sofa und wehrte danach ein "Danke…" seines Freundes ab, der ihm gefolgt war. "Keine Ursache…", meinte Tetsu nur, "Ich hoffe, du kannst gut darauf schlafen." Damit hatte sich Hideto auf die Garnitur gesetzt. "Das wird schon…", grinste er ihn leicht schelmisch an. Doch kaum hatte er diesen Satz ausgesprochen, da sprang er erschrocken wieder auf. "Was… ist denn?", fragte Tetsu vorsichtig und trat wieder näher. "Ich glaube, dieses Sofa ist kaputt…", stellte Hideto fest, als er sich das Möbelstück noch einmal genauer betrachtet hatte und deren Federn aus dem Stoff der Polsterung herausragen sah.

Tetsu war sprachlos, komplett sprachlos. Konnte das jetzt überhaupt wahr sein!? Doch kurz darauf beobachtete er, wie die Couch gänzlich in sich zusammen sackte. Übrig blieb nichts als ein Trümmerhaufen, ein Hideto, der keinen ordentlichen Schlafplatz mehr hatte, und ein entsetzter Tetsu. Nun gab es wirklich nur noch sein eigenes Bett. Es war zwar groß genug für sie beide, aber allein der Gedanke, Hideto würde ihm dann so nah kommen, behagte ihm ganz und gar nicht. Doch es gab keine andere Möglichkeit, so sehr Tetsu auch darüber nachdachte. Er konnte Hideto ja schlecht auf dem Boden oder in der Badewanne schlafen lassen. Und wenn er die Nacht selbst so verbringen würde, wäre das mehr als nur auffällig. Für Tetsu hieß es also: Augen zu und durch! Irgendwie musste er es schaffen. "Dann… komm mit.", nuschelte er letztendlich und brachte Hideto samt Kissen und Decke in sein Zimmer. Dort gab er ihm einen seiner Schlafanzüge, ein Handtuch und schickte ihn ins Bad. Als Tetsu wieder allein war, kämpfte er mit der Panik. Was sollte er tun? Wie könnte er sein Verhalten notfalls erklären oder rechtfertigen? Die Wahrheit wollte er Hideto auf keinen Fall sagen!

Betrübt ließ sich Tetsu auf sein Bett sinken und starrte stumm in die Gegend. Wie er diese Nacht überstehen sollte, war ihm ein Rätsel… Doch ihm blieb nicht viel Zeit, weiter darüber zu Grübeln, denn schon wurde die Tür wieder geöffnet und Hideto betrat den Raum. Er schien in diesem Moment ein ganz anderer als sonst zu sein. Verschwunden waren die zerfetzten Sachen und hatten einem schlichten, einfachen, weißen Hemd mit dazugehöriger Stoffhose Platz gemacht. Die Haare waren nass und glatt nach hinten gekämmt. Außerdem bedankte sich Hideto noch einmal, dass er hier bleiben durfte. Daraufhin bekam er ein leises "Keine Ursache…" zurück. Dennoch wirkte Tetsu ganz anders als noch vor ein paar Stunden. Was war los? Was war passiert? Sein blasses Gesicht und die verkrampfte Haltung bereiteten Hideto wirklich Sorgen. Langsam bewegte er sich auf den Anderen zu, hockte sich vor ihm hin und sah ihn prüfend an. Gerade wollte er zum Sprechen ansetzen, da kam ihm Tetsu zuvor. "Dann lass uns mal schlafen gehen…", versuchte Tetsu so normal wie möglich zu wirken. Doch Hideto bemerkte die Anspannung dennoch und hielt ihm am Handgelenk fest. Sogleich konnte er den unsicheren Blick seines Gegenübers auffangen.

"Ich weiß zwar nicht, was plötzlich mit dir los ist, aber es gibt wirklich nicht den geringsten Grund zur Besorgnis, glaub mir…", versicherte er, bevor er sich dann doch ins Bett legte. Tetsu war noch einen winzigen Augenblick sitzen geblieben und hatte tief durchgeatmet. Nun legte er sich mit möglichst großem Abstand neben Hideto, löschte das Licht auf dem Nachttisch, schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Aber, wie er es bereits erwartet hatte, fiel ihm genau das sehr schwer. Er machte sich zu viele Gedanken über diese Situation, viel zu wirr war es in seinem Kopf und er fand einfach keine Ruhe. Das blieb auch Hideto nicht verborgen, weshalb er seinen Freund auf irgend etwas ansprach. Es war ihm ganz egal auf was, nur sollte Tetsu – von was auch immer – abgelenkt werden. Hideto hoffte inständig, dass es auch funktionieren würde. Und si unterhielten sie sich einige Minuten über dies und das.

Dann hatte Hideto ein wenig die Neugierde gepackt und er fragte, wie Tetsu's alte Schule, seine alte Klasse und seine alten Freunde gewesen waren. Wieder schwieg Tetsu eine Weile, bis er antwortete: "Die Schule… Es war ein etwas älteres Gebäude und nicht unbedingt sehr groß. Die Lehrer waren meistens nett, ich war aber auch nie auffällig oder so…" Das war noch vor jenem schicksalhaften Tag gewesen. Mit einem leichten Lächeln aber auch mit Tränen in den Augen erinnerte sich Tetsu an diese Zeit, an seinen Alltag, an alles… "Ich hatte da ein paar Jungs, mit denen ich die meiste Zeit verbracht habe, aber so wirklich vermissen tu ich sie nicht. Ich weiß, das klingt traurig, aber ich kann es nicht ändern.", fuhr er leise fort, "Sie haben mir ganz einfach nicht so viel bedeutet. Und ich komme auch ganz gut ohne sie klar. Außerdem…" Er holte kurz Luft, bevor er weitersprach: "…habe ich mich seitdem auch ziemlich verändert. Wir würden wohl nicht mehr wie früher miteinander umgehen und das muss nicht sein…" Damit sah Tetsu seine Antwort als ausführlich genug an und wartete auf eine Reaktion.

Doch nichts geschah, alles blieb still. Nur ihre leisen Atemzüge waren zu hören. Da spitzte Tetsu die Ohren und musste feststellen, dass Hideto’s Atem ruhig und gleichmäßig ging. Offensichtlich war er bereits eingeschlafen, doch Tetsu wollte auf Nummer sicher gehen. Er beugte sich ein wenig vor, um Hideto besser erkennen zu können, und sprach ihn leise an. Als er wieder keine Reaktion bekam, war er sich sicher. Hideto schlief und das beruhigte ihn – vorerst. Er kuschelte sich wieder in seine Decke, entspannte sich und schlummerte bald darauf ebenfalls ein.

Doch sein Schlaf sollte nicht lange ruhig bleiben. Schon nach ein oder zwei Stunden fing Tetsu wieder an, im Schlaf zu reden, zu stöhnen, seinen Körper mit den Armen zu umschlingen und sich hin und her zu winden. Natürlich blieb Hideto diese Tatsache nicht verborgen und er erwachte. Blinzelnd und noch leicht verschlafen sah er sich um. Eine Sekunde später war ihm klar, dass Tetsu einen Alptraum hatte und er setzte sich auf, rüttelte vorsichtig an dem Anderen und versuchte ihn zu wecken. Dass Tetsu sich immer weiter hinein steigerte, gefiel ihm überhaupt nicht, weswegen er etwas grober wurde. Tetsu sollte endlich wieder aufwachen, koste es, was es wolle!

Mit einem gellenden Schrei riss Tetsu die Augen auf, schlug um sich und rutschte so schnell und so weit wie möglich von dem anderen Körper weg. Er war noch nicht wieder richtig munter, zitterte weiter und versuchte das Schluchzen zu unterdrücken. Schmerzhaft krümmte er sich zusammen und sah einfach nur noch mitleiderweckend aus. Dieser Traum… warum nur kam er immer und immer wieder!? Warum quälte man ihn so…? Tetsu verstand es einfach nicht. Warum um alles in der Welt musste er diesen Tag immer wieder durchleben? Der Tag, an dem sich sein Leben komplett verändert hatte… Der schlimmste Tag seines Lebens…

"Tetsu…?", erklang eine besorgte und weiche Stimme aus der Dunkelheit und eine warme Hand legte sich auf den Kopf des Angesprochenen. Dieser erschrak zunächst etwas, doch dann fiel ihm wieder ein, dass er ja heute Besuch hatte. Mit Tränen im Gesicht sah er auf. Toll, was nun? Wie sollte er das erklären…? "Ich… also…", begann er zu stottern. Doch Hideto legte ihm den Finger auf den Mund. "Sch… Ist gut, du musst mir nichts sagen. Ich möchte bloß wissen, ob du in Ordnung bist…?", Hideto sah Tetsu prüfend an und erhielt nur ein kurzes Nicken als Antwort.

Fürs erste war der Blonde beruhigt. Doch er wusste, dass im Grunde nichts in Ordnung war. Nicht nach Tetsu's Reaktion zu urteilen, nachdem er aufgewacht war. Etwas belastete den Jungen und zwar sehr stark! Hideto setzte sich näher an Tetsu, zog ihn gleichzeitig mehr an sich und umarmte ihn. Er wollte ihn trösten, ihm zeigen, dass er nicht allein war und dass er sich auf ihn verlassen konnte. Doch Tetsu entzog sich der Umarmung, wich sofort wieder zurück und ging auf Abstand.

Verwirrt und auch ein wenig enttäuscht sah Hideto den Anderen an. Wollte er nicht bei ihm sein? War er ihm vielleicht doch eine Last? War ihm seine Nähe so unangenehm…? Leise seufzte er und ließ sich wieder in die Kissen sinken. Das waren tolle Aussichten… An nur einem Tag hatte sich eine seltsame Spannung zwischen sie gelegt. "Ich…", begann Tetsu mehr als zögerlich, "… Es tut mir leid, das ist nichts gegen dich… Wirklich nicht!" Natürlich… gegen wen denn sonst? "Ich… hab es nur nicht so mit körperlicher Nähe, verstehst du? Es ist… unangenehm! Ich weiß, es war lieb gemeint und dafür bin ich dir auch dankbar, aber…" Er seufzte kurz.

Ganz offensichtlich erzählte er gerade von etwas, über das er nicht sehr oft sprach. Schon allein deshalb blieb Hideto stumm, er wollte ihn nicht unterbrechen. Im Gegenteil, er wollte sogar mehr über ihn heraus finden. Er wollte mehr über ihn wissen, ihn verstehen lernen… Nur warum wusste er nicht. Aller Wahrscheinlichkeit nach lag ihm mehr an diesem Jungen, als er zugeben wollte… Tetsu rang nach Worten, das konnte er sehen. Es fiel ihm sichtlich schwer, weiter zu reden. Ohne großartig darüber nachzudenken, griff Hideto nach der Hand seines Mitschülers und streichelte sie etwas. Er hatte zwar die Befürchtung, gleich wieder abgewiesen zu werden, doch Tetsu ließ es zu. Seine Hand klammerte sich richtig an die andere. Doch den Blick hatte Tetsu immer noch abgewandt und stur in eine Ecke des Zimmers gerichtet.

"Ich… hab wirklich nichts gegen dich, das musst du mir glauben…", flüsterte Tetsu nun, "Nein, ich mag dich sogar sehr gern… Du bist mir in den letzten Wochen echt wichtig geworden… Bitte glaub nicht, dass ich dich nicht ausstehen kann oder dich vielleicht hasse…" Langsam lief ihm eine Träne übers Gesicht, doch er bemerkte sie nicht. Allein die Vorstellung, Hideto könnte das annehmen und sich wieder von ihm abwenden, stimmte ihn furchtbar traurig.

Da bemerkte er, dass sich Hideto wieder aufgesetzt hatte und sah ihn vorsichtig an. Was wohl gerade in ihm vor sich ging…? Hideto's Hand wanderte nun zu seinem Gesicht und wischte die nassen Stellen fort. Danach spürte Tetsu mit einem leichten Kribbeln auf der Haut, wie er mit dem Daumen gestreichelt wurde. Auch dagegen unternahm er nichts. Es fühlte sich gut an… Anschließend wurde ihm sanft durch das Haar gestrichen und die Hand blieb auf seinem Kopf ruhen. Tetsu blickte nun direkt in die Augen Hideto's und wenn er ehrlich sein sollte, wusste er nicht, was er in diesem Moment dachte.

"Ist gut, das ist doch verständlich…", meinte Hideto beruhigend. Seine anfängliche Verärgerung war komplett wieder verschwunden. "Jeder hat doch etwas, mit dem er nicht so gut klar kommt wie andere… Wenn es dir unangenehm ist, dann lasse ich dich einfach entscheiden, wie nah du mir kommen willst, einverstanden…?" Einen kurzen Moment wurde er noch angeschwiegen, bevor Tetsu erneut nickte. Eine Pause entstand. "Du… Also, du kannst deine Hand… ruhig auf meinem Kopf lassen…", murmelte Tetsu dann etwas verlegen und wurde ein wenig rot um die Nase, sah wieder weg. "Nur… alles, was unterhalb des Halses liegt, solltest du in Ruhe lassen…"

Sanft lächelte Hideto. Sie legten sich wieder hin und Tetsu legte den Kopf auf den Arm des Anderen. Dieser strich ihm weiter durch das dunkle Haar, was ihm eine leichte Gänsehaut auf dem Rücken bescherte. "Weißt du…", sprach Hideto ihn wieder an, "Du bist mir auch sehr wichtig geworden… Ich weiß, wir kennen uns noch nicht lange, aber du kannst immer zu mit kommen, wenn etwas ist. Okay?" Wenn Hideto nur gewusst hätte, wie glücklich Tetsu diese Worte gerade machten… Nachdem er kurz geschluckt hatte, brachte er ein heiseres und geflüstertes "Okay…" heraus.

Von Hideto hörte er danach nur noch, wie er ihm wieder eine gute Nacht wünschte. Danach war es ruhig in dem Zimmer. Schlief er denn schon wieder…? Aber egal, es war schließlich auch Zeit zum Schlafen. Tetsu überlegte, dass er das am besten auch tun würde, doch er konnte den Blick nicht von dem blonden Wesen neben sich lassen. Lange sah er ihn einfach nur an und dachte nach. Doch er konnte nicht einmal sagen, worüber er nachdachte… Letztendlich legte er seine Hand auf Hideto's Arm und schloss die Augen. Bald darauf schlief er wieder ein und diesmal blieb er ruhig…

#5: Die Abmachung

Am nächsten Morgen wurde Hideto von sanftem Sonnenlicht geweckt, das ihm ins Gesicht schien. Vögel zwitscherten ein fröhliches Lied und langsam schlug er die Augen auf. Verschlafen sah er sich um und stellte fest, dass er allein in Tetsu's Bett lag. Wo war Tetsu hin? Er fühlte sich auf einmal wieder so allein in diesem Zimmer. Langsam aber sicher entwickelte er einen Hass auf dieses Gefühl. Es sollte endlich verschwinden! ... und am besten niemals wieder zurück kehren.

Aber konnte man einem Gefühl einfach so sagen, dass es in der Versenkung verschwinden sollte? Man könnte es sicher probieren, nur würde es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht viel bringen... So schälte sich der Blonde aus den Kissen und tapte zur Tür. Er wollte gerade nach der Klinke greifen, als die Tür von der anderen Seite aus geöffnet wurde. Erschrocken wich er zurück, bevor seine Nase Bekanntschaft mit dem Holz machen konnte...

"Oh, du bist schon wach...", stellte Tetsu zum Teil erschrocken und zum Teil erfreut fest, "Ich wollte dich gerade wecken." Nach einem kleinen Lächeln setzte er "Einen wunderschönen guten Morgen!" nach, trat von der Tür weg und lief wieder in Richtung Küche. "Du kannst ins Bad, wenn du möchtest. Das Frühstück braucht noch fünf Minuten.", erklärte er von der Herdplatte aus.

Hideto nickte nur kurz, bevor er auch schon im Badezimmer verschwunden war. Während dessen widmete sich Tetsu wieder dem Reiskocher, der Pfanne und der Kaffeemachine. Er achtete zwar auf das Fleisch und das Gemüse, damit es nicht anbrannte, doch mit seinen Gedanken war er vollkommen woanders. Er war ein wenig verwirrt und das lag nicht zuletzt an Hideto. Seltsamer Weise fühlte er sich von dem Blonden angezogen, er hatte ihn so nah an sich heran gelassen, wie niemand anderen seit dem Unfall. Etwas, das er eigentlich niemals wieder hatte tun wollen! Er wollte niemanden neben sich haben, wenn er schlief... Er wollte nie wieder mit jemandem kuscheln - mit wem auch immer! Und doch hatte er es, wenn auch nur ansatzweise, letzte Nacht getan...

Aber was Tetsu am meisten beunruhigte: Er war heute Morgen in Hideto's Armen aufgewacht. Nicht auf die Weise, wie sie eingeschlafen waren... Tetsu hätte kein Problem damit gehabt, wenn er den Arm des Anderen, wie auch am Abend zuvor, als Kissen benutzt hätte. Aber nein, er hatte ganz nah an ihm gelegen! Tetsu hatte sich sogar mit einer Hand in Hideto's Schlafanzug gekrallt... Und - Tetsu mochte gar nicht daran denken - Hideto's Arme waren eng um ihn geschlungen gewesen - um seinen Oberkörper! War das alles in der Nacht passiert? Während sie geschlafen haben? Ohne, dass er es mitbekommen hätte? Nur warum...? Tetsu ging nicht davon aus, dass er gezwungen worden war. Das hätte er garantiert gemerkt, schließlich war sein Schlaf nach wie vor ziemlich leicht. Sollte es vielleicht sogar so sein, dass...

Weiter kam er mit seinen Gedanken nicht, denn plötzlich stand sein Gast komplett angezogen und gestylt in der Küche. Tetsu hatte sich gerade so von einem Aufschrei abhalten, als er plötzlich angesprochen wurde. "Das sieht lecker aus...", meinte Hideto mit einem Blick auf das Essen. Tetsu schwiegund sah ihn unsicher an. "Ach, das... ist doch nichts Besonderes!", murmelte er mit einem peinlich berührten Lächeln. "Doch, ich finde schon...", erwiderte der Blonde, "Ich lasse sowas immer anbrennen, wenn ich mich doch mal hinter den Herd stelle... Deshalb gibt es bei mir meistens FastFood..." Hideto musste zugeben, dass ihm das ziemlich peinlich war. Doch war sollte er machen?

Tetsu sah sein Gegenüber leicht entsetzt an. "Du...?", war alles, was er heraus bekam. "Aber... das geht doch nicht! Das ist ungesund, das weißt du! Und... auch, wenn ich vielleicht wie ein Spießer oder einer dieser Erwachsenen klinge, aber: Du brauchst doch Abwechslung in der Ernährung..." Besorgt sah er Hideto an. Dieser wirkte ganz und gar nicht begeistert über dieses Thema. Gut, er war selbst schuld. Hätte er nicht damit angefangen...

Tetsu wollte eigentlich noch ein wenig weiter ausholen, beließ es dann aber dabei. Er hatte gemerkt, dass das nicht unbedingt das beste Gesprächsthema war und vielleicht sogar zu einem noch unangenehmeren führen könnte. Hideto hatte schließlich erzählt, dass er allein wohnte, nur aus einem etwas anderen Grund als Tetsu. Er wollte auf keinen Fall in irgendwelchen Wunden herumstochern! Immerhin hatte auch er etwas, über das nicht reden wollte, an das er am liebsten gar nicht erst erinnert werden wollte. In den letzten Wochen hatten sie viel Zeit miteinander verbracht, viel geredet und Tetsu hatte vom Unfall seiner Eltern erzählt, bei dem sie ums Leben gekommen waren. Doch... eine Sache hatte er dabei verschwiegen. Und er hatte auch nicht vor, das in irgend einer Weise nachzuholen. Nein... DAS sollte niemand - wirklich niemand! - erfahren, der es nicht schon wusste...
 

In der Zwischenzeit hatte sich Hideto an den Tisch gesetzt. Einerseits freute er sich zwar, einmal bekocht zu werden, doch es missfiel ihm zutiefst, dass dadurch offensichtlich eine kleine Meinungsverschiedenheit zwischen ihm und Tetsu aufgetreten war. Dabei waren sie sich am Abend zuvor doch ein Stück näher gekommen, oder? Er wollte sich nicht mit ihm streiten... Er konnte es nicht ausstehen, wenn er sich mit jemandem anschwieg.

Leise seufzend nahm Hideto zur Kenntnis, dass Tetsu das Essen samt einer Tasse Kaffee auf den Tisch stellte, sich ihm gegenüber setzte und zu essen begann. Also einmal mehr das große Schweigen... Warum nur war er gestern überhaupt hierher gekommen!? Während er nach den Stäbchen griff und den Reis zusammen mit Fleisch und Beilage verdrückte, machte er sich schon wieder selbst Vorwürfe. Es war immer noch Sommer, er hätte auch genauso gut auf der Straße schlafen können. Erfroren wäre er sicher nicht... Oder Masanori hätte einen Platz für ihn gefunden... Aber nein, es musste ja unbedingt Tetsu sein!

"Weißt du was?", wurde Hideto nun seinerseits aus seinen Gedanken gerissen. Überrascht sah er auf und blickte fragend in das leicht freundlich lächelnde Gesicht Tetsu's. Was hatte er denn nun vor...? "Ab heute werde ich dir jeden Tag etwas zu Essen machen, wie wäre das...?", bot Tetsu dann an. Hideto glaubte, sich verhört zu haben und schien gleich noch ein wenig verwirrter auszusehen, denn Tetsu schmunzelte etwas. "Du kannst es dir aussuchen, Frühstück oder Abendessen... Zum Mittag bekommst du ein Bento von mir und als Ausgleich bekommst du dann morgens oder abends - je nach dem, wie du dich entscheidest - Kochunterricht von mir und ich bekomme etwas von dir zu Essen.", sprach Tetsu nach einem unterdrückten Kichern weiter. Einen Augenblick ließ er Hideto überlegen. "Deal...?", damit reichte er dem Blonden die Hand. Dieser war vollkommen perplex. Konnte er seinen Ohren wirklich trauen? Es schien so unglaublich...

Doch er brauchte nicht lange, bis er sich dazu durchgerungen hatte und Tetsu's Hand annahm. "Deal...", meinte er freudig und nickte. "Okay... Also an morgen bin ich dann für dein leibliches Wohl verantwortlich...", grinste Tetsu, "Frühstück oder Abendessen?", wollte er noch von Hideto wissen. Nach kurzem Überlegen gab der Angesprochene Antwort, bevor er weiter aß. Er wollte wieder etwas zum Frühstück haben...
 

Einige Zeit später waren die beiden Jungen wieder voll im Schulalltag gefangen. Sie saßen auf ihren Plätzen und versuchten dem Unterricht zu folgen. Nur klappte das bei beiden nicht so ganz, wie sie sich das vorgestellt hatten. Tetsu bekam die Diskussion, wohin die nächste Klassenfahrt gehen sollte, kaum mit. Er hing immer noch der Frage nach, wie sie heute Morgen in dieser Position hatten liegen können. Es beschäftigte ihn unwahrscheinlich. Immer wieder sah er heimlich zu Hideto hinüber, betrachtete ihn eingehend. Was sollte er nur von ihm halten...? Tetsu wusste es nicht. Er war sich richtig unsicher in Bezug auf den Blonden. Was hatte er nur an sich, dass er ihn gestern nicht noch vor die Tür gesetzt hatte, als das Sofa seinen Geist aufgegeben hatte? Wenn er das mal wüsste...

Doch auch Hideto ging der Abend und die Nacht nicht mehr aus dem Kopf. Und vor allem: Ihm ging Tetsu nicht mehr aus dem Kopf... Er hatte diese Nacht neben dem Anderen durchgeschlafen. Und das war selten der Fall, sehr selten. Irgendwann wachte er immer auf - ob nun durch diesen immer wiederkehrenden Traum oder weil ihn etwas anderes aus der Ruhe brachte... Doch diesmal war das anders. Ob das wohl an Tetsu lag? Ja, Tetsu... Irgendwie war er schon etwas Besonderes. Bei diesem Gedanken musste Hideto etwas lächeln.

Allerdings verschwand dieses Lächeln augenblicklich wieder, als er weiter über die letzte Nacht nachdachte. Tetsu machte ihm ziemliche Sorgen, denn so ein Alptraum war keine schöne Sache... Hideto wusste das aus eigener Erfahrung sehr gut. Gern, sehr gern sogar wollte er dem Schwarzhaarigen helfen, wenn er das konnte. Allerdings bezweifelte er, dass Tetsu ihn überhaupt so weit an sich heran lassen würde. Er hatte sehr wohl bemerkt, dass es bei ihm eine Grenze gab, die er nicht überwinden konnte. Zumindest im Moment nicht... Wie das in ein paar Monaten aussehen würde, wusste er nicht...
 

"Es ist also beschlossen.", riss der Klassensprecher die Jungen aus ihren Gedanken, "Wir fahren in drei Wochen für eine Woche nach Okinawa." Okinawa...?`Die kleine Insel im Süden Japans? Wo angeblich fast immer die Sonne schien? Tetsu seufzte in sich hinein. Das würden sicher 'tolle' Ferien werden. Doch er hatte sich nicht zu beklagen, da musste er nun einmal durch. Zumindest war Okinawa viele Kilometer von Honshu entfernt. Und das bedeutete, es wurde ihn auf dieser Reise nichts an seine Vergangenheit erinnern...

#6: Auf geht's!

Die drei Wochen bis zur Abfahrt waren schneller vergangen, als Tetsu gedacht hatte. Eines Morgens war es also soweit und er stand mit einer gepackten Sporttasche und seinem Rucksack vor Hideto's Tür und wartete. Die Aussicht auf Urlaub auf Okinawa erfreute ihn noch immer nicht. Die kleine Insel war schließlich für heiße Tage bekannt. Heiße Tage, an denen die Sonne ihre Hitze unerbittlich auf ihn niedergehen lassen würde... Und er konnte noch nicht einmal etwas dagegen tun! Gut, das Meer war vielleicht direkt um die Ecke, doch was brachte das, wenn er nicht baden gehen konnte? Und oberkörperfrei würde er unter Garantie nicht durch die Gegens laufen. Nein, er schüttelte energisch den Kopf. DAS würde er auf gar keinen Fall tun, und wenn er daran verrecken würde!

Noch völlig in seinen Gedanken verloren erschrack Tetsu, als ihm die Tür geöffnet wurde. "Etwas schreckhaft heute...?", wurde er sofort von Hideto angegrinst und damit hereingebeten. "Naja, eigentlich nicht...", murmelte er nur im Vorbeigehen, als er die Wohnung betrat und sich in die Küche begab. Dort machte er sich wie jeden Morgen gleich an die Arbeit. "Aber...?", Hideto hatte sich seinerseits an den Türrahmen gelehnt und sah seinen Freund fragend an. Dieser atmete ein wenig durch, bevor er antwortete. "Aber ich habe nicht gerade viel Lust auf diese Reise...", brummte er vor sich hin, während er das Frühstück vorbereitete. Sein Ton verriet eindeutig, dass seine Aussage mehr als nur untertrieben war.

Das machte Hideto schon wieder leichte Sorgen... Also versuchte er, ihn wieder ein wenig aufzumuntern. "Du hast also keine Lust auf eine ganze Woche mit mir zusammen? Im selben Zimmer...?", ein warmer Blick begleitete diese Frage und ruhte auf Tetsu. Dieser sah verlegen auf und errötete minimal. Da er Hideto mittlerweile ganz gut kannte, war ihm der zweideutige Unterton, den man nicht immer gleich erkannte, sofort aufgefallen. Im ersten Moment fiel ihm gar keine Antwort ein, weshalb er wieder weg sah. "Baka...", konnte man leise vernehmen.

Bei dieser Reaktion musste Hideto wieder schmunzeln. "Ach, Tet-chan... manchmal bist du richtig süß!", meinte er und setzte sich auf einen der Küchenschränke. Von dort aus beobachte er seinen Freund. "Stimmt doch gar nicht...", Tetsu hatte den Kopf wieder stur dem Essen zugewandt und nuschelte. 'Und nenn mich nicht Tet-chan!', wollte er eigentlich noch hinzu fügen, doch er brachte es nicht über die Lippen. Wann hatte Hideto überhaupt angefangen, ihn so zu nennen? Er wusste es nicht mehr... Aber irgendwie machte es ihm nicht so viel aus, wie er sich gern einbildete.

"Du hast Recht!", unterbrach der Blonde wieder seine Gedankengänge und Tetsu sah auf, "Du bist IMMER süß..." Einen Augenblick war es komplett still in dem Zimmer. Man hätte wohl das Gras wachsen hören können. Sie starrten sich nur an und Tetsu wusste absolut nicht, was er nun darauf sagen sollte. Statt dessen lief er rot an und hätte sich um ein Haar noch das Messer in die Hand gerammt... Die ungewohnte Gesichtsfarbe seines Freundes rang Hideto ein leichtes Lächeln ab und er dachte sich so seinen Teil...
 

Schätzungsweise zwei Stunden später saßen sie nebeneinander im Bus und fuhren in Richtung Süden. Gegen Ende der Reise würden sie mithilfe einer Fähre auf die Insel übersetzen. Tetsu verbrachte seine Zeit damit, aus dem Fenster zu starren, die Landschaft zu beobachten, seinen Gedanken nachzuhängen und hin und wieder zu seufzen. Sicher, er freute sich schon irgendwie auch darauf, diese Woche mit Hideto verbringen zu können, doch das war auch nur ein kleiner Trost. Er würde sich wohl viel Mühe geben müssen, nicht aufzufliegen...Ein weiteres Seufzen folgte. Für Hideto was das nun endgültig genug. "Was ist mit dir...?", wandte er sich an seinen Platznachbarn. Bis jetzt hatte er in einem Ohr einen Kopfhörer stecken gehabt und Musik gehört, während er wieder etwas in sein Notizbuch gekritzelt hatte. Nun wurde er überrascht angeschaut. "Wie... was ist mit mir?", fragte Tetsu nach. Er verstand nicht, worauf Hideto hinaus wollte. Was sollte denn sein?

Hideto's Blick hingegen wurde ernst. "Wenn du so weitermachst, starrst du noch Löcher in die Fensterscheibe... Du seufzst ununterbrochen und wo ist dein hübsches Lächeln geblieben? Das zeigst du sowieso viel zu selten...", zählte er auf, was ihn störte, was allerdings nur ein genervtes Augenverdrehen des Anderen zur Folge hatte. "Ich hab dir doch vorhin schon gesagt...", begann er, wurde jedoch unterbrochen. "...dass du keine Lust auf die Klassenfahrt hast...", wiederholte Hideto Tetsu's Worte von heute Morgen und nickte dabei, "Ja, das hast du... Aber dafür muss es doch einen Grund geben, oder?"

Tetsu sah ihn lange schweigend an. Sicher hatte das einen Grund, einen guten sogar... Aber den würde Hideto niemals erfahren! Allein der Gedanke, der Blonde könnte darüber Bescheid wissen, ließ ihn erzittern. Sicher würde sich Hideto angewidert von ihm abwenden und nicht das Geringste mehr mit ihm zu tun haben wollen. Er würde ihn einfach liegen lassen, wie einen Haufen Dreck... Und genauso würde er ihn auch behandeln.

Und Tetsu? Er würde wieder allein dastehen - mit einem gebrochenen und zertretenen Herzen zurück bleiben... Ja, so sah es aus. So und nicht anders! Jemanden wie ihn - Tetsuya Ogawa - wollte man normalerweise gar nicht erst kennen. Um nicht ganz allein zu sein, musste er als lügen, sich und die Wahrheit verstecken. Er musste sich verstellen, so gut es nur ging... Und es schien zu funktionieren.

"Tetsu!", Hideto riss ihn einmal mehr etwas unsanft aus den Gedanken, als er ihn ansprach und die Hand vor seinen Augen auf und ab bewegte. Erschrocken sah Tetsu wieder in ein fragendes Gesicht, dessen Stirn mittlerweile von Sorgenfalten geschmückt war. "Ich... also...", begann er wieder zu stammeln. Warum nur machte Hideto ihn immer so verlegen? Wie schaffte er es, ihn so durcheinander zu bringen? "Tut mir leid, ich hab wohl nicht genug Schlaf abbekommen...", nuschelte er betrübt und ließ den Kopf hängen. Das war zwar nicht wirklich der Grund, aber es war auch nicht gelogen. Tetsu hatte die halbe Nacht wach gelegen, sich in seinem Bett von einer auf die andere Seite gedreht und einfach keine Ruhe gefunden.

"Ich bin hundemüde...", gab er noch etwas kleinlaut von sich, bevor er scih seufzend an Hideto lehnte. Dieser hatte sofort den Arm um die Schultern des Schwarzhaarigen gelegt und strich ihm nun beruhigend über den Kopf. Er berührte den Rücken ganz gezielt nicht, schließlich erinnerte er sich noch genau an Tetsu's Worte, als sie zusammen im Bett gelegen hatten.

"Dann schlaf doch einfach...", schlug er Tetsu vor, "Wir sind noch lange genug unterwegs." Ein Lächeln folgte. "So ein Bussitz erweist sich meistens als ziemlich unbequem...", grummelte Tetsu ohne dabei aufzusehen. "Und wenn du mich als Kissen missbrauchst...?", ein weiteres Grinsen zierte Hideto's Lippen, als Tetsu ihn skeptisch anschaute. Dass Hideto das Wort 'missbrauchen' benutzt hatte, ignorierte er erst einmal. "Und das soll helfen...?", fragte er statt dessen mit unverlennbarem Misstrauen in der Stimme. "Klar!", meinte der Blonde jedoch nur vergnügt, "Ich bin ein gutes Kissen, wirst sehen..." Mit einem kleinen Augenzwinkern ließ er Tetsu wieder los und tauschte die Plätze mit ihm, so dass er nun am Fenster saß. Dort lehnte er sich mit dem Rücken an die Scheibe, legte ein Bein auf beide Sitze und hatte ein Kissen aus seiner Tasche geholte, welches er sich einladend auf die Brust gelegt hatte.

Irritiert stand Tetsu daneben und fühlte sich ein wenig überfordert mit der Situation. "Ich... soll jetzt wirklich...?", die Unsicherheit war deutlich zu spüren. Mit einem überzeugten Nicken und einer Hand, die Hideto nach ihm ausstreckte, wurde er jedoch wieder ermutigt. Vorsichtig kletterte er auf den Anderen und suchte sich eine einigermaßen bequeme Stellung. Irgendwie schien es sogar ganz angenehm zu sein...

"Geht's?", wollte Tetsu wissen. Er war sich nicht ganz sicher, ob er Hideto nicht vielleicht weh tat. Und das wollte er auf keinen Fall! "Lieg ich nicht irgendwie ungünstig? Oder bin ich vielleicht zu schwer?" "Tetsu...", seufzte Hideto ein wenig entnervt, "Es ist alles in Ordnung! Wirklich..." Ein Nicken bestätigte seine Aussage. Tetsu war für den Augenblick beruhigt. Nur war das wieder ein Stückchen mehr Nähe, als er es gewohnt war. Andererseits hatte er sich selbst dazu entschlossen, er war nicht gezwungen worden. Darüber hinaus wusste Hideto, wo die Grenzen waren und er hatte sie bis jetzt immer eingehalten. Tetsu vertraute ihm - jeden Tag ein Bisschen mehr...

Langsam begann der Schwarzhaarige sich zu entspannen. Er wurde ruhiger, bis er die Augen geschlossen hatte und ihn der Schlaf eingeholt hatte. Ihm fielen einfach die Augen zu. Tetsu schlief lange und ausgiebig. Als er die Augen wieder aufschlug, waren sie schon fast am Meer angekommen. Er blinzelte Hideto noch leicht verschlafen an. "Na, ausgeschlafen?", lächelte ihn dieser an. Schon allein das reichte aus, um Tetsu wieder in Verlegenheit zu bringen. Er wusste zunächst nicht, was er sagen sollte, sah den Blonden nur lange an - zu lange, wie ihm schien. Er spürte ganz deutlich, wie seine Wangen heißer wurden und er ganz offensichtlich rot anlief, bevor er kurz nickte und leise "Hmmm..." nuschelte. Allerdings dachte er nicht einmal daran, wieder aufzustehen. Es war gerade so schön bequem! Notfalls musste Hideto ihn eben von sich runterschmeißen. Für diesen Moment vergaß Tetsu sogar seinen Rücken und seine Menschenscheu...

Hideto aber wollte ihn gar nicht wieder gehen lassen. Auch er hatte diese neue Nähe, die dennoch schon so vertraut war, sehr genossen. Und er wollte sie nicht eine Sekunde länger wieder verschwinden lassen, als nötig. Vielmehr freute er sich darüber, dass Tetsu ihm wieder etwas mehr Vertrauen entgegen brachte. Das war ein gutes Zeichen! Er selbst hatte nicht weiter geschlafen, immerhin hatte er auf seinen Freund aufpassen und über dessen Schlaf wachen wollen. Statt dessen hatte er sich wieder seine Kopfhörer inklusive MP3-Player, stift und Notizblock genommen. Diesmal war er selbst aufgenommene Titel von sich selbst durchgegangen und hatte sie kontrolliert und kritisch beäugt. Ebenso hatte er seinen Gedanken und Gefühlen einmal mehr freien Lauf gelassen und hatte sie zu Papier gebracht. Tetsu's Reaktion gerade fand er richtig süß und musste sich ein leises Kichern verkneifen. Er fragte sich, was genau diese niedliche Röte in Tetsu's Gesicht verursacht hatte. Er hatte doch gar nichts gemacht...

"Was tust du da?", wollte Tetsu von ihm wissen, nachdem er sich den Schlaf aus den Augen gerieben hatte und etwas munterer geworden war. Ganz offensichtlich war er neugierig geworden. Doch warum auch nicht? Immerhin interessierte es ihn, was sein Freund tat. Hideto hatte noch nicht allzu viel von sich erzählt, was Tetsu irgendwie bedauerte. Doch er konnte es verstehen, er selbst machte es ja auch nicht anders. "Du meinst das hier?", fragte Hideto leicht verwundert nach und deutete auf seinen Block. "Ach, das ist nur das, was mir manchmal durch den Kopf geht. Eine Art Ventil, wenn ich mal wieder über irgendwas nachdenke. Manches sind auch Songtexte - mehr oder weniger..."

Hideto schrieb? Er schrieb Texte selbst? Tetsu war hellauf begeistert, was man seinem Gesichtsausdruck deutlich und eindeutig entnehmen konnte. "Ähm...", sprach er ihn an, "Darf... Darf ich mal sehen?" Hideto zögerte einen Augenblick. Er war überrascht, dass es überhaupt jemanden gab, der das lesen wollte. Tetsu war der erste, der danach gefragt hatte. Letztendlich stimmte er aber zu und reichte ihm das Objekt seiner Begierde. Tetsu wirkte sehr konzentriert, als er die Zeilen durchging, die Seiten umblätterte und die Worte förmlich aufsog. Hideto wurde nervös. Noch nie hatte er eine Meinung oder eine Einschätzung bekommen. Was Tetsu wohl sagen würde? Er war gespannt - sehr sogar! Er konnte es kaum abwarten. Fast fühlte er sich wie ein kleines Kind. Wie peinlich! Er schämte sich für sich selbst. Doch er wollte Tetsu auch nicht unterbrechen oder drängen. Wenn er das wirklich lesen wollte, würde er auch genug Zeit dafür bekommen...

Inzwischen hatte sich Tetsu in die kleinen Geschichten hineingelesen. Er konnte schon gar nicht mehr damit aufhören, binnen weniger Sekunden war er von Hideto's Schreibstil gefangen worden. Es war zwar alles ziemlich kurz, aber ganz genau das faszinierte ihn. Hideto schaffte es, mit nur wenigen Worten Gefühle zu zeigen und auszulösen. Allerdings störte es Tetsu ein ganz klein wenig, dass alles düstere, traurige und auch leicht deprimierende Themen waren. Andererseits konnte er ihm auch schlecht vorschreiben, über was er texten sollte. Es war ganz allein Hideto's Entscheidung und da konnte Tetsu ihm nicht dazwischen funken. Aber so traurig diese Texte auch waren, Tetsu entdeckte überall auch einen winzigen Funken Hoffnung, dass einmal alles gut werden sollte...

"Das... Hideto, das ist wunderbar!", strahlte er den Poeten, auf dem er immer noch lag, von unten her an, "Ich meine... wirklich, du hast Talent!" Tetsu konnte seinen Eifer nicht richtig in Worte fassen, doch man konnte sie ihm dafür umso mehr ansehen. Tetsu's Augen funkelten und strahlten wie nichts anderes es hätte tun können. Nun war Hideto an der Reihe, rot zu werden. Mit so viel Begeisterung hatte er gar nicht gerechnet. Aber es freute ihn sehr, dass das, was er erschaffen hatte, eine solche Reaktion hervorrufen konnte. Diese Worte jetzt auch noch von Tetsu zu hören, war in diesem Augenblick das größte Geschenk, das er hätte bekommen können.

"Arigatô...", bedankte er sich leise und mit einem Lächeln auf den Lippen. Für alles andere fand auch er nicht die richtigen Worte. Er fand allerdings auch, dass er die nicht brauchte, dass Tetsu seine Dankbarkeit und seine Freude auch so spüren konnte. Am liebsten würde er ihn fest umarmen, aber er hatte ja versprochen, ihm körperlich nicht zu nahe zu kommen. Und er hatte ganz bestimmt nicht vor, dieses Versprechen zu brechen! "Ich habe nur die Wahrheit gesagt!", grinste Tetsu und stubste dabei Hideto's Nase an, nachdem er sich etwas aufgerichtet und sich dem Blonden zugewandt hatte. Eine Weile sahen sie sich weiter schweigend an, ihre Blicke trafen aufeinander und einen kurzem Augenblick schien es so, als wären sie ganz allein auf der Welt...

#7: Ein Schritt nach vorn

Nach einigen Stunden hatten sie die Insel im Süden des Landes mithilfe eines kleinen Schiffes endlich erreicht. Die Überfahrt hatte Tetsu jedoch auf der Toilette verbringen müssen, da er leicht seekrank geworden war. Die Erleichterung, nach scheinbar endloser Zeit wieder festen Boden unter den Füßen spüren zu können, stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Dieses war allerdings noch ein wenig blass, was Hideto noch immer leichte Sorgen bereitete. "Geht es wieder...?", erkundigte er sich nach Tetsu's Befinden, als sie das Schlusslicht der Gruppe aus Schülern bildeten, welche auf das Hotelgebäude, in dem sie die nächste Woche verbringen würden, zulief. Tetsu nickte nur kurz. "Hai, alles okay!", lächelte er bestätigend, "Ich bin nur froh, dass wir auf Kyushu leben, sonst hätte ich das vielleicht mehr als ein Mal ertragen müssen... Aber danke, es geht schon wieder. Nur keine Sorge!"

Das nächste Lächeln von Seiten Tetsu's beruhigte den Blonden dann doch wieder und auch er nickte. Gleich darauf streckte er die Hand nach Tetsu aus, wuschelte ihm kräftig über den Kopf, was die schwarzen Haare zu allen Seiten abstehen und dessen Besitzer etwas geschockt und irritiert dreinschauen ließ, und lief grinsend und etwas kichernd mit der Reisetasche über der Schulter weiter voraus. Tetsu allerdings war aufgrund dieser unerwarteten Handlungsweise stehen geblieben und starrte Hideto sprachlos hinterher. So ein durchgeknallter Krauz... Was sollte das denn jetzt werden? Also wirklich, Hideto war manchmal einfach unmöglich! Dennoch musste Tetsu schmunzeln...

Aber vielleicht wäre es besser, wenn er nicht weiter darüber nachdenken würde, sondern es einfach kommentarlos hinnehmen würde. Höchst wahrscheinlich steckte da sowieso kein tieferer Sinn dahinter... In diesem Moment drehte sich Hideto wieder zu ihm um, nickte ihm zu. "Jetzt komm schon!", wurde Tetsu immer noch grinsend aufgefordert. Mit einem leichten Seufzer und einem mit einem Lächeln begleiteten Kopfschütteln kam er eben dieser Aufforderung nach, ging langsam auf den Wartenden zu und zog dabei seinen Koffer hinter sich her.

Eine knappe Dreiviertelstunde später hatten sie ein Zimmer mit zwei Betten zugeteilt bekommen und packten ihre Sachen aus. Tetsu hatte es sich auf dem Boden bequem gemacht, während Hideto seine Tasche auf das Bett gestellt und sich daneben gesetzt hatte. Noch bevor der Blonde fertig war, hatte er sich der Jacke und des Hemdes der Schuluniform entledigt, stand nun halbnackt im Raum und wischte sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn. Tetsu hatte sich schlagartig umgedreht, als er die Klage des Anderen über die hohen Temperaturen vernommen und dessen Hände an der Oberbekleidung gesehen hatte. Es war völlig klar gewesen, dass Hideto sich hatte ausziehen wollen.

Er konnte es nicht. Nein, Tetsu konnte sich immer noch keine anderen Menschen ansehen, wenn sie in irgend einer Form ihre Körperteile entblößten! Er konnte diesen Anblick nicht ertragen. Aber noch viel weniger konnte er seinen eigenen Anblick Morgen für Morgen im Spiegel des Badezimmers ertragen. Mit einem bitteren und gequälten Lächeln saß er wie ein Häufchen Elend auf dem Zimmerboden und starrte die weiße Wand an, die rein zufällig in seinem Blickfeld lag. Hideto hatte er den Rücken zugekehrt...

"Willst du dich nicht auch etwas ausziehen?", Tetsu zuckte erschrocken zusammen, als der Blonde ihn wieder aus seinen Gedanken riss, "Oder zumindest was leichteres an... Es ist echt verdammt heiß hier!" Hideto war auf seinen Zimmergenossen zugegangen, musterte ihn nachdenklich. Tetsu war schon wieder so komisch... Das gefiel ihm nicht im Geringsten! "Ach nein... Es ist eigentlich ganz angenehm so...", erhielt er als einzige Antwort. Na toll... Er lief hier vor Wärme fast weg und Tetsu schien ein wandelnder Kühlschrank zu sein. Der immer noch auf dem Boden sitzende hatte unterdessen wieder damit begonnen, stumm in seinen Sachen zu wühlen und sah ihn nicht weiter an. Auch Hideto schwieg noch einen Augenblick, bevor er sich wieder schulterzuckend umdrehte und die Schuluniform seufzend in die hinterste Ecke des Schrankes verbannte und etwas davon murmelte, dass Tetsu nur ja nicht wieder zusammen brechen solle. Er wollte das wirklich nicht nochmal mit ansehen müssen!

Da Hideto gerade aus der Balkontür hinaus sah, bemerkte er nicht, dass sich Tetsu auf seine Sorge hin doch zu ihm gedreht hatte. Außerdem war er zu dem Schluss gekommen, dass er nicht sein ganzes Leben lang die Augen vor nackter Haut verschließen konnte. Je eher er sich wieder daran gewöhnte, desto besser... Nun starrte er dem Blonden unentwegt auf den unbekleideten Rücken, bracht im ersten Augenblick kein Wort über die Lippen und konnte dir Augen nicht mehr abwenden. Dass er von dem Anblick, der sich ihm bot, so fasziniert war, dass sich sein Herzschlag etwas verschnellert hatte, fiel ihm erst ein paar Sekunden später auf, als er sich wieder einigermaßen gefasst hatte.

"Du... hast ja ein Tattoo auf dem Rücken!", er hatte auch seine Stimme wieder gefunden. Allerdings war ihm auch nichts besseres eingefallen, als Hideto etwas zu sagen, was dieser sehr wahrscheinlich eh schon wusste. Er fand das ja selbst dumm, aber was sollte er schon machen?

Wenigstens hatte seine Aktion den Effekt, dass sich Hideto wieder zu ihm gewandt hatte. Tetsu, der selbst immer noch auf dem Teppich des Zimmers hockte, sah ihn von unten herauf etwas schüchtern lächelnd an. Anfangs hing sein Blick mehr am Gesicht und vor allem an den Augen des Blonden. Dieses Dunkle, Tiefgründige nahm ihm schon wieder beinahe den Atem... Langsam sah er sich dann auch den Rest an, musste dabei schlucken und spürte doch einen Stich im Herzen. "Ja, hab ich...", antwortete Hideto nun ebenfalls lächelnd und mit einem ähnlichen Standardsatz, setzte sich anschließend leicht grinsend vor ihn hin, "Hast du das denn noch nicht gesehen?" Ein fragender und zum Teil verwunderter Blick traf Tetsu, woraufhin sich dessen Augen etwas weiteten.

"Ich... also... Ich hab da nie so drauf geachtet...", erklärte er schnell. Ja, er hatte mehr darauf geachtet, ihn gerade NICHT anzusehen... Wenn die anderen Schüler in der Umkleide waren, war Tetsu schon längst in der Halle oder auf dem Sportplatz. Nach dem Unterricht ließ er sich dafür umso mehr Zeit mit dem Umziehen - solange bis jeder andere den Raum verlassen hatte. Immer, wenn Hideto wieder bei ihm war und sich umziehen wollte, fand Tetsu irgend einen Grund, das Zimmer zu verlassen - und wenn es nur eine neue Kanne Tee war, die er aufsetzen würde. Er hatte inzwischen gute Methoden entwickelt, um perfekten Oberkörpern, wie ihn Hideto ganz eindeutig besaß, aus dem Weg zu gehen.

"Aber gibt das denn keinen Ärger mit den Lehrern...?", versuchte er sofort ein bisschen vom Thema abzulenken. Und es funktionierte, er erntete ein verschwörerisches Grinsen. "Tja, ich bin auch gespannt, was unser Pauker dazu sagen wird, wenn er das sieht. Bis jetzt hat er nicht den Hauch einer Ahnung!" Tetsu schwieg, blinzelte sein Gegenüber nur etwas irritiert und zum Großteil komplett verständnislos an. "Sag mal... willst du unbedingt von der Schule fliegen!?", empörte er sich etwas lauter in der Tonlage, "Ich meine, was soll sowas? Legst du es denn unbedingt darauf an?" Doch Hideto zuckte nur kurz mit den Schultern. "Und wenn schon...?", meinte er vollkommen gleichgültig, "Was soll das hier denn schon bringen?"

Bei diesem Satz - oder besser bei dieser Frage - platzte Tetsu der Kragen. Kurzerhand griff er nach einer der langen, blonden Strähnen, zog Hideto so unter dessen Schmerzensbekundungen und Bitten, Tetsu möge doch damit aufhören, zu sich. Allerdings dachte er nicht mal im Traum daran, ihn wieder loszulassen. "Was das bringen soll?", seine Stimme zeigte eindeutig, dass er im Augenblick keine Widerrede oder etwas in der Art dulden würde, bis er fertig wäre, "Ich glaub, ich spinne! Klar, Schule ist vielleicht nicht immer so spannend, seh ich ja auch so! Aber da müssen wir eben durch, ob wir wollen oder nicht. Hast du auch schonmal daran gedacht, was danach kommen soll? Was mal aus dir werden soll? Klar, du kannst dir immer wieder irgendwelche Neben - oder Aushilfsjobs suchen, aber du weißt genauso gut wie ich, dass die nicht unbedingt gut bezahlt werden, oder? Wie willst du da bitte deinen Lebensunterhalt verdienen, erklär mir das mal! Auch, wenn ich grade wie die Lehrer oder Erwachsenen klinge, aber damit kannst du dir einfach kein richtiges Leben aufbauen, es GEHT nicht. Das ist genau genommen eine ganz einfache Rechenaufgabe... In unserer heutigen GEsellschaft braucht man nun mal einen ordentlichen Abschluss um einen ordentlichen und ordentlich bezahlten Job zu bekommen. So traurig das auch ist, aber wir leben hier in einer Leistungsgesellschaft. Wer diese Leistungen nicht bringt, geht unter, das IST so! Du solltest so schnell wie möglich mal in deinen Kopf bekommen... Und wenn du auf dein Glück spekulieren willst, dass dich schon irgendwann ein ganz lieber Mensch aufnimmt, dir Arbeit gibt und so weiter, weil er dich ach so nett und sympathisch findet, dann wünsch ich dir viel Geduld - du wirst sie dringend brauchen! Solche Menschen gibt es nicht, oder nur sehr wenige zumindest... Die meisten sind doch viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Jetzt sei doch mal ehrlich zu dir selbst: So wie jetzt wirst du nicht dein ganzes Leben lang weitermachen können..." Hatte er das nicht eben noch zu sich selbst gesagt? Und jetzt spielte Tetsu hier den Oberlehrer... Aber er ließ sich nicht weiter aufhalten, sondern redete munter weiter auf den Anderen ein.

"Willst du denn irgenwann mal als Penner auf der Straße enden? Aber immerhin, ein Penner mit bemaltem Rücken, echt großartig! Mensch, Hideto! Das KANN so nicht weiter gehen! Wach endlich mal auf und werd dir bewusst, dass du dir so dein ganzes Leben versauen kannst! Und wenn du nicht als Penner endest, dann doch zumindest als einer der vielen, die den ganzen Tag unzufrieden mit sich und ihrem Leben sind, nur noch rummaulen und das Lächeln schon längst verlernt haben. Ist das deine Vorstellung davon, wie deine Zukunft aussehen soll, ja? Na, dann tust du mir leid..." Tetsu hielt kurz inne, ließ seine Worte wirken. Das Haar hatte er zwar immer noch in der Mangel, jedoch nicht mehr so, dass es dem Besitzer jener Haare weiter weh tat. "Hideto...", sprach er nun wieder etwas leiser und weicher, "Ich verbiete dir hiermit, dein Leben einfach so wegzuschmeißen, verstanden!? Du darfst dich nicht von der Schule schmeißen lassen und mich da wieder ganz alleine lassen... Ich meine... Du bist der Einzige, mit dem ich mich verstehe, mit dem ich mich anfreunden konnte... Bitte..."

Sein letztes Wort war nicht mehr als ein kaum hörbares Hauchen gewesen, als er Hideto in diesem Moment wieder frei gelassen hatte. Dieser sagte noch immer nichts, richtete sich nur etwas zögerlich auf. Er hob den Blick wieder, sah Tetsu an und entdeckte etwas in dessen Gesichtsausdruck, das ihm einen Stich versetzte. War es Traurigkeit? Verzweiflung? Hilflosigkeit? Er wusste es nicht richtig zu deuten, aber genau dieser Ausdruck war es, was ihn dann doch etwas nachdenken ließ. War ihm die Schule wirklich so egal, wie er behauptete? Wieso ging er dann aber noch jeden Tag hin? Er hatte in seinem ganzen Leben noch nicht eine Stunde geschwänzt... Außerdem stimmte es, was Tetsu gesagt hatte: Er war wirklich der Einzige, mit dem der Schwarzhaarige auskam. Wenn er jetzt abbrechen oder die Lehrer zu sehr provozieren würde, wäre der Andere für den Rest seiner Schulzeit sehr wahrscheinlich allein in den Massen an Schülern. Und wenn Hideto GANZ ehrlich zu sich war, dann freute er sich irgendwie auf jeden Tag, jede Stunde, ja sogar auf jede einzelne Minute, die er mit Tetsu verbringen konnte. Er wollte ihn nicht allein lassen. Er wollte ihn niemals missen müssen...

Tetsu sah ihn immer noch bittend und wie ein kleines Reh an. Hideto war immer wieder aufs Neue überrascht, wie süß er sein konnte und rang sich ein kleines Lächeln ab, bevor er nickte. "Ist okay...", murmelte er nur kurz, "Ich hab verstanden. Ich lasse dich bestimmt nicht allein, das verspreche ich dir!" Auch Tetsu lächelte wieder dankbar und nickte ebenfalls. Wie sehr er sich freute, hätte er niemals in Worte fassen können, so groß und vielseitig war dieses Gefühl... Für einen Augenblick verspürte er sogar den Impuls, den Blonden zu umarmen. Er überlegte: Sollte er es tun oder nicht? Kurz schluckte er, gab sich dann aber einen Ruck und legte die Arme um Hideto's Oberkörper. "Arigatô...", nuschelte er leise und ließ sofort wieder von dem Anderen ab. Zu lange musste es ja auch nicht sein... Dennoch hatte die Zeit ausgereicht, um seine Wangen wieder eine leichte, rötliche Färbung angenommen haben zu lassen...
 

Eine Frage beschäftigte Hideto dann aber doch noch. "Sag mal...", sprach er sein Gegenüber wieder an, "Wie gefällt es dir eigentlich...?" Wieder begegnete Tetsu einem Grinsen, als er Hideto wieder ansah. "Du meinst das Tattoo...?", fragte er vorsichtshalber nochmal nach, stellte aber aufgrund des darauf folgenden Nickens fest, dass seine Vermutung richtig gewesen war. Nun konnte er sich seinerseits ein kleines Grinsen auch nicht weiter verkneifen und bedeutete dem Blonden mit einer Handbewegung, dass er sich umdrehen sollte. Dem wurde auch gleich Folge geleistet und er konnte sich wieder die dunklen Linien ansehen, die in die Haut eingestochen worden waren. Er rückte etwas näher, streckte etwas zögerlich die Hand aus. Tetsu war sehr unsicher, als seine Fingerspitzen die glatte Haut berührten und er die Konturen langsam und vorsichtig nachzog.

"Engelsflügel...", murmelte er nachdenklich, "Bist du denn ein Engel...?" Wieder lächelte er sanft vor sich hin, den Blick noch immer auf dem Bild haltend. Hideto lachte leise auf diese Frage hin. "Bin ich ein Engel...?", wiederholte er sie grübelnd, "Vielleicht bin ich auch nur ein Dämon, der vorgibt ein Engel zu sein, damit ich arme, unschuldige Menschen wie dich in die Falle locken kann..." Den Kopf hatte er wieder Tetsu zugewandt und sah ihn über die Schulter hinweg an. Tetsu erwiderte den Blick und zog eine Augenbraue hoch. "Verstehe...", meinte er in fast gleichgültigem Ton, meinte es aber nicht so. Wieder suchte er die Augen des Blonden nach etwas ab, das ihm vielleicht bei der Antwort geholfen hätte. Doch er fand nicht wirklich etwas... "Ich schätze, dann werde ich das wohl in nächster Zeit herausfinden, meinst du nicht...?", wieder folgte ein Lächeln auf seine Frage - von beiden. "Hai...", war alles, was Hideto noch sagen konnte. Sie sahen einander weiter an und die Welt um sie herum blendete sich zum wiederholten Male aus...

#8: Eine kleine, freche Zunge...

Die zwei Stunden, in denen sich die Schüler hatten einrichten und auf dem Hotelgelände etwas umsehen können, waren vorbei und die gesamte Klasse traf sich vor der Rezeption des Hotels. Der Nachmittag war noch lang und die Lehrer hatten es sich in den Kopf gesetzt, die Gegend zusammen mit ihren Schützlingen zu erkunden. Die Lust und die Begeisterung besagter Schützlinge hielt sich in Grenzen, ebenso wie deren Motivation. Im Allgemeinen begegnete man langen Gesichtern und maulendem Genuschel. Tetsu hatte sich im Bad noch ein wenig frisch gemacht und ein etwas leichteres Hemd angezogen. Auch Hideto war wieder vollständig bekleidet. Er hatte sich ein einfaches T-Shirt übergezogen, damit wurde der Rücken an den wichtigen Stellen verdeckt. Man musste es ja wirklich nicht darauf anlegen, wie Tetsu so schön gesagt hatte...

Ein kleines Lächeln stahl sich auf die Lippen des Blonden. Er war richtig froh, dass er den Kopf gewaschen bekommen hatte. Noch vor wenigen Minuten erst hatte er den Entschluss gefasst, dass er den Abschluss wirklich bestehen wollte - mit den besten Ergebnissen, die er erreichen konnte. Auch darüber hatte er sich mit Tetsu noch unterhalten. 'Du bist nicht dumm!', hatte Tetsu gesagt., 'Ich bin mir sicher, du könntest viel bessere Noten bekommen, wenn du ein bisschen mehr dafür tun würdest. Du musst dich nur endlich mal dahinter klemmen und dich nicht immer so hängen lassen! Wenn du willst, helfe ich dir auch gern, den Stoff nachzuholen...' Diese Worte hallten in seinem Kopf wider. Er rief sie sich immer und immer wieder in Erinnerung.

Tetsu hielt ihn nicht für dumm. Es war ein ganz neues Gefühl, dass es jemanden gab, der an ihn glaubte. Gut, Masanori hatte auch immer an ihn geglaubt, aber bei Tetsu war das irgendwie anders. Jedoch konnte er sich selbst nicht recht erklären, inwiefern es anders war. Er glaubte Tetsu voll und ganz, was er gesagt hatte. Aber Masanori hatte er doch auch immer geglaubt, oder nicht? Wäre er sonst immer noch ein 'Cat'? Wahrscheinlich nicht... Was war es also? Er wusste es nicht. So sehr er auch darüber grübelte und sich seinen Kopf zerbrach, er fand keine Antwort.

"Hideto...?", er fuhr erschrocken zusammen und sah sich um, als er angesprochen wurde. Er blickte verwirrt in das leise kichernde Gesicht Tetsu's und errötete kaum merklich. "Kommst du? Wir gehen los...", meinte Tetsu und deutete auf die Gruppe, die sich bereits in Bewegung gesetzt hatte. "Ich... also...", es war ein einziges Gestammel, das Hideto da heraus brachte. Was zur Hölle war nun schon wieder mit ihm los? Hatte er seine Sprache verloren!? "Klar...", meinte er dann schnell und schloss sich gemeinsam mit dem Anderen dem Rest der Schülerschaft an. Wieder bildeten sie das Schlusslicht, doch das störte ihn nicht weiter. Warum sollten sie sich auch mitten ins Gedränge stürzen? Das wäre glatter Selbstmord gewesen...

Und so schlenderten sie gemütlich hinter den restlichen Jungen und Mädchen hinterher und sahen sich alles ganz in Ruhe an. Eine Brise nach der anderen streifte sie und wirbelte ihr Haar auf. Es war richtig angenehm und ab und zu sahen sie einfach nur den Vögeln am Himmel zu, wie sie sich im Sturzflug einen Fisch aus dem Meer schnappten. Es war ein lustiges Treiben und sie merkten gar nicht, wie schnell die Zeit verging. Schon bald war es früher Abend und den Schülern wurde noch etwas Freitzeit gewährt, bevor das Abendessen beginnen sollte. Binnen weniger Sekunden standen Hideto und Tetsu allein auf der Plattform nahe am Strand...

"Und nun...?", wollte der Blonde wissen und sah Tetsu fragend eine Augenbraue hochziehend an. Dieser zuckte jedoch nur mit den Schultern. "Keine Ahnung... Aber zurück will ich irgendwie auch noch nicht.", seufzte er und hielt den Blick auf das offene Meer gerichtet, welches ein kleines Farbenspiel durch die untergehende Sonne zeigte. Allerding hatte diese den Horizont noch nicht erreicht. Wenn es jetzt schon so atemberaubend aussah, wie würde erst der richtige Sonnenuntergang sein...? Voller Vorfreude lächelte Tetsu wieder vor sich hin.

"Wie wäre es denn, wenn wir uns einfach noch eine Weile hier umsehen?", schlug Hideto ebenfalls lächelnd vor. Er wusste nicht genau warum, doch des Lächeln des Anderen war stets so warm, dass es ansteckte. Als sich ihre Blicke wieder begegneten, verstärkte sich jenes warme Gefühl nur noch. "Okay...", meinte Tetsu nur leise auf den Vorschlag hin und nickte. Gemeinsam liefen sie weiter die Straßen der kleinen Stadt entlang...

Nachdem sie eine Weile umher geschlendert waren, fiel Tetsu ein kleines Geschäft ins Auge. Augenblicklich blieb er stehen und hielt Hideto am Arm fest. Als dieser ihn etwas verwundert anash, deutete er mit einem kleinen Nicken darauf und zog den Anderen sofort mit. "Komm, ich lad dich ein!", meinte er vergnügt und mit einem warmen Lächeln. Der Laden war nicht sehr groß und lag direkt an der Straßenecke. Er hatte einen leicht altmodisches Erscheinungsbild, was Tetsu sehr gefiel.

Hideto konnte gar nicht so schnell reagieren, da stand er auch schon vor der kleinen Eisdiele und sollte sich etwas aussuchen. Etwas unsicher sah er Tetsu an. War das auch wirklich in Ordnung? Er fühlte sich nicht so ganz wohl in seiner Haut... "Ich kann doch nicht einfach...", versuchte er zu protestieren, wurde aber sofort unterbrochen. "Jetzt mach schon...", meinte Tetsu gespielt genervt und verdrehte die Augen ein wenig. "Ich nehme auf jeden Fall eine Kugel Mango und ... eine Vanille...", erklärte er dem Verkäufer, drehte sich anschließend wieder seinem Freund zu, "Und wenn du dich nicht bald entscheidest, such ich dir was raus und das musst du dann essen, ob du willst oder nicht!"

Mit strengem Blick und verschränkten Armen sah er den Blonden an und begegnete einem verblüfften Gesichtsausdruck. Nein, wie süß! Tetsu musste sich stark ein Grinsen verkneifen. "Okay...", erhielt er endlich als Antwort und Hideto suchte sich ebenfalls zwei Sorten aus. Er stand mit einer Tüte Erdbeere und Stracciatella da. Nachdem Tetsu ihre kleine Erfrischung bezahlt hatte, setzten sie sich auf die Stufen einer der vielen, kleinen Treppen, die zum Strand führten. Tetsu saß dabei ein paar Stufen höher als Hideto, so dass seine Füße auf derselben Stufe wie Hideto's Po waren. Kurz sah er auf den anderen Rücken und holte sich die Erinnerung an die Flügel, die darauf zu sehen waren, wieder ins Gedächtnis, lächelte dabei sanft.

Wieder umwehte sie eine leichte Brise und das Sonnenlicht glitzerte im Wasser. Tetsu beobachtete das Farbenspiel mit weichem Blick und versank in seinen Gedanken, während er an seinem Eis leckte. Nur am Rande bekam er das gemurmelte "Danke..." des Anderen mit, wandte ihm das Gesicht wieder zu und sah ihn an. "Wofür...?", wollte er wissen, er konnte sich nicht erinnern, etwas getan zu haben, wofür man ihm dankbar sein sollte. Doch als Hideto auf seine Eistüte blickte, war ihm alles klar und er musste nun doch etwas grinsen.

"Dafür musst du dich echt nicht bedanken!", zwinkerte er seinem Gegenüber zu, "Nur lass es bloß nicht wegschmelzen!" Beide lachten kurz auf, bevor es sich dann auch Hideto schmecken ließ. Tetsu's Eis zerlief ihm gerade auf der Zunge, doch als er sah, auf welche Weise der Blonde sein Eis aß, musste er leicht schlucken und ein leichter Rotschimmer schlich sich auf seine Wangen. Er hielt inne und starrte eine Weile nur auf die Zunge, die mit der Creme spielte und diese dann auf fast schon aufreizende Weise in dem zugehörigen Mund verschwinden ließ. Sein eigenes Eis vergaß er für einen Augenblich komplett...

"Tetsu...?", Hideto hatte eine Augenbraue hochgezogen und sah ihn fragend an - mal wieder. "Hast du irgend etwas...?" Tetsu begriff zunächst nicht, wie diese Frage gemeint sein sollte. Was sollte er denn haben? Doch dann fiel ihm auf, dass er Hideto regelrecht angestarrt haben musste, was ihm plötzlich sehr peinlich war. "Ich... ähm...", stammelte er irgend etwas zusammen, "Naja... Du hab nur grad deine Art, dein Eis zu essen, bewundert... Sehr interessant..." Eine hochgezogene Augenbraue verdeutlichte seine Skepsis weiterhin.

Hideto allerdings grinste. "Ja... schön, nicht?", kicherte er ein wenig, "Das hab ich mir von Masanori abgeschaut..." Tetsu legte den Kopf etwas schief. "Euer Anführer...?", fragte er nach, denn er glaubte, sich an diesen Namen erinnern zu können. Hideto nickte. "Ja, genau... Er meinte mal, das wäre gut, um Mädels aufzureißen...", grinste er anschließend. Tetsu aber schwieg weiter, sah sich nur um. "Was ist...?", wollte Hideto wissen, da er dieses Verhalten nicht wirklich verstehen konnte. "Naja...", antwortete Tetsu, "Ich kann hier keine Mädels sehen, die man 'aufreißen' könnte..." Wieder wurde eine Augenbraue hochgezogen, gleichzeitig grinste Tetsu ebenfalls ein bisschen.

"Nein... Und wenn ich aber dich 'aufreißen' wollte...?", Hideto wollte sich keine Blöße geben. Tetsu lachte nur kurz auf unf schüttelte belustigt den Kopf. "Ich glaube nicht, dass du das willst...", stellte er fest, "Und wenn doch, dann viel Glück dabei! Du wirst es brauchen..." Wieder kicherten sie gemeinsam. Diese Vorstellung war zu komisch! Natürlich wussten sie beide, dass das keine Anmache sein sollte. Nur fragte sich Tetsu plötzlich, warum er ganz offensichtlich traurig oder zumindest leicht betrübt über diese Tatsache war. Er sollte sich lieber darüber freuen! Nur mal angenommen, Hideto würde irgend etwas von ihm wollen - das wäre eine Katastrophe!

"Tet-chan...?", wieder erschrak der Schwarzhaarige aus seinen Gedanken und sah Hideto an. Schon allein der übertrieben lieb betonte Ausdruck seiner Stimme und dieser fast schon schutzbedürftig wirkende Blick ließ ihn vermuten, dass sein Freund etwas von ihm wollte. "Ja...?", fragte er also vorsichtig nach. Hideto verstärkte daraufhin seine kleine 'Hundeblick-Attacke' und fragte wie ein kleines Kind: "Darf ich mal kosten...?" Dabei deutete er mit dem Finger auf die Eistüte Tetsu's und blinkerte dessen Besitzer an.

Tetsu hingegen schwieg einen Augenblick. Er musste sich wirklich stark zusammen reißen, damit er nicht ungehalten loslachte und immer wieder 'kawaii' sagte... Im nächsten Moment grinste er aber schon wieder. "Sag: Bitte!", forderte er den Anderen mit neckendem Unterton auf. Sehr zu seinem Erstaunen tat der Blonde sogar, was er von ihm verlangte. "Bitte...", Hideto sah mit Kinderaugen zu Tetsu hinauf, der sich dieses Mal ein Kichern wirklich nicht mehr verkneifen konnte. "Okay...", brachte er nur leise heraus, reichte Hideto die Tüte, welche auch sofort mit einem glücklichen Lächeln angenommen wurde. Als sich Tetsu wieder ein wenig beruhigt hatte, strich er leicht über die blonde Mähne und meinte augenzwinkernd: "Du bist manchmal richtig süß..."

Hideto, der gerade wieder an der kalten Masse herumleckte, sah verwundert auf. "Das stimmt doch gar nicht...", entgegnete er überrascht. Mit einer solchen Aussage hatte er nun nicht gerechnet. Man hatte ihm noch nie gesagt, dass er süß sein sollte, weshalb er auch nicht an die Richtigkeit dieser Aussage glaubte. Tetsu legte nur den Kopf etwas schief, grinste wieder leicht gemein. "Hast Recht...", seufzte er, "Du bist IMMER süß!"

Sie schwiegen sich einen Moment an. "Sag mal...", fragte Hideto dann mit leicht genervtem Ton, "Macht es dir eigentlich Spaß, ständig meine Sprüche zu klauen...?" Genau dasselbe hatte Hideto einmal zu Tetsu gesagt, an dem Tag, als sie beschlossen hatten, gemeinsam zu kochen und zu essen. Aber irgendwie war er Tetsu deswegen nicht wirklich böse... Komisch, jedem anderen hätte er wahrscheinlich direkt ins Gesicht geschlagen, aber... Nein, er würde Tetsu bestimmt niemals schlagen können, selbst wenn er ihn darum beten sollte! Auf seine Frage hin bekam er nur ein schelmisches 'Hai!' zur Antwort und er schüttelte leicht seufzend den Kopf. Das war wohl typisch Tetsu...
 

Nur wenig später hatten sich die beiden Jungen wieder pünktlich zum Abendessen im Hotel eingefunden. Sie hatten sich ein wenig weiter abseits der restlichen Schüler gesetzt, die wollten unter Garantie sowieso nichts mit ihnen zu tun haben. Es war wohl wirklich so, dass Hideot und Tetsu zu Außenseitern in der Klasse geworden waren, doch das störte sie beide nicht im Geringsten. Solange sie sich gegenseitig noch hatten, war doch alles in Ordnung! Beide hatten sie sich etwas Essbares vom Buffet geholt und vertilgten dieses in Ruhe. Hideto hatte wieder denselben Blick von heute Nachmittag aufgesetzt und Tetsu hatte ihm einfach nichts abschlagen können.

Gerade war er wieder dabei, Hideto mit einem Häppchen seines Tellers zu füttern, als der Lehrer ihnen mitteilte, dass der nächste Tag für den Strand gedacht sein würde. Er nannte noch die Zeiten, in denen es Frühstück geben sollte, und jene, in denen sie sich treffen würden. Er bat zudem darum, Badesachen mitzunehmen und pünktlich zu sein. Alles Schüler hatten ihr Augenmerk auf den Mann gerichtet, so auch Tetsu und Hideto. Tetsu allerding war von diesen Aussichten ganz und gar nicht begeistert. Solche Ausflüge bedeuteten immer auch Erscheinungspflicht. Und das wiederum hieß für ihn, dass er den gesamten Tag im Sand hocken, sich zu Tode schwitzen und sich langweilen würde. Super Aussichten... Hächst wahrscheinlich würde sich der Rest der Klasse wundern, warum er nicht ins Wasser gehen würde, eventuell würden sogar die kuriosesten Erklärzungen dafür in Umlauf geraten. Er verfluchte den morgigen Tag jetzt schon...

Hideto hatte den Kopf wieder zu Tetsu gedreht und beobachtete ihn. Der Blick seines Gegenübers war seltsam ausdruckslos und leer geworden. Es schien, als wäre Tetsu mit seinen Gedanken wieder ganz woanders. Dagegen musste umgehend etwas unternommen werden! Kurz runselte er noch die Stirn, bevor er ein gemeines Grinsen aufsetzte und sich das Häppchen, welches Tetsu noch immer auf den Stäbchen hatte und dem anscheinend keinerlei Beachtung mehr geschenkt wurde, schnappte und sich zufrieden lächelnd wieder hinsetzte. Zur Belohnung bekam er einen äußerst verwirrten Blick von Seiten des Schwarzhaarigen.

"Was...?", fragte er noch mit halbvollem Mund, "Wir wurden unterbrochen, als du mich grade weiter füttern wolltest..." Wieder zierte dieses leicht schelmische Grinsen, das ganz offensichtlich nur er allein beherrschte, seine Lippen. Tetsu seufzte nur leise, sagte jedoch nichts weiter dazu. Er hatte im Moment nicht die Nerven, sich wegen so etwas aufzuregen, also ließ er es bleiben... War doch ganz logisch! "Tet-chan...?", Hideto wollte ihn nicht seinen trüben Gedanken überlassen, dieses Mal nicht! Und er würde alles dafür tun... Spielerisch legte er eine Art Unschuldsblick an den Tag, wie es das süßeste Rehkitz nicht besser hätte hinbekommen können. "Ich hab immer noch solchen Hunger...", murmelte er leise und sah sein Gegenüber mit großen Augen an, "Fütterst du mich weiter...?"

Bei dieser Frage kam Tetsu einfach nicht umhin, wieder zu lächeln. Er konnte gar nicht anders! Auch konnte er ihm diese Bitte auf keinen Fall abschlagen, nicht so, wie er gefragt hatte. "Hai, ist gut...", kicherte er kopfschüttelnd in sich hinein, nahm ein frisches Häppchen mit den Stäbchen auf und hielt es Hideto vor die Nase. "Hier, du kleiner Nimmersatt...", neckte er ihn, als das Essen in der Dunkelheit verschwand...

#9: Die Gerüchteküche brodelt

Der nächste Morgen war schnell angebrochen. Die Sonne hatte Tetsu schon früh geweckt, nachdem er wieder schlecht geschlafen hatte. Leise, um Hideto nicht zu wecken, war er ins Bad geschlichen, hatte die Tür zugeschlossen und wollte sich unter die Dusche stellen. Sein Blick fiel dabei wieder auf seinen eigenen Körper im Spiegel. Gott, wie er diesen Anblick hasste! Sein Herz schlug wieder schneller, zog sich schmerzhaft zusammen. Er musste tief durchatmen, die Erinnerungen holten ihn ein.
 

Doch obwohl es furchtbar weh tat, wandte er den Blick nicht ab. Er hatte es sich doch erst gestern vorgenommen: Er musste endlich lernen, damit umzugehen und klar zu kommen. Und vor allem musste er sich endlich selbst akzeptieren und mögen können. Andernfalls würde er auf ewig nur auf der Stelle treten, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
 

Mit einem Seufzer holte er noch einmal tief Luft, bevor er sich in die Duschkabine stellte und den Wasserhahn aufdrehte. Langsam lief das warme Wasser an ihm herab und erfrischte ihn. Die Nacht hatte er wieder sehr geschwitzt und wenn er nachher die ganze Zeit in der Sonne sitzen musste, würde er ganz bestimmt nicht so nach draußen gehen. Tetsu schloss die Augen und genoss diesen ruhigen Moment, die Stille und das Alleinsein. Ab und zu musste das auch mal sein.
 

Und so bemerkte er nicht, wie die Zeit verging. Als er die Dusche wieder verließ, verriet ihm ein flüchtiger Blick auf die Uhr, dass fast eine ganze Stunde vergangen war. Das war mehr Zeit, als er eigentlich vorgesehen hatte, deshalb trocknete er sich schnell ab und zog sich an, nachdem er seine Haut eingecremt hatte. Im Zimmer wartete bereits ein verschlafen dreinschauender Hideto auf ihn, der sich gerade den Schlaf aus den Augen rieb und herzhaft gähnte.
 

"Guten Morgen!", begrüßte er den Blonden mit einem Lächeln, bekam jedoch nur ein leise genuscheltes 'Morgen...' zurück. Tetsu schüttelte leicht den Kopf. Hideto war wirklich ein kleiner Morgenmuffel... Im nächsten Augenblick hatte sich dieser Morgenmuffel auch schon wieder in seinem Bett umgedreht. Ganz offensichtlich wollte er weiter schlafen.
 

Doch Tetsu machte ihm da einen kleinen Strich durch die Rechnung, griff nach der Decke des Anderen und zog sie mit einem Ruck weg. Hideto konnte gar nicht schnell genug reagieren und sah den Störenfried seiner Nachtruhe böse an, welcher die Hände in die Hüften gestützt hatte.

"Komm schon, aufstehen!", wurde er aufgefordert und grummelte nur. Wieso musste er denn jetzt schon aus seinem schönen, weichen und warmen Bett heraus? Das war unfair, schließlich hatte er Urlaub, oder nicht?

"Tet-chan...", murrte er nur weiter und zog die letzte Silbe dabei ungewöhnlich lang.
 

Doch alles bitten und betteln wirkte nicht, Tetsu blieb stur und gab ihm die Decke nicht zurück. "Du weißt, dass wir heute gemeinsam an den Strand sollen.", sprach er statt dessen, "Keine Ahnung, wie du das siehst, aber ich würde vorher ganz gern noch was frühstücken... In einer halben Stunde sollen wir alle unten sein." Auffordernd wurde Hideto angesehen. Nur noch eine halbe Stunde? Sollte er denn wirklich so lange geschlafen haben? Trotzdem, aufstehen wollte er immer noch nicht... Also versuchte er eine andere Taktik.
 

"Weißt du, dein Essen ist mir sowieso viel lieber...", grinste er Tetsu zu. Dieser verzog nur leicht das Gesicht.

"So...?", fragte er übertrieben freundlich, "Tja, dann tut es mir leid, denn ich bin auch im Urlaub. Ich werde den Kochlöffel in dieser Woche nicht ein einziges Mal in die Hand nehmen, auch nicht für dich, mein Lieber..." Entschlossen warf er die Deck auf sein eigenes Bett und schlug wieder einen strengen Ton an.

"Ich werde ganze fünf Minuten auf dich warten, wenn du dann nicht fertig bist, gehe ich ohne dich." Hideto sah ihn ungläubig an.

"Du würdest wirklich ohne mich gehen...?", hakte er mit gespielt weinerlicher Stimme nach. Tetsu sah als Antwort nur stumm auf die Uhr und wartete.
 

Nach diesem recht eindeutigen Hinweis brauchte Hideto nicht einmal diese fünf Minuten, bis er fertig war und Tetsu konnte erleichtert aufatmen. Manchmal war der Blonde wirklich wie ein kleines Kind, das man erst noch erziehen musste. Oder war das vielleicht doch eine Art der Rebellion gegen alles und jeden? Doch gegen was? Oder wen? Er musste ja sehr unzufrieden mit seinem Leben sein... Während die beiden Schüler zusammen zum Restaurant in die unterste Etage gingen, zerbrach sich Tetsu weiter den Kopf über das Verhalten des Anderen. Dass er im Moment genug eigene Probleme bezüglich des verhassten Badeausflugs hatte, hatte er gerade vergessen... In seinen Gedanken gab es auch während des Frühstücks lediglich Platz für Hideto. Auch bemerkte er dabei, dass er sehr gern mehr über ihn erfahren würde. Seine Neugierde hatte sich seit dem Tag ihrer Bekanntschaft enorm gesteigert.
 

Die Stimme des Lehrers riss ihn jedoch wieder aus den Gedanken und er sah auf. Der Mann wiederholte soeben den Treffpunkt und die Zeit, in der sie dort sein sollten, und half Tetsus Gedächtnis somit wieder ein wenig auf die Sprünge. Mit einem Schlag wurde er kreidebleich. Irgend etwas musste ihm jetzt einfallen. Vielleicht konnte er sich ja krank stellen? Oder er würde behaupten, er hätte seine Badesachen vergessen? Aber nein, hier konnte man ja an jeder Ecke etwas kaufen... Wahrscheinlich blieb ihm nichts anderes übrig, als die ganze Zeit über am Strand sitzen zu bleiben. Sicher, das würde auffallen und komisch wirken, doch was sollte er machen? Ins Wasser würde er auf gar keinen Fall gehen! Und wenn er sich dabei einen Wolf schwitzen würde.

Eine Hand, die sich langsam vor seinen Augen auf und ab bewegte, brachte Tetsu wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Kurz erschrak er, als Hideto ihn ansprach, und sah diesen leicht verwirrt an.

"Ja...?", folgte die genauso verwirrte Frage. Hideto seufzte nur.

"Ich habe dich gerade gefragt, ob wir nicht wieder in unser Zimmer wollen, weil wir ja beide mit Essen fertig sind." Die hochgezogene Augenbraue verlieh dem Blonden einen vorwurfsvollen Gesichtsausdruck, während er sein Gegenüber musterte.
 

Tetsu schien ihm wirklich nicht zugehört zu haben. Hideto wusste, dass das keine böse Absicht war, dennoch stimmte es ihn traurig. Zum einen war allein das Gefühl, einmal mehr nicht für voll genommen zu werden - von Tetsu nicht für voll genommen zu werden - erdrückend, doch andererseits musste es etwas geben, das den Schwarzhaarigen bedrückte. Wieder kam sich Hideto so verdammt hilflos vor, so unbrauchbar! Doch er durfte sich das auf keinen Fall anmerlen lassen... Das würde Tetsu schließlich auch nicht aufbauen! Im Gegenteil. Wahrscheinlich würde er sich nur schuldig fühlen. Es würde ihn nur noch trauriger stimmen - und das war nun wirklich nicht das, was Hideto erreichen wollte.
 

Er war sich absolut sicher, wenn Tetsu wirklich seine Hilfe haben wollte, würde er danach fragen, ihm alles erzählen, was ihm auf dem Herzen lag... Und Hideto würde für ihn da sein! Ja, das hatte er sich geschworen, er würde einfach nur für ihn da sein. Er würde ihn Halt geben, wenn er ihn brauchte. Und er würde ihn nicht dazu drängen, sich ihm anzuvertrauen. Nein, ganz bestimmt nicht! Hideto würde warten.
 

Als Tetsu mit einem leichten Rotschimmer auf den Wangen nickte, stand Hideto sofort auf und wandte das Gesicht ab. Herje, war das niedlich! Hideto hatte alle Hände voll zu tun, sich einen Kommentar zu verkneifen. Zudem stellte er sich die Frage, warum sein Herzschlag auf einmal schneller ging. Wurde er etwa krank? Nein, das ware so überhaupt nicht von Vorteil! Er durfte einfach nicht krank werden! Zumindest nicht, wenn er sich mit Tetsu ein Zimmer teilte. Er wollte vor ihm nicht schwach aussehen!
 

"Hideto?", mit fragendem Blick wandte sich der Angesprochene um und erblickte Tetsu, der ein paar Meter hinter ihm stehen geblieben war.

"Wo willst du hin?" Wo er...? Was!? Hideto verstand nicht. Doch als er auf Tetsu zu ging, wurde es umso klarer. So in seinen Gedanken vertieft war er an ihrem Zimmer vorbei marschiert. Wahrscheinlich hätte er das nicht einmal bemerkt... Peinlich berührt lächelte er und kratzte sich leicht am Kopf.

"Ups..." Er wollte gerade zu einer Entschuldigung ansetzen, doch Tetsu schüttelte lächelnd den Kopf.

"Gehen wir einfach rein!", meinte er, als er die Tür öffnete und im Zimmer verschwand.
 

Natürlich folgte ihm Hideto. An seinem Teil des Schranks angekommen suchte er auch sofort seine Badesachen zusammen. Doch dann fiel ihm etwas auf.

"Oh, verdammt...", murmelte er leise und starrte in die Gegend. Das hatte er nicht bedacht. Gut, eigentlich hatte er das schon, doch er hatte Tetsu doch erst gestern etwas versprochen. Wie sollte er das nun einhalten?

"Was hast du denn?", verwundert sah Tetsu seinen Freund an. Er hatte sich inzwischen auf sein Bett gesetzt und den Anderen beobachtet.
 

"Ein Problem...", kam die Antwort und Hideto drehte sich um, sah Tetsu genau an, dessen Blick noch immer von Unverständnis gezeichnet war.

"Wie soll ich denn nur in Badehose mein Tattoo verstecken? Verdammt, wenn Sensei das sieht, flieg ich doch sofort..." Sie schwiegen sich an. Es dauerte eine Weile, bis Tetsu wieder das Wort ergriff.

"Du... wolltest also wirklich fliegen?", seine Stimme war seltsam trocken und ernst. Hideto sah nur schuldbewusst auf den Boden, sagte rein gar nichts dazu.

"Verstehe...", Tetsu stand auf, sah in Hideto's Teil des Schrankes, zog eines der schwarzen T-Shirts hervor und warf es dem Blonden zu.
 

"Zieh das an, wenn du ins Wasser gehst.", forderte er Hideto auf, "Wenn du das trägst, wird Sensei nicht viel sehen. Niemand wird etwas merken, selbst wenn es dann nass ist. Schließlich ist es auch schwarz, oder?" Schweigend betrachtete Hideto das Kleidungsstück, bevor er es anzog.

"Das ist perfekt...", flüsterte er überrascht, "Diese Idee ist genial, danke!" Und schon strahlte er wieder übers ganze Gesicht.

"Ach was!", wehrte Tetsu ab, als er sich neben Hideto setzte und noch einmal prüfte, ob der Stoff auch wirklich alles verdecken würde. Da war nun wirklich nichts dabei, schließlich war er schon Meister im 'Oberkörperverstecken'.

"Ich bin sicher, da wärst du auch drauf gekommen...", meinte er abwertend.

"Trotzdem danke...", erwiderte der Blonde und kurz darauf lächelten sie sich wieder an.
 

Nicht viel später standen die beiden Freunde zusammen mit den anderen in der Eingangshalle und waren fertig für den bevorstehenden Ausflug. Tetsu wurde immer unwohler. Am liebsten wäre er einfach wieder abgehauen! Immer wieder sah er sich um. Vielleicht konnte er ja doch noch zurück auf sein Zimmer? Oh, zu spät: Da kam der Lehrer schon auf sie zu und begrüßte sie freudestrahlend. So sehr Tetsu den Mann normalerweise auch mochte - in diesem Moment hätte er ihn nur zu gern angesprungen und ihm die Augen ausgekratzt.
 

Doch er musste sich wieder beruhigen. Der arme Pädagoge konnte schließlich nichts dafür, er machte auch nur seinen Job. Außerdem hatte sich Tetsu vorbereitet, es konnte ihm eigentlich nicht viel passieren! Nur das Wort 'eigentlich' störte ihn in diesem Satz. Bevor sie sich gemeinsam in Bewegung setzten, schickte der Schwarzhaarige noch ein letztes kleines Stoßgebet zum Himmel, man möge doch bitte nichts unvorgesehenes geschehen lassen.
 

Am Strand angekommen breitete Tetsu eine Decke aus und setzte sich darauf. Leicht verträumt sah er aufs Meer. Eigentlich ein schöner Anblick, das musste er zugeben. Er beobachtete seine Mitschüler, wie sie sich in die Fluten stürzten und mit den Wellen spielten. Ein leiser Seufzer verließ seine Lippen. So würde er also den ganzen Tag verbringen müssen, wundervolle Vorstellung. Doch es war auch nicht zu ändern. Niemand sollte es sehen. Niemand!
 

"Tetsu...?", einige Zeit später, nachdem er etwas gelesen hatte, wurde er angesprochen und sah auf. Ein tropfender Hideto strich sich gerade eine nasse Haarsträhne hinters Ohr und setzte sich neben ihn auf die Decke. Er hatte noch immer das schwarze Shirt an und da es kein großes Geschrei von Seiten des Lehrers gegeben hatte, ging Tetsu davon aus, dass seine Idee funktioniert hatte. Er selbst trug ein braunes Hemd, zusammen mit einer kurzen Hose.

"Danke für deine Hilfe.", begann der Blonde wieder, "Der Pauker hat tatsächlich noch nichts gemerkt." Ein breites Grinsen rundete seine Freude ab.
 

"Schön, freut mich!", nickte Tetsu daraufhin, "Aber achte darauf, dass es auch so bleibt!" Er wollte nicht, dass sein Freund plötzlich unvorsichtig wurde. All die Mühe wäre umsonst, wenn ihr Lehrer dieses Tattoo durch einen dummen Zufall entdecken würde. Tetsu legte sein Buch weg, in dem er bis jetzt gelesen hatte, und setzte sich im Schneidersitz etwas bequemer hin.

"Weißt du zufällig, wie lange wir hier bleiben müssen?", wollte er wissen. Hideto schüttelte daraufhin nur den Kopf.

"Nein, tut mir leid..."
 

Kurz schwiegen sie sich an.

"Aber sag mal... willst du nicht auch mal ins Wasser? Es ist herrlich!" Ohne auch nur die Antwort abzuwarten, war er wieder aufgesprungen, hatte Tetsu an der Hand gepackt und zog ihn auf die Beine. Der Schwarzhaarige aber war starr vor Schreck und ließ sich aufgrund dessen die ersten Meter zum Wasser ziehen, bevor er sich energisch dagegen stemmte.
 

"Nein, warte! Ich will nicht!", rief er dem Blonden zu und versuchte seinen Arm schnell wieder wegzuziehen. Doch der Andere war stärker und ließ nicht los. Panik beschlich Tetsu und er wurde kreidebleich. Was sollte das überhaupt? Wieso ließ Hideto ihn nicht gehen? Er hatte doch ganz klar gesagt, dass er nicht wollte, wieso um alles in der Welt wollte er ihn zwingen!? Schneller als gewollt schossen ihm die Tränen in die Augen und sein Blick wurde zusehends verzweifelter. Immer wieder und immer stärker zog er an seinem Arm, versuchte sich zu befreien.
 

"Ach, nun komm schon!", offensichtlich hatte Hideto noch nicht bemerkt, wie ernst es ihm war, "Hab dich nicht so!" Und wieder wurde Tetsu ein paar Meter weiter geschleift. Hilfesuchend sah sich der Schwarzhaarige um. Doch von wem sollte er schon Hilfe erwarten? Nein, das konnte so nicht gehen! Entschlossen sah er wieder nach vorn und damit auf Hideto's Rückansicht. Ein kurzer, starker Ruck und schon war er wieder frei, blieb einfach stehen. Daraufhin drehte sich Hideto zu ihm um.
 

Ein fragender und überraschter Blick des Anderen traf Tetsu und er sah weg. Mit einem Mal wurde ihm heiß. Gott, er schämte sich so! Ein kurzer Blick in die Runde berichtete ihm davon, dass sie von allen angestarrt wurden. Oh super, besser hätte es nicht laufen können! Tetsu biss sich auf die Lippe, bevor er weiter sprach.

"Tut mir leid, aber ich will nicht. Ich... Ich kann nicht schwimmen.", flüsterte er kaum hörbar, um sich anschließend wieder in Richtung seiner Decke zu begeben.
 

Er konnte nicht schwimmen... Tolle Ausrede, wirklich! Doch etwas besseres war ihm in dem Augenblick nicht eingefallen. Seufzend ließ sich Tetsu wieder auf die Decke sinken und wischte sich die Tränen weg. Aber immerhin, für Aufsehen hatten sie sicher gesorgt. Wirklich klasse hinbekommen! Dabei hatte er doch so unauffällig wie möglich bleiben wollen. Kurz sah er wieder zu den übrigen Schülern und wie er es erwartet hatte, hatten schon die ersten damit begonnen, zu tuscheln. Er schnaubte genervt aus. Er konnte Tratschereien nicht ausstehen! Sicher machten sich nun alle über ihn lustig.
 

Sein Blick wanderte weiter und blieb bei Hideto hängen. Er sah enttäuscht aus. Schon fühlte sich Tetsu wieder schuldig. Doch ihm war keine andere Wahl geblieben, das war klar. Traurig ließ er wieder den Kopf hängen. War es vielleicht doch ein Fehler gewesen, sich auf eine Freundschaft einzulassen? Hätte er die zwei Schuljahre nicht auch allein durchstehen können? Ach, es war so.
 

"Tut mir leid...", erschrocken sah Tetsu wieder auf. Er hatte gar nicht bemerkt, wie Hideto wieder auf ihn zugekommen war. Nun sah er in dessen schuldbewusstes Gesicht und schüttelte den Kopf.

"Schon gut. Du hast es ja nicht gewusst." Er versuchte zu lächeln. Im nächsten Augenblick hatte sich der Blonde vor ihm auf die Knie fallen lassen.

"Stimmt, ich hab es nicht gewusst. Aber... ich hätte deine Meinung akzeptieren müssen. Ich hatte kein Recht, dich zu zwingen! Ich... wäre nur eben gern mit dir zusammen schwimmen gegangen. Aber das war egoistisch!", weiter kam er nicht, obwohl Hideto noch so viel mehr hatte sagen wollen. Doch Tetsu hielt ihm den Finger vor den Mund.
 

"Ist doch gut!", erklärte er ruhig, "Es ist schließlich nichts passiert, oder? Warum also weiter darüber reden? Um ehrlich zu sein, ich mag nicht daran denken... Hideto, ich bin dir nicht böse, okay? Aber lass es für dieses Mal bitte gut sein." Konnte er einer so traurig gemurmelten Bitte widerstehen? Nein, Hideto konnte es nicht, deshalb schwieg er wieder. Ohne noch groß Worte zu verlieren stand er auf und ging am Strand spazieren. Die Rufe des Lehrers bekam er nicht einmal mehr mit.
 

Einige Zeit später kam er wieder zurück und durfte sich von seinem Lehrer eine Standpauke abholen, entschuldigte sich aber höflich. Er hatte keine Nerven, sich mit dem Mann zu streiten, also ging er dem aus dem Weg. Da er Tetsu jedoch nirgendwo entdecken konnte, erkundigte er sich nach ihm und erfuhr, dass er allein wieder ins Zimmer gegangen war, weil er sich nicht wohl gefühlt hatte. Daraufhin nickte Hideto nur. Er setzte sich irgendwo in den Sand und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen, bis es ihm zu dumm wurde und er sich einen Platz auf den Treppen suchte.
 

Nur wenig später sammelte der Lehrer seine Schüler wieder ein und erklärte, dass sie zurück gehen würden. Hideto allerdings hatte keine große Lust, wieder auf sein Zimmer zu gehen. Er wusste nicht, wie es Tetsu ging, ob er immer noch so komisch war, ob er vielleicht doch sauer war. Er wusste, er musste sich dem heute noch stellen, doch war es ihm später immer noch lieber als jetzt gleich. Und so streifte er in der untersten Etage des Hotels herum, sah sich die verschiedenen Souvenir-Läden an und setzte sich irgendwann in die Louge und griff nach einer Zeitung.
 

Allerdings kam er nicht sehr weit mit Lesen, denn schon nach ein paar Minuten hörte er, wie hinter ihm der Name 'Tetsuya' fiel und erstarrte innerlich. Er erkannte die Stimmen als die seiner Mitschüler wieder, es waren Jungen und Mädchen, mit denen er eigentlich nie etwas zu tun hatte - und Tetsu auch nicht, soweit er wusste. Was also sollte das? Interessiert hörte er den anderen weiter zu.

Doch wirklich vorbereitet auf das, was nun kam, war er nicht.

Geschockt weiteten sich seine Augen, als er eines der Mädchen hörte, wie sie sagte: "Ich wette, Tetsu ist in Wahrheit ein Mädchen!" Stille folgte und Hideto runzelte die Stirn. Ein... was? Nein, das war absolut nicht möglich, völlig ausgeschlossen! Das nicht nur nicht möglich, es war regelrecht absurd! ... oder...?
 

Er kam nicht umhin, der Unterhaltung weiter zuzuhören, denn auch einige der Versammelten bekundeten ihren Unglauben. Doch das Mädchen ließ nicht locker.

"Ich frage euch, warum hat 'er' ... dann heute am Strand so ein Theater gemacht? Wenn er wirklich nicht schwimmen könnte, wüsste Sensei das doch und hätte ihn gar nicht erst mit ans Wasser genommen, oder? Oder habt ihn schon ein einziges Mal oberkörperfrei gesehen? Jungs...?"
 

Da keine Antwort kam, ging Hideto davon aus, dass sie entweder gar nichts sagten oder stupide den Kopf schüttelten. Auch Hideto überlegte angestrengt. Er hatte eindeutig mehr mit Tetsu zu tun, als die Gruppe dort drüben, deren Lieblingsbeschäftigung es offensichtlich war, sich das Maul über andere zu zerreißen... doch auch er hatte den Schwarzhaarigen noch nie ohne seine Oberbekleidung gesehen. Zudem... hatte Tetsu doch gesagt, dass er hab dem Hals abwärts nicht gern berührt wurde.
 

"Ich sage euch, irend etwas versteckt 'er'... oder sollte ich lieber sagen 'sie'?", ein abwertendes Lachen des Mädchens folgte. Hideto wäre am liebsten aufgesprungen und hätte ihr die Luft abgedrückt!

"Und was sollte das anderes sein, als die Tatsache, dass Tetsuya wohl eher eine Tetsuko ist?" Das klang einleuchtend. Auch Hideto fiel auf Anhieb nichts anderes ein. Aber das war... das konnte doch nicht... Er wurde unsicher. Konnte es denn wirklich sein, dass...?

#10: Beweisführung der anderen Art

Noch immer konnte sich Hideto nicht rühren. Steif und starr hielt er die Zeitung in der Hand, ohne dieser weiter Beachtung zu schenken, und überlegte hin und her – Tetsu ein Mädchen!? Seine Überlegungen schwankten immer wieder zwischen 'Das ist absolut unmöglich, das hätte ich doch gemerkt!' und 'Aber es würde sein Verhalten auch irgendwie erklären...'. Auch war er sich nicht mehr sicher, ob er Tetsu in Gedanken immer noch als 'er' bezeichnen sollte... 'Er'? Oder doch 'sie'...? Es war so verwirrend. Letztendlich war er vollkommen durcheinander, wusste nicht mehr, was er noch denken oder glauben sollte und stand auf. Er brauchte dringend frische Luft! Draußen angekommen strich er sich tief seufzend durch das Haar und schloss für einen Augenblick die Augen.

Sollte diese dumme Vermutung denn wirklich stimmen? Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass er mit einem Mädchen Zimmer und sogar das Bett geteilt haben sollte. Doch andererseits, überlegte er weiter, wäre das vielleicht auch der Grund, warum er sich auf so merkwürdige Art und Weise zu Tetsu hingezogen fühlte... Schon ein oder zwei Sekunden später runzelte er die Stirn und schüttelte energisch den Kopf. Nein! Nein, allein der Gedanke, die bloße Vorstellung, er wäre... Nein, er war doch nicht...! Kurz musste er schlucken. Nein... Nein, das war nicht nur absurd, das war direkt lachhaft! Dass er ein wenig rot um die Nase geworden war, bemerkte Hideto nicht...

Unsicher sah der Blonde wieder zu dem Gebäude auf, in dem sie untergebracht waren. Früher oder später musste er zurück, sollte er die Nacht nicht auf der Straße verbringen wollen. Warum also nicht jetzt gleich? Dann hätte er auch die Gelegenheit mit Tetsu darüber zu reden und diese verflucht hartnäckigen Zweifel, die ihn immer noch plagten, aus dem Weg zu räumen. Gedacht – getan. Entschlossen ging er wieder ins Hotel und fand sich kurz darauf vor ihrer Zimmertür wieder.

Er stand vor der Tür, starrte sie an und bewegte sich nicht. Mit jedem Schritt, mit dem er ihr näher gekommen war, hatte sich seine Entschlossenheit ins Nichts verflüchtigt. Vollkommen plan- und hilflos grübelte er, wie er am besten vorgehen sollte. Er wusste ja nicht einmal, was er Tetsu eigentlich sagen sollte! Direkt fragen konnte er ihn schlecht. 'Hey, Tet-chan! Sag mal, kann es zufällig sein, dass du gar kein Kerl bist? Darf ich mal nachschauen?' Nein, das wäre nicht nur unpassend, es wäre zudem sehr unhöflich – in beiden Fällen, ob sein Freund nun männlich oder weiblich wäre... Wieso zur Hölle musste er überhaupt erst über diesen Umstand nachdenken? Hideto seufzte tief auf. Ihm musste ganz schnell etwas anderes einfallen...

Völlig unerwartet – Hideto lief gerade Kreise in den Boden, während er krampfhaft nach einer Lösung suchte – öffnete Tetsu die Tür und wurde skeptisch schauend Zeuge dieser Szene, bevor er sich kurz aber deutlich räusperte. Erschrocken und leise aufschreiend fuhr Hideto herum und sie blickten sich einen Moment schweigend an. Dem Blonden rutschte förmlich das Herz in die Hose und seine Gesichtsfarbe schlug nun komplett in die eines Feuerlöschers um. Hatte das denn unbedingt sein müssen? Wie peinlich! Am liebsten hätte er sich in Luft aufgelöst...

Tetsu war der erste, der sich wieder gefasst hatte. "Was... tust du hier...?", ergriff er das Wort und stellte die Frage, die ihn in diesem Moment am meisten beschäftigte, ganz direkt in den Raum, während er versuchte, sich ein Grinsen zu verkneifen und zumindest halbwegs ernsthaft auszusehen. Als Hideto allerdings anfing zusammenhangslos zu stammeln und auf eine so süße Art hilflos auszusehen, konnte er sich nicht mehr halten und lachte für einen winzigen Augenblick einfach drauflos. Schnell hatte er sich jedoch wieder beruhigt und wischte sich kopfschüttelnd die Lachtränen aus den Augen. Hideto war bereits verstummt und hielt den Kopf gesenkt, nickte nur leicht. Es war ihm immer noch unangenehm, so gesehen worden zu sein. "Komm lieber erstmal mit rein...", wurde er schmunzelnd aufgefordert und trottete wortlos hinter Tetsu ins Zimmer.

"Ich wollte eigentlich ein wenig spazieren gehen, mir war etwas langweilig...", erklärte Tetsu ruhig und setzte sich lächelnd auf sein Bett, "Aber das muss ich ja nun nicht mehr... Du wirst mich doch vor der bösen Langenweile retten, oder?" Sein Grinsen wurde breiter, Hideto jedoch konnte nur schief lächeln und nickte. "Ich werde mir jedenfalls Mühe geben...", versprach er, kam näher, setzte sich schließlich neben Tetsu und sah ihn an.

Dieser legte prompt einen fragenden Blick auf. Der Blonde war irgendwie anders, so als würde ihn etwas bedrücken... Machte er sich denn immer noch Vorwürfe wegen der Geschichte am Strand? Wenn ja, dann war er sogar noch süßer als Tetsu bisher angenommen hatte. Sein Eindruck vom ersten Schultag war vollkommen falsch, das war ihm längst klar geworden. Hideto war nicht der unfreundliche Draufgänger, den er vielleicht gern vorgab zu sein. Denn wer hinter all diese Äußerlichkeiten schauen konnte, wusste doch ganz genau, was für ein liebenswerter Mensch er war... Gern hätte Tetsu ihn in den Arm genommen, doch er ließ es sein...

"Hideto?", sprach er ihn satt dessen an, "Es tut mir leid, dass ich dir nichts davon erzählt habe..." Tetsu meinte die kleine Notlüge von ihm, er könne nicht schwimmen, doch an diese Sache dachte Hideto schon gar nicht mehr. Seine Augen weiteten sich und ihm wurde deutlich wärmer. War das jetzt etwa ein Geständnis? War Tetsu denn wirklich kein Junge? Andererseits, woher sollte der Schwarzhaarige wissen, dass dieses Gerücht im Umlauf war? Hideto blinzelte den Anderen nur ungläubig an, seine Gedanken überschlugen sich mehrmals. So, wie es schien, verwirrte er sich gerade selbst immer weiter.

"Schon okay...", murmelte der Blonde erst einmal, lächelte dabei und versuchte seiner Gedanken Herr zu werden und sie irgendwie zu ordnen - was nebenbei erwähnt ein recht schwieriges Unterfangen war. Dabei landete sein Blick kurz auf der Brust des Anderen und ihm fiel auf, dass man dort doch eigentlich etwas sehen müsste, selbst wenn 'es' versteckt war. Zumindest war er sich relativ sicher, dass man, wenn man gezielt danach suchte, es auch erkennen könnte. Also sah er gezielt hin, versuchte aber, es nicht allzu auffällig zu machen. Glücklicherweise sah Tetsu gerade nicht in seine Richtung, sondern starrte die Wand an...

Trotzdem, Hideto konnte nichts entdecken, das auch nur ansatzweise als Oberweite bezeichnet werden konnte. Erleichtert atmete er auf und beruhigte sich wieder etwas. Dieses blöde Weib da unten! Wie konnte sie es nur wagen, so einen Scheiß in die Welt zu setzen!? Echt... Doch dann musste er an seine Cousine denken. Sie war sogar noch ein Jahr älter als er und flach wie ein Brett, weshalb sie ihre BHs immer mit was auch immer ausstopfte, was Hideto persönlich als schwachsinnig ansah, aber das war ihre Sache...

Was das nun aber mit Tetsu zu tun hatte: Nur weil da keine Oberweite war, musste das noch lange nicht bedeuten, dass Tetsu wirklich kein Mädchen war. Somit stand Hideto wieder am Anfang seiner Überlegungen... Gott, es war so zum Haareraufen! Aber wie sollte er dann die Wahrheit herausfinden? Konnte er das überhaupt, ohne Tetsu ganz direkt fragen zu müssen? Ihm wollte einfach keine andere Möglichkeit einfallen...

Mit einem leichten Seufzen stand Tetsu in eben diesem Moment auf und Hideto's Blick landete diesmal auf dessen Schritt. Nachdenklich zog der Blonde eine Augenbraue hoch. Natürlich, neben dem sekundären Geschlechtsmerkmal existierte schließlich auch noch das primäre... Nur... wie sollte er das jetzt anstellen? Er konnte Tetsu schlecht die Hose runter reißen... Jedenfalls nicht ohne dass Tetsu diese Aktion bemerkte und wie Hideto das dann erklären sollte, wusste er wirklich nicht.

Das kurze Räuspern Tetsu's lenkte die Aufmerksamkeit des Blonden wieder auf das Gesicht seines Freundes. "Kannst du mir sagen, warum du mir die ganze Zeit auf den Schritt starrst?", wollte der Schwarzhaarige wissen. Oh, es war wohl doch zu auffällig gewesen... Hideto lief leicht rot an. Jetzt musste eine Erklärung her, aber schnell! Doch ihm fiel nichts Brauchbares ein... "Naja...", meinte er dann schief lächelnd, "Er lag gerade auf Augenhöhe..." Er hätte sich selbst schlagen können! Eine so dumme Antwort hätte er von sich selbst nicht erwartet. Aber nun hatte er sie einmal ausgesprochen, das konnte er nicht mehr rückgängig machen. Er konnte nur dahinter stehen, lächeln und hoffen, dass Tetsu es nicht so ernst nehmen würde...

Doch dem war nicht so. Tetsu zog zwar nur skeptisch eine Augenbraue nach oben und sagte nichts mehr dazu, doch er wunderte sich schon stark. Diese Art Antwort passte nicht zu dem Blonden, etwas so Hirnrissiges... Er war sich ziemlich sicher, dass noch mehr dahinter steckte, doch er wollte auch nicht weiter nachbohren. Sollte Hideto ihn doch für dumm verkaufen und anlügen, wenn er das für nötig hielt. Er hätte das nur nie von ihm erwartet... Tetsu musste zugeben, dass er einen leichten Stich in der Brust spüren konnte, dass ihn dieses Verhalten schon irgendwie verletzt hatte. Doch er wollte dem Anderen auch keinen Vorwurf machen.

Plötzlich stand Hideto auf, ging zum Fenster und lehnte sich an das zugehörige Fensterbrett, während er in den Abendhimmel hinaus schaute. Fragend zog Tetsu eine seine Augenbrauen in die Höhe und starrte den Blonden an, welcher sich in diesem Moment auch schon wieder zu ihm wandte. "Wir haben richtig Glück, oder?", wurde er gefragt, "Das Wetter ist schön. Angenehm warm... kein Regen... Perfekt für einen Urlaub." Das beigefügte Lächeln Hideto's brachte Tetsu vollkommen aus der Fassung. Was sollte das denn nun wieder...?

Tetsu blieb nur zu nicken. "Ja... herrlich.", murmelte er und wusste immer noch nicht, ob er über diese Gemütsänderung lachen oder weinen sollte. Einerseits war es ja ganz schön, dass Hideto anscheinend wieder bester Laune war, doch andererseits konnte Tetsu nicht verstehen, wie er das so schnell geschafft hatte. Schweigen breitete sich wieder über die beiden Jungen aus, während sie sich ansahen. Dass diese Aktion nur ein Versuch war, wieder einen klaren Gedanken fassen zu können und einmal nicht an dieses dumme Gerücht zu denken, konnte Tetsu beim besten Willen nicht wissen...

Die Stille im Zimmer machte beiden zu schaffen. Und so war es erneut Hideto, der sie durchbrach. "Sag mal...", begann er noch zögerlich, "Was hältst du eigentlich von dieser Klassenfahrt? Gefällt es dir hier bis jetzt?" Wieder sahen sie sich einen Augenblick an. "Naja, mal von dem kleinen Badeerlebnis von vorhin abgesehen...", ein verlegenes Lächeln folgte, bevor der Blonde wieder auf den Boden sah. Tetsu's Reaktion war ein leichtes Seufzen, als er auf den Anderen zu ging und sich neben ihm an das Fensterbrett lehnte. "Es ist nett hier. Die Gegend gefällt mir.", nickte er kurz, bevor er Hideto direkt ansah, "Und die Gesellschaft auch..." Ein strahlendes Lächeln folgte, so strahlend, dass dem Blonden das Herz bis zum Halse schlug. Wieder war da dieses seltsame Gefühl, das er nur bei Tetsu zu verspüren vermochte...

Und wieder kamen ihm die Worte seiner Mitschülerin in den Sinn: 'Ich sage euch, irgend etwas versteckt 'er'... oder sollte ich lieber sagen 'sie'? Und was sollte das anderes sein, als die Tatsache, dass Tetsuya wohl eher eine Tetsuko ist...?' Wieder beschlichen ihn Zweifel... Und er wollte verdammt nochmal endlich eine Antwort haben! Als sich Tetsu dann noch mit dem Rücken zum Fensterbrett lehnte und den Unterkörper dabei etwas nach vorn schob, schaltete sich Hideto's Denkvermögen einfach aus. Er selbst wusste nicht mal wirklich, was er da tat oder wieso. Er konnte sich auch nicht daran erinnern, daran gedacht zu haben, es tun, aber...

Als sich Tetsu's Augen immer mehr weiteten und der Blick in diesen immer geschockter und zugleich verärgerter wurde, wusste Hideto: Etwas stimmte nicht. Kurz blinzelte er und blickte auf seine Hand, welche sich einen Augenblick zuvor - und ganz ohne das Einverständnis ihres Besitzer - die Antwort auf dessen Frage einfach mal ganz dreist ertastet hatte. Noch bevor Hideto auch nur 'Scheiße!' denken konnte, spürte er den heißen Abdruck einer anderen Hand auf seiner Wange, taumelte nach hinten und hielt sich das schmerzende Gesicht. Vorsichtig sah er auf und seinen Freund - jedenfalls hoffe er, dass sie das nach dieser Aktion noch waren - vorsichtig und schuldbewusst an.

Dieser kochte beinahe über vor Wut. Vor Fassungslosigkeit, vor Unverständnis... Im ersten Moment konnte er nicht einmal richtig in Worte fassen, was in ihm vorging, so dass er Hideto nur weiter anstarrte, Vorwürfe in den Blick legte und verzeifelt nach Worten suchte. Was sollte das? Das war wohl die wichtigste Frage, die Tetsu im Kopf herumschwirrte. Was verdammt nochmal sollte das!? Und was zur Hölle hatte sich der Andere dabei gedacht? Zum Ausdruck konnte er das jedoch nur mit einem einzelnen Wort bringen: "Warum...?", hauchte er und sah Hideto leicht kopfschüttelnd an. "Warum...?"

Ja, warum... Hideto wusste nicht wirklich, was er sagen sollte. Sicher, er kannte den Auslöser, doch kam er sich so albern und kindisch vor - vor allem weil er nun auch sicher wusste, dass dieses Gerücht nur ein Gerücht und Tetsu wirklich ein Junge war. Verlegen sah er weg - er konnte ihm einfach nicht in die Augen schauen - und stammelte wirres Zeug zusammen, was Tetsu jedoch nicht unbedingt besänftigte. Im Gegenteil, es trieb ihn nur noch mehr zur Weißglut, so dass er den Blonden nun anschrie, er solle doch endlich etwas sagen.

Tetsu war erstaunt über sich selbst, so wütend hatte er sich auch noch nie erlebt, so in Rage... Aber hey, was erwartete man auch, wenn einem mit voller Absicht in den Schritt gefasst wurde!? Zumal Tetsu schon einmal zum Ausdruck gebracht hatte, dass er Berührungen aller Art nicht sonderlich mochte. Und das eben ging wirklich zu weit, das würde mit Sicherheit nicht nur er so sehen! Also, warum verdammt nochmal! Warum hatte sein sogenannter 'Freund' das getan? Tetsu hatte geglaubt, er könne ihm vertrauen... Inzwischen war seine Wut Enttäuschung und Traurigkeit gewichen, welche sich glänzend in seinen Augen zeigten. Immer noch sah er den Blonden eindringlich an und wartete auf eine Antwort.

Auch Hideto ging es nicht wirklich besser, als er versuchte, das Chaos in seine Kopf zu ordnen oder zumindest irgendwie zu durchdringen und wenigstens einen klaren Gedanken zu fassen. Ein kurzer Blick auf Tetsu ließ ihn erkennen, dass er etwas sagen musste und dass das sehr schnell geschehen sollte, wenn er es sich nicht komplett verscherzen wollte. "Ich...", begann er zögernd, "Es tut mir leid!" Er wusste nicht richtig, was er sonst sagen sollte oder wie er seine Erklärung anfangen sollte. Und es tat ihm ja auch wirklich leid... Gleich darauf konnte er beobachten, wie sich Tetsu's Augenbrauen anhoben und seine Mundwinkel leicht zuckten. Kein gutes Zeichen, wie Hideto schlagartig bewusst wurde...

"Es tut dir also leid, ja?", vergewisserte sich Tetsu, dass er auch richtig gehört hatte, "Es tut dir leid!?" Kurz sah er zur Seite und lachte leise auf, bevor er den Kopf ganz sacht schüttelte. "Mal ehrlich, das ist doch wohl das Mindeste, oder?", herausfordernd sah er den Anderen wieder an. Die Wut war zurück gekehrt... Und er hatte immer noch keine ordentliche Erklärung für dieses Fehlverhalten - obwohl er stark bezweifelte, dass es diese überhaupt geben konnte. Trotzdem, einen Grund musste es doch haben und den wollte er jetzt endlich wissen. "Wie sieht das aus, erzählst du mir nun, wie du dazu gekommen bist, mir einfach mal wohin zu grabschen, oder darf ich mir selbst was einfallen lassen?"

Hideto war sich absolut sicher: Das waren alles keine guten Zeichen. "Nein... nein, musst du nicht.", stammelte er kurz, bevor er tief Luft holte und über die ganze alberne Geschichte nachdachte und verlegen zur Seite sah. "Du wirst es bescheuert finden...", murmelte er als kleine Vorwarnung. "Das überlass mal schön mir.", erwiderte Tetsu sofort, "Und jetzt fang schon an!" Ein kleines Nicken war Hideto's Reaktion und er fühlte sich noch unwohler als zuvor. Nun konnte er Tetsu beim besten Willen nicht mehr in die Augen sehen...

Immer noch schweigend strich sich Hideto durch das gebleichte Haare, bevor er zu reden begann: "Also, das... war so." Wieder ließ er eine Pause und bemerkte dabei nicht, dass er Tetsu's Geduld damit nur noch mehr strapazierte. "Nachdem ich ein wenig am Strand entlang gegangen war, bin ich wieder ins Hotel und unten in die Lounge, hab ein wenig Zeitung gelesen und so. Etwas später hab ich dann ein paar aus der Klasse reden gehört und... naja, sie haben über dich geredet." Tetsu verstand zwar nicht, was das nun mit der Aktion von eben zu tun haben sollte, doch er ließ ihn weiter reden. "Eines der Mädchen, keine Ahnung, wie sie heißt, ist mir auch egal... Sie war - oder besser ist - der festen Überzeugung, dass... also, dass... du eigentlich kein Junge bist." Es war raus, so weit, so gut. Nun musste Hideto nur noch vorsichtig feststellen, wie sein Mitbewohner es aufgefasst hatte, also sah er ganz langsam auf und in Tetsu's Gesicht.

Dieses war noch bleicher als es ohnehin schon gewesen war, doch gleich darauf lief Tetsu feuerrot an. Es hatte ein paar Augenblicke gebraucht, bis er Hideto's Worte richtig realisiert und verstanden hatte. Nun blieb ihm nicht mal genug Beherrschung um sich zu wundern, dass er sogar noch wütender werden konnte. "Und da dachtest du dir, du schaust einfach mal nach, oder wie!?", fuhr er den Anderen an. Das war ja wohl die Höhe! So etwas dämliches hatte er noch nie gehört... Doch Hideto versuchte sich zu wehren. "Nein, so war das nicht!", versuchte er zu erklären, "Ich wollte dich darauf ansprechen, aber ich wusste nicht genau wie ich das machen sollte. Aber ich wollte dir nie zu nahe treten, wirklich! Ich hab nicht mal richtig mitbekommen, wie meine Hand..."

"Ach, du hast es gar nicht mitbekommen!?", wurder er sofort unterbrochen, "Willst du vielleicht nochmal, damit du dir auch sicher sein kannst?" Die Wut stand Tetsu ins Gesicht geschrieben und Hideto musste mit einem kleinen Schreck erkennen, dass er kurz vorm Heulen war - dabei hatte er seit Jahren schon nicht mehr geweint... "Tetsu, es tut mir leid...", den Blick starr auf den Schwarzhaarigen gerichtet konnte er ein Zittern in der Stimme nicht verhindern. Er war gerade drauf und dran, alles zu verlieren, was ihm überhaupt noch wichtig war - Tetsu.

"Du hast Recht!", durchbrach Tetsu wieder die Stille, die zwar nur für ein paar Sekunden angehalten hatte, aber beiden Jungen dennoch quälend lang erschien, "Ich finde es bescheuert! Es... es ist bescheuert! Was hat dich eigentlich auf die Idee gebracht, dass sowas überhaupt stimmen kann?" Er verstand nicht, was in Hideto vorgegangen war, er konnte es wirklich nicht nachvollziehen. Gerade Hideto war es doch, der so viel Zeit mit ihm verbracht hatte, der ihn von allen Mitschülern am besten kennen müsste. Gut, es gab da ein paar Dinge, die er nicht wusste, aber die sollte er oder auch nur irgend jemand anderes gar nicht erst wissen! Das waren Tetsu's Geheimnisse, die niemanden etwas angingen...

Etwas unsicher sah Hideto wieder zu ihm. "Naja, da wäre zunächt einmal die Tatsache, dass du immer mit langen Klamotten rumläufst. Weißt du noch, diese eine Sportstunde? Es war brütend heiß und trotzdem... Du bist sogar zusammen gebrochen.", begann er vorsichtig mit seiner Argumentation, "Oder schon allein beim Umziehen: Keiner von uns hat dich jemals oberkörperfrei gesehen, nicht einmal ich. Berührungen unterhalb des Halses magst du nicht, hast du gesagt - und ja, ich weiß... Ich hab mich heute nicht daran gehalten und wie gesagt, es tut mir leid! Aber alles in allem erweckt das schon den Eindruck, dass du da etwas versteckst, das musst du schon zugeben."

Leicht biss sich Tetsu auf die Lippen. Stimmte schon, er versteckte sehr wohl etwas... Aber mussten das denn nun gleich Brüste sein? Dennoch, er gab nur ein leichtes Nicken von sich, da er den Standpunkt des Blonden ein wenig besser verstand. "Was auch noch etwas irritierend sein könnte...", fuhr Hideto fort und legte ganz bewusst die Betonung auf das 'könnte', "... sind deine Gesichtszüge. Objektiv betrachtet sind die ziemlich weich und... naja, eben auch etwas weiblich." Der Junge mit den weichen Gesichtszügen blickte ihn daraufhin nur überrascht an. "Oh, bitte!", platzte es aus ihm heraus, "Wenn es um das Gesicht ginge, wärst du genauso ein Mädchen. Schau dich doch mal an! Ein paar längere Haare, weite Kleidung und kein Kerl würde auf die nichtvorhandene Oberweite achten..." Diesmal war es an Hideto, sich kurz auf die Lippe zu beißen und verlegen zur Seite zu sehen. Tetsu hatte Recht, er war früher des öfteren einfach von ein paar Halbwüchsigen angemacht worden, einer der Gründe, warum er in die Gang eingetreten war. In Tetsu hingegen wuchs erneut das Unverständnis und ein wenig auch die Wut...

Doch bevor er etwas hätte sagen können, entschuldigte sich Hideto erneut, indem er sich ein wenig verbeugte: "Ich weiß ja... Und ich kann es nur nochmal sagen, es tut mir leid." "Schön, und was bringt mir das?", wieder wurde Tetsu etwas lauter, bevor er auf die Tür zuging. "Weißt du was? Ich hab die Schnauze voll...", knurrte er den Anderen noch an, bevor er verschwand. Er musste einfach raus aus dem Zimmer, nur noch raus! Er hielt es keine Sekunde länger aus, zusammen mit... zusammen mit der Person, die gerade sein Vertrauen verloren hatte...

#11: Alte Wunden, die nicht heilen wollen

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Hideto seinem Freund hinterher, als dieser wutentbrannt aus dem Zimmer stürmte. Er hatte einen Fehler gemacht, soviel stand fest - ein fürchterlichen Fehler, den er vielleicht sogar nie wieder gut machen könnte. Allein der Gedanke, Tetsu könnte ihn von nun an ignorieren und nicht mal mehr eines Blickes würdigen, trieb ihm die Tränen in die Augen. Doch das war in diesem Moment vollkommen unangebracht. Er wusste genau, sollte er jetzt nicht schnellstmöglich etwas unternehmen, bräuchte er sich nicht mehr bei ihm blicken lassen. Um nun auf eine günstige Gelegenheit zu warten, war diese Sache einfach zu heikel - mal ganz davon abgesehen, dass es wahrscheinlich eh nie eine günstige Gelegenheit geben würde. Tetsu's Freundschaft war ihm viel zu wichtig um sie nun wegen eines so lächerlichen Grundes aufs Spiel zu setzen. Er musste ihm nach, und das so schnell wie nur irgendwie möglich, er musste ihn aufhalten, mit ihm reden und sich so lange entschuldigen, bis Tetsu ihm zumindest nicht mehr böse war - dass ihm verziehen wurde, erwartete er nicht einmal.

Tetsu war alles, an das der Blonde noch denken konnte. Auf keinen Fall würde er tatenlos zusehen, wie alles, was die beiden sich in den vergangenen Monaten aufgebaut hatten, wieder in die Brüche gehen würde. Entschlossen verließ auch er das Zimmer, stürmte den Flur entlang zum Fahrstuhl und sah gerade noch, wie sich die Türen schlossen. Verdammt, er war ein paar Sekunden zu langsam gewesen! Nun war Tetsu bereits auf dem Weg nach unten und wenn er das Hotel verlassen sollte, wäre es sehr schwer, ihn wieder zu finden. Hektisch und innerlich immer noch fluchend sah sich Hideto um. Was nun? Auf den nächsten Aufzug zu warten, dauerte viel zu lang. So viel Zeit hatte er nun einmal nicht! Immerhin wusste er nicht einmal, in welche Richtung Tetsu dann gehen würde... Es blieb ihm also nur noch eine Option: Die Treppen.

So schnell er konnte, jagte Hideto die Stufen hinunter, kam dabei das ein oder andere Mal ins Stolpern und wäre auf dem letzten Stück beinahe noch die Treppe hinunter gefallen. Glücklicherweise hatte er sich noch fangen können, doch durch diese Unachtsamkeit hatte er wieder ein paar Sekunden verloren. Er ärgerte sich über sich selbst, während er die Vorhalle betrat und sich umsah. Natürlich war von dem Schwarzhaarigen weit und breit nicht eine Spur zu entdecken - wäre ja auch zu schön gewesen, aber Hideto blieb realistisch. Somit rannte er gleich auf den Ausgang zu, vielleicht konnte er Tetsu ja noch irgendwo um die Ecke biegen sehen? Doch er kam gar nicht erst bis zur Glastür, denn er hatte eine seiner Mitschülerinnen glatt übersehen und lief in sie hinein.

Beide schrieen kurz erschrocken auf und landeten hart auf dem Boden. Und wieder wurde Hideto aufgehalten, so ein Mist! Er war nur froh, dass es nicht diese Idiotin von vorhin war, die ihn mit ihren dummen Gedanken erst in diese Situation gebracht hatte. "Tut mir leid, ich habe nicht aufgepasst...", entschuldigte er sich mit einem kleinen Stöhner. Etwas benommen versuchte er, ihr aufzuhelfen und bemerkte erst jetzt, dass er das Mädchen eigentlich kennen sollte. Er kannte ihr Gesicht, aber wie war der Name noch gleich...? Er wusste es nicht. Aus diesem Grund stammelte er weiter vor sich hin - eigentlich war er ja immer noch in Eile. Tetsu war inzwischen garantiert über alle Berge. - und wurde mit einem skeptischen Blick gemustert.

"Mein Name ist Sakurai, Tomoyo Sakurai, falls du das wissen wolltest, Takarai-kun.", half sie ihm freundlich auf die Sprünge und lächelte. Sie schien es bemerkt zu haben, aber nun ja... Etwas verlegen kratzte sich Hideto am Kopf. "Oh, ja... Natürlich, entschuldige bitte...", gab er kleinlaut zurück. Die Peinlichkeiten wollten heute anscheinend auch kein Ende mehr nehmen. "Geht es dir denn gut, Sakurai-san? Hast du dich verletzt?", versuchte er vom Thema abzulenken. Das Mädchen schüttelte den Kopf und lächelte weiter - es war schon fast erschreckend, wie strahlend dieses Lächeln war. "Es geht mir wunderbar, keine Sorge.", erwiderte sie und Hideto nickte. "Okay, dann ist ja gut...", verlegen blickte er zur Seite und da sah er wieder zur Ausgangstür.

Schlagartig fiel ihm wieder ein, wieso er eigentlich so in Eile gewesen war. Er hatte noch mehr Zeit verplempert, wie bescheuert war er eigentlich? Er hätte sich ohrfeigen können... In seinen Augen war die Panik immer deutlicher zu lesen und er wurde wieder mit fragendem Blick angesehen. "Alles in Ordnung?", fragte sie und er schüttelte nur den Kopf. Nein, nichts war in Ordnung, absolut nichts! Wie hatte er Tetsu nur vergessen können!? Aber viel wichtiger: Wohin war er nun gegangen? Wie weit war er nun schon gekommen? Dass er ihn nun noch um die Ecken biegen sehen könnte, konnte sich Hideto getrost abschminken.

Schnell sah er Sakurai an und wollte sich verabschieden, als ihm ein Gedanke kam. "Du bist doch vorhin von draußen gekommen, oder? Du hast nicht zufällig Tetsu irgendwohin gehen sehen?", richtete er das Wort wieder an sie und sah sie dabei hoffnungsvoll an. Sie musste ihm doch einfach helfen können! Und sie konnte es wirklich... "Doch, er ist auf der Straße an mir vorbei gestürmt. Sah ziemlich aufgebracht aus, wenn du mich fragst...", antwortete sie und deutete nach draußen. "Wenn du ihn finden willst, muss du nach dem Ausgang auf jeden Fall nach links, mehr kann ich dir aber auch nicht sagen, tut mir..." "Du bist ein Schatz, danke!", unterbrach er sie schnell, gab ihr ohne weiter darüber nachzudenken einen Kuss auf die Stirn und rannte in die angegebene Richtung. Zurück blieb eine verdutzt dreinschauende Mitschülerin, die ihm verwirrt nach sah...

Hideto hatte sich nicht mehr nach ihr umgedreht und raste so schnell er konnte an den Menschen auf der Straße vorbei. Fast kam er sich wie ein Sprintläufer vor... Dennoch hatte wieder nur ein Gedanke in seinem Kopf Platz: Tetsu, sowie die Frage: Was sage ich ihm dann eigentlich, wenn ich ihn gefunden habe? Doch dann fand er, dass er sich darum immer noch Sorgen machen konnte, wenn er seinen Freund gefunden hatte. Um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, versuchte er immer wieder noch schneller zu rennen, als er es ohnehin schon tat. Während er so durch die Straßen rauschte, sah er sich ständig nach alles Seiten um, fand Tetsu aber nicht. Er rannte immer weiter in die Innenstadt des Ortes, legte ab und zu eine kleine Verschnaufpause ein, bei der er wieder richtig Luft holen konnte, und suchte unermüdlich weiter. Er wollte ihn unbedingt finden, und wenn er dazu Stunden bräuchte! Es war ihm egal...

Wie lange Hideto nun wirklich schon unterwegs war, als er am Stadtpark ankam und wieder eine Pause einlegte, wusste er nicht. Mit hektischen Augen sah er sich um und da entdeckte er ihn endlich! Erleichtert atmete der Blonde auf und lächelte keuchend. Tetsu saß allein auf einer der unzähligen Bänken, starrte in die Gegend und konnte Hideto nicht sehen, der ihm den Rücken zugekehrt hatte. Zumindest hatte das den Vorteil, dass der Schwarzhaarige nicht abhauen konnte, bis Hideto ihn erreicht hätte. Der Gedanke, sich von hinten an ihn heranschleichen zu müssen, gefiel ihm dennoch nicht besonders. Aber so, wie es nun einmal aussah, hatte er keine andere Wahl.

"Tetsu?", fragte eine Stimme nach dem Ausreißer und dieser sah erstaunt auf. Es war nicht Hideto, der ihn da angesprochen hatte und der Blonde sah ebenso verwundert zu dem fremden Jungen, der neben der Bank stand und grinste. Sein erster Eindruck? Er konnte ihn absolut nicht leiden... Trotzdem war Hideto zu überrumpelt, um auf die beiden zu zugehen. Außerdem schien Tetsu den Jungen wirklich zu kennen, denn er lächelte etwas schüchtern. Vorsichtig schlich Hideto etwas näher, damit er auch etwas verstehen und diese ganze Sache beobachten konnte. Sicher, das war eigentlich nicht richtig, aber er konnte einfach nicht anders...

Hideto konnte sehen, wie Tetsu aufstand, nachdem er sich hektisch übers Gesicht gewischt hatte. "Mensch, das ist ja eine Überraschung...", der fremde Junge war näher gekommen. "Ja...", erwiderte Tetsu nur. Ganz offensichtlich war er mit der Situation gerade überfordert. Die beiden sahen sich einen Augenblick an, bevor sie sich wieder auf die Bank setzten. Weiterhin konnte Hideto im Blick seines Freundes Nervosität und Unbehagen sehen. Eine Weile verfolgte er das Gespräch und fand so heraus, dass dieser unbekannte Mensch Daisuke hieß und früher mit Tetsu in eine Klasse gegangen war. Wie es schien war dieser Daisuke mit seinen Eltern umgezogen, weil sein Vater versetzt worden war.

Während der Unterhaltung wurde Tetsu immer steifer und seltsamer. Irgend etwas stimmte nicht, das war offensichtlich. Nur schien dieser Daisuke nichts davon zu merken und das regte Hideto nur noch mehr auf. Wie konnte das sein!? Am liebsten wäre einfach zu ihm gegangen und hätte ihm die Faust ins Gesicht gerammt. Aber er hielt sich zurück... Nur konnte er diesen Jungen immer weniger leiden. Und das war noch die Untertreibung des Jahrhunderts. Er konnte sich nicht einmal selbst erklären, wieso er so eine Abneigung zu diesem Daisuke verspürte, es war nur so und er konnte nichts dagegen tun, selbst wenn er das gewollt hätte.

Doch dann, nach vielleicht einer halben Stunde, fiel eine Frage, die Hideto aufhorchen ließ. "Wie geht es dir denn eigentlich inzwischen? Ich habe seit dem Unfall nichts mehr von dir gehört...", erkundigte sich Daisuke. Ein wenig erschrocken und schockiert sah Hideto wieder genauer zu den beiden und stellte fest, dass Tetsu's Gesichtszüge nun vollends versteinert waren. Das Lächeln, das er zeigte, war hundertprozentig falsch und aufgesetzt. So schief hatte er ihn noch nie lächeln sehen... Nun hatte Hideto wirklich ein wenig Angst um seinen Freund und spielte mit dem Gedanken, einfach dazwischen zu gehen. Aber die Neugierde hielt ihn zurück. Ein Unfall? Was für ein Unfall meinte dieser Junge? Tetsu hatte so etwas bisher noch nie erwähnt, noch nicht einmal annähernd!

"Weißt du, es geht mir wirklich bestens.", log Tetsu, doch dieser Daisuke schien es zu schlucken, denn er freute sich über diese Antwort. Inzwischen bezweifelte Hideto, dass die zwei jemals eine andere Beziehung als Klassenkameraden gehabt hatten, denn nach einem alten Freund sah das wirklich nicht aus. Seltsamerweise fühlte sich Hideto dadurch irgendwie überlegen, es war eine Genugtuung... "Sicher, einfach ist es nicht, aber ich komme klar...", redete Tetsu weiter, bevor er schnell das Thema wechselte.

"Aber sag, was führt dich heute hierher?", erkundigte er sich bei Daisuke, "Ich mein, du hast dich ja ganz schön herausgeputzt..." Dieses Mal waren es Daisuke's Gesichtszüge, die erstarrten. "Oh, stimmt ja! Ich habe eine Verabredung und..." Tetsu's strenger Blick ließ ihn wieder verstummen. "Du hast ein Date und hängst lieber bei mir rum? Schäm dich, ein Mädchen einfach warten zu lassen! Los, los!" Hideto war vollkommen klar, was das sollte. Tetsu wollte ihn unbedingt wieder loswerden und es funktionierte. Schnell brauste Daisuke davon und Hideto hoffte, dass er ihn niemals wieder sehen musste.

Auch Tetsu atmete erleichtert auf und massierte seine Stirn ein wenig. Es war nicht schwer zu erkennen, dass er in diesem Moment mit den Tränen kämpfte. Dieser Idiot von Daisuke hatte ihn an etwas sehr unangenehmes erinnert. Kurz biss sich Hideto auf die Lippen und überlegte, ob er nicht vielleicht jetzt zu ihm gehen sollte. Doch was sollte er nun sagen? 'Hey, ich hab dich und diesen Typen gerade belauscht und das wegen vorhin... Ach, das war eigentlich nur ein Scherz, weißt du?' Nein, so taktlos war er dann doch nicht. Wahrscheinlich würde er sich eh nur noch eine weitere Ohrfeige einfangen und darauf hatte er nun wirklich keine Lust. Vielleicht sollte er einfach so tun, als wäre er gerade erst hier angekommen und hätte ihn eben erst entdeckt? Ja, das könnte vielleicht funktionieren...

Doch in eben diesem Augenblick stand Tetsu wieder von der Bank auf und lief weiter. Er schien immer noch mächtig neben sich zu stehen. Dass es etwas gab, das ihn so aus der Bahn werfen konnte, erschreckte Hideto doch. Seine Sorgen verschlimmerten sich nur noch einmal. Schnell schloss er sich ihm an und folgte ihm in eine er kleineren Seitengassen. Dort gab es auf einer Seite eine große Mauer, die mit allerlei Pflanzen behangen war. Tetsu ging diese Gasse eine Weile entlang, bevor er stehen blieb und sich an die Mauer lehnte. Dieser Anblick versetzte Hideto einen tiefen Stich in der Brust. Es tat richtig übel weh, ihn so zu sehen... Am liebsten hätte er ihn fest in die Arme geschlossen, aber das wäre sicher auch nicht richtig gewesen. Immerhin möchte Tetsu so engen Körperkontakt nicht... Wenn Hideto genauer darüber nachdachte, tat ihm schon allein dieser Gedanke ein wenig weh, doch er respektierte diesen Wunsch.

Das Schluchzen des Schwarzhaarigen stellte ihn dennoch auf eine harte Probe. Schon schlug Tetsu auf die Mauer ein, bis seine Hand blutete. Das war doch zu viel für den Blonden. Er ging schnellen Schrittes auf seinen Freund zu und kramte ein sauberes Taschentuch aus der Hosentasche hervor, fing die Hand auf, die wieder auf die unschuldige Mauer einschlagen wollte, wickelte das Taschentuch um die blutige Stelle und lächelte Tetsu kurz an. Dieser sah ihn nur verwirrt an und begann zu zittern. Es quollen noch mehr Tränen aus seinen Augen hervor und er verlor komplett die Beherrschung. Er schämte sich schon selbst dafür, so aufgelöst zu sein...

Einen Moment zögerte Hideto noch, bevor er beide Hände an Tetsu's Kopf legte und ihn zu sich zog. Sofort legte Tetsu den Kopf auf die Schulter des Blonden und weinte hemmungslos weiter, während er seine Finger in die Kleidung krallte. Zu mehr Körperkontakt traute er sich nicht, doch das reichte Hideto schon. Er wusste genau, dass Tetsu gern den Starken spielte und nicht gern vor anderen seine Gefühle offen zeigte. So gesehen war das ein großer Vertrauensbeweis und diese Tatsache erfüllte ihn ein wenig mit Stolz. Vorsichtig strich er durch das schwarze, seidige Haar, um ihn wieder zu beruhigen und um ihn wissen zu lassen, dass er bei ihm war.

"Tetsu...", begann er flüsternd, "Es tut mir wirklich leid wegen vorhin... Ich weiß, es war falsch! Aber trotzdem solltest du wissen, dass du jederzeit zu mir kommen kannst, wenn du ein Problem hat." Bei diesen Worte schluchzte Tetsu nur noch stärker auf. "Du kannst über alles mit mir reden, aber ich zwinge dich nicht, okay? Du musst schon von allein auf mich zu kommen..." Vorsichtig drückte er Tetsu von sich und sah ihn genau an. Unsicherheit spiegelte sich in den Augen des Anderen wider, aber auch ein wenig Hoffnung. Sacht strich Hideto ihm die nassen Stellen von den Wangen und lächelte aufmunternd. "Du bist immer noch mein Freund, hörst du? Mein bester Freund..."

Nun lächelte auch Tetsu wieder. Es war zwar nur ein schwaches Lächeln, aber es war ehrlich! Kurz nickte er und nahm das zweite Taschentuch, das ihm gerade von dem Blonden angeboten wurde, wischte sich die restlichen Tränen damit fort und atmete tief durch. "Danke...", nuschelte er verlegen und sah auf den Boden. Tetsu konnte gar nicht sagen, wie dankbar er gerade war, dass Hideto bei ihm war. Wahrscheinlich hatte er ihn soeben vor einem weiteren Anfall bewahrt - auch wenn er das höchst wahrscheinlich nicht einmal selbst wusste - und das würde er ihm niemals vergessen.

"Lass uns zurück gehen, ja? Und in aller Ruhe über alles reden...", schlug Hideto vor und Tetsu ging mit ihm. Den ganzen Weg über schwiegen sie, aber für keinen von beiden war ein unangenehmes Schweigen. Es war eher dieses Gefühl, dass sie sich auch ohne Worte verstanden, dass es keine Worte brauchte... Diese Vertrautheit war schon beinahe unheimlich.

Als sie vor ihrer Zimmertür standen, räusperte sich Tetsu kurz und sah Hideto ernst an. "Danke, dass du da warst...," begann er zögerlich, "Aber denk nicht, dass ich dir diese Grabschattacke deshalb schon verziehen habe..." Er grinste etwas unsicher. Sicher meinte er diese Aussage ernst, aber irgendwie war es nicht mehr so sauer und aufgebracht wie vorhin. Seine Wut war wie weggeblasen... Hideto nickte nur kurz und grinste ihn ebenfalls an. "Das dachte ich auch nicht...", meinte er und hielt ihm die Tür auf. Lächelnd ging Tetsu hinein und die Tür schloss sich.

#12: Ein Hoch auf das Wörterbuch

Es war Wochenende und die Klassenfahrt nach Okinawa war inzwischen zwei Wochen her, als Tetsu eines Morgens wieder an diesen einen Tag zurückdenken musste. Er hatte gerade erst geduscht und saß mit einem Hemd und einer Hose bekleidet auf seinem Stuhl. Das Handtuch hatte er sich um den Hals gelegt und rieb die Haare damit etwas trocken, während er Hideto beim Schlafen beobachtete. Das schlafende Gesicht des Blonden sah so sanft und friedlich aus. Tetsu entdeckte immer mehr Ähnlichkeiten zwischen seinem Freund und einem Engel. Auch an jenem Abend in ihrem Hotelzimmer war ihm das aufgefallen - an dem Tag, an dem sein Schritt ungewollt Bekanntschaft mit Hideto's Hand gemacht hatte und an dem er selbst später völlig unerwartet seinem alten Klassenkameraden Daisuke begegnet war. Ein ziemlich seltsamer und ereignisreicher Tag, wenn er jetzt so darüber nachdachte...

Tetsu erinnerte sich noch genau an diesen Abend, als Hideto ihn auf der Straße wieder aufgesammelt und getröstet hatte. Wie aus dem Nichts war er bei ihm aufgetaucht und hatte ihn vorsichtig in den Arm genommen. Fast, als hätte er Tetsu um Hilfe schreien hören. Irgendwie war er ihm wirklich dankbar dafür. Dafür, dass er einfach nur zur richtigen Zeit bei ihm gewesen war... Später im Zimmer hatte sich Hideto dann wieder für sein eigenes Verhalten zuvor entschuldigt und Tetsu hatte ihm genau ansehen können, wie leid es ihm tat. Allein der Gesichtsausdruck des Blonden hatte Bände gesprochen, als er an Tetsu's Bett auf dem Boden gekniet und ihn von unten schuldbewusst angesehen hatte. Zwar hatte sich Tetsu ein wenig geärgert, dass er ihm nicht einmal einen Tag lang hatte böse sein können, doch er hatte ihm verziehen. Und Hideto hatte ihn wieder angelächelt... Dieses Lächeln war Tetsu mittlerweile so viel mehr wert als beinahe alles andere. Er hatte sich sehr darüber gefreut, es wieder zu sehen...

Als Hideto dann aber seinen Kopf auf sein Bein gelegt hatte, hatte sich Tetsu zunächst ein wenig erschrocken. Doch dann hatte er sich überlegt, dass das nicht weiter schlimm war, solange es nur beim Bein blieb - und solange Hideto seine Finger für sich behielt. Wieder hatte er sich an sein Versprechen sich selbst gegenüber erinnert, dass er körperlichen Kontakt wieder Stück für Stück zulassen wollte. Außerdem, hatte er sich gesagt, hatte Hideto das sicher auch nur deshalb getan, weil Tetsu ihm seit ein paar Minuten durchs Haar gekrault hatte. Er hatte es sich natürlich nicht nehmen lassen, ihn weiter ein bisschen zu streicheln. Immerhin hatte es ausgesehen, als wäre es beiden nicht gerade unangenehm gewesen. Schnell hatte sich Tetsu eingestehen müssen, dass er es sogar sehr gern mochte, mit den Fingern durch das gebleichte Haar zu fahren. Es war so wunderschön, hatte er sich noch dabei gedacht, passend zu Hideto's Rücken - ein Engel mit blondem Haar. Wenn er jetzt daran dachte, dass er dabei sogar etwas Herzklopfen bekommen hatte...

Kurz trocknete sich Tetsu das Haar weiter ab, sah 'seinen Engel' weiter an - welcher seelenruhig weiter schlief - und wurde bei dem Gedanken an den weiteren Verlauf ihres Gesprächs nachdenklich und betrübt. Er verstand immer noch nicht, wie so etwas möglich war, wie man ihm das hatte antun können. Traurig schüttelte er den Kopf. Einen Moment lang musste er überlegen: Wie waren sie noch gleich auf dieses Thema gekommen? Ach ja, Hideto hatte gefragt, ob es ihm denn wieder etwas besser gehe, weil er auf der Straße angeblich so durcheinander und zerbrechlich gewirkt hatte. Nach einem kurzen Seufzer hatte er ihn beruhigen können und gesagt, dass er nur an etwas nicht ganz so angenehmes erinnert worden war. Daraufhin hatte er ein bisschen mehr über den Unfall seiner Eltern erzählt - ein Verkehrsunfall mit einem LKW, der Eisenstangen geladen hatte. Da diese nicht ausreichend gesichert gewesen waren, hatten sie sich in voller Fahr selbstständig gemacht und das Auto der Ogawas getroffen. Dabei hatte eine der Stangen seinen Vater geköpft und eine weitere hatte seine Mutter aufgespießt. Nur dass er sich selbst die Schuld an dem Unglück gab, hatte er verschwiegen.

Wieder schüttelte Tetsu den Kopf, versuchte das Bild wieder aus seinem Kopf zu verbannen. Er wollte nicht schon wieder wegen dieser Geschichte weinen. Schlimm genug, dass ihm die Tränen auch an jenem Abend, an dem er Hideto davon erzählt hatte, über die Wangen gelaufen waren. Zugegeben, es war schon irgendwie süß gewesen, wie der Blonde ihm die Tränen wieder von den Wangen gewischt hatte, aber... Er errötete allein bei dem Gedanken daran wieder - und bei dem Gedanken an das, was er Hideto danach mit einem kleinen Lächeln gesagt hatte: "Aber etwas Gutes hat es doch... Ohne diesen Unfall hätte ich dich schließlich nicht kennen gelernt." Hideto hatte ihn erst überrascht, dann verlegen angesehen. "Mag sein...", hatte er gemurmelt, "Aber wenn ich an die Alternative denke... Sie haben dich sicher sehr geliebt."

Bei diesen Worten hatte Tetsu etwas aus seiner Stimme heraushören können, das ihn beunruhigt hatte. Er hatte nicht genau sagen können, was es nun genau war... Verachtung? Verbitterung? Schmerz? Er wusste es immer noch nicht richtig zu deuten, doch was immer es auch gewesen sein mochte, es hatte Tetsu dazu veranlasst, ihn nach seinen Eltern zu fragen. Bisher hatte er nur erfahren, dass Hideto allein lebte - nicht mehr und nicht weniger. Hideto hatte eine ziemlich lange Weile geschwiegen und in die Gegend gestarrt, Tetsu hatte schon Angst bekommen, etwas falsches gesagt zu haben. Gerade hatte er die Frage wieder zurück nehmen wollen, da hatte Hideto leise geseufzt und sich mit zu ihm aufs Bett gesetzt.

Wieder bekam Tetsu feuchte Augen, als er daran dachte, was Hideto ihm erzählt hatte. Diesen Blick und seine genauen Worte würde er wohl sein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen. Sicher nicht... "An meine Mutter kann ich mich nur noch ganz verschwommen erinnern. Sie hat mich und meinen Vater verlassen, da war ich vielleicht vier Jahre alt oder so. Vielleicht ist sie sogar mit einem Jüngeren durchgebrannt, keine Ahnung. Ist mir auch egal..." Die Gelassenheit und Gleichgültigkeit, mit der Hideto das gesagt hatte, hatte ihn richtig erschreckt, vor allem noch dieses Schulterzucken.

"Sie... hat euch im Stich gelassen?", hatte Tetsu leise nachgehakt, als Hideto wieder verstummt war. Daraufhin hatte sich auf dessen Lippen ein bitteres Lächeln abgezeichnet, als er genickt hatte. "Ja, so kann man es auch nennen...", hatte er geantwortet. Einem schnellen Gedanken folgend hatte Tetsu nach einer Hand seines Freundes gegriffen und sie fest gedrückt. "Das tut mir leid...", hatte er geflüstert und auf ihre Hände gestarrt. Beinahe hätte er sogar wieder angefangen zu weinen... Ob nun bewusst oder unbewusst, Hideto hatte genau das verhindert, indem er den Händedruck erwidert hatte. "Nun tu mal nicht so, als wär das deine Schuld...", hatte der Blonde ihn wieder warm angelächelt. Tetsu wusste immer noch nicht genau warum, aber Hideto's Lächeln war verdammt ansteckend. Ihm war gar keine andere Wahl geblieben, als ebenfalls wieder zu lächeln.

Nach einer Weile hatte sein Schweigen wieder gebrochen und von seinem Vater erzählt. Auch diese Worte würde Tetsu niemals wieder aus seinen Erinnerungen löschen können, das wusste er. "Meinem Vater hat sie damit das Herz gebrochen.", hatte Hideto wieder leise angefangen, "Anfangs hat er noch versucht, mir wenigstens ein guter Vater zu sein. Das ging ein paar Jahre gut, bis er dann dem Alkohol verfallen ist. Zuerst konnte ich mich allenfalls darüber beschweren, dass er nachts zu laut war und ich nicht schlafen konnte, aber dann wurde er gewalttätig..." Hier hatte er eine kleine Pause gemacht und Tetsu hatte einfach nur seine Hand ein wenig fester gedrückt. Er hätte nicht gewusst, was er hätte sagen sollen, wenn er denn überhaupt dazu fähig gewesen wäre. Immerhin hatte Hideto ihn dadurch wieder ein bisschen angelächelt, wenn auch traurig, dafür aber genauso dankbar...

"Mit ein paar Ohrfeigen fing alles an...", in diesem Moment waren Tetsu wirklich wieder Tränen in die Augen gestiegen und er hatte seinen Blick wieder auf ihre Hände gerichtet, "Ich konnte ihm nichts mehr recht machen und es wurde schlimmer und schlimmer. Bis es mir dann gereicht hat und ich ausgezogen bin..." Da Tetsu seine Stimme immer noch gut unter Kontrolle gehabt hatte, hatte er gefragt, was genau Hideto's Vater getan hatte. Das Seufzen, das der Andere daraufhin von sich gegeben hatte, hatte ihm einen heftigen Stich mitten ins Herz versetzt und schnell hatte er seine Neugierde verflucht. Liebend gern hätte er seine übereilte Frage wieder zurückgezogen, doch selbstverständlich war das alles andere als möglich gewesen.

"Er hat... mich geschlagen und getreten. Überall, nur nicht ins Gesicht, damit man es nicht sieht. Vorzugsweise in den Magen...", hatte Hideto nach ein paar Sekunden mit seiner Erzählung begonnen, "Ich hatte einige blaue Flecke und Blutergüsse von ihm... Ich habe immer behauptet, ich wäre hingefallen oder hätte mich gestoßen oder sonst was... Dann nahm er noch irgendwann den Gürtel zu Hilfe. Einmal ist er auch mit einer kaputten Glasflasche auf mich los. Ein andern Mal hat er mir so aufs linke Auge geschlagen, dass mein Lid dort immer noch etwas tiefer hängt als das andere. Ist dir sicher schon aufgefallen... Ich kann wohl froh sein, dass ich dort überhaupt noch was sehen kann." Wieder hatte Hideto einen Moment lang geschwiegen und mit dem Daumen über Tetsu's Hand gestichen. "Ich hatte ihm auch ein paar Knochenbrüche zu verdanken, vor allem die Rippen. Einmal auch der linke Arm. Das merk ich heute noch, wenn ich ihn zu stark belaste."

Wieder hatte Hideto alles so gleichgültig erzählt, es hatte Tetsu förmlich den Hals zugeschnürt. Gegen die Tränen hatte er nicht mehr angekämpft, es hätte eh keinen Sinn gemacht. Eine seiner Tränen war auf Hideto's Hand getropft und der Blonde hatte ihn etwas genauer angesehen, hatte die feuchten Stellen auf Tetsu's Wangen entdeckt. Zum zweiten Mal an diesem Abend hatte er sie vorsichtig wieder weggewischt. "Du weinst doch jetzt nicht etwa um meinetwegen?", hatte er noch gefragt, "Das musst du wirklich nicht..." Tetsu hatte kurz genickt und versucht, seine Stimme wiederzufinden. "Es ist nur...", hatte er ganz leise angefangen, "Ich versteh nicht, wie man so etwas seinem eigenen Kind antun kann, wie man es überhaupt jemandem antun kann! Und ich versteh nicht, wieso ich jetzt deshalb weine und nicht du..."

"Ich habe schon vor langer Zeit aufgehört, deshalb zu weinen. Nun fang du nicht damit an, ja? Das ist es nicht wert...", hatte Hideto freundlich gemeint und ihm mit der noch freien Hand übers Haar gestrichen, "Es ist doch inzwischen eh vorbei..." Irgendwie hatte Tetsu das wieder beruhigt und er hatte sich das Gesicht wieder komplett trocken gerieben. Trotzdem hatte er Hideto's Kopf einfach wieder auf seinen Schoß gedrückt. Er hatte eben noch ein wenig durch sein Haar streicheln wollen und Hideto hatte auch keinerlei Anstalten gemacht, das zu verhindern. Wieder war Tetsu die Ähnlichkeit mit einem Engel aufgefallen und zum ersten Mal hatte er ihn in Gedanken seinen 'persönlichen, kleinen Engel' genannt. Wie er darauf gekommen war, wusste er nicht recht, doch als er Hideto jetzt auf seinem Bett friedlich vor sich hinschlummern sah, kam ihm dieser Gedanke wieder...

Hideto, Tetsu's persönlicher Engel... Der Schwarzhaarige schüttelte erneut den Kopf. Was war nur mit ihm los? Leicht frustriert strich er sich durch sein nasses Haar. Und prompt war er in Gedanken wieder bei jenem Abend und musste etwas lächeln, auch wenn ihm die Fortsetzung ihrer Unterhaltung immer noch Kopfzerbrechen bereitete. Nach einer Weile, in der sie gar nichts mehr gesagt hatten, hatte ihn Hideto wieder angesprochen und doch tatsächlich gefragt, warum Tetsu ihn immer 'Hideto' nannte. Tetsu hatte ihn nur verwirrt angeblinzelt. "Weil das dein Name ist?", hatte er unsicher geantwortet, woraufhin Hideto leise gelacht hatte. "Okay, warte. Ich vormulier die Frage anders.", hatte Hideto sich anschließend deutlicher ausgedrückt, "Was ich nur wissen wollte, ist... Warum benutzt du keine Spitznamen für mich? Ich meine, ich nenn dich nun auch schon eine Weile lang 'Tet-chan'..." Was hätte Tetsu dazu großartig sagen sollen? Die Wahrheit war, dass er noch nie so richtig darüber nachgedacht und er einfach keinen Spitznamen für den Blonden hatte. Genau das hatte er ihm auch erklärt und auf den Vorschlag hin, er solle ihn doch 'Hide' nenne, so wie die meisten anderen auch, hatte Tetsu nur den Kopf geschüttelt.

"Sei nicht böse, aber ich mag diesen Namen nicht sonderlich...", hatte er ganz ehrlich gesagt und versprochen, ein wenig darüber nachzudenken. Vielleicht würde er ja noch etwas Passendes finden und wenn es soweit war, hatte er gesagt, würde er ihm sofort Bescheid sagen. Hideto hatte sich damit zufrieden gegeben und sich bis zum Abendessen weiter kraulen lassen. Die restlichen Tage der Fahrt waren relativ ruhig vorüber gegangen. Sie hatten sich die Stadt auf eigene Faust ein wenig angesehen und dabei eine kleine Shoppingtour veranstaltet. Wie oft hatte Hideto versucht, ihn an noch einem Buchladen vorbei zu locken, weil sie schon in so vielen gewesen waren? Ohne Erfolg, versteht sich... Sie hatten all die anderen Klassenausflüge in Museen und sonstige Ausstellungen brav mitgemacht und waren am Tag vor der Abreise im Stadtpark etwas spazieren gegangen, bevor sie sich dort eine Weile ins Gras gelegt hatten. Tetsu dachte noch oft und sehr gern an diese Tage zurück...

Nur bei der Sache mit dem Spitznamen war er bisher immer noch nicht einen Schritt weiter gekommen. So sehr er seinen Kopf auch anstrengte, ihm wollte einfach nichts einfallen, das auch wirklich zu Hideto passen würde - bis auf diese eine Sache... Aber daran, Hideto künftig nur noch 'Engel' oder 'Engelchen' zu nennen, wollte er gar nicht erst denken. Somit fing er also wieder bei null an... Was musste Hideto auch unbedingt einen Spitznamen haben wollen? Von allein hätte Tetsu doch nie darüber nachgedacht... Ein Name hatte seiner Meinung nach herzlich wenig mit der Persönlichkeit eines Menschen zu tun. Hierzu fiel ihm auch immer wieder gern das Zitat der Julia ein: 'Was ist denn schon ein Name?' Es stimmte doch, eine Rose würde immer noch genauso duften, auch wenn man sie nicht mehr 'Rose' nannte...

Wieder fiel sein Blick auf Hideto, der sich im Schlaf ein wenig bewegte. Wieder lächelte Tetsu. Wenn es Hideto glücklich machen würde, würde er ihm eben einen Spitznamen suchen, nahm er sich wieder mit mehr Elan vor, und wenn es das Letzte sein würde, was er tat. Im Moment aber wollte er seine Englischhausaufgaben endlich hinter sich bringen und griff zum Wörterbuch, sowie zu seinem Textbuch und schlug leise die richtige Seite auf. Er hatte bereits die Hälfte des Textes durchgelesen, als er das Wörterbuch versehentlich mit dem Ellenbogen vom Tisch stieß. Erschrocken versuchte er noch, es aufzufangen, doch er war zu langsam und mit einem dumpfen Geräusch schlug es auf dem Boden auf. Schnell warf er Hideto einen Blick zu - so hatte er ihn eigentlich nicht wecken wollen - doch zum Glück schlief der Andere wie ein Stein.

Erleichtert atmete Tetsu auf und wollte das Wörterbuch wieder aufheben, hielt dabei jedoch kurz inne und starrte auf die obere Ecke der Seite, die ganz zufällig aufgeschlagen war. Ein Wort, das dort groß und fett abgebildet war, hatte sein Interesse geweckt. Vorsichtig hob er das Buch auf, ohne dabei die Seite zu verblättern und es eine Weile schweigend an. Dort stand es groß und breit: hide. Eben der Spitzname, den alle für Hideto verwandten. Und schon war Tetsu wieder bei diesem Thema angelangt... Ein lautloser Seufzer folgte und einen Moment überlegte Tetsu, bevor er sich die Erläuterung genauer ansah. Erste Bedeutung, 'hide' als Substantiv: Haut oder Fell. Augenblicklich musste er an Hideto's Rücken und dessen Tattoo denken. Zweite Bedeutung, (to) 'hide' als Verb: (sich) verbergen, verstecken oder verheimlichen. So gesehen passte auch das wieder, überlegte Tetsu. Hideto verbarg so viel vor anderen Menschen, seinen wahren Charakter, sein Lächeln, seine Erinnerungen und seinen Schmerz - zumindest sah Tetsu das so...

Dennoch, der Gedanke, ihn auch 'Hide' zu nennen, wie jeder andere eben auch, wollte ihm einfach nicht schmecken. Wenn schon einen Spitznamen, dann wollte er etwas eigenes für seinen Freund finden... Gerade wollte er das Wörterbuch also wieder zuschlagen, als ihm etwas anderes ins Auge stach. Er hatte ganz vergessen, dass englische Wörter auch englisch ausgesprochen werden mussten. Natürlich, das war es doch! Er würde denselben Namen verwenden, nur würde er ihn vollkommen anders aussprechen. Diese Idee war genial und er sah sich die Aussprache genauer an: ha-i-do. Haido. Na also, damit hatte er seinen Spitznamen doch gefunden! Tetsu freute sich wie ein kleines Kind und hätte Hideto nicht immer noch friedlich neben ihm geschlafen, hätte er einen Freudenschrei ausgestoßen. Er war so froh, endlich etwas gefunden zu haben...

Ein paar Minuten später kam Tetsu sogar noch ein weiterer Gedanke: Gab es nicht auch noch eine Version mit Ypsilon? Hyde statt Hide? Er glaubte, sich dunkel an ein solches Wort oder einen solchen Namen erinnern zu können. Aber würde das denn auch im Wörterbuch stehen? Tetsu bezweifelte es und zog daher lieber seinen PC und das Internet zurate. Schnell war auf einer der unzähligen Suchmaschinen das Wörtchen 'Hyde' eingegeben und schon hatte er seine Antwort: Dr. Jekell und Mr. Hyde. Der Hydepark in London. Nun war er sich vollkommen sicher, Hideto würde von ihm den Spitznamen 'Hyde' bekommen, sobald er aufwachte. Außerdem sah das doch mit Ypsilon eh viel schöner aus als mit I...

Nach einer weiteren halben Stunde hatte Tetsu seine Hausaufgaben endlich erledigt und fragte sich langsam, wie lange Hideto nun eigentlich noch schlafen wollte. Langsam wurde es doch Zeit zum Essen, das Frühstück hatte er ihn schon verpassen lassen... Vorsichtig trat er an den Rand seines Bettes, wo Hideto sich in die Decke eingewickelt hatte, und kniete sich davor. "Haido...", sprach er ihn leise mit seinem neuen Namen an und strich ihm wieder durchs Haar. Hideto murrte leise und vergrub das Gesicht tiefer im Kissen. "Komm schon, es wird langsam Zeit aufzustehen!", drängte Tetsu weiter und spielte mit den hellen Strähnen.

Hideto aber dachte nicht einmal im Traum daran, aufzustehen, wenn er so schön gekrault wurde. Er hatte sich schon so daran gewöhnt... Sehr zu seinem Bedauern wich das Kraulen aber schnell einem anhaltenden Stupsen hinter sein Ohr. "Ich kann auch allein Mittag essen, nur wirst du dann auch heute Abend nicht von mir kriegen...", drohte Tetsu nun und Hideto sah ihn verschlafen an. "Wie gemein...", nuschelte er leicht angesäuert und gähnte. "Nörgel nicht, sondern komm endlich...", seufzte Tetsu, bevor er mit einem leichten Grinsen "Haido..." hinzufügte. Der Angesprochene sah ihn jedoch überrascht an. "Haido?", fragte er verwirrt und konnte die Fragezeichen in seinen Augen förmlich spüren. Tetsu aber strahlte ihn fröhlich an und nickte vergnügt. "Ich hatte vorhin einen Geistesblitz, was deinen Spitznamen angeht...", verriet er schmunzelnd und erzählte ihm, wie er darauf gekommen war. Hideto freute sich sichtlich und auf die Frage, ob ihm sein Name denn überhaupt gefalle, nickte er eifrig und bedankte sich.

"Weißt du, ich wäre dir auch sehr dankbar, wenn du mein Bett nicht den ganzen Tag in Anspruch nehmen würdest...", erwiderte Tetsu gespielt sauer und zog ein Schnütchen, während er Hideto's Nase mit dem Finger leicht anstupste. Dieser gab sich geschlagen und schlug die Decke zurück, während er sich aufrecht hinsetzte und sich streckte. Tetsu musste kurz schlucken, denn er hatte ganz vergessen, dass Hideto am Vortag mit freiem Oberkörper ins Bett gegangen war. Nun starrte er unverwandt auf die perfekte Brust vor ihm und schämte sich gleichzeitig dafür. Verlegen stand er auf und setzte sich direkt hinter Hideto, so dass er die Flügel 'seines Engels' näher betrachten konnte. Wieder fuhr er die schwarzen Linien vorsichtig mit den Fingern nach und war froh, dass die Prügeleien, die Hideto früher bezogen hatte, keine bleibenden Spuren hinterlassen hatten - jedenfalls nicht auf dem Rücken.

Als Hideto klar geworden war, was Tetsu vorhatte, hatte er die Augen geschlossen und sich ganz auf die Fingerspitzen auf seiner Haut konzentriert. Jedesmal, wenn Tetsu das tat, bekam er Gänsehaut und verspürte diesen leichten, angenehmen Schauer überall. Er genoss es immer wieder aufs Neue und bekam dabei immer öfter Herzklopfen. Fast wünschte er sich schon, Tetsu würde das täglich machen, doch das behielt er lieber für sich. Über die Schulter hinweg sah er seinen Freund an, beobachtete, wie dieser ihm mit verträumtem Blick auf den Rücken sah. "Du scheinst wirklich einen Narren daran gefressen zu haben...", flüsterte der Blonde lächelnd. Etwas überrascht sah Tetsu zu ihm auf, schaute dann verlegen zu Seite und sah ihn dann mit dem Blick eines Kindes an, das dabei erwischt wurde, wie es etwas Böses getan hatte, bevor er ganz leicht nickte. "Schlimm...?", fragte er fast schon ängstlich, doch Hideto schüttelte gleich den Kopf. "Nein...", antwortete er sanft, "Es freut mich..."

#13: Gewagte Rettungsaktion

Frustriert und sichtlich mies gelaunt schlurfte Hideto durch die Straßen. Die Hände hatte er tief in die Hosentaschen gestopft und seinen Blick hielt er stur auf den Boden gerichtet. Man konnte an dem kalten Wind, der durch die Stadt fegte, deutlich sehen, dass es bereits Herbst war. An diesem recht späten Nachmittag hatte er sich nach langer Zeit einmal wieder auf den Weg zum Treffpunkt der 'Cats' gemacht, weil er sonst nicht wusste, wohin mit sich. Genervt kickte er ein unschuldiges Steinchen weg, seufzte anschließend und strich sich durch die blonden Strähnen. Eigentlich war er nur unterwegs, um der erdrückenden Leere seiner Wohnung zu entkommen. Normalerweise wäre er nicht einmal dort gewesen, doch seit einer Woche konnte er nicht mehr zu Tetsu. Und warum? Eine Katze! Eine verdammte Katze hatte ihn vertrieben! Er hätte sie am liebsten erwürgt und anschließend im Ofen verbrannt. Wohlwissend, dass Tetsu das nicht besonders gefallen hätte, hielt er sich jedoch zurück. Wahrscheinlich würde er dann Hausverbot auf Lebenszeit bekommen... Wegen einer dummen, kleinen Katze! Ernsthaft, jedesmal, wenn er daran dachte, könnte er kotzen.

Und um sich nun auf andere Gedanken zu bringen, war er nun hier. Seufzend betrat er den Innenhof und sah sich um. Kaum jemand schien hier zu sein, doch das war nichts Ungewöhnliches. Dieses Haus war zwar quasi das Hauptquartier, aber das hieß nicht, dass man jederzeit hier sein musste. Tatsächlich konnte man sogar so lange wegbleiben, wie man wollte. Masanori gab allen Mitgliedern gewisse Freiheiten und dafür liebten sie ihn. So hatte er ihre Loyalität erworben, auch Hideto's. In der Zwischenzeit hatte sich hier kaum etwas verändert, doch das tröstete ihn nicht wirklich. Er ließ sich gegen eine Wand fallen, rutschte auf den Boden und setzte sich dort hin. Sein Blick fiel auf das Bild, das ihm gegenüber auf die Wand gemalt war. Mehrere Katzen auf einem Haufen, mehr oder minder im Comicstil. Ein leichtes Lächeln schlich sich nun doch auf seine Lippen. Masanori hatte ihn damals damit beauftragt und voller Eifer war er an die Arbeit gegangen. Ja, diese Katzen waren sein Werk und er liebte sie.

Doch schon im nächsten Moment musste er wieder an das kleine, getigerte Wesen bei Tetsu denken, das eigentlich dessen Nachbarin gehörte. Wahrscheinlich konnte Hideto noch froh sein, dass Tetsu nur solange auf das Tier aufpassen sollte, wie die alte Dame im Krankenhaus war. Hilfsbereit, wie sein Tetsu nun einmal war, hatte er das natürlich gern übernommen. Und dennoch war diese ganze Geschichte ziemlich ernüchternd für den Blonden. Er hatte seit einigen Wochen schon nicht mehr bei sich in der Wohnung geschlafen - wenn, dann war er nur kurz etwas holen gewesen - und nun schaffte es so eine kleine, dumme, mauzende Flohschleuder mit ihrem 'Ach-schau-mal-wie-süß-ich-bin'-Blick, ihm seinen Platz bei Tetsu streitig zu machen. Das war alles in allem einfach nur deprimierend, demütigend und verdammt niederschmetternd. Er wunderte sich nur immer noch, dass er davon nichts mitbekommen hatte, bis sie am Nachmittag von der Schule nach Hause gekommen waren. Aber wahrscheinlich hatte er das Gespräch einfach verschlafen. Ja, das würde ihm wirklich ähnlich sehen...

Dafür war die Überraschung nach der Schule umso größer gewesen. Das leichte Jucken in der Nase hatte Hideto erst gar nicht richtig mitbekommen, bis es unerträglich geworden war. Und da war Tetsu auch schon mit der Katze auf dem Arm aufgetaucht. Vor Schreck hatte Hideto erst einmal geschrien. Den besorgten Gesichtsausdruck würde er niemals wieder vergessen können... Immer noch schockiert hatte er versucht, das kleine Wesen auf Abstand zu halten und Tetsu gleichzeitig zu erklären, dass er eine Katzenhaarallergie hatte. Schnell hatte sein Freund die Katze erst einmal wieder in ein anderes Zimmer gebracht, während Hideto schon angefangen hatte, sich die Seele aus dem Leib zu niesen. Beiden war klar gewesen, dass es so nicht hätte funktionieren können, und Hideto war wieder gegangen, nachdem er sich ein paar Male entschuldigt hatte. Nachdem er sich draußen auf dem Gehweg wieder einigermaßen erholt hatte, war die Einsamkeit das erste Mal in seine Knochen gekrochen, als ihm klar geworden war, wie lange sie sich nicht mehr wie gewohnt sehen würden. Seitdem war er sie nicht mehr wirklich losgeworden.

Just in diesem Moment schlich sie sich wieder in sein Herz und Hideto musste etwas schlucken. Leise grummelnd schloss er die Augen und lehnte den Kopf an die Wand hinter sich. Ohne irgend einen Einfluss darauf zu haben, wanderten seine Gedanken wieder zu Tetsu. Er fragte sich, wie es ihm wohl ging und ob er wenigstens ein bisschen vermisst wurde. Oh ja, das würde er nur zu gern wissen... Und zum x-ten Male wünschte er sich, wieder bei ihm sein zu können. Doch bevor er seinen Gedankengängen weiter freien Lauf lassen konnte, vernahm er ganz in der Nähe Schritte, die eindeutig in seine Richtung kamen. So blickte er auf und erkannte eine kleine Gruppe Cats. Er kannte sie alle nicht besonders gut, doch er wusste genau, dass Minako, eines der wenigen Mädchen unter ihnen, ihn nicht sonderlich gut leiden konnte. Warum auch immer, denn soweit er sich erinnerte, hatte er ihr nie etwas getan.

Dass sie nicht besonders auf ihn zu sprechen war, wussten irgendwie alle. Sie hatte daraus nie ein großes Geheimnis gemacht und er hatte sich stets Mühe gegeben, sie einfach zu ignorieren. Bisher hatte das auch immer recht gut funktionert, doch als sie ihn nun erblickte, ging sie direkt auf ihn zu - mitsamt ihrem Anhang. Kurz verdrehte der Blonde die Augen. Super, auf Stress hatte er gerade jetzt am allerwenigsten Lust. Einen Moment überlegte er, ob er nicht einfach aufstehen und wieder gehen sollte, ohne ein Wort mit ihr zu wechseln, doch er entschied sich dagegen. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde sie das als eine Art Sieg auffassen, so als wäre er vor ihr geflohen, und diesen Triumph wollte und konnte er ihr nicht lassen. Er hatte nun einmal auch seinen Stolz und den würde er sich von dieser Schreckschraube sicher nicht nehmen lassen. Leider hieß das in dem Falle auch: Augen zu und durch. Und hoffen, dass sie schnell den Spaß an der Sache verlieren würde...

"Na, sieh an, wer sich da mal wieder hier blicken lässt.", grinste sie, als sie bei Hideto angekommen war, "Was verschafft uns denn diese Ehre?" Kurz schnaubte Hideto auf, bevor er zu ihr aufsah. Ihr Blick sprach Bände, so herablassend hatte er sie noch sie schauen sehen. "Ich wüsste nicht, was dich mein Privatleben angeht.", antwortete er gelassen und sah dabei wieder weg. Er wusste, es würde sie ärgern, wenn er nicht auf ihr dummes Gerede ansprang. Schon früher war ihm aufgefallen, dass sie ein eher aggressiv angehauchter Mensch war und gerne mal Konfrontationen suchte. Das konnte er auch wieder ganz deutlich spüren, als sie auf seine Antwort reagierte. "Mag sein.", erwiderte sie schnippisch, "Aber meinst du nicht, du könntest dich hier ruhig öfter blicken lassen, wenn du immer noch dazugehören willst?" Hideto runzelte leicht die Stirn. "Wo steht denn bitte geschrieben, wie oft man sich blicken lassen muss, um 'dazuzugehören'?", konterte er abfällig. "Schonmal was von 'ungeschriebenem Gesetz' gehört?", fragte Minako, als würde sie das normalste der Welt erklären müssen.

In der Zwischenzeit hatte es Tetsu ebenfalls wieder nach draußen gezogen. Er fühlte sich unwohl. Nicht nur unwohl, regelrecht unvollständig. Irgend etwas fehlte ihm und er wusste ganz genau, was. Oder besser: 'Wer'. Seufzend sah er sich auf der Straße um und schlang die Arme fröstelnd um sich. Erst in den letzten paar Tagen war ihm aufgefallen, was für einen großen Teil Hideto in seinem Leben mittlerweile einnahm. Bisher hatte er es irgendwie als selbstverständlich angesehen, dass sie zusammen waren. Auch, wenn er sich das nie hätte träumen lassen... Sein 'Haido' hatte sich irgendwie bei ihm eingeschlichen und nun wollte er ihn auch irgendwie nicht mehr wieder hergeben. Hätte er gewusst, dass Hideto unter dieser Allergie litt, hätte er seine Nachbarin gebeten, jemand anderen zu fragen, ob er auf ihr Haustier achten könnte. Doch wie hätte er so etwas ahnen können? Diese ganze Geschichte tat ihm so furchtbar leid.

Der Tag heute war schrecklich gewesen. Das waren die anderen zwar auch gewesen, aber dieser hier war mit Abstand am schlimmsten. Er hatte eigentlich zu Hideto gehen wollen, damit sie wenigstens ein paar Stunden miteinander hätten haben können. Und ja, Tetsu gab zu, dass er auch ein wenig neugierig auf die Wohnung des Blonden war. Er hatte sich extra noch einmal gründlich gewaschen und frische Kleidung angezogen, bevor er losgezogen war. Doch er hatte umsonst bei Hideto geklingelt. Schlagartig war seine Vorfreude zusammengebrochen, wie ein Kartenhaus, das einen Windstoß abbekommen hatte. Mit hängendem Kopf war er wieder gegangen. Nun war er auf der Suche, auch wenn er sich nicht allzu große Hoffnungen machte. Zum einen war die Stadt einfach viel zu groß und zum anderen hatte er so absolut keine Ahnung, wo er überhaupt suchen sollte. Wo trieb sich Hideto denn so herum, wenn er nicht zu Hause oder bei Tetsu war? Damit war er wirklich überfragt. Und das ärgerte ihn. Kannte er den anderen denn wirklich so wenig?

So in seinen Gedanken lief er noch einige Zeit weiter durch die Straßen und blickte sich immer wieder nach einem hellen Haarschopf um. Er vermisste ihn so sehr. Und wieder erkannte Tetsu, wie wichtig er ihm doch war. Hideto war seit langer Zeit jemand, den er unter keinen Umständen verlieren oder hergeben wollte. Jemand, dem er schon mehr vertraute, als sonst einem anderen Menschen, den er kannte. Jemand, dem er vielleicht irgendwann einmal alles, wirklich alles erzählen könnte. Und auch, wenn der Gedanke, so viel über sich preiszugeben, wie gewohnt äußerst unangenehm war, tröstete es ihn andererseits, einen Menschen zu haben, bei dem ihm das egal sein könnte. Er wünschte sich, Hideto könnte bald dieser eine Mensch in seinem Leben sein. Kurz überlegte er, wann ihm das letzte Mal eine andere Person so wichtig gewesen war. Ihm fiel niemand ein. Absolut niemand. Höchstens seine Eltern, doch unter seinen alten Bekannten...? Nein.

Plan- und ziellos lief er weiter. Er lief weiter und suchte und suchte und suchte. Bald schon wäre er am liebsten mitten auf der Straße in Tränen ausgebrochen und hätte laut nach ihm geschrien, weil er ihn nicht finden konnte. Doch er riss sich tapfer zusammen und gab nicht auf. Er lief gerade an einer der großen Brücken vorbei, als die Erde unter ihm erzitterte. Kurz schrie er erschrocken auf und ging in die Knie, während er wartete, dass das Beben vorbei war. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit, bis sich die Erde wieder beruhigt hatte. Immer noch ganz verschreckt zog er sich auf seine zittrigen Beine und sah sich um. Sein Herz schlug ihm vor Angst und Aufregung bis zum Halse, seine Hände zitterten ebenso wie seine Beine und sein Atem ging unregelmäßig. Dies war das erste Erdbeben, das er miterlebt hatte. Vollkommen orientierungslos ließ er seinen Blick in die Gegend schweifen. Als er zu der Brücke neben sich sah, stutzte er einen Moment. Hing da etwa jemand? Kurz zweifelte er an sich selbst und sah noch einmal genauer hin. Und tatsächlich, da kämpfte jemand um Halt. Ohne groß nachzudenken, rannte er los.

Als er auf der Brücke an der Stelle ankam, an der er die Person vermutete, entdeckte er zusätzlich eine Art Seilgeflecht, das um das Geländer gewickelt war, und spähte über den Rand. Wie es schien, hatte man eine kleine Tragebühne selbst gebastelt und sich daran außen herabgelassen. Auf Tetsu allerdings wirkte diese Konstruktion äußerst instabil und wackelig, sodass er sich eine Sekunde lang fragte, welcher Idiot überhaupt auf so etwas steigen würde. Man konnte doch schon auf den ersten Blick erkennen, wie gefährlich eine solche Aktion wäre - auch ohne Erdbeben. Als er sich aber dem Idioten richtig zuwandte, ihm etwas zurief und dieser zu ihm aufblickte, wusste er es. Es war 'sein' Idiot, der das tun würde und nun dort unten hing. Einen Moment fluchte Tetsu, bevor ihn augenblicklich die Angst erfasste. Zum Glück hatte sich Hideto schon so weit wieder gefangen, dass er auf dem Brett saß und nicht unbedingt jede einzelne Sekunde zählte. Dennoch mussten sie sich beeilen, auch wenn sie nun mehr Zeit hatten, ihn in Sicherheit zu bringen.

Tetsu atmete einmal ordentlich durch und versuchte, sich zumindest einigermaßen zu beruhigen. Er brauchte unbedingt einen klaren Kopf. Diese Panik, die er spürte, war ihm dabei nur leider sehr im Weg. Es dauerte einen Moment, bis er sich wieder gefasst hatte. Er versuchte, sich bewusst zu machen, was geschehen würde, wenn er nun versagte. Hideto würde abstürzen und war dann nur noch Matsch. Er wollte aber keinen matschigen Hideto. Wieder beugte er sich zu ihm hinab. "Haido!", rief er ihm zu und streckte die Hand nach ihm aus, "Kannst du meine Hand erreichen?" Der Blondschopf in Nöten stellte sich vorsichtig auf das wackelige Brett, das den Boden der Tragebühne darstellte, und hielt sich zunächst an den Seilen fest, bis er eine Hand löste und nach der seines Freundes griff. Unglücklicherweise erreichte er sie nicht ganz, sodass sich Tetsu noch ein Stück weiter nach unten beugte. Doch auch dieses Mal sollte es ihnen nicht gelingen, sich zu erreichen.

Tetsu wurde klar, dass es so nichts bringen würde. Selbst, wenn sie sich erreichen würden, würde Tetsu's Halt nicht ausreichen, um sie beide nach oben zu ziehen. Viel wahrscheinlicher war es sogar, dass sie beide zu Tode stürzten. An sich hatte das zwar etwas leicht Romantisches an sich, dennoch lehnte er diese Möglichkeit entschieden ab. Noch einmal sah er sich um, doch weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, die ihnen hätte helfen können. "Kannst du an einem der Seile hochklettern?", richtete er sich wieder an Hideto und hielt ihm auf Seilhöhe wieder die Hände entgegen. Hideto nickte kurz und tastete sich vorsichtig zum Seil. Ein falscher Schritt und er würde den Halt wieder verlieren. Er hatte den Strick fast erreicht, da riss der zweite auf der anderen Seite. Erschrocken schrie Hideto auf und griff nach dem einzigen Halt, der ihm jetzt noch blieb. Wenige Sekunden später baumelte er umher und versuchte, den Schock zu verarbeiten, als er Tetsu wieder über sich rufen hörte. Langsam blickte er auf und sah in sein ernstes Gesicht.

"Komm hoch!", brüllte Tetsu ihn nun schon an. Das gerissene Seil hatte auch ihn nicht gerade kalt gelassen. Er hatte eine verdammte Angst. Sicher stand sie ihm ins Gesicht geschrieben. Es kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor, bis Hideto endlich zu klettern begann. Schließlich war Hideto so weit oben, dass er nach Tetsu's Hand greifen konnte. Mit der zweiten Hand wollte Tetsu ihn unter der Achsel stützen, doch natürlich musste das zweite Seile in genau diesem Augenblick auch noch reißen. So schnell er konnte, packte er Hideto irgendwo mit der zweiten Hand und stieß ungehalten einen Fluch aus. Langsam verlor er den Halt und rutschte ein wenig ab. Wieder waren beide Jungen für einen Moment geschockt, sodass sie sich ängstlich in die Augen sahen. Kurz darauf traten Tetsu die Tränen in die Augen. Warum genau, wusste er selbst nicht einmal. Er versuchte nur verzweifelt, sie beide endlich in Sicherheit zu bringen. Es war ein Wunder, dass es noch kein einziges Nachbeben gegeben hatte. Schlagartig wurde ihm wieder bewusst, dass sie sich beeilen mussten.

"Lass mich los!", forderte Hideto und sah ihn ernst an. Damit warf er Tetsu wieder aus der Bahn. "Was?", war das einzige, was er heraus bekam. "Du sollst mich loslassen!", wurde Hideto etwas lauter und versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. "Spinnst du!?", schrie nun auch Tetsu ihn an, "Dann bist du tot." Doch Hideto hörte nicht auf, sich gegen seinen Griff zu wehren, sodass Tetsu nur noch mehr Panik bekam. "Haido, ich mein das ernst. Wehe, du lässt dich fallen.", zischte er ihn an. "Besser einer als alle beide, oder?", entgegnete Hideto wieder, "Außerdem würde mich doch eh keiner vermissen." Wieder sah Tetsu ihn sprachlos an. "Sag mal, jetzt bist du vollkommen durchgeknallt, oder? Was meinst du, warum ich dir gerade versuche zu helfen, du Arsch!", wetterte Tetsu los. Nun gab es kein Halten mehr. "Ich schwöre dir, Hideto Takarai, wenn du dich jetzt fallen lässt, komm ich hinterher. Dann sehen wir uns in der Hölle und ich reiß dir deinen verdammten Hintern auf! Und das wird nicht lustig, hast du mich verstanden!? Und jetzt komm endlich hier hoch!"

Hideto schwieg weiter, sah ihn nicht an. Doch er hatte zum Glück aufgehört, sich zu wehren. Somit zog Tetsu wieder an ihm und es dauerte nicht lange, bis sich Hideto dazu durchrang, von allein weiterzuklettern. Es kostete ihre ganze Kraft, doch schließlich konnte sich Hideto über den Rand der Brücke rollen. Sie fielen auf den Boden und waren völlig außer Atem, doch sie hatten es geschafft. Sie hatten es tatsächlich geschafft. Vor Erleichterung musste Tetsu gleichzeitig lachen und weinen, doch nach nur kurzer Zeit hatte er sich wieder beruhigt und setzte sich auf. Hideto saß ihm gegenüber und blickte stur und stumm auf den Boden. Einen Moment betrachtete er ihn, bevor er ihn ansprach. Noch während Hideto den Kopf langsam anhob, holte er mit der Hand aus und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Überrascht sah der Geschlagene ihn an, unfähig etwas zu sagen, und hielt sich die schmerzende Wange. "Das war dafür, dass du überhaupt sowas gefährliches machst!", verkündete Tetsu ernst.

Die nächste Ohrfeige war nicht ganz so doll, doch Hideto's Wange glühte immer noch. Wieder ließ er den Blick sinken. "Das war dafür, dass du wirklich dachtest, es würde dich niemand vermissen.", flüsterte Tetsu mit einem traurigen Unterton, "Warum hab ich mir denn die Füße nach dir wund gesucht?" Nun brannten auch Hideto's Augen. Er versuchte, die Tränen zurückzuhalten und nicht zu schluchzen. "Und das...", setzte Tetsu fort. Unwillkürlich zuckte Hideto zusammen und schloss die Augen. Er machte sich auf weitere Schläge gefasst, doch diesmal berührte Tetsu ihn sanft mit beiden Händen an den Wangen, strich ihm leicht darüber und gab ihm einen Kuss auf das Haupt. "... ist dafür, dass es dich gibt und dafür, dass du noch bei mir bist. Aber vor allem ist es für dich." Nun war alle Mühe vergebens. Die Tränen quollen nur so hervor, rannen sein Gesicht hinab und hinterließen eine warme Spur auf der Haut. "Scheiße...", murmelte er leise und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, "Scheiße, Scheiße..."

#14: Das Spiel mit dem Feuer

"Scheiße.", fluchte Hideto immer wieder leise vor sich hin und rieb sich die Augen. War das zu fassen? Er saß hier und heulte wie ein kleines Baby. Das wirklich Schlimme daran war aber, dass er nicht mehr aufhören konnte. Er konnte es aus irgend einem Grund nicht. Die Tränen flossen nur immer weiter und schon bald begann er ungewollt zu schluchzen. Er kam sich so unendlich bescheuert vor. Dabei wollte er doch alles andere als schwach erscheinen. Doch je mehr er versuchte, sich wieder zu beruhigen, desto mehr steigerte er sich hinein. Tetsu brach es beinahe das Herz, ihn so zu sehen. Er wollte ihn irgendwie trösten, doch wusste er in seiner Hilflosigkeit nicht, wie er das anstellen sollte.

"Tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe, obwohl ich doch weiß...", flüsterte er leise. Dabei streckte er die Hand nach ihm aus, zögerte aber ihn zu berühren und zog sie wieder zurück. In diesem Moment schüttelte Hideto schon den Kopf. "Das...", setzte er an, bekam seine Stimme jedoch nicht unter Kontrolle. Frustriert strich er sich wieder über die Augen und Stirn und zwang sich, ordentlich und ruhig zu atmen.

"Das ist es nicht.", brachte er seinen Satz schließlich mit immer noch brüchiger Stimme zuende.
 

"Was ist es dann?", wollte Tetsu wissen und sah ihm direkt ins Gesicht. Hideto zuckte nur leicht mit den Mundwinkeln und schüttelte erneut den Kopf.

"Keine Ahnung, wie ich das erklären soll...", murmelte er vor sich hin und blickte auf den Fluss hinaus.

"Versuch es einfach?", schlug Tetsu nach einer kleinen Weile an. Hideto zuckte nur mit den Schultern. Doch als er nach den richtigen Worten suchte, begann alles wieder von vorn. Die Tränen rannen ihm die Wangen hinab und sein Atem wurde wieder unregelmäßiger. Diesmal zögerte Tetsu nicht. Er rückte ein wenig näher an seinen Freund heran und strich ihm leicht durch das helle Haar. Da überkam es Hideto, sich einfach in seine Arme zu werfen. Gerade noch rechtzeitig fiel ihm wieder ein, dass dies keine besonders gute Idee war und fing sich mitten in der Bewegung ab. Nur mit Mühe und Not konnte er sich eine Entschuldigung abringen. Dass sich Hideto selbst in einem so aufgelösten Zustand noch an Tetsus Probleme erinnerte, rührte diesen zutiefst. Er legte beide Hände an Hidetos Wangen, strich vorsichtig darüber und zog seine Stirn an die eigene. Er wollte ihm zeigen, dass er trotz allem für ihn da war und ihn - soweit er dazu überhaupt in der Lage war - trösten würde. Als Hideto schließlich damit begann, sich beim Weinen nach vorn zu krümmen, ließ er ihn den Kopf auf eines seiner Beine legen. Inzwischen war Hideto so zusammen gerutscht, dass er auf dem Weg lag. Vorsichtig ließ Tetsu seine Finger durch das lange Haar gleiten und verursachte bei Hideto so einen wohligen Schauer. Nach ein paar Minuten hatte er sich zum zweiten Male wieder beruhigt, blieb allerdings weiter liegen. Er genoss die Nähe, die Tetsu ihm auf seine ganz eigene Art und Weise zu schenken vermochte.
 

Er blieb so lange liegen, bis Tetsu ihm über den Arm strich und vorschlug, dass sie besser gehen sollten. Nickend richtete er sich wieder auf und murmelte eine Entschuldigung vor sich hin. Irgendwie machte Hideto noch immer einen sehr zerknitterten Eindruck, weshalb Tetsu sich einen Ruck gab und seine Hand ergriff.

"Komm...", lächelte er ihn wohlwollend an und zog ihn in Richtung ihrer Wohnungen. Hideto folgte ihm nur stumm und wühlte vor seiner Haustür den Schlüssel aus der Tasche. Doch noch bevor er aufschloss, wandte er sich an seinen Begleiter.

"Also... danke nochmal. Für alles.", murmelte er vor sich hin, ohne Tetsu dabei anzusehen.

"Darf ich nicht mit hochkommen?", erwiderte dieser zu überrascht, um genauer auf seine Worte zu achten. Einen Moment blinzelte Hideto ihn ebenso überrascht an.

"Doch!", hatte er seine Stimme nach nur wenigen Minuten wiedergefunden.

"Sicher darfst du. Es ist... nur nicht so toll da oben." Verlegen kratzte er sich am Kopf und sah wieder beiseite. Irgendwie schämte er sich nun doch für seine kleine Bruchbude. Andererseits sah Tetsu nun schon wieder so glücklich aus, dass er ihn gar nicht mehr abschieben konnte. Und eigentlich wollte er das auch gar nicht. Außerdem hatte er schon genug Nächte ohne ihn aushalten müssen - fand er jedenfalls. So schnell wie möglich öffnete er die Tür - nicht dass Tetsu es sich doch noch anders überlegte. Im Flur angekommen seufzte Hideto leise, hielt aber einladend einen Arm auf.

"Willkommen.", lächelte er etwas verlegen und schloss die Tür hinter ihnen wieder.
 

Neugierig sah sich Tetsu in der für ihn fremden Wohnung um. Bereits nach dem ersten Schritt fühlte er sich so bedrückt. Alles wirkte so kalt und herzlos. Aber vor allem wirkte es furchtbar einsam. Da wusste er, warum Hideto so selten hierher kommen wollte. Es war einfach kein richtiges Zuhause. Das hier waren nur ein paar kahle, kalte Wände. Mehr nicht. Er wusste irgendwie nicht, was er sagen sollte. Einerseits fand er es gänzlich unpassend, Hideto darauf aufmerksam zu machen - zumal er sicher selbst am besten wusste, wie dieser Ort wirkte - doch andererseits wollte er ihn auch nicht anlügen und etwas von 'schön' oder 'nett' faseln. Er überlegte weiter, als er hinter sich ein Räuspern hörte und drehte sich um.

"Also...", murmelte Hideto weiter und deutete in eine Richtung, "Mein Zimmer ist da hinten." Er zeigte ihm noch schnell das Wohnzimmer, das Bad und die Küche. Schließlich gingen sie gemeinsam in sein Zimmer und setzten sich dort auf das Bett. Zunächst waren sie beide ein wenig verklemmt und bekamen nur sehr stockend ein Gespräch zustande. Nach nur wenigen Minuten hielt Tetsu es jedoch nicht mehr aus.

"Haido...", sprach er ihn wieder an und blickte ihm direkt ins Gesicht. Doch als er sah, wie angeschwollen die Wange seines Freundes war, blieb ihm seine Frage im Halse stecken. Statt sie auszusprechen sah er ihn etwas erschrocken an.

"Scheiße...", murmelte er und rückte ein Stück näher an ihn heran, um sich das genauer ansehen zu können. Vorsichtig tastete er die Stelle ab, wobei Hideto leicht zusammen zuckte.

"So sehr hab ich doch gar nicht zugehauen.", wunderte er sich und sah schuldbewusst zu Boden, "Tut mir leid." Hideto schüttelte aber nur den Kopf.

"Ist schon in Ordnung.", versicherte er, "Schätze, ich hatte so etwas einfach mal nötig."
 

Statt zu antworten stand Tetsu vom Bett auf und suchte in der Küche nach etwas Eis. Da er allerdings nicht fündig wurde, schnappte er sich einen Lappen und hielt ihn unters kalte Wasser. Damit ging er zu Hideto zurück und drückte es ihm behutsam auf die Wange. Auch diesmal zuckte der Blonde ein klein wenig, sagte allerdings nichts dazu.

"Tut mir leid...", murmelte Tetsu wieder und sah ihn besorgt an.

"Es ist nicht so schlimm, wirklich.", wiederholte Hideto und lächelte. Tetsu nickte nur leicht, bevor er sich wieder erhob und den Raum verließ. Er kam mit einer kleinen Schüssel kaltem Wasser zurück und stellte sie neben dem Bett auf den Boden. So konnten sie den Lappen immer wieder abkühlen und frisch auf die Wange legen.

"Nun erklär mir mal bitte, was du eigentlich auf diesem Klappergerüst zu suchen hattest.", griff Tetsu seinen Gedanken von vorhin wieder auf, als er den Lappen wieder einmal frisch an die geschwollene Stelle drückte. Hideto seufzte nur schwer.

"Du wirst es für bescheuert halten.", murmelte er und sah beiseite, "Und wahrscheinlich wirst du noch wütender auf mich sein."

"Ich bin nich wütend auf dich.", erwiderte Tetsu leise, "Ich hatte nur einfach eine scheiß Angst um dich. Und als du dann auch noch wolltest, dass ich loslasse... und diese ganzen anderen Dinge gesagt hast, sind wohl irgendwie die Pferde mit mir durchgegangen." Schweigen machte sich zwischen ihnen breit, so dass Tetsu sich dafür entschied, einfach weiter zu sprechen.

"Du bist mir einfach sehr wichtig geworden.", erklärte er, "Das ist mir vor allem in den letzten Tagen aufgefallen. Allein bei dem Gedanken, dass du da heute ganz leicht hättest draufgehen können..." Nun war er es, der schwer seufzte und die Tränen zurückhalten musste.
 

"Entschuldige.", meldete sich Hideto nach einer kleinen Pause wieder zu Wort, "Ich war wohl zu viel mit mir selbst beschäftigt. Und zu tief im Selbstmitleid versunken." Er wandte ihm wieder das Gesicht zu.

"Es kommt nie wieder vor. Versprochen." Tetsu freute sich sichtlich und nickte.

"Schön zu wissen." Dann aber konnte er dem Drang, ihm ordentlich durch die helle Haarpracht zu wuscheln, nicht mehr widerstehen. Hideto protestierte einen kurzen Moment, ließ es schließlich aber zu und neigte den Kopf nach unten. Als Tetsu schließlich damit beschäftigt war, die Haare wieder zu richten, fing er an zu erzählen.

"Ich weiß, es war schwachsinnig, aber es sollte eine Art Beweis sein, dass ich noch zu ihnen gehöre." Für einen Moment war Tetsu verwirrt.

"Zu ihnen?", hakte er nach. "Die Cats.", erklärte Hideto, ohne dass er ihm dabei ins Gesicht sehen konnte, "Ich war heute dort, seit langem..."

"Jetzt sag mir nicht, dass sie das von dir verlangt haben!", empörte sich Tetsu, doch Hideto schüttelte den Kopf.

"Nicht 'sie'...", versuchte er die Situation zu beschreiben, "Es war nur eine von ihnen. Und sie hat es auch nicht direkt verlangt." Diesmal seufzte er genervt auf, legte den Kopf in beide Hände und raufte sich die Haare. Fluchend setzte er sich wieder auf.

"Ich bin so ein Trottel!", schimpfte er über sich selbst, "Ich hab mich von ihr provozieren lassen, obwohl ich doch genau weiß, dass sie mich nicht leiden kann." Kurz blinzelte Tetsu ihn an.

"Dann bist du tatsächlich ein Riesentrottel.", bestätigte er.

"Danke...", murrte Hideto, was Tetsu widerum schmunzeln ließ. Er tauchte den Lappen noch einmal ins kalte Wasser und wrang ihn anschließend aus, bevor er ihn ordentlich zusammengefaltet an die malträtierte Wange legte. Nur wenige Momente später berührte Hideto die Hand, die den Lappen festhielt.

"Ich hatte einfach das Gefühl, nirgendwo mehr erwünscht zu sein oder hinzugehören...", gab er zu, "Aber als du dann da oben standest, hat es mir glatt die Sprache verschlagen. Und dann... dann hast du all diese Dinge gesagt."

Kurz schüttelte er mit einem traurigen Lächeln den Kopf, bevor er fortfuhr: "Und irgendwie hat mich das dann so glücklich gemacht, dass ich einfach wie ein verdammtes Kleinkind heulen musste. Das hat mir viel bedeutet." Die beiden Jungen sahen sich einen Moment in die Augen, bis Tetsu das Stückchen Stoff in seiner Hand wieder beiseite legte und Hideto ernst ansah.
 

"Weißt du, das mag jetzt vielleicht seltsam klingen, aber eigentlich solltest du genau wissen, dass du deinen Platz bei mir sicher hast. Wenn ich von deiner Allergie gewusst hätte, hätte ich versucht, Nana woanders unterzubringen. Es tut mir leid." Hideto zuckte leicht mit den Schultern.

"Ist ja nicht so, dass mir das auf der Stirn geschrieben steht.", lächelte er, "Also mach dir da mal keine Gedanken." Tetsu nickte.

"Wie gesagt, du bist bei mir immer willkommen. Ich hab dich die Tage richtig scheiße vermisst, wenn ich ehrlich sein soll." Hideto presste die Lippen einen kurzen Moment aufeinander und nickte.

"Ich dich auch...", hauchte er ungewollt leise und kam ihm ein Stück näher, "Ich dich auch..." Noch bevor er richtig wusste, was er da tat, hatte er seine Hand an der Wange des anderen, die Augen geschlossen und ihre Lippen berührten einander sanft.

Tetsu selbst reagierte zunächst überhaupt nicht. Es war, als wäre er zu Stein erstarrt, er konnte sich keinen einzigen Zentimeter rühren. Er starrte Hideto nur mit überrascht aufgerissenen Augen an und konnte nicht recht glauben, was hier geschah. Mit einem Schlag hatte sich die ganze Situation verändert. Ihm wurde heiß und kalt zugleich, seine Gedanken überschlugen sich. Doch es dauerte nicht lange, bis sein Herz höher schlug und er überall ein leichtes Kribbeln spüren konnte. Fragen schossen ihm wirr und beinahe ungreifbar durch den Kopf. Träumte er? Oder passierte all das gerade wirklich? Wie war es nur dazu gekommen? Was sollte das alles? Warum tat Hideto das? Warum fühlte es sich so unbeschreiblich gut an? Und warum zur Hölle tat er immer noch nichts dagegen? Er sollte das doch eigentlich gar nicht zulassen, ihn von sich stoßen. Doch statt dessen schlossen sich nun auch seine Augen und er seufzte leise. Mehr noch, er begann sogar, den Kuss zu erwidern - und er wusste nicht, warum. Er tat es einfach, ohne weiter darüber nachzudenken. Dadurch wurde Hideto mutiger und er küsste ihn mit etwas mehr Nachdruck. Auch seine zweite Hand hatte bereits den Weg an Tetsu's andere Wange gefunden. Von dort aus wanderten beide ein klein wenig in Richtung Kinn und strichen mit den Daumen leicht über die Haut.
 

Als sie dann aber weiter zum Hemdkragen wollten, schreckte Tetsu auf. Er stieß Hideto von sich, so dass dieser beinahe vom Bett gefallen wäre, hätte er sich nicht halten können. Gleichzeitig sprang Tetsu auf und sah wie ein gehetztes Tier auf den anderen hinab. Panisch suchte er nach Worten, während er überrascht und fragend angesehen wurde.

"Ich...", stammelte Tetsu und gestikulierte planlos mit den Händen, "Ich... muss mal." Und schon im nächsten Augenblick war er aus dem Zimmer gestürmt und hatte sich im Bad eingeschlossen. Dort lehnte er sich mit immer noch wild klopfendem Herzen an die Tür und versuchte, sich irgendwie wieder zu beruhigen. Als ihm richtig bewusst wurde, was sie gerade getan hatten, hielt er sich die Hand vor den Mund und rutschte auf den Boden hinab. Gleich darauf begannen seine Hände zu zittern. Klasse! Das hatte er ja wirklich supter hinbekommen. Wie sollte er Hideto denn nun gegenüber treten? Und was hatte er sich nur dabei gedacht, auch noch darauf einzugehen? Aber ja, er hatte gar nichts gedacht. Er hatte sich einfach von allem treiben lassen. Er konnte... Er durfte doch niemanden so nah an sich heran lassen! Er durfte niemanden lieben. Nie wieder. Gott, er war ja so dumm! Gerade fing er an, vor Verzweiflung und Ratlosigkeit zu fluchen, als ihn Hidetos Klopfen von draußen erschrocken zusammen fahren ließ. Dieser versuchte nun schon zum fünften oder sechsten Mal, eine Antwort zu erhalten und war nun deshalb lauter geworden.

"Lass mich allein!", lautete sie nun. Doch Hideto was keinesfalls gewillt, dieser Bitte auch Folge zu leisten.

"Tetsu, es tut mir leid!", entschuldigte er sich aufrichtig, "Ich weiß nicht, was da in mich gefahren ist." Wieder erhielt er keine Antwort.

"Komm da raus, bitte!", flehte er. Nach einiger Zeit lehnte er den Kopf gegen die Tür und seufzte. Irgendwie lief heute sehr viel verdammt schief.

"Ich tu es auch nie wieder.", versprach er schließlich, "Tetsu, bitte!" Es dauerte wieder, bis Tetsu reagierte.

"Lass mich doch einfach nur für ein paar Minuten allein, ja?", rief Tetsu durch die Tür und Hideto gab sich geschlagen.

"Okay.", nickte er, "Okay..."
 

Für einen Moment blieb er noch vor dem Bad stehen, strich sich frustriert durchs Haar und ging schließlich ohne einen besonderen Grund, dafür aber mit einem leisen Fluch auf den Lippen ins Wohnzimmer. Dort ließ er sich auf dem Sofa nieder und vergrub den Kopf in den Händen.

Und wieder verfluchte er sich selbst, dass er ein solcher Volltrottel war und ihre Freundschaft - schon wieder - riskierte. Das wie vielte Mal war das nun eigentlich? Es fühlte sich wie das zehntausendste an... Wie konnte man auch so blöd sein und ein und dieselbe Grenze so oft überschreiten? Ob Tetsu ihm das je verzeihen würde? Konnte er ihm denn überhaupt noch glauben, dass nie wieder etwas geschehen würde? Konnte er ihm noch vertrauen? Wahrscheinlich nicht, sehr wahrscheinlich sogar. Hideto wusste doch ganz genau, dass an einem solchen Versprechen von nun an stets Zweifel lasten würden. Er wusste doch ganz genau, wie es sich anfühlte, wenn ein 'Ich tu es nie wieder.' gebrochen wurde, immerhin hatte er es selbst oft genug schmerzlich zu spüren bekommen.

Als er weiter so auf dem Sofa saß und sich den Kopf über alles zerbrach - die Vergangenheit, die Familie, die Situation eben oder was er nun tun sollte - bemerkte er, dass es furchtbar kalt im Zimmer war. Er fror und damit er wenigstens irgend etwas tat und nicht nur sinnlos herumsaß, stand er auf und ging zu dem kleinen Kamin in der Ecke. Er griff nach ein paar der größeren und kleineren Holzstücke und legte sie in die Öffnung. Mit Papier und dünnen Holzstreifen angefacht knisterte das Feuer schon bald gemütlich vor sich hin. Hideto blieb noch ein wenig davor hocken und starrte in die tanzenden Flammen, während er sich wieder in seinen Gedanken verlor. Erst Tetsu's Schrei, der von der Tür herrührte, holte ihn in die Gegenwart zurück und er drehte sich erschrocken zu ihm um. Er konnte gerade noch sehen, wie sich Tetsu an den Türrahmen klammerte und zitternd daran herabsank, während er mit aufgerissenen Augen zu ihm starrte.
 

Das war kein gutes Zeichen, erkannte Hideto sofort und sprang auf, um zu ihm zu eilen. Tetsu kauerte sich inzwischen mit dem ganzen Körper an den Rahmen und hatte die Hände an den gesenkten Kopf gepresst. Er zitterte noch stärker, atmete unregelmäßig und machte einen vollkommen abwesenden Eindruck. Hilflos stand Hideto vor ihm und wusste nicht, was er tun sollte. Wie auch? Er wusste ja nicht einmal, was eigentlich los war. Er entschied sich dazu, sich erst einmal vor ihn hin zu knien und ihn anzusprechen. Da bemerkte er, dass sich Tetsus Lippen immer wieder bewegten, als würde er etwas sagen. Oder eher murmeln. Er versuchte, es zu verstehen, beugte sich nur näher zu ihm hin.

"Was...?", fragte er kurz darauf, als er zugeben musste, dass er es eben nicht verstehen konnte. Nun tropften auch noch dicke Tränen von Tetsus Wangen herab, er fing an zu schluchzen und seine Finger krallten sich ins schwarze Haar. Das Zittern verstärkte sich sogar noch einmal und Tetsu krümmte sich wimmernd zusammen. Es tat Hideto in der Seele weh, ihn so zu sehen und nichts tun zu können.

"Hey...", versuchte er wieder, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und berührte eine seiner Hände. Augenblicklich warf sich Tetsu in seine Arme, sodass Hideto einen kleinen, erschrockenen Schrei ausstieß. Doch er versuchte, ihm irgendwie Halt zu geben und wich nicht einen Zentimeter von seiner Seite. Tetsus Arme waren nun um seinen Nacken geschlugen und er krallte sich in sein Hemd. Wieder sprach er so leise vor sich hin, dass er ihn nicht verstehen konnte. Hideto konnte sein Zittern am ganzen Körper spüren und hätte vor Hilflosigkeit am liebsten selbst losgeschrien. Doch er riss sich zusammen und konnte sich endlich dazu durchringen, die eigenen Arme auf seinen Rücken zu legen und ihn an sich zu drücken. Diese ganze 'Nicht-anfassen-Sache' stand doch sowieso noch zwischen ihnen, oder? Was hatte er also groß zu verlieren?
 

Er versuchte, ihn irgendwie zu beruhigen, sprach sanft auf ihn ein, versuchte ihm zu zeigen, dass er bei ihm war, und strich ihm über den Rücken. Dabei verschob er versehentlich das Hemd ein kleines Stück nach oben und seine Finger berührten die darunter befindliche Haut. Und Hideto stutzte. Er runzelte die Stirn und tastete gleich darauf vorsichtig noch einmal darüber - nur um sicherzugehen, dass ihn sein Tastsinn nicht im Stich gelassen hatte. Als er feststellte, dass er sich das nicht nur eingebildet hatte, bekam er ein mieses Gefühl. Ein ganz mieses Gefühl. Die Haut, die er da unter seinen Fingern spürte, schien alles andere als normal zu sein. Sie war uneben. Tatsächlich fühlte sie sich sehr vernarbt an. Und das auch nicht nur an einer Stelle, nein. Es war im Grunde egal, wohin er fasste. Er konnte einfach nicht anders, er musste nachsehen. So zog er das Hemd noch ein Stück höher und blickte über Tetsus Schulter hinab. Was er da sah, verschlug ihm mehr als nur die Sprache. Er musste schwer schlucken. Brandnarben. Überall. Sie schienen gar kein Ende nehmen zu wollen. Und mit einem Schlag wurde ihm so vieles klar. Warum Tetsu immer lange und dicke Kleidung trug. Warum er solche Berührungsängste hatte. Und warum er vor dem Sportunterricht immer schon umgezogen war, bevor alle anderen kamen. Oder warum er sich in einer der Toiletten umzog, wenn doch schon jemand da war. Einfach alles. Sein gesamtes Verhalten machte auf einmal Sinn. Einen wahrhaft schrecklichen Sinn, wie Hideto fand.
 

Tetsu wimmerte immer noch in seinen Armen. Nur, dass Hideto seine Worte jetzt verstehen konnte.

"Mach es aus. Mach es aus..." Und wieder wurde ihm mit einem Schlag klar, was los war. Das Feuer im Kamin war mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit kein sehr erfreulicher Anblick gewesen. Er versuchte, sich vorsichtig aus seiner Umklammerung zu lösen. Dabei wurde Tetsu nur wieder panischer. Um ihn zumindest ein kleines Gefühl der Sicherheit zu geben, gab er ihm ein Küsschen auf die Stirn und drückte kurz seine Hände.

"Ich bin gleich wieder da, keine Angst.", versicherte er ihm, bevor er so schnell wie möglich die Schüssel Wasser aus dem Zimmer holte und es in den Kamin kippte. Laut zischend ging das Feuer aus. Tetsu schrie. Tetsu schrie lauter und schriller als zuvor. Er hielt sich die Ohren zu und schrie immer wieder von neuem. Schnell hastete Hideto zu ihm zurück und nahm ihn wieder in die Arme, wiegte ihn ein wenig hin und her.

"Ist ja gut...", flüsterte er und strich ihm durchs Haar, "Es ist aus. Hörst du? Es ist aus. Du brauchst keine Angst mehr zu haben." Da sich Tetsu jedoch nur schwer davon überzeugen ließ, hob er ihn kurzerhand auf die Arme und trug ihn zurück in das Zimmer, in dem sie vorhin noch gesessen hatten. Er setzte sich mit ihm wieder aufs Bett, behielt ihn im Arm und sprach weiter auf ihn ein.
 

Tetsu erlebte derweil die Hölle auf Erden. Erinnerungen und Bilder stürzten erbarmungslos auf ihn ein. Der Ausflug, der See, das Lagerfeuer, das leise vor sich hin geknistert hatte. Er spürte wieder den Pullover auf seiner Haut, den er an jenem Tag getragen hatte. Er spürte wieder, wie sich das Feuer durch seine Haut fraß, sah die erschrockenen Gesichter seiner alten Schulkameraden vor sich. Er hörte wieder die Schreie der anderen. Sein eigener hallte ihm wie damals in den Ohren wider. Er spürte wieder die Angst in den Knochen. Die Panik, die damals von ihm Besitz ergriffen hatte. Und genau wie damals drehte sich alles um ihn herum. Schließlich überrollte ihn die Erinnerung an den Schmerz, der auch dann noch angehalten hatte, nachdem er in den See gesprungen war. Alles hatte gebrannt, so furchtbar gebrannt... Und dieses schreckliche Zischen! Er hörte die Sirenen des Krankenwagens wieder, sah den Notarzt und schließlich den Arzt aus dem Krankenhaus über sich gebeugt. Dann sah er sein Krankenhauszimmer mit den weißen Wänden und der weißen Bettwäsche. Die Schwestern und ihre widerlich mitleidigen Blicke immer, die besorgten Gesichter seiner Eltern und schließlich die Anstalt. Die Anstalt, die ihn beinahe noch viel wahnsinniger gemacht hätte, als er bereits gewesen war. Tetsu wusste genau, dass all das bereits hinter ihm lag und nur Erinnerungen waren, doch es war alles so real, als hätte er eine Zeitreise gemacht. Sie hielten ihn fest, dachten nicht einmal daran, ihn wieder gehen zu lassen. Mehr noch, sie erdrückten ihn, so dass ihm kaum etwas anderes übrig blieb, als in sich hinein zu weinen. Solange, bis er sich in einen leichten Schlaf geweint hatte.
 

Hideto hatte vergeblich versucht, auf irgend eine Weise zu ihm durchzudringen. Tetsu hatte ihn einfach nicht gehört, ganz gleich, was er gesagt hatte. Er hatte es irgendwie gar nicht erst mitbekommen. Dementsprechend erleichtert war er auch, als er merkte, dass Tetsu eingeschlafen war. Er schlief zwar sehr unruhig, doch immerhin zitterte und weinte er vorerst nicht mehr. Behutsam legte er ihn ins Bett und deckte ihn zu, bevor er sich neben das Bett auf den Boden setzte, damit er ihn im Auge behalten konnte. Es dauerte auch nicht mehr lange, da schien Tetsu einen Alptraum zu haben. Er verzog das Gesicht und wurde noch unruhiger, daher entschied sich Hideto dazu, ihn besser aufzuwecken. Er sprach ihn wieder leise an und nahm vorsichtig seine Hand. Den Arm zu berühren, getraute er sich nicht mehr. Tetsu schreckte auf und sah sich ängstlich um. Sogleich tat Hideto sein möglichstes, ihm irgendwie begreiflich zu machen, dass er in Sicherheit war, dass ihm nichts geschehen konnte und dass er gerade nur geträumt hatte. Zwar sah Tetsu noch ziemlich durcheinander und mitgenommen aus, doch er nickte verstehend. Seufzend legte er den Kopf in seine Hände und schüttelte den Kopf.

"Tut mir leid...", murmelte er und blickte aus dem Fenster. Wieder breitete sich tiefes Schweigen zwischen den beiden aus.

"Tetsu...", meldete sich Hideto wieder zu Wort, woraufhin er müde und traurig angesehen wurde, "Ich denke, du solltest wissen, dass ich deine Narben vorhin gesehen habe."
 

"Oh...", war alles, was Tetsu darauf erwiderte.

"Aber das war keine Absicht. Das... ist einfach passiert.", beteuerte Hideto schnell und hoffte inständig, diese zufällige Entdeckung würde nicht alles noch weiter zerstören. Tetsu nickte nur so leicht, dass man es kaum sehen konnte. Sonst tat er absolut nichts, außer weiter im Bett zu sitzen und Löcher in die Gegend zu starren.

"Tut mir leid...", murmelte Hideto wieder, "Ich wollte nur ehrlich sein." Diesmal schüttelte Tetsu ebenfalls kaum merklich den Kopf, bevor er ihm den Blick wieder zuwandte.

"Mach dir keine Gedanken.", sagte er mit leiser, hauchdünner Stimme, "Ich wollte zwar nicht, dass jemand davon erfährt, aber seien wir doch mal realistisch. Ich hätte das nicht mein ganzes Leben lang vor allen verstecken können. Und vor allem nicht vor dir." Diesmal war es Hideto, der nur leicht nickte.

"Geht es dir denn jetzt wieder besser? Zumindest irgendwie...?", erkundigte er sich zurückhaltend, "Ich hatte gerade echt 'ne scheiß Angst um dich."

"Es geht mir gut.", nickte Tetsu und seufzte kurz, "Es geht mir gut. Es war nur... Es kam einfach alles wieder hoch. So plötzlich... Aber es geht mir gut." Er nickte noch ein paar Mal und wiederholte immer wieder, dass es ihm gut gehe - so als müsste er sich selbst erst von der Richtigkeit seiner Aussage überzeugen.
 

Einer inneren Eingebung folgend griff Hideto nach Tetsu's Hand, sah ihm dabei jedoch nichts ins Gesicht.

"Darf...", setzte er seine Frage unsicher an, "Darf ich dich in den Arm nehmen? Ich meine, es gibt ja nun nichts mehr vor mir zu verstecken, oder? Nichts mehr, was ich noch erfahren könnte." Tetsu seufzte nur wieder tief und zog seine Hand zurück.

"Lieber nicht." Das musste Hideto erstmal ertragen. Er hatte nicht wirklich mit Ablehnung gerechnet und so war es wie ein Schlag ins Gesicht.

"Ist es wegen dem Kuss vorhin?", wollte er dennoch wissen. Tetsu schüttelte erneut den Kopf.

"Das liegt nicht an dir. Es ist mir nur einfach unangenehm, ganz egal, wer es ist. Das hat absolut nichts mit dir zu tun.", erklärte er.

"Tut es denn weh?", sorgte sich Hideto. Ein weiteres Kopfschütteln.

"Nein, das auch nicht. Ich mag es nur nicht sonderlich. Jede Berührung erinnert mich daran, dass ich entstellt bin." Nun sah Hideto ihn nur fassungslos an.

"Das stimmt doch gar nicht! Du bist nicht entstellt." Tetsu aber schnaubte nur kurz verächtlich.

"Natürlich bin ich das. Oder als was würdest du einen Menschen mit einem Haufen Narben sonst bezeichnen?", murrte er.

"Genau so. Einen Menschen mit einem Haufen Narben, sonst nichts weiter.", erwiderte Hideto trotzig, kam dabei so in Fahrt, dass er nicht mehr wirklich darauf achtete, was er sagte.

"Du bist nach wie vor wunderschön! Und wenn das keiner außer mir so sieht, dann sind die anderen alle Idioten! Keiner hat das Recht, meinen Freund zu beleidigen, auch du nicht. Also sei bloß Still!"
 

Damit war Tetsu einen Moment lang vollkommen überrumpelt und sprachlos. Er starrte ihn mit offenem Mund an.

"Das meinst du doch nicht ernst?", fragte er zum Teil skeptisch, zum Teil unsicher. Hideto verschränkte nur die Arme.

"Doch. Glaub mir, das meine ich so ernst, wie noch nie etwas anderes in meinem Leben." Kurz lachte Tetsu leicht hysterisch auf und schüttelte wieder den Kopf. Er wusste nicht richtig, wie er sich nun fühlen sollte. Einerseits war er beinahe zu Tränen gerührt und hätte - wieder mal - heulen können, doch andererseits fand er all das absolut absurd und lächerlich.

"Das ist doch Schwachsinn!", hielt er schließlich an seiner Meinung fest und starrte auf einen imaginären Punkt im Zimmer, "Ausgemachter Blödsinn! So etwas kann man nicht wunderschön finden. Niemals. Das ist nur hässlich und abstoßend. Aber nicht einmal annähernd schön." Auch er war trotzig und sah ihn wieder mit einem Blick an, der deutlich zeigte, dass er sich nicht so einfach umstimmen lassen würde. Damit waren sie zwei sture Trotzköpfe in einem Zimmer, die sich gegenseitig nicht wirklich verstehen konnten.
 

"Ich liebe dich.", überraschte Hideto ihn letztendlich. Ungläubig sah Tetsu ihn an und lief Gefahr, ihn schon wieder mit offenem Mund anzustarren.

Diesmal jedoch kam er nicht weiter zu Wort, da Hideto einfach ohne Pause weiter redete: "Ich weiß nicht, ob du mir das glaubst oder ob du das überhaupt ernst nimmst, aber es ist so. Ich erwarte auch nicht, dass du da jetzt irgendwie drauf reagierst - ignorier es ruhig, wenn du willst. Du wirst das sicher eh nicht genauso für mich empfinden, aber ich möchte etwas erklären. Und vor allem möchte ich nicht, dass du weiterhin glaubst, du seist nicht liebeswert. Sorry, aber das ist ausgemachter Blödsinn! Einfach nur Blödsinn. Ich meine, ich liebe dich dafür, dass du genau so bist, wie du nun einmal bist. Für deine Art, einfach für alles. Dafür, dass du immer da bist und dass du dich um mich kümmerst und dass du dir Sorgen machst. Ich war so glücklich, als du vorhin da warst. Ich bin doch sowieso immer nur glücklich in deiner Gegenwart. Es tut mir gut. Und dafür liebe ich dich. Und dass ich nun weiß, wie du unter deinem Hemd aussiehst, ändert daran nicht das geringste. Wer auch immer dich danach beurteilt, ist ein hirnverbrannter Vollidiot. Auf so jemanden musst und solltest du auch gar nichts geben. Du bist ein wunderbarer Mensch, bitte glaub mir das."
 

Stille kehrte wieder in den kleinen Raum ein, bis Tetsu schließlich begann wie verrückt den Kopf zu schütteln.

"Das ist nicht dein Ernst.", murmelte er von fast apatisch.

"Doch, mein voller!", erwiderte Hideto sofort.

"Das ist doch Schwachsinn!", wurde Tetsu wieder lauter, "Warum zur Hölle solltest du mich lieben!? Dazu gibt es keinen Grund. Gar keinen!" Schließlich sprang er vom Bett und lief im Zimmer herum.

"Natürlich gibt es den.", versuchte Hideto etwas sanfter auf ihn einzugehen, "Es gibt sogar mehr als nur einen. Ich habe dir doch gerade welche genannt." Doch Tetsu hörte nicht auf ihn. Er lief nur weiter kopfschüttelnd und scheinbar planlos herum. Mit einem überforderten Seufzer drehte sich Hideto richtig zu ihm.

"Tetsu, vergiss einfach, was ich gesagt habe. Nicht alles, aber den Teil mit dem Lieben. Mach da ein 'Ich mag dich.' oder sowas draus. Okay? Vergiss es einfach. Es war eh nicht so wichtig. Ich weiß doch, dass ich damit allein dastehe." Da blieb Tetsu stehen. Er stand mit dem Rücken zu ihm, starrte wieder die Wand an und sagte keinen einzigen Ton. Diese Stille zerrte so langsam ganz schön an Hidetos Nerven. Er war nicht sicher, ob er das alles noch lange so durchstehen würde.
 

Schließlich ergriff Tetsu doch wieder das Wort.

"Und wie stellst du dir das vor?", murrte er, "Wie soll ich das jetzt wieder vergessen?" Hideto schloss einen Moment leise seufzend die Augen und versuchte, die richtigen Worte zu finden.

"Gut, dann vergiss es nicht.", antwortete er letztlich, "Aber sieh es einfach als unwichtig an. Es ist ja auch unwichtig." Doch auch diesmal schüttelte Tetsu den Kopf, drehte sich allerdings langsam zu ihm.

"Das Wort 'Liebe' ist nie unwichtig, Hideto. Es eine viel zu hohe Bedeutung, als dass es unwichtig sein könnte. Du hast es doch auch nicht ohne Grund benutzt, oder?"

"Natürlich nicht.", entgegnete Hideto wieder, "Ich meine ja auch nur, dass es für uns unwichtig ist. Für... unsere Freundschaft. Für die Zukunft. Oder hab ich jetzt echt alles kaputt gemacht?" Tetsu überlegte eine Weile, bis er mit den Schultern zuckte.

"Ich weiß es nicht.", murmelte er leise, den Blick stur gen Boden gerichtet. Er fühlte sich seltsam leer. So, als wäre die Welt zusammen gebrochen und er hätte alles verloren, was für ihn jemals eine Bedeutung gehabt hatte. Als hätte nichts mehr auch nur den geringsten Sinn. Es war eigenartig. Und auch Hideto hätte nicht gewusst, wie er seine Gefühlswelt in diesem Augenblick hätte beschreiben sollen. Halb vorm Wutschrei krampfte er sich zusammen und hätte sich am liebsten selbst in die Fresse geschlagen. Aggressionen und Hass kochten in ihm auf. Hass auf sich selbst. Hass auf sich selbst, der nur noch größer wurde, als Tetsu mit ein paar knappen Abschiedsworten nach Hause verschwand.
 

Lange hielt er es allein in seiner Wohnung nicht aus. Die Stille war so erdrückend, dass er es nicht ertragen konnte. Ja, er hatte sogar den Eindruck, er könne jeden Moment durchdrehen. Schließlich verließ er das Haus fluchtartig und suchte irgend eine Art von Zerstreuung. Es war ihm völlig gleich, was es sein sollte. Er wollte sich nur ablenken lassen, egal wie. Es dauerte nicht lange, da hatte er etwas gefunden. Er traf auf ein paar zwielichtig wirkende, junge Männer. Ihm war irgendwie alles vollkommen egal. Er provozierte die kleine Gruppe so sehr, dass es zur Schlägerei kam. Hideto wusste, dass er dort nicht unbescholten wieder herauskommen konnte, doch das wollte er auch gar nicht. Nein, im Gegenteil: Sie sollten ihn ordentlich vermöbeln.

#15: Der Tag danach

Er war wieder da und stand nun vor Hidetos Wohnungstür. Warum er nun hierher zurückgekommen war, wusste er selbst nicht recht. Irgend etwas hatte Tetsu wieder hierher gezogen. Ja, es tat ihm leid, dass sie so auseinander gegangen waren. So hatte er sich das schließlich nicht gedacht - wie denn auch? Wer wollte sich schon mit seinem besten Freund streiten? Es war alles so absurd, so unfassbar. Er wollte das alles nicht und doch waren sie nun in dieser Lage. In dieser verflucht verzwickten Lage... Immer wieder stellte er sich die Frage, wie sie da wieder herauskommen sollten. Und ihm wollte partout nichts einfallen. Ihm wollte ja nicht einmal einfallen, was er ihm nun sagen sollte, wenn sie sich gleich gegenüber stehen würden. Nicht ein einziges Wort. Es mussten ja nicht die richtigen Worte sein, aber irgend etwas? Sollte er ihm sagen, dass es ihm leid tat? Aber dann? Was dann? Irgend etwas musste doch aus seinen verwirrten Hirnwindungen zu holen sein. Tetsu atmete noch einmal tief durch, strich sich dabei nervös durch die Haare. Schließlich kratzte er alle Überwindungskraft, die er finden konnte, zusammen und klopfte an die Tür. Dabei bewegte sich diese leise quietschend und verblüfft stellte er fest, dass sie bereits offen war. Einen Moment runzelte er die Stirn und überlegte. Hatte er sie etwa vorhin offen gelassen?
 

Mit klopfendem Herzen öffnete er sie ganz und ging ein paar Schritte in den Flur hinein. Die Wohnung wirkte ebenso dunkel und kalt wie zuvor. Nein, sogar noch dunkler und kälter, sodass er am liebsten wieder aus der Tür gestürzt wäre. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, ein wirklich ungutes Gefühl. Gänsehaut bildete sich in seinem Nacken und zog sich den gesamten Rücken hinab. "Hideto?", fragte er vorsichtig in den Raum hinein. Er achtete extra darauf, ihn nicht mit seinem Spitznamen zu rufen, um zu zeigen, dass immer noch ein ernstes Problem zwischen ihnen stand. Wahrscheinlich hatte er ihn auch deshalb vorhin nicht Haido genannt. Doch er entschied sich besser dafür, nicht weiter darüber nachzudenken - zumal er auch keine Antwort erhalten hatte. Keine einzige. Null Reaktion. Er lief weiter und wagte einen Blick ins Wohnzimmer. Dort war niemand drin. Tetsu drehte sich um und rief weiter nach ihm, nur diesmal lauter. Immer noch herrschte Stille und dieses flaue Gefühl in der Magengegend verstärkte sich weiterhin. In der Hoffnung, Hideto schneller zu finden, klapperte er ein Zimmer nach dem anderen ab und blieb schließlich in der Tür zur Küche stehen.

"Hideto...?", flüsterte er verstört in Richtung des Körpers, der da regungslos am Boden lag. Ja, das war eindeutig Hideto, der dort lag. Die blonden Haare waren nicht zu verkennen, auch wenn es auf der Welt sicher noch viele andere blonde Menschen gab. Zwar konnte er sein Gesicht nicht sehen, da es zur anderen Seite gerichtet war, doch er fragte sich, wieso er am Boden lag und sich verdammt nochmal nicht bewegte. Innerlich schon total hysterisch stieg er über ihn hinweg und kniete sich zu ihm. Sein Gesicht war von den Haaren verdeckt, er konnte kaum etwas erkennen. So versuchte er, sie ihm aus dem Gesicht zu streichen, doch seine Hände zitterten. Sie zitterten stark und er konnte sich kaum auf etwas konzentrieren. Als er es schließlich doch endlich irgendwie hinbekommen hatte, schrak er zurück.

"Oh mein Gott...", flüsterte er immer wieder. Ab und zu verirrte sich ein "Nein." oder ein "Nein, bitte nicht." darunter. Er schlug sich völlig durch den Wind die Hand vor den Mund und spürte die Tränen über seine Wangen laufen. Nur einmal getraute er es sich, ihn wieder anzusehen, und schluchzte nur wieder tief auf, als ihn zwei tote Augen anstarrten. Er steigerte sich weiter hinein und irgendwann schrie er nur noch. Er schrie und schrie, hatte das Gefühl, nie wieder damit aufhören zu können.
 

Von seinem eigenen Schrei geweckt saß Tetsu im Bett und schrie weiter. Es dauerte, ehe er bemerkte, dass er in seinem eigenen Zimmer war. Noch länger dauerte es, bis er realisiert hatte, dass alles nur ein Traum gewesen war und er zumindest aufgehört hatte, zu schreien. Das Zittern blieb weiter. Vollkommen durcheinander stand er auf und schleppte sich ins Bad, um sich ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. So weit war es nun also schon gekommen. Er träumte von Hidetos Tod. Seufzend blickte er zum Spiegel auf und beobachtete die Wassertropfen, die sein Gesicht hinab rannen. Kein Zweifel, dieser Traum hatte mit Hidetos Geständnis zu tun. Nicht einmal vierundzwanzig Stunden war es nun her. Noch immer wirkte es so unwirklich. So, als sei es gar nicht passiert. So, als wäre alles wie immer. Als hätte sich nichts verändert. Und doch war nun alles so anders. Tetsu wusste nur immer noch nicht, wie er damit umgehen sollte. Sollte er so tun, als sei nichts gewesen und einfach alles, was vorgefallen war, ignorieren? Oder sollte er vielleicht doch besser auf Abstand gehen? Er wusste sich einfach keinen Rat. Doch eines wusste er dafür umso besser: Ganz gleich, was er tun würde, er würde Hideto damit verletzen. Nicht, dass er das nicht auch so schon getan hätte...
 

Seufzend schloss er die Augen und lehnte sich mit der Stirn an den kalten Spiegel. Wieder gingen ihm scheinbar tausend Dinge im Kopf herum. Was sollte das nur alles werden? Wo sollte all das einmal hinführen? Und vor allem: Was sollte er verdammt nochmal tun, wenn sie sich spätestens nachher in der Schule sehen würden? Irgendwie hatte er richtig Angst vor ihrer nächsten Begegnung. Am liebsten wäre er zuhause geblieben und hätte sich im Bett verkrochen. Doch, ermahnte er sich, würde das auch nichts bringen. Absolut nichts. Irgendwann mussten sie sich wieder unter die Augen treten. Er konnte sich nicht den Rest der Schulzeit vor ihm verstecken. Vor allem, da sie in einer Klasse waren. Dennoch, ihm wäre wesentlich wohler bei der Sache, wenn er dabei irgend eine Art Plan hätte. So blieb ihm kaum etwas anderes übrig, als abzuwarten, was Hideto tat und dann darauf zu reagieren. Mit dieser Alternative war er nicht unbedingt zufrieden. Unglücklicherweise war es die einzige, die er überhaupt hatte. Und so begann er, sich für die Schule fertig zu machen und zu frühstücken, so wie er es jeden Morgen tat.
 

Dass Hideto nicht wie gewohnt zum Frühstück bei ihm auftauchte, wunderte ihn nicht. Zum einen war da immer noch die Katze, weshalb sie auch schon die Tage zuvor nicht gemeinsam gegessen hatten. Zum anderen war es nach dem Vorfall am Vortag absolut nicht verwunderlich, wenn er selbst ohne die Anwesenheit der Katze nicht auftauchte. Er fragte sich, ob Hideto wohl genauso Angst hatte, ihm wieder unter die Augen zu treten. Und wieder stellte er sich zeitgleich die Frage, ob ihre Freundschaft nun zerstört war und ob er sie vielleicht doch noch retten konnte. Und falls er das konnte, wie sollte er das anstellen? Mit all diesen Fragen im Kopf machte er sich auf den Weg zur Schule. Je näher er ihr kam, desto nervöser wurde er. Als er jedoch im Klassenzimmer ankam, musste er feststellen, dass Hideto noch gar nicht da war. Ein wenig ruhiger setzte er sich an seinen Platz und packte aus. Auch als es dann zum Unterricht klingelte, hatte sich der Blonde noch nicht blicken lassen. Der Lehrer überprüfte die Anwesenheit und fragte Tetsu, ob er wusste, wo Hideto war. Er hatte einen so dicken Kloß im Hals, dass er nur den Kopf schütteln konnte.

"Ich... Ich weiß nicht.", murmelte er leise, "Ich habe ihn gestern noch gesehen." Der Lehrer nickte nur und machte sich einen Vermerk.

"Würdest du ihm dann bitte die Materialien von heute bringen?"

"Sicher.", antwortete er und seufzte innerlich. Was war nur mit Hideto los? Ihm war zwar irgendwie schon klar gewesen, dass er für den Einstellungswandel des anderen verantwortlich gewesen war, doch er hätte nie erwartet, dass dies alles mit einem einzigen Streit gleich wieder in die Brüche gehen würde. Er nahm sich fest vor, ihm später wieder einmal einen Vortrag zu halten. Er wusste noch nicht ganz, was er ihm sagen wollte, doch ihm würde schon etwas einfallen.
 

Den gesamten Tag war er in Gedanken bei Hideto. Er dachte über ihn und sie beide nach und kam einfach nicht mehr von ihm los. Als es schließlich endlich zum Schulschluss läutete, packte er so schnell wie möglich alles ein und machte sich auf den Weg. Ohne Umwege ging er zu Hidetos Wohnung und klingelte. Als keine Reaktion kam, versuchte er es so lange, bis die Tür schließlich doch geöffnet wurde. Als der Hideto dann jedoch erblickte, erschrak er und sah ihn mit weit geöffneten Augen an.

"Was willst du?", fauchte Hideto ihn an, worauf Tetsu aber nicht weiter einging.

"Meine Güte, was ist denn mit dir passiert?", kommentierte er besorft das blaue Auge, die geschwollene Nase und die aufgeplatzte Lippe des Blonden. Gleichzeitig betrat er die Wohnung, um sich auf keinen Fall wieder abwimmeln zu lassen. Hideto verdrehte nur die Augen.

"Das ist nichts.", beteuerte er. Natürlich glaubte Tetsu ihm das nicht. Ohne Vorwarnung tippte er ihm kurz an die Nase, sodass Hideto zusammen zuckte, dabei zurück wich und einen kurzen Schmerzensschrei ausstieß.

"Nichts, hm? Ja, das seh ich.", hakte er herausfordernd nach und nahm dabei in Kauf, dass Hideto ihn nur böse anfunkelte, während dieser sich die Nase hielt.

"Was zur Hölle willst du hier?", verlangte Hideto erneut zu wissen und ging nun seinerseits nicht auf das Gesagte ein.

"Ich soll dir den Unterrichtsstoff von heute bringen. Und ich wollte wissen, warum du nicht in der Schule warst. Aber ich denke, ich weiß schon warum." Er versuchte, ihn sanft und freundschaftlich anzusehen, doch scheinbar war Hideto das egal oder er bemerkte es gar nicht. Er sah ihn nur weiter an, als wollte er ihn mit seinen bloßen Blicken töten.

"Fein.", knurrte er, "Dann kannst du ja gleich wieder gehen. Das Zeug brauch ich nicht, ich komm nicht mehr." Als Tetsu das hörte, war er zutiefst erschrocken.

"Was?", fragte er entsetzt. Er wollte auf ihn einreden, doch Hideto zog ihn unsanft wieder zur Tür. Er riss sich von ihm los. Er würde sich ganz sicher nicht aussperren lassen. Nicht in dieser Situation.
 

"Raus!", brüllte Hideto und zeigte dabei auf die Tür.

"Nein!", rief Tetsu trotzig zurück, "Was soll ich denn da ohne dich machen? Du hast versprochen, dass du mich nicht allein lässt."

"Ach ja?", schnaubte Hideto leicht, "Wer hat denn hier wen allein gelassen?" Bei diesen Worten und dem verletzten Blick, den Hideto auf einmal hatte, wurde Tetsu ganz bleich.

"Ich...", stammelte er leise. Er wusste nicht, was er nun dazu sagen sollte.

"Ich war überfordert. Das ging gestern alles so schnell. Und... es tut mir leid. Du bist der einzige Freund, den ich habe. Ich will dich nicht verlieren. Aber mehr als Freundschaft kann ich dir nicht bieten. Und ich wollte dir nicht mehr weh tun als eh schon." Hideto stemmte die Hände in die Hüften.

"Das hast du aber. Gerade damit, dass du einfach abgehauen bist. Ich hab doch gesagt, du sollst das wieder vergessen. Es ist egal. Ich kann damit umgehen. Es ist nicht so, dass ich erwartethatte, dass es dir genauso geht. Nein, ganz sicher nicht... Ich wollte es nur einfach gesagt haben. Auch, damit wir einfach offene Verhältnisse haben." Wieder nickte Tetsu.

"Ist gut.", sagte er, "Ich vergesse es. Aber bitte... lass alles wieder so sein wie vorher." Als daraufhin eine kleine Pause auftrat, bekam er es schon mit der Angst zu tun. Doch schließlich nickte Hideto.

"Na gut...", seufzte er, "Obwohl es da ja trotzdem etwas gibt, das wir nicht ungeschehen machen können." Fragend sah Tetsu ihn an.

"Du weißt schon." Als er verstand, worauf er andeutete, seufzte er leise.

"Wieso nicht? Du könntest das doch auch einfach vergessen." Hideto aber schüttelte den Kopf.

"Das will ich nicht. Immerhin hat das den Vorteil, dass du mich umarmen kannst, wenn du willst. Oder du kannst dich von mir umarmen lassen. Vor mir musst du dich nicht mehr verstecken." Skeptisch sah Tetsu ihn an.

"Na, ich weiß ja nicht..." Allein bei dem Gedanken wurde ihm wieder etwas unwohl.

"Du darfst es gern jederzeit versuchen. Okay?", bot Hideto ihm dann so warm und sanft an, dass ihm das Herz höher schlug. Es war absolut nichts mehr von der Feindseeligkeit oder der Wut von vorhin zu spüren. Einen Moment hatte er sogar den Drang, den Wunsch, sich ohne Umwege in seine Arme zu werfen. Er musste sich doch sehr über sich selbst wundern.
 

"Komm, ich zeig dir, was wir heute gemacht haben.", schlug er vor, um sich von diesem Gedanken abzulenken. Hideto kam auf ihn zu, blieb nur kurz vor ihm stehen und sie sahen sich in die Augen. Erst da konnte Tetsu einen genaueren Blick auf die Wunden werfen.

"Hast du das überhaupt mal behandeln lassen?", wollte er wissen.

"Nein.", antwortete er. Da zog Tetsu ihn ins Wohnzimmer.

"Ich schau mir das mal an und dann zeig ich dir den Schulkram.", erklärte er dabei. Ganz brav ließ Hideto sich ziehen und setzte sich aufs Sofa. Tetsu ging nochmal ins Bad und holte wie schon am Vortag eine kleine Schüssel mit Wasser und einen Lappen. Vorsichtig machte er sich daran, das getrocknete Blut, das teilweise noch in Hidetos Gesicht klebte, abzuwaschen. Dieser ließ es stumm geschehen und zuckte nur ab und an mal.

"Willst du mir nicht erzählen, was eigentlich passiert ist?", fragte Tetsu schließlich leise. Hideto holte einen Moment Luft.

"Ich bin letzte Nacht ein paar Gestalten begegnet. Die hab ich wohl ein bisschen zu sehr gereizt." Da blickte Tetsu ihm wieder in die Augen.

"Tu sowas bitte nie wieder." Er nickte leicht.

"Ist gut...", hauchte er nach einem kleinen Moment. Hidetos Herz schlug schon wieder schneller. Er konnte ihm einfach keinen Wunsch abschlagen. Oder ihm lange böse sein.
 

Genauso wenig konnte er in diesem Augenblick den Blick wieder von ihm abwenden. So sah er ihn lange an. Natürlich entging Tetsu das nicht.

"Ist alles in Ordnung?", fragte er daher und Hideto erwachte aus seiner Starre.

"Ja! Ja... sicher.", nickte er. Irgendwie spürte Tetsu aber doch, dass da noch etwas war. Vielleicht nur eine unwichtige Kleinigkeit, doch es war da. Nach kurzem Zögern legte er einen Arm um ihn und drückte ihn ganz vorsichtig an sich. Tetsu fühlte sich nicht so ganz wohl dabei, doch es war auch nicht so, dass er diesen Schritt jetzt bereute. Es dauerte eine kleine Weile, bis Hideto sich richtig an ihn lehnte und die Hände auf seinen Rücken legte. Vor Schreck verkrampfte sich Tetsu ein wenig. So etwas war für ihn immer noch vollkommen ungewohnt. Dennoch ließ er es zu. Zum einen vertraute er Hideto weiterhin und zum anderen belastete ihn diese Menschenscheu, die er ständig an den Tag legte, schließlich auch ungemein. So wollte er zumindest versuchen, sich daran zu gewöhnen. Ein paar Minuten später seufzte Hideto und richtete sich wieder auf.
 

"Großartig.", murrte er, "Jetzt würde ich dich am liebsten küssen." Er musste ein wenig schmunzeln, als Tetsu ihn daraufhin wieder recht angespannt ansah.

"Keine Angst. Ich tue nichts.", versicherte er. Dennoch sah Tetsu nicht besonders glücklich aus.

"Ich weiß, ich hab bisher schon öfter über die Stränge geschlagen und es eigentlich nicht verdient, aber... du vertraust mir doch, oder?"

"Ja.", antwortete Tetsu sogleich, "Es ist nur... Ich will nicht, dass du solche Gefühle für mich hast. Das ist doch auch nicht schön für dich." Hideto zuckte nur mit den Schultern.

"Damit muss ich wohl leben. Es ist ja nicht so, dass ich das einfach abstellen kann." Tetsu nickte nur leicht.

"Wäre aber besser.", murmelte er, ohne groß darüber nachzudenken, was er da sagte, "Ich will nicht, dass dir was passiert." Nun war Hideto doch wieder verwirrt.

"Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?" Erst jetzt schien Tetsu zu bemerken, was er da von sich gegeben hatte.

"Eh... gar nichts." Hideto sah ihn nur noch skeptischer an.

"Sag schon.", drängte er, "Wie kommst du darauf, dass mir dadurch etwas passiert?" Weiteres Schweigen.

"Tetsu...", drängte er weiter, "Ich kitzel dich sonst." Bei diesem Kommentar musste Tetsu wieder ein wenig lächeln.

"Vorsicht.", warnte er, "Ich weiß, wo deine Schwachstellen im Augenblick liegen." Da stand Hideto ein wenig der Mund offen.

"Das würdest du doch nicht tun, oder?", hakte er nach.

"Oh doch. Das würde ich.", bestätigte Tetsu seinen Willen, sich vor ihm zu verteidigen, sollte er seine Kitzelattacke starten. Da zog Hideto eine Schnute und Tetsu erwischte sich bei dem Gedanken, genau diese Schnute küssen zu wollen. Schnell versuchte er, an etwas anderes zu denken. Er rief sich noch einmal ins Gedächtnis, dass er ihn nicht lieben durfte. Er durfte niemanden lieben, sonst würde nur wieder ein Unglück geschehen. Und Hideto war schon fast zu Tode gekommen. Das sollte für ihn eigentlich schon Warnung genug gewesen sein. Doch was tat er? Er musste sich immer wieder ermahnen, nicht an solche Dinge zu denken. Er war ein wirklich schlechter Freund, der ihn wissentlich so in Gefahr brachte. Eigentlich sollte er gar nichts mehr mit ihm zu tun haben. Das wäre so viel besser für Hideto. Doch der bloße Gedanke daran tat ihm schon wieder weh. Was Hideto anging, war er wohl doch ziemlich egoistisch.
 

"Jedenfalls!", griff Tetsu ein neues Thema auf, "Ich erklär dir dann mal alles. Mit welchem Fach wollen wir anfangen?" Hideto suchte sich eines der paar, die er an diesem Morgen verpasst hatte, heraus und die beiden Jungen verbrachten noch einige Stunden damit, zu erklären, nachzufragen und zu verstehen. Als sie am nächsten Morgen wieder zusammen zur Schule gingen, kehrten sie zum Großteil zu ihrem gewohnten Alltag zurück. Als ihr Klassenlehrer Hidetos Gesicht sah, schüttelte er nur verständnislos den Kopf, ließ jedoch jeglichen Kommentar stecken. Tetsu vermutete, dass er diesen Anblick entweder schon gewohnt war, oder dass er froh war, dass Hideto die Schule nicht einfach schmiss. Einzig die Katze blieb noch fast eine Woche bei Tetsu, bevor sie von ihrer Besitzerin wieder abgeholt wurde. Passenderweise geschah dies an einem Sonntag, sodass er den restlichen Tag damit verbrachte, die komplette Wohnung zu lüften, den Boden bis in die kleinste Ecke mehrere Male zu saugen und an allen nur erdenklichen Stellen zu putzen. Er wollte nicht ein einziges, winziges Katzenhaar übersehen, bevor Hideto wieder bei ihm sein konnte. Das war er ihm irgendwie schuldig, fand er.

#16: Geständnisse

Hidetos Verletzungen heilten nicht zuletzt durch Tetsus Pflege recht schnell und gut. Nach drei Wochen erinnerte nichts mehr an den kleinen Zwischenfall. Die beiden Freunde aßen morgens wie gewohnt miteinander, gingen gemeinsam zur Schule und lernten nachmittags zusammen. Hideto blieb auch wie bereits zuvor fast jede Nacht bei ihm. Sie verbrachten viel Zeit miteinander und durch diese Zeit wurde beiden erst richtig klar, dass sie tatsächlich mehr als nur Freundschaft für den jeweils anderen empfanden. Doch nun, da sich Tetsu alledem sicher war, sagte er Hideto weiterhin nichts davon. Da dieser widerrum davon ausging, dass Tetsu ihn nicht liebte, unternahm auch er keinerlei weitere Versuche, ihm irgendwie näher zu kommen.
 

Langsam wurde es Herbst und das Wetter kälter, stürmischer und ungemütlicher. Der Sportunterricht wurde in die Hallen verlegt und die Winteruniformen wurden aus den Schränken geholt. Eines Morgens fühlte sich Tetsu ganz und gar nicht wohl. Schon beim Frühstück hatte er keinen Appetit und auch auf dem Weg in die Schule kam er sich so schlapp und energielos vor. Er hatte sogar das Gefühl, er würde jeden Augenblick im Stehen einschlafen. Auch später im Unterricht konnte er sich weder auf die Aufgaben noch auf die Stimme des Lehrers konzentrieren. Immer wieder fragte er sich, was nur mit ihm los war. Ihm war so furchtbar schwindelig und letztlich rutschte er vom Stuhl.
 

Geistesgegenwärtig sprang Hideto neben ihm auf und fing den Sturz ab. Zunächst versuchte er, ihn anzusprechen, doch das brachte nichts. Er bemerkte auch, dass Tetsu offenbar hohes Fieber hatte, hob ihn auf die Arme und erklärte dem Lehrer, dass er ihn zur Schulschwester bringen würde. Dass Tetsu sehr blass gewesen war, war ihm schon heute Morgen aufgefallen. So schnell wie möglich verließ er also den Raum und eilte mit seinem Freund auf den Armen den Flur entlang. Noch bevor sie das Krankenzimmer erreicht hatten, war Tetsu wieder bei sich und sah sich ein wenig verwirrt um.

"Du bist vom Stuhl gekippt und ich bring dich jetzt zur Schwester.", klärte Hideto ihn schnell auf. Tetsu nickte nur leicht und schloss müde wieder die Augen. Eigentlich hätte es ihn gestört, dass Hideto ihn trug, doch im Moment war er nicht sicher, ob er das auch allein schaffen würde.
 

Die Schwester erkannte die Erkältung sofort und gab ihm ein fiebersenkendes Mittel, Nasenspray und andere Dinge mit, die sie für angebracht hielt, als sie ihn heim schickte. Strikte Bettruhe war nun angesagt. Sie bat Hideto, die Taschen aus dem Klassenzimmer zu holen und Tetsu zu begleiten. Darum ließ er sich natürlich nicht zweimal bitten. Nur wenige Minuten später waren sie auf dem Heimweg und kurz darauf brachte er Tetsu in sein Bett, damit er sich ausruhte und ein wenig schlief. Es war nur zu dumm, dass sein Onkel und die Tante noch immer - oder schon wieder? - auf Geschäftsreise waren. So blieb nur er selbst übrig, der sich um ihn kümmern konnte.
 

Selbstverständlich würde er das gern für ihn tun. Immerhin hatte Tetsu schon so viel für ihn getan. Er wollte sich gern dafür erkenntlich zeigen. Es war nur so, dass er keine Erfahrung darin hatte, sich um eine erkältete Person zu kümmern. Was genau musste er denn tun? Was sollte er möglichst bleiben lassen? Wieder einmal verdammte er den Tag, an dem seine Mutter sie verlassen hatte und die Tatsache, dass er sich so wenig an sie erinnern konnte. Aber Schlaf war erst einmal ein guter Anfang, fand er. Und bis Tetsu wieder aufgewacht war, würde ihm schon etwas eingefallen sein. Nach kurzem Überlegen begann er, in Küche und Wohnzimmer nach etwas brauchbarem zu suchen.
 

Er fand eine Packung, auf dem 'Erkältungstee' stand und beschloss, diesen gleich mal zu kochen. Als die Kanne fertig war, gab er noch etwas Honig hinzu. Irgendwann kam ihm auch wieder in den Sinn, dass man bei Erkältungen Reis- oder Hühnersuppe essen sollte. Doch wie bereitete man sie zu? So begab er sich auf die Suche nach einem Kochbuch und wurde bald darauf auch fündig. Als er das Rezept herausgesucht hatte, kontrollierte er, ob er alles da hatte, was er brauchen würde. Anschließend versuchte er sein Glück und es gelang ihm sogar. Darüber freute er sich so sehr und war irgendwie auch richtig stolz auf sich.
 

Als er fertig war, sah er leise nach, ob Tetsu noch schlief. Ebenso leise betrat er das Zimmer, stellte eine Tasse Tee ab und kniete sich vorsichtig neben das Bett um ihn eine Weile zu betrachten. Es war zwar nur eine Erkältung, aber er machte sich Sorgen. Nach einem kleinen Moment strich er ihm ganz sacht durchs Haar. Schon oft hatte er wach neben ihm gelegen und ihn einfach nur angesehen. Es stand fest: Für ihn gab es kein schöneres, liebenswerteres Wesen auf der Welt. Ja, er hatte sein Herz an diesen Jungen verloren und wahrscheinlich würde er beinahe alles für ihn tun. Es machte ihn immer wieder traurig, dass Tetsu so ein schlechtes Bild von sich selbst hatte. Immer wieder überlegte er, was er dagegen tun könnte, doch es wollte ihm nichts einfallen.
 

Als er nun wieder so neben ihm saß und in sein Gesicht sah, überkam ihn wieder die Erinnerung an ihren Kuss. Er wusste nicht, wie Tetsu das sah, doch er selbst hatte ihn sehr genossen. Allein der Gedanke daran brachte sein Herz wieder dazu, ein klein wenig schneller zu schlagen. Und wie immer kam ihm der Gedanke, er könnte ihn einfach küssen, wenn er schlief. Doch er hatte das bisher nicht getan und würde es auch jetzt nicht. Das wäre unfair und sowieso nicht dasselbe. Nein, er wollte zwar einen Kuss haben, doch wollte er ihn nicht stehlen. Er wollte ihn bekommen; aus freien Stücken. Und selbst, wenn das hieß, dass sie sich nie wieder küssen würden, wäre ihm das lieber.

Kurz schüttelte er den Kopf über sich selbst. Natürlich würden sie sich nie wieder küssen. Warum sollten sie auch? Tetsu liebte ihn nicht. Warum nur quälte er sich selbst und machte sich immer wieder von Neuem Hoffnungen? Er wusste es nicht genau. Dabei sollte er doch inzwischen eigentlich ganz genau wissen, dass er nicht gerade ein Glückskind war.
 

Eine Bewegung riss ihn aus seinen Gedanken. Tetsu regte sich und wachte langsam wieder auf. Hideto konnte nur hoffen, dass es ihm schon etwas besser ging oder zumindest der Tee, die Suppe und alles andere ihm helfen würden.

"Hey...", sprach er ihn leise an, "Wie fühlst du dich?" Er versuchte, ihm nach Möglichkeit nicht noch mehr Kopfschmerzen zu bereiten.

"Ganz ehrlich?", nuschelte Tetsu und rieb sich über die Augen, "Wie ausgekotzt..." Er drehte sich zu dem anderen um und sah ihn müde an. Hideto schob ihm die Tasse Tee zu.

"Trink etwas.", riet er ihm, "Das wird dir gut tun." Stirnrunzelnd verbarg Tetsu das Gesicht kurz hinter der Decke.

"Bitte.", bat Hideto, "Du willst doch sicher auch schnell wieder gesund werden." Seufzend richtete sich Tetsu langsam auf und nahm dann die Tasse. Kurz pustete er und trank dann. Hideto sah ihm dabei lächelnd zu.

"Ich hab auch Suppe gekocht.", erzählte er ihm, "Möchtest du davon etwas haben?" Überrascht sah Tetsu ihn an.

"Du hast Suppe gekocht? Ganz allein?", hakte er nach und Hideto sah ihn kurz beleidigt an.

"Als wäre das so abwegig...", murrte er, "Warte, ich hol dir was." Damit war er auch schon aufgestanden und ging in die Küche. Tetsu sah ihm nach und seufzte nur leise. Wieder dachte er bei sich, wie niedlich Hideto doch eigentlich war, und ihm wurde warm ums Herz. Es tat gut zu wissen, dass jemand da war, der sich um einen kümmerte.
 

Er trank noch ein paar Schlucke Tee, bis Hideto mit einer Schüssel Suppe wieder herein kam. Er aß alles brav auf, was Hideto widerrum sehr zu freuen schien. Es schmeckte auch gar nicht mal schlecht.

"Danke...", krächzte Tetsu leise, als er die leere Schüssel wieder abstellte, "Hat gut geschmeckt." Kurz freute sich der Koch über das Lob, strich seinem Patienten dann aber wieder leicht über den Kopf.

"Hauptsache, es hilft auch...", erwiderte er.

"Wird es bestimmt.", meinte Tetsu zuversichtlich und legte sich wieder hin. Er fühlte sich so kraftlos und schlapp wie schon lange nicht mehr. Es musste ihn wirklich schwer erwischt haben.

"Ich mach dir bestimmt Sorgen.", seufzte er müde, "Tut mir leid." Hideto schmunzelte bei dieser Aussage nur leicht.

"Wir werden alle mal krank, nicht?", antwortete er einfühlsam, "Solange du nur bald wieder auf den Beinen bist, reicht mir das vollkommen."

"Ich geb mir Mühe...", versprach Tetsu und schloss die Augen. So stand Hideto wieder auf und verließ das Zimmer, um ihm seine Ruhe zu lassen.
 

Zwei scheinbar unendlich lange Stunden später schlurfte Tetsu aus seinem Zimmer zu Hideto in die Stube. Sein Freund stand sofort vom Sofa auf, als er ihn sah, und ging auf ihn zu.

"Hey...", sprach er ihn vorsichtig an, "Ausgeschlafen?" Tetsu zuckte nur leicht mit den Schultern, nickte dann aber ein wenig.

"Mehr oder minder, würd ich mal sagen..." Er versuchte, etwas zu lächeln und nicht ganz so fertig auszusehen, wie er sich fühlte.

"Komm, ich mach dir nochmal Tee und Suppe warm.", schlug Hideto vor und zog ihn behutsam mit sich in die Küche. Dort setzte sich Tetsu an den Tisch. Sein Kopf tat furchtbar weh. Fast schon wünschte er, er möge doch endlich zerplatzen und sich nicht mehr nur so anfühlen, als würde er genau das jeden Moment tun. Er war nicht sicher, ob eine Erkältung schon einmal so schlimm gewesen war wie diese. Leise stöhnte er vor sich hin und rieb sich die Stirn.

"Habt ihr irgendwo Kopfschmerztabletten?", erkundigte sich Hideto und sah ihn besorgt an, während er ihm eine Tasse warmen Tees hinstellte. Kurz überlegte der Gefragte.

"Glaub schon...", murmelte er, "Kannst du mal im Spiegelschrank im Bad nachsehen?" Schon war Hideto auf dem Weg ins Bad und reichte ihm nur wenig später eine Tablette, die Tetsu nur allzu gern schluckte.
 

Als er darauf wartete, dass sie ihre Wirkung entfaltete, und Hideto eine zweite Schüssel Suppe erwärmte, starrte er in seinen Tee. Er wusste nicht genau warum, aber er musste auf einmal wieder an den Tag zurückdenken, an dem Hideto "sein kleines Geheimnis" herausgefunden hatte. Er wusste, sein Freund fragte sich schon die ganze Zeit, was genau passiert war. Dass er sich doch irgendwie immer noch auch darum Sorgen machte. Und wenn er so darüber nachdachte, hatte er doch ein Recht darauf, es zu erfahren. Vielleicht nur ein kleines, aber immerhin ein Recht. Er war sein bester Freund und sie vertrauten sich gegenseitig. Sie sorgten sich umeinander. Sie kümmerten sich umeinander, wenn etwas war. Er konnte sich auf ihn verlassen. Und vielleicht war es nun endlich einmal an der Zeit, darüber zu sprechen. Er war nicht sicher, ob er dafür stark genug war, doch wollte er es auf einen Versuch ankommen lassen.
 

"Wir waren an einem See...", begann er also ohne Erklärung plötzlich und starrte dabei weiter in seinen Tee. Hideto sah ihn nur fragend an, da er nichts mit dieser Information anzufangen wusste.

"Es waren Ferien und sie hatten mich eingeladen, mitzukommen. Am Nachmittag baden gehen, abends am Lagerfeuer Geschichten erzählen und zelten. Das war der Plan. Bis zum Abend verlief auch alles wie geplant. Wir schwammen im See... Und hatten Spaß. Als es dann ein wenig später war, wurde das Lagerfeuer angezündet. Das war eigentlich auch schön. Warm... und alles." Spätestens an dieser Stelle war sich Hideto sicher, wovon er da sprach. Langsam setzte er sich ihm gegenüber an den Tisch und beobachtete ihn genauestens. Tetsu schien sich erst einmal wieder sammeln zu müssen. Er überlegte einen Moment, ob er einfach seine Hand halten sollte, doch da Tetsu sich mit beiden an seine Teetasse klammerte, ließ er es vorerst bleiben.

"Naja...", seufzte Tetsu und zuckte ein wenig hilflos mit den Schultern, "Du kannst dir wahrscheinlich schon denken, was passiert ist." Er schloss kurz die Augen und versuchte, mit der Erinnerung irgendwie klarzukommen. "Ein... Ein Funke ist zu mir gesprungen. Ich hatte einen Pullover an und... und in diesem Augenblick stellte sich heraus, dass der sehr leicht entflammbar war. Ich... Ich brannte sofort. Ich hätte nie gedacht, dass das so schnell gehen kann. Aber es kann..." Er schlug die Augen wieder auf und sah Hideto an. Er wusste, er könnte jeden Moment in Tränen ausbrechen, versuchte jedoch, sich zusammen zu reißen.
 

Anstatt seine Hand zu nehmen, stand Hideto nun wieder auf und umarmte ihn. Hilfesuchend krallte sich Tetsu an seinem Hemd fest.

"Du kannst dir das nicht vorstellen.", flüsterte er mit zittriger Stimme, "Du kannst dir nicht vorstellen, wie weh das tut. Und die Angst. Ich hatte so wahnsinnige Angst..." Hideto versuchte, in jeder möglichen Art und Weise beruhigend auf ihn zu wirken, strich ihm leicht über den Kopf und sprach sanft auf ihn ein.

"Ist schon gut...", sagte er leise, "Du musst das nicht tun. Du musst dich nicht dazu zwingen, mir das alles zu erzählen. Es ist in Ordnung." Doch Tetsu schüttelte den Kopf.

"Ich zwinge mich nicht. Ich möchte es dir erzählen. Du möchte, dass du es weißt. Es ist nur eben... schwerer, als ich dachte."

"Dann lass dir ruhig Zeit, ja?", bat Hideto, "Wir haben dafür alle Zeit der Welt. Ich kann solange warten, wie du willst." Kurz lächelte Tetsu etwas und nickte sacht. Er fragte sich, was er manchmal nur ohne ihn tun würde.

"Danke...", sagte er leise und drückte ihn einen Moment an sich, "Aber da muss ich nun wohl durch. Ich meine... ich kann nicht ewig davor davon laufen und ich kann auch nicht ständig für jeden kleinen Schritt so lange brauchen. Mach dir keine Sorgen. Ich erzähle jetzt einfach schnell zu Ende und dann ess ich noch etwas von deiner Suppe und dann... Ich weiß nicht."
 

Hideto bemerkte genau, wie nervös Tetsu eigentlich war, auch wenn dieser versuchte, das mit schnellem Gerede zu überspielen. Er erkannte es an der Art, wie Tetsu es gesagt hatte, wie er nach Worten suchte, wie seine Augen rastlos durch den Raum wanderten und wie seine Finger ganz leicht zuckten. Tetsu selbst war sich all dessen nicht im Geringsten bewusst.

"Also...", begann er wieder, "Meine... ehemaligen Mitschüler sagen ziemlich erschrocken und geschockt aus, als ich da so... in Flammen stand und schreiend aufsprang. Wäre wohl auch schlimm, wenn nicht. Schätze ich mal..." Hideto nickte nur.

"Ja, wäre es wohl...", bestätigte er leise.

"Ich bin zum See gerannt.", erzählte Tetsu weiter, "Aber irgendwie kam es mir so vor, als ob er kilometerweit weg war. Es hat eine gefühlte Ewigkeit gedauert, bis ich ankam und ins Wasser gesprungen bin. In dem Moment war ich schon so verbrannt und alles war offen... Deshalb hat es auch weiter weh getan, als das Feuer aus war. Der See war nicht gerade klinisch rein, aber ich denke, Schmerzen hätte ich so oder so gehabt." Wieder holte er tief Luft, sah dann langsam mit feuchten Augen zu ihm auf.

"Ich bin fast verrückt geworden, bis der Krankenwagen kam...", flüsterte er und nun kullerte ihm doch eine Träne über die Wange, "Verrückt... Du weißt nicht, wie sich das anfühlt. Wenn sich die Haut förmlich abschält. Und dahin schmelzt... Aber das ist auch gut so, denke ich. Das wünsche ich niemandem. Wirklich nicht."
 

"Das glaube ich dir gern.", seufzte Hideto und drückte ihn einfach an sich. Das tat ihm alles so leid. Doch er sagte es nicht, da er sich schon vorstellen konnte, was Tetsu sagen würde. Das wäre nicht seine Schuld. Nachdem er die Geschichte nun gehört hatte, wusste er, dass es im Grunde niemandes Schuld war. Gern hätte er jemanden dafür bestraft, dass Tetsu so leiden musste. Aber vielleicht wäre es besser, ihm dabei zu helfen, dass er das nicht mehr musste. Er nahm sich fest vor, alles in seiner Macht stehende dafür zu tun. Und vielleicht sogar noch mehr.

#17: Feuerwerk

Es klingelte. Sofort war Tetsu an der Tür und öffnete. Vor ihm stand Hideto und ihm blieb der Mund offen stehen.

"Sag mal, wie siehst du denn aus!?", fragte er den Blonden ganz bestürzt. Dieser sah fragend an sich hinab.

"Wieso?", fragte er, "Was hast du an der Jeans und dem Hemd auszusetzen?" Seufzend griff Tetsu nach dem Arm des anderen und zog ihn zuerst in die Wohnung, danach mit in sein Zimmer hinein.

"Eigentlich nichts.", erklärte er dabei, "Aber wir gehen auf ein Straßenfest, weißt du noch? Da kannst du nicht mit diesen Schlabberklamotten auftauchen. Du siehst doch auch, was ich an habe." Hideto nickte nur. Er hatte ihn noch nie in traditionell japanischer Kleidung gesehen. Und als er ihn so sah, bereute er das direkt. Tetsu sah wunderschön aus.
 

"Sowas habe ich aber nicht.", erklärte Hideto leise, nachdem er sich von dem Anblick wieder hatte lösen können. Ein wenig peinlich war ihm das schon. Bisher war er noch nie auf einem solchen Fest gewesen. Es hatte auch keinen anderen Grund für den Erwerb eines Kimonos gegeben. Zudem hatte sein Vater stets gesagt, es wäre viel zu teuer und eine Verschwendung - gerade für einen nutzlosen Jungen wie ihn. Doch statt daran zu denken, konzentrierte er sich lieber wieder auf Tetsu, welcher leicht lachte, als er seinen Schrank öffnete.

"Ja, das dachte ich mir schon.", meinte er sanft und zog einen Yukata hervor, begutachtete ihn einen Moment nachdenklich und wühlte dann weiter. Schließlich hatte er etwas für seinen Freund gefunden. Er legte das Kleidungsstück auf dem Bett ab und begann ohne jegliche Vorwarnung, Hideto das Hemd aufzuknöpfen. Diesem rutschte vor Schreck fast das Herz in die Hose. In Windeseile röteten sich seine Wangen. Hektisch versuchte er, Tetsus Hände möglichst unauffällig wieder von dort zu verdrängen. So zog er sich schließlich selbst die unpassende Kleidung aus und ließ sich den Yukata geben, in welchen er sogleich hinein schlüpfte. Tetsu allerdings schien wieder ziemlich ungeduldig zu sein, denn er ließ es sich nicht nehmen, ihm den Gürtel zu knoten. Diesmal ließ Hideto es zu, wenn auch etwas widerwillig. Als Tetsu damit fertig war, trat er wieder zwei Schritte zurück und betrachtete sein Werk. Zufrieden nickte er mit einem liebenswerten Grinsen und schon konnten sie aufbrechen.

Ihr Weg war nicht lang, das Fest fand ganz in der Nähe statt. Viele Menschen hatten sich versammelt um an verschiedenen Ständen kleine Gewinnspiele zu spielen oder etwas zu kaufen. Kleine Kinder rannten ausgelassen herum, Pärchen aller Altersklassen tummelten sich zusammen mit kleinen Gruppen Jugendlicher auf den Wegen. Girlanden und kleine Laternen schmückten die vielen Stände und überall herrschte ein lautes, buntes Treiben. Inmitten dieses Treibens schlenderten Tetsu und Hideto gemütlich an den vielen Buden vorbei. Hier und dort blieben sie stehen und versuchten sich an einem Spielchen.
 

Tetsu hatte sichtlich Spaß an den vielen Versuchen, einen der kleinen Goldfische zu fangen. Leider scheiterte er immer wieder, bis Hideto sich das nicht mehr ansehen konnte.

"Lass mich mal versuchen, ich fang dir einen.", bot er an, als er sich neben seinen Freund kniete und die Hand nach dem kleinen Papierköcher ausstreckte. Einen winzigen Moment zögerte Tetsu, immerhin machte es ihm eigentlich viel Spaß, auch wenn der Erfolg bisher ausgeblieben war. Schließlich nickte er aber und reichte dem kleinen Gegenstand weiter. Schnell zeigte er ihm noch, welchen der kleinen Fische er sich ausgesucht hatte, bevor er Hideto seinen Versuch starten ließ. Dieser wirkte dabei sehr ruhig und konzentriert. Er schien genau zu wissen, was er tat.

Aus irgend einem Grund konnte Tetsu den Blick nicht mehr von ihm lassen. Wieder spürte er sein Herz höher schlagen. Wie Hideto ein paar seiner blonden Strähnen locker ins Gesicht fielen, stand ihm außerordentlich gut, wie er fand. So konnte er gar nicht anders, als ihn weiterhin anzustarren, bis Hideto sich zu ihm drehte und ihn warm anlächelte.

"Geschafft!", grinste er ihn an und erst jetzt sah Tetsu wieder ins Becken. Sprachlos blinzelte er zum Wasser. Hatte Hideto es wirklich gleich beim ersten Mal hinbekommen? Ja, er war sehr beeindruckt von ihm. In diesem Moment wurde ihm auch schon die kleine Plastiktüte mitsamt dem Goldfisch gereicht. Immer noch ein wenig überrascht und perplex nahm er die Tüte an und bedankte sich höflich. Einen Augenblick betrachtete er das kleine Geschöpf, das er nun mitnehmen durfte, und lächelte Hideto schließlich dankbar an, bevor er ihn kurz umarmte.

"Gern geschehen...", sagte Hideto sanft und liebevoll, ehe sie sich wieder erhoben und weiter gingen.
 

Sie holten sich noch einige Snacks, die sie gemeinsam aßen, schlenderten weiter und unterhielten sich angeregt. Als es langsam dunkel wurde, nahm Hideto ihn bei der Hand und zog ihn ein wenig aus dem Getümmel.

"Komm...", bat er mit einem Lächeln, das Tetsu schwach werden ließ, "Ich kenne da einen Platz, von dem aus man das Feuerwerk wunderbar sehen kann. Wir wären da ganz für uns allein." Sogleich willigte Tetsu mit einem Nicken ein, hatte er sich ohnehin schon in den Augen seines Begleiters verloren. So zog Hideto ihn mit sanftem Druck weiter und bald darauf waren sie hinter den Buden verschwunden. Er führte ihn einen Schleichweg entlang, bis sie sich an einem Hügel auf die Wiese setzten. Neugierig sah Tetsu sich um, konnte in dem wenigen Licht, das noch übrig war, aber nur noch Schemen erkennen.

"Ich glaube, du hast recht.", lächelte er ihn an, "Von hier aus hat man sicher einen guten Ausblick." Hideto nickte ihm kurz zu, reichte ihm ein paar der Knabbereien, die sie noch übrig hatten.

"Du bist der erste, den ich mit hierher genommen habe.", erklärte er. Glücklich sah Tetsu ihn an, fühlte sich in diesem Moment wirklich besonders.

"Danke...", flüsterte er und lehnte sich kurz an ihn.
 

So dauerte es nicht mehr lang, bis die Sonne komplett untergegangen war und man kaum noch etwas sehen konnte. Hideto spürte nur immer wieder, wie Tetsu neben ihm leicht zitterte. Daraufhin ergriff er seine Hand, versuchte so erfolgreich, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

"Soll ich dich wärmen?", fragte er fürsorglich. Tetsu war daraufhin wieder so verunsichert, dass er zunächst keine Antwort wusste.

"Ich... Wie willst du denn...?", stammelte er daher, bis Hideto ihn wieder unterbrach.

"Ganz einfach.", erklärte er sacht, "Du setzt dich auf meinen Schoß, lehnst dich an mich und ich lege die Arme um dich. Dann wird das schon." Bei diesem Vorschlag musste Tetsu erst einmal das Chaos in  seinem Kopf wieder beseitigen.

Noch immer scheute er sich vor Berührungen jeglicher Art, auch wenn er sich immer wieder vor Augen hielt, dass es in diesem Fall eigentlich egal war, da Hideto ja schon alles gesehen hatte und Bescheid wusste. Das Gefühl der Angst war trotzdem noch immer da.

Andererseits, so dachte er, wäre das vielleicht ein perfekter erster Schritt, genau diese Angst zu überwinden. So atmete er noch einmal kurz durch und fasste Mut.

"Gut, so machen wir es.", meinte er dann und rutschte demonstrativ einen Deut näher an ihn heran. Hideto war nun doch etwas überrascht, hatte er doch nicht wirklich mit dieser Entscheidung gerechnet. Umso mehr freute es ihn. Er breitete die Arme einladend aus und wartete ab, bis Tetsu auf seinen Schoß geklettert war. Schließlich drückte er sich langsam von hinten an ihn heran und schlang die Arme locker um ihn.
 

"Bin ich auch nicht zu schwer?", erkundigte sich Tetsu, drehte sich leicht zu ihm um.

"Nein, nein. Alles okay, keine Sorge.", antwortete Hideto sofort und schüttelte dabei leicht den Kopf. So lehnte sich Tetsu nun doch an ihn, drehte ihm weiterhin das Gesicht zu und kuschelte sich einfach an seine Brust, schloss kurz darauf die Augen.

Wie er sich in diesem Moment fühlte, hätte er nicht genau beschreiben können, war es doch zu neu und ungewohnt. Nur in einer Sache war er sich sicher: Es war ein sehr angenehmes Gefühl - beruhigend und aufregend zugleich. Er hätte wirklich ewig so verharren können.
 

Die Zeit, bis das Feuerwerk begann und die erste Rakete in den Himmel geschossen wurde, verflog so ungeahnt schnell. Bei all den Formen und Farben, die die Nacht erhellten, leuchteten Tetsus Augen vor Freude. Auch, wenn er wusste, dass sie mit Feuer zu tun hatten, so mochte er sie doch sehr. Sich das alles aber mit Hideto zusammen ansehen zu können und darüber hinaus ohne Panikattacke so eng an ihn gekuschelt hier mit ihm sitzen zu können, das machte ihn so glücklich wie schon lange nicht mehr. Er hätte nicht einmal gedacht, dass das nach dem zweiten Unfall noch möglich gewesen wäre. Jetzt aber war er doch froh darüber, sich in dieser Hinsicht geirrt zu haben, auch wenn sich bereits jetzt wieder starke Bedenken und vor allem Ängste in seine Gefühlswelt einschlichen.

Solange sie aber hier zu zweit saßen, wollte er sie beiseite schieben und einfach den Augenblick genießen. So konzentrierte er sich nur noch auf die Nähe seines Freundes und das Feuerwerk. Alles andere war unwichtig. Als er so auf all die Lichter blickte, die in der Nacht verglühten, spürte er, wie ein weiteres Feuerwerk in seinem Inneren gezündet wurde. Hideto hatte sich noch dichter an ihn gedrückt und strich ihm scheinbar gedankenverloren über den Arm, während er ihre Köpfe leicht aneinander drückte. Tetsu konnte sich nicht mehr dagegen wehren, sich einfach nur rundum wohl zu fühlen.
 

Er rieb den Kopf leicht an Hidetos, bis sie sich wieder in die Augen sahen. Langsam, und ohne, dass er es wirklich bemerkte, näherte er sich seinen Lippen und hätte ihn um ein Haar auch geküsst. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich wieder davon abhalten, wandte das Gesicht von ihm ab und hoffte, dass Hideto nichts von seinem wahren Vorhaben mitbekommen hatte. Realistisch betrachtet war das natürlich absoluter Käse, doch vielleicht hatte er ja Glück?

Ein paar Minuten, in denen Hideto die ganze Zeit lang nichts sagte, wuchs seine Hoffnung, nur um dann jäh zerstört zu werden, als er sich räusperte. Allein an dem Räuspern konnte Tetsu schon hören, was er gleich sagen würde. Leicht in Panik verfallend spornte er sein Hirn an, sich irgend eine plausible Ausrede einfallen zu lassen. Es musste doch immerhin noch einen anderen guten Grund geben, warum Tetsu ihm auf diese Art und Weise so nah gekommen war!
 

"Also...", begann Hideto leise und Tetsu konnte förmlich hören, wie er versuchte, seine Worte genau abzuwägen, "Ich will ja nichts sagen oder einen Streit anfangen... aber bist du ganz sicher, dass du nicht doch... mehr empfindest? Ich meine... du wolltest mich gerade küssen. Von allein. Verstehst du... worauf ich hinaus will?"

Tetsu presste nur leicht die Lippen aufeinander, konnte ihn nicht mehr weiter ansehen. Wenn er das tat, würde Hideto sofort merken, was los war.

"Das wollte ich nicht...", gab er mit einer Mischung aus Trotz und Unsicherheit zurück, da ihm bisher noch nichts weiter eingefallen war, "Das... das hast du dir sicher nur eingebildet. Ich... dachte nur, du hättest da einen Fleck oder eine Fussel. Und weil es so dunkel ist, musste ich eben näher ran. Da war aber nichts, das hab ich dann auch gesehen." Stille entstand. Stille, in der Tetsu unzählige Stoßgebete gen Himmel schickte, er möge ihm diese Geschichte, die ihm gerade erst in den Sinn gekommen war, doch bitte glauben.
 

"Du bist ein schlechter Lügner...", murmelte Hideto betrübt und Tetsu sah vor seinem geistigen Auge eine Seifenblase zerplatzen. Warum nur musste Hideto auch so intelligent sein, dass er das genau erkannte? Er wollte ihm doch gar nicht weh tun. Nicht schon wieder.

"Haido, ich...", setzte er zu einer weiteren Erklärung an, wurde jedoch sofort unterbrochen.

"Ich hatte eigentlich angenommen, dass du das selbst noch nicht richtig bemerkt hast. Manchmal braucht man ja eine Weile, um sich seiner eigenen Gefühle bewusst zu werden und sie sich auch einzugestehen. Hab ich ja auch selbst erlebt.", sprach er ruhig, jedoch so seltsam monoton, bevor er leicht seufzte, "Aber das... das war eindeutig gelogen. Und das heißt, dass du es bereits weißt. Und da verstehe ich ehrlich gesagt nicht, warum du dich jetzt so verhältst." Tetsus Herz zog sich leicht zusammen, als er ihn so hörte. Wie sollte er ihm das erklären? Wie nur? Einen Moment holte er tief Luft. Noch eine Lüge würde alles nur noch schlimmer machen, daher würde er einfach versuchen, es ihm begreiflich zu machen - auch, wenn er stark bezweifelte, dass er das schaffen würde.
 

"Du hast recht. Das war gelogen.", gab er leise zu, "Aber nicht, um dich an der Nase herum zu führen oder dir sonst wie zu schaden. Ja, ich bin mir darüber bewusst, dass... sich da eben etwas entwickelt hat. Aber das tut nichts zur Sache. Ich möchte trotzdem keine Beziehung mit dir haben. Oder mit sonst jemandem, für den ich etwas entwickeln könnte - bevor du wieder denkst, das läge nur an dir."

"Weil wir beide Jungen sind?", fragte Hideto leise, "Wir müssten das ja nicht an die große Glocke hängen. Wenn das niemand mitbekommt, passie..." An der Stelle mischte sich Tetsu wieder ein.

"Nein, das ist es nicht.", schüttelte er leicht den Kopf, "Damit käme ich klar, das weiß ich."

"Du findest aber nicht immer noch, dass du zu hässlich wärst, dass ich dich lieben könnte, oder?", überlegte Hideto daraufhin weiter, erntete aber nur einen leichten Seufzer.

"Nein... Also... Ich finde das immer noch sehr seltsam, ja, aber ich zweifle nicht daran, dass deine... Gefühle echt sind, falls du das meinst.", antwortete er etwas verlegen.

"Was dann?", wollte Hideto wissen, denn er verstand es nicht mehr. Was konnte es denn da noch geben, das die Macht hatte, Tetsu davon abzuhalten, ein wenig glücklich zu werden?
 

Erst einmal bekam er keine Antwort auf seine Frage, konnte aber erkennen, dass Tetsu nach den richtigen Worten suchte.

"Ach... ich kann das so schlecht erklären. Du würdest es wohl doch nicht richtig verstehen.", sagte Tetsu schließlich. Damit war Hideto jedoch nicht so ganz zufrieden, weshalb er ihn darum bat, es trotzdem zu versuchen.

"Es ist...", probierte Tetsu es daraufhin, "Wenn wir zusammen wären, hätte ich nur noch Angst um dich. Ich meine, ich hab ja jetzt schon Angst um dich, aber... da könnte ich nicht mehr ruhig schlafen." Verwirrt hob Hideto die Augenbrauen.

"Aber warum hast du diese Angst? Was soll mir denn passieren, wenn wir zusammen wären? Dass ich eine Überdosis Glück bekomme?", hakte er nach, da er den Zusammenhang nicht erfassen konnte.

"Idiot!", murrte Tetsu und hätte ihm am liebsten eine der härtesten Kopfnüsse gegeben, die die Welt je gesehen hätte, "Das ist eine ernste Sache! Und du machst dich darüber lustig..." Am liebsten hätte er angefangen zu weinen, doch er konnte sich noch zusammen reißen. Er musste ja schließlich nicht immer die Heulsuse spielen.

"Entschuldige.", meinte Hideto, drückte ihn kurz an sich, "Ich verstehe nur nicht, was mir da gefährlich werden könnte." Die Frage, ob es irgendwo einen Attentäter gab, der es auf Tetsu abgesehen hatte, verkniff er sich dann jetzt doch.
 

"Was es genau ist, weiß ich auch nicht.", erklärte Tetsu weiter, "Aber das ist bisher allen passiert, die ich geliebt habe. Alle sind gestorben. Und du wärst ja auch schon fast drauf gegangen."

"Ja, aber durch meine eigene Dummheit!", protestierte Hideto sofort, "Und weißt du noch, wie oder besser durch wen ich da wieder rausgekommen bin? Tetsu, bitte, du glaubst doch nicht ernsthaft, dass du verflucht bist oder sowas."

"Ich weiß nicht, ob es ein Fluch ist!", seufzte Tetsu nun doch ein wenig genervt, "Ich weiß nur, dass es alle erwischt hat, die mir etwas bedeutet haben. Und... ich will einfach nicht..." Nun war es doch um ihn geschehen, er konnte nicht mehr weiter sprechen, weil die Tränen ihn übermannt hatten. Sanft drückte Hideto ihn wieder an sich, strich ihm beruhigend über den Kopf.

"Schh... ist ja gut.", sprach er leise auf ihn ein, "Lassen wir es erstmal gut sein. Komm, wir schauen uns das Feuerwerk noch zuende an und dann gehen wir heim." Tetsu schniefte nur weiter, nickte aber und blickte wieder zum Himmel hinauf.
 

Bis das Feuerwerk in der Dunkelheit erloschen war, hatte sich Tetsu wieder beruhigt und sie machten sich langsam wieder auf den Heimweg, gingen gemütlich die Straßen entlang. Gern hätten sie beide die Hand des jeweils anderen ergriffen, doch dazu kam es nicht. Dennoch gingen Hidetos Ruhe und Gelassenheit auch auf Tetsu über. Als sie bei ihm angekommen waren, zogen sie sich eilig um und machten sich fertig fürs Bett.

"Ich mag es, wenn du mit hier bleibst.", erzählte Tetsu plötzlich, nachdem sie schon längst im Bett lagen und das Licht gelöscht hatten, "Dann weiß ich, wo du bist. Und dass es dir gut geht." Nach diesen Worten konnte sich Hideto nicht mehr davon abhalten, nach Tetsus Hand zu suchen und sie an sich zu ziehen, nachdem er sie gefunden hatte.

"Wenn du möchtest, kann ich jede Nacht hier bleiben.", bot er ihm an und küsste die Hand gleich darauf. Tetsu musste ein klein wenig schlucken, als er das spürte.

"Das möchte ich.", sagte er ein bisschen leiser als zuvor. Hideto lächelte nur, ließ ihn nicht los und nickte, nachdem er sich die Hand an die Wange gelegt hatte.
 

"Mir ist da noch etwas eingefallen.", brachte nun auch Hideto noch eine Sache in ihr Gespräch mit ein, "Denn es ist doch so... Man muss nicht mit jemandem zusammen sein, um ihn küssen zu können, oder?" Als Tetsu die Bedeutung seiner Worte klar wurde, stieg ihm die Wärme in die Wangen.

"Eh... nicht, dass ich wüsste...", stammelte er leicht. War das sein Ernst? Oh, ihm wurde plötzlich so unsäglich heiß und der Kopf schwirrte ihm etwas.

"Erinnerst du dich noch an den allerersten?", wollte Hideto leise wissen, als er mit einer Hand nach Tetsus Gesicht und dann den Lippen tastete. Sanft strich er mit dem Daumen über die Unterlippe, konnte sie trotz Dunkelheit deutlich vor sich sehen.

"Ja...", flüsterte Tetsu nur. Allein die Vorstellung, sie könnten sich jeden Moment wieder küssen, ließ sein Herz rasen. Er erinnerte sich nur zu gut daran, wie es gewesen war, bevor er erkannt hatte, was sie in diesem Moment getan hatten. Es war wundervoll gewesen, neu aber eigentlich doch so willkommen. Er konnte Hidetos warme, weiche Lippen bereits auf seinen eigenen fühlen, so gut erinnerte er sich.

"Erinnerst du dich auch jetzt?", fragte Hideto weiter. Wieder konnte er nichts weiter tun, als es zu bejahen. Hideto hatte ihn wieder, er fühlte sich so willenlos wie eine Puppe.

"Möchtest du es wiederholen?", setzte Hideto seine Fragerunde fort, strich wieder leicht über die Lippe, nach der er sich so verzehrte.

"Ja...", hauchte Tetsu nur und es dauerte keine fünf Sekunden, bis es auch tatsächlich geschah. Als sich ihre Lippen wieder trafen, schloss er die Augen und spürte an diesem Tag ein zweites Feuerwerk in sich aufsteigen.



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Von: abgemeldet
2012-10-09T20:32:04+00:00 09.10.2012 22:32
Hi!
Mir ist gerade aufgefallen, dass ich schon ewig keinen Kommi mehr hinterlassen habe. Der letzte war glaube ich 2010, also schon ewig her. Das muss jetzt aber mal geändert werden.
***

Ich finde es schön, wie du Tetsu und Haido, sich erst einmal zusammenfinden lässt.
Eine Freundschaft entsteht schließlich nicht von jetzt auf gleich, sondern muss mit viel Mühe und Schweiß erarbeitet werden. Und mit der Liebe ist es genauso.

So ein Feuerwerk ist wirklich schön anzusehen, gerade in Japan soll es ja so ein Fest geben (frag mich bitte nicht wie es heißt) da soll es ein riesen Feuerwerk geben-> Das muss schön aussehen.

Sind Tetsus Zweifel eigentlich ernst zu nehmen? Wenn es wirklich wahr ist, dann sollte er vielleicht wirklich nicht mit Haido zusammen kommen, obwohl die beiden schon ein süßes Paar abgeben.
***

Auf den weiteren Verlauf der FF bin ich schon sehr gespannt.
LG Cat

PS: Ich hätte da mal noch eine kleine Frage.
Schreibst du bei "Ich wollte ein Engel sein", eigentlich auch noch weiter? Diese FF mag ich nämlich auch sehr gerne und würde schon irgendwie wissen, wie es da weiter geht ;-)

Von:  queermatcha
2011-04-09T22:33:40+00:00 10.04.2011 00:33
Aaaaaah, oh mein Gott! >< Das Kapitel war einfach nur TOLL! So gut geschrieben, ich hab so sehr mitgefiebert und die plötzliche Liebeserklärung von Hyde war so PERFEKT dargestellt! Ich liebe deine FF! *____* *weiterlesen will* Ich bin schon so gespannt, wie es weitergeht, und freu' mich wie ein Schnitzel auf das nächste Kapitel. *hinsetz und geduldig wart* ....aber nicht zu lange brauchen! XD
Von:  queermatcha
2011-04-09T22:16:33+00:00 10.04.2011 00:16
Hach, ein Glück! *3* Gut, dass Tetsu in der Nähe war, um Hideto zu retten, sein knight in a shining armour~ *fanfarenmusik einblend* Aber dass er den armen Haido schlagen muss am Schluss, wo der doch von seinem Vater so misshandelt wurde... *ihn pat*
So - und jetzt bin ich gespannt auf's nächste Kapitel! *__*
Von:  queermatcha
2011-04-09T22:06:36+00:00 10.04.2011 00:06
Oh Gott, die zwei sind ja soooo Zucker >/////< Voll toll, wie der Spitzname Hyde Zustande gekommen ist! x3
Von:  queermatcha
2011-04-09T21:44:42+00:00 09.04.2011 23:44
*Tetsus Hand tätschel* Aua? An die Mauer schlagen, bis sie blutet? Dieser Daisuke scheint ja auch ein total unsensibler Klotz sein. *ihn tret* Auch, wernn er einen absolut tollen Namen hat! xD *Den Namen Daisuke total anlieb*
Von:  queermatcha
2011-04-09T21:29:47+00:00 09.04.2011 23:29
Ach du scheiße. Greift der ihm einfach in den Schritt xD"" *Hideto pat* Aber ich kann auch verstehen, dass Tetsu wütend ist. Aber ich will nicht, dass sie sich streiten QQ *sie wieder zusammen schieb* Hoffentlich verzeiht Tetsuya ihm das! ><
Von:  queermatcha
2011-04-09T21:16:09+00:00 09.04.2011 23:16
Ein... Mädchen. Ja, nee, is' klar XD Und den Stimmbruch hatte er nur so aus Spaß? Ist schon interessant, worauf die Mitschüler da kommen xD"
Von:  queermatcha
2011-04-09T21:06:00+00:00 09.04.2011 23:06
Das mit der Zunge rockt XD Wie auffällig die beiden immer wieder Andeutungen machen, aber das trotzdem nicht wirklich verstehen... sehr unschuldig, voll süß xD Und Hideto, der alte Fresssack *lol*
Mal schauen, was am Strand passiert. Vielleicht bleibt Hideto ja die ganze Zeit bei Tetsu? Fäng' ich auch jeden Fall niedlich. *nodnod*
Von:  queermatcha
2011-04-09T20:49:49+00:00 09.04.2011 22:49
Mein Gott, zwischen den beiden knistert es aber ganz gewaltig! xD Und toll, dass Tetsu Hideto umarmt <3 Sie kommen sich immer näher, das ist toll. Hach, ich liebe Haidos Rückentattoo *__* xD
Von:  queermatcha
2011-04-09T20:38:49+00:00 09.04.2011 22:38
Mwah, wie schnuffig ist das am Schluss denn bitte?! Süß, dass Tetsu mal etwas aus sich rausgeht x3 Und dass ich Hideto in der Geschichte total schnuffig finde, weißt du ja schon... die zwei sind so Zucker zusammen! *_* Wann Tetsuya wohl endlich merkt, dass er Hideto ganz vertrauen kann? *wieder weiterlesen geht*


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