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EXANIMATIO - Die Angst

Der letzte Schritt: Teil I
von

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Blut ist dicker als Wasser.

Seit der Geburt seines kleinen Bruders hatte Benny immer mehr den Draht zu seiner Mutter verloren. Mit der Trauer über seinen Vaterverlust hatte er sich zurückgezogen, hatte stumm zugesehen, wie sein Bruder immer weiter bevorzugt worden war.

Über die Jahre hatte er neben Richie Trost bei seiner Tante und deren Kindern gefunden. Die Schwester seiner Mutter hatte oft versucht zwischen ihnen zu kommunizieren, doch nichts hatte geholfen; beide Seiten standen auf Durchzug.

In diesem Sommer war Bennys älterer Cousin abgereist um zu studieren; als sich nun auch Richie verabschiedet hatte, rief Benny in einer Woge von Verzweiflung seine jüngere Cousine an. Kaum eine Viertelstunde später hatte sie vor der Tür gestanden, mit Schlafanzug und Zahnbürste unter dem Arm und der Verkündung, dass sie ihm über die Nacht beistehen würde.

Er und Christina blieben lange auf, lenkten einander von den jeweiligen Verlusten ab, redeten viel über alles. Benny erwähnte Lisa nur kurz, über Tamias verlor er kein Wort. Niemand sollte mit reingezogen werden, es lag jetzt nur noch an Sid und ihm, ihn irgendwie aufzuhalten.

Benny träumte oft wirr, seit Alecs Tod waren Alpträume nichts Überraschendes, so tat er auch die schemenhafte Gestalt am Boden neben Christinas Matratze als eine dieser nervigen Erscheinungen ab und beschloss bloß, bald wieder aufzuwachen. Es war nichts neues, dass in seinem Kopf mitten in der Nacht zerfleischende Geräusche ertönten, jemand auf dem Parkett kniete und jemand anderem den Mund zuhielt –

Erst Christinas Schrei ließ ihn in die Augen wieder öffnen. Ruckartig setzte er sich auf, taumelte aus dem Bett, stolperte über die Ecke der am Boden liegenden Matratze und stützte sich am Lichtschalter ab – er stockte. Die Welt blieb stehen. Sein Atem setzte aus, sein Herz hörte auf zu schlagen, sein Körper stellte auf Stand-by; nichts regte sich, außer den breiten roten Flüssen auf der dunklen Matratze –

»Benny…«

»Oh, Scheiße!«

Und mit einem Mal kam das Leben zurück in seinen Körper, versetzte ihm einen Schlag mitten ins Gesicht, ließ ihn umdrehen und aus dem Zimmer stürmen.

»MAMA!«, brüllte er. »Aufwachen, aufwachen! Aufwachen, Christina verblutet! AUFWACHEN!«

Sie hat nie geholfen, sie wollte dir nie helfen, sie hat sich nie für deine Probleme interessiert, warum sollte sie sich jetzt für deine Cousine interessieren?

Benny hatte gelernt, aus der schneidenden Stimme seiner unterdrückten Wut die Informationen zu hören, die er brauchte: Er musste handeln.

Er rannte, er flog die Stufen hinunter, überschlug sich auf der Kellertreppe, richtete sich mit geschundenen Schienbeinen wieder auf, fegte Christbaumkugeln und Basketbälle aus den Regalen, stieß eine scheppernde Gitarre um, durchwühlte den gesamten Keller.

»Wo ist der verfluchte…?«

Der Erste-Hilfe-Kasten stand direkt neben ihm in einer Ecke. Benny stöhnte leise, richtete sich auf und packte ihn, ignorierte die Schwindelgefühle während er die Treppen mit wenigen Sätzen hinauf sprang, begann er wieder nach seiner Mutter zu brüllen; als er sein Zimmer wieder betrat, kniete sie bereits neben Christina, hielt ihre Hand, sah wie gelähmt zu ihrem keuchenden Sohn.

Benny warf ihr den Kasten hin. »Mach was«, sagte er heiser.

Fast konnte man sehen, wie die Synapsen in ihrem Hirn nach Anschluss suchten, wie das gesamte Gebilde langsam anfing zu arbeiten. Sie klappte den Erste-Hilfe-Kasten auf, in Sekundenschnelle hatte sie einen Verband ausgewickelt und entzwei gerissen, während Benny nach Worten suchte um seine Cousine zu beruhigen, band sie mit den beiden Hälften ihre Beine ab.

Mit Augen, die nichts anderes als Hektik ausdrückten, starrte sie zu Benny hoch. »Ruf den Notarzt«, stieß sie hervor. »Los!«

Noch einen Moment lang blickte er Christina an, ließ zu, dass sich das Bild wie ein Parasit in sein Gedächtnis festsetzte – die verschwitzten Haare, die weit aufgerissenen Augen im leichenblassen Gesicht, die schmalen, farblosen Hände, verschränkt über der flachen Brust, die sich viel zu schnell hob und senkte, der schreckhaft eingezogene Bauch, und schließlich die Beine, die sonst so agilen Beine, nun bewegungslos auf der blutdurchtränkten Matratze, oberhalb der Wunde fest abgebunden, damit nicht noch mehr Blut aus den Wunden entweichen konnte, die sich von jedem Oberschenkel fürchterlich gerade bis zu den Fußknöcheln zog – dann sprintete er in den Flur, zu dem kleinen Tisch, auf dem das Telefon stand. Er wählte die Nummer, hielt jedoch in der nächsten Bewegung inne, als er den Zettel sah. Er lag neben der Station, weiß, unscheinbar, mit rotem Filzstift (oder Blut) beschrieben –

Ruf an, Richie

- darunter eine Nummer, die Benny nicht zuordnen konnte –

Wenn du dich traust.

Die Frau in der Leitung wurde ungeduldig. Rasch hob Benny den Hörer an sein Ohr und schilderte das Geschehen.

Seine Mutter eilte aus dem Zimmer, offenbar um sich um seinen Bruder zu kümmern. Benny überkam eine Welle von Missgunst und Abneigung, er feuerte das Telefon zurück auf die Station und lief zurück zu Christina. Nachdem er den Zettel auf dem Tischchen fotografiert hatte, versuchte er, mit ihr zu reden, doch sie brachte nicht mehr als einige erstickte Laute über die Lippen. Ihr flehender Blick ließ Bennys Inneres verkrampfen, es fühlte sich an wie Säure an seinem Herzen; das war Tamias’ Werk, er hatte das angerichtet, er hatte die letzte Sympathieträgerin seiner Familie bestraft für etwas, wovon sie nicht einmal gewusst hatte, er hatte erneut etwas unternommen, um Bennys Ängste zu wecken und auf einen schuldzerfressenen Höhepunkt zu treiben.
 

Gute elf Stunden später war Benny nur noch ein Schatten seiner selbst. Er war blass, blasser als sonst, seine Augen waren von tiefen, dunklen Schatten umrandet, seine Lippen waren trocken und aufeinander gepresst; sein Hemd hing teilweise noch in der Hose, er trug viel zu lange Socken für diesen Sommer, seine Schuhe waren offen, seine Haare standen ab.

»Benny…« Sid versuchte sanft zu klingen. »Du musst dich selbst nicht so abringen, du musst uns nichts erzählen, wir sind auch so für dich da.«

Sie und Richie hatten vor einigen Stunden jeweils einen Anruf bekommen, in dem Benny sie vom Polizeipräsidium aus mit den Worten »Sid hatte Recht, es ist etwas passiert.« in den Park gebeten hatte. Seitdem hatten sie dort im Gras gesessen und sich Sorgen gemacht, nun redeten sie seit Minuten auf Benny ein, der immer wieder verbissen Sätze anfing und wieder abbrach.

»Ich will aber«, wiederholte er heiser. Er saß zusammengesunken zwischen seinen Freunden im Gras, sein Blick war fest, starrte jedoch bloß zu Boden. »Ich hab euch jetzt extra hierher getrommelt, ich will es euch erzählen.«

»Du meintest, du hättest bei der Polizei schon alles gesagt, wir verstehen, wenn –«

»Die Bullen haben aber nur Halbwahrheiten. Ich konnte ihnen ja schlecht alles erzählen. Sie denken, ich wäre erst später aufgewacht, aber ich hab ihn gesehen.«

Richie und Sid warfen erst sich, dann Benny einen erschrockenen Blick zu. So weit war er seit er bei ihnen war noch nicht gekommen.

»Ich hab ihn gesehen, er war direkt neben meinem Bett, aber ich Depp hab natürlich gedacht, ich träume. Er hat… Christina hat bei mir übernachtet, meine Cousine, kennt ihr ja. Und er… Der Typ hat sie angegriffen.«

Die nachmittäglichen Geräusche im Park störten die Szene. Zwischen Richie, Benny und Sid herrschte andächtiges, besorgtes Schweigen, doch um sie herum tollten Hunde und Kinder, fast spöttisch sangen Vögel über ihnen in den Bäumen, ein Elternpaar rief in grotesker Verbindung zu den vergangenen Todesfällen »Engelchen flieg!«; mit einem düsteren Blick zu einem vorbeilaufenden Kind, der es erschrocken aufkeuchen und zurück zu seinem Vater laufen ließ, beantwortete Benny schlussendlich die Frage, die seine Freunde nicht zu stellen wagten: »Sie hat’s überlebt. Ganz knapp. Weil wir schnell genug gehandelt haben, Mama und ich.«

»Was hat er mit ihr gemacht?«, hauchte Sid, stimm- und atemloser als beabsichtigt.

Bennys Gesichtsfarbe wandelte sich langsam von aschfahl in blassrot. In seinem Schoß waren die Hände geballt, das Weiß der Knöchel trat aus der unreinen, gestressten Haut hervor, seine Stimme glich einem Knurren, als er antwortete: »Er hat sie aufgeschlitzt. Von hier bis hier.« Er streckte ein Bein aus und gestikulierte mit den Handkanten den Abschnitt, aus dem vor Stunden Christinas Blut gequollen war. »An beiden Beinen. Mama hat sie abgebunden, bis der Notarzt gekommen ist. Der hat sie mitgenommen, wir durften noch mit ihm sprechen, bis die Bullen uns ausgequetscht haben. Jedenfalls war… Also, sie hat zu viel Blut verloren und alles. Die Venen sind nicht nur großflächig verletzt, sondern sogar abgestorben. Die Beine. Tot.« In Bennys Augen sammelten sich Tränen, verzweifelte Wut stand ihm ins Gesicht geschrieben – für ihn war Tamias nun endgültig zu weit gegangen. »Sie werden sie amputieren. Ihre Beine, sie wird nie wieder laufen. Sie wird den Rest ihres Lebens im Rollstuhl verbringen, nur weil dieser Bastard der Meinung war, an ihr seine Komplexe auszulassen! Sie ist erst vierzehn, verdammt! Und unschuldig! Sie ist noch nie mit ihm in Berührung gekommen, sie hat nichts mit diesem Angst-Mist zu tun, warum hat er sich an ihr vergriffen und nicht an –?«

»Benny!«, unterbrach Sid ihn rasch. »Sag’s nicht. Es wäre genauso beschissen gewesen, hätte er sich an dir vergriffen. Keiner von uns wäre dann glücklicher.«

»Das mit deiner Cousine ist ’ne schlimme Sache«, sagte Richie leise. »Aber, so brutal das jetzt auch ist, du darfst nicht vergessen, mit wem wir es hier zu tun haben. Er macht das alles aus einem bestimmten Grund, er hat es jetzt eindeutig auf uns abgesehen – er provoziert: Sids Mutter, deine Cousine –«

Er brach ab, als er Bennys Blick bemerkte. Sie starrten einander an, die Augen weit geöffnet, als auch Sid schaltete. »Meine Mutter, seine Cousine«, wiederholte sie langsam. »Was ist mit deiner Familie?«

Wie in Trance griff Benny in die Gesäßtasche seiner Jeans, zog das Polaroid hervor, das er vom Zettel im Flur gemacht hatte, hielt es Richie wortlos unter die Nase.

Seine Finger zitterten, als er es entgegennahm, seine Lippen bildeten stumm die gelesenen Worte, mehrmals, er sah nicht auf, streckte bloß eine verkrampfte Hand aus. »Hat jemand ein Handy?«, krächzte er.

Sid kramte ihr Mobiltelefon aus einer Hosentasche; »Wessen Nummer ist das?«, fragte Benny angespannt.

»Onkel Charly«, nuschelte Richie und klappte Sids Handy auf. »Der, zu dem wir nächste Woche abhauen wollten.« Er brauchte drei Anläufe, um die Nummer zu wählen, doch schließlich ertönte leise ein Freizeichen.

»Stell mal auf Lautsprecher.« Sid hörte ihre eigene Stimme nur dumpf, sie konnte nicht begreifen über solch eine Nebensächlichkeit zu sprechen, während Leben auf dem Spiel standen – oder vielleicht schon längst verloren waren.

Ein Klicken aus der Leitung riss sie aus ihren Gedanken, am anderen Ende hatte offenbar jemand abgenommen, doch niemand meldete sich.

»Ha-Hallo?« Richies Stimme war dünn und Sid kam der Gedanke, dass es gar nicht er war, der da sprach, sondern ein viel kleinerer Richard Jarvis, der sich bisher zitternd und fürchtend in einer Ecke seiner Seele zusammengerollt hatte und nun am Telefon auf die Bestätigung seiner Ängste wartete. »Charles? Bist du da? Hier ist Richie –«

»Hallo, Richie.« Durch die drei ging ein synchrones Schaudern. Jeder von ihnen kannte diese Stimme, jeder von ihnen fühlte sich angesprochen, jeder von ihnen fühlte sich in diesem Augenblick unmittelbar bedroht. Sein Tonfall war sanft, so unheilvoll sanft, gefüllt mit geheucheltem Verständnis. »Tut mir leid, dir das mitteilen zu müssen, aber hier spricht nicht Charles.«

»Was hast du mit ihm gemacht?«, keifte Richie sofort.

»Schhht«, flüsterte Sid. »Gib acht.«

»Oh«, kam es langgezogen aus dem Hörer; allein in diesem Laut war ein Grinsen zu hören, »guten Abend, Sidney. Dann gehe ich davon aus, dass auch Benjamin schon von der Polizei entlassen wurde. Wie ist das werte Befinden?«

Benny bebte. »Wie soll’s uns schon gehen?«, knurrte er.

»Ich will wissen, was mit meinem Onkel ist«, warf Richie ein, bevor jemand anderes etwas erwidern konnte. »Du sollst ihn in Ruhe lassen!«

»Natürlich werde ich ihn in Ruhe lassen, Richard, natürlich. Dafür habe ich noch genügend Anstand.«

Sid schnaubte. »Als ob du –«, setzte Benny an, doch Tamias brachte sie mit einem Satz zum Schweigen:

»Alles Andere wäre Störung der Totenruhe.«

Erneut zerstörte ein Kinderlachen die erschrockene Stille.

»Ich will mit ihm reden«, sagte Richie, mehr zu sich selbst, dumpf, niedergeschlagen, nostalgisch.

»Dazu fehlen ihm die nötigen Organe, fürchte ich.«

»Wir müssen die Polizei rufen«, murmelte Sid. Es war das einzige, was ihr gelähmtes Hirn als Einfall ausspucken konnte; sie fühlte sich müde, ausgelaugt, fast sogar zu benutzt für Trauer.

»Die weiß schon bescheid«, sagte Tamias leichthin. »Immerhin hat sie ebenfalls von meiner kleinen Nachricht erfahren. Die örtliche Streife dürfte gleich hier sein.«

»Hast du diesen Zettel nur da gelassen, um uns das zu erzählen?«, fragte Benny leise. Sein Ton triefte vor Verachtung.

»Das gilt es jetzt herauszufinden, Benjamin.« Seine Stimme war ebenso leise, doch in ihr lagen Tücke, Schaden-, vielleicht sogar milde Vorfreude. »Ich wünsche euch dreien viel Glück dabei. Nehmt euch nur Zeit – und beobachtet ihre Opfer. Auf bald.«

Mit diesem Worten legte er auf.

Noch lange starrten sie das Handy an, bis Sid es schließlich behutsam aus Richies Hand zog und wieder wegsteckte. »Was sollte das heißen?«, fragte Benny heiser.

Sid zuckte mit den Schultern - »Mein Onkel ist tot«, sagte Richie plötzlich, laut, deutlich, fest, in einem Tonfall, der so gar nicht zum Geschehenen passen wollte.
 

Das Trio hatte es nicht mehr lange zusammen im Park ausgehalten. Richie war mit tränenden Augen nach Hause gelaufen, um sich, wie er gesagt hatte, um seine Eltern zu kümmern, Benny hatte es ins Krankenhaus gezogen um nach seiner Cousine zu sehen; Sid radelte stumm heim, ihre Gedanken hingen all dem Vergangenen nach, doch sie konnte nicht erneut trauern, sie fühlte sich schrecklich leer und alleine.

Wie sich herausstellte, sollte sich das bald ändern. Sie hatte gerade das erdrückende Gespräch mit ihrem Vater über die Neuigkeiten beendet, als es an der Tür klingelte. Beide sahen auf, die Angst stand deutlich in ihren Gesichtern, rührten sich nicht. Sid schielte zur Küchenuhr. Die neue Ausgangssperre würde in zehn Minuten in Kraft treten.

»Macht auf, bitte«, kam es von draußen – Sid erkannte sofort Bennys Stimme. »Ich kann nicht nach Hause, bitte macht auf.«

Sid warf ihrem Vater einen flüchtigen Blick zu, wartete erst gar nicht auf eine Erlaubnis, erhob sich rasch und stürzte zur Tür.

Bennys Erscheinung trieb ihr Tränen in die Augen. Er sah nicht aus wie ein Sechzehnjähriger, er wirkte auf der Schwelle viel eher wie ein kleiner Junge, mit seinen unordentlichen Haaren, den verheulten Augen, den schmutzigen Klamotten und den aufgeschürften Händen – offenbar war er auf dem Weg hingefallen. Sid ließ ein zitterndes Kind ein, das mit schweren, vor Verzweiflung ächzenden Schritten den Flur betrat; er wirkte, als könne er jede Sekunde zusammenbrechen.

Behutsam legte Sid einen Arm um seine Schultern. »Was ist passiert?«, fragte sie leise. »Was ist los, warum kannst du nicht heim?«

Benny wischte sich langsam mit dem Handrücken über Augen und Nase, bevor er antwortete. »Ich wollte eigentlich bei Christina bleiben.« Er sprach trocken, heiser, klang furchtbar müde. »Aber sie kam gerade von der OP, ich durfte sie nicht sehen, sie meinten sie bräuchte Ruhe. Also bin ich nach Hause und… und… Sie fängt schon wieder damit an!«

Sid schluckte, sie ahnte, was passiert war, nickte ihrem Vater entschuldigend zu und führte Benny in ihr Zimmer. Auf ihrem Bett rieb er erneut Tränen aus seinen Augen. »Sie hat einfach so getan, als wäre ich nicht da. Immer nur er, er, er. Ich hab die ganze Zeit versucht mit ihr über Christina zu reden, ich hab so verfluchte Angst, aber sie saß ständig nur bei meinem Bruder, immer bei ihm, hat so getan als würde sie ihn trösten, dabei kann ihn das gar nicht so mitgenommen haben – aber ich bin ja nicht wichtig, ich bin ja nicht wichtig, ich bin ihr Sohn

Mit einem tiefen Seufzen umarmte Sid ihren Freund. Sie spürte wie er zitterte vor erneuter Wut und Verzweiflung, drückte ihn an sich, strich ihm vorsichtig mit einer Hand über den Rücken.

»Er nimmt mir alles weg, was ich je gebraucht habe«, nuschelte Benny gegen ihre Schulter.

Sid runzelte die Stirn. »Dein Bruder?«

»Nein. Tamias. Es ist immer möglich, mit meiner Mutter und meinem Bruder in einem Haus zu leben, solange nichts passiert. Aber… V-Verstehst du… Er hat jetzt nicht nur Christina verletzt, sondern mir schon wieder ein Stück Hoffnung genommen. Ich weiß immer weniger, wie ich’s noch jahrelang zu Hause aushalten soll.«

Sid schwieg. Sie wusste absolut nicht, was in einer solchen Situation zu sagen war. Sie schüttelte bloß leicht den Kopf, drückte Benny immer wieder an sich, stierte stumm über seine Schulter hinweg. Einige Male setzte sie an etwas zu sagen, doch jegliche Wortwahl schien ihr inadäquat für das alles. Tamias hatte ihnen so viel angetan, so viel Schaden zugefügt – wie konnte sie da noch tröstende Worte finden, ohne töricht zu klingen?

Irgendwann hob Benny den Kopf, sah sie an. »Weißt du vielleicht, wie’s Richie geht?«

»Mh-mh. Aber er sah aus, als bräuchte er erst mal Zeit alleine. Muss ja auch mit seinen Eltern alles klären. Hoffentlich dreht seine Mutter nicht allzu sehr ab.«

Benny verengte die Augen. »Hat er ja richtig geschickt gemacht«, sagte er leise. »Ohne Charlie kann Richie nicht hier weg. Der Kerl kann sich also in Ruhe an uns dreien vergreifen.«

Sid nickte langsam, nahm Bennys Sinneswandel von der Trauer weg dankbar an. »Sag ich ja«, murmelte sie. »Er plant das alles, jede Menge. Da ergibt irgendwann alles Sinn.«

»Und wir sollten hoffen, dass wir das noch miterleben. Wir müssen unbedingt… Irgendwie…« Er seufzte schwer. »Ich weiß, das klingt echt kindisch und unrealistisch, aber irgendwie müssen wir diesen Typen doch aufhalten können.«

»Es klingt schon ein wenig nach Harry Potter«, sagte Sid leise. »Aber du hast ja Recht. Die Polizei hat schlechte Karten bei ihm… Ich wette, das war auch alles geplant, dass nur wir von ihm wissen, drei idiotische kleine –«

Sid unterbrach sich selbst, als es an ihrer Zimmertür klopfte. »Ja?«, rief sie, etwas zittrig; die Angst Tamias persönlich oder gar ein weiteres totes Familienmitglied auf der Schwelle vorzufinden, war bei jeder Meldung präsent.

James Wilcox schob seinen Kopf durch den Türspalt. »Ich wollte nur gucken, ob ihr hier klar kommt«, sagte er rasch. »Nicht, dass hier irgendwelche mittelschweren Dramen entstehen. Alles klar, Benny? Übernachtest du hier?«

»Ich komm schon klar.« Benny zuckte mit den Schultern. »Wenn ich darf… Wär’ ganz nett, wenn ich hier bleiben könnte.«

James nickte. »Für mich kein Problem. Sagt bescheid, wenn wir etwas braucht, ja?«

»Machen wir«, sagte Sid leise. »Danke, Papa.«

Sie sahen ihm nach, blickten stumm zur Tür, aus dem Konzept gebracht. Benny fuhr sich leise seufzend mit einer Hand über das blasse Gesicht, stand auf. »Ich geh mal kacken«, murmelte er.

Sid gluckste kurz. »Tu das. Viel Spaß.«

Mit einem genuschelten Dank verließ er das Zimmer. Er kannte den Weg lang genug, war ihn im vergehenden Sommer so oft gegangen, doch irgendetwas schien verändert im dunklen Flur. Er war länger als sonst, die weiße Tür zum Badezimmer wartete viel weiter weg… Mit einem kalten Schauer überkam Benny die Vorstellung des Tunnels mit dem Licht am anderen Ende, statt des Flurs mit der Klotür am Ende. Er versuchte darüber zu lachen, doch seine Mundwinkel brachten nicht mehr als ein gequältes Zucken zustande.

»Benny hat Schiss vorm Klo«, sang er leise. »Dabei sollte man Schiss doch im Klo haben…«

Er betrat das Bad, knipste das Licht an, warf der Glühbirne einen dankenden Blick zu. Trotz der Gewissheit, dass Sids Badewanne sie nur im Traum angegriffen hatte, kam Benny nicht umhin, sich beobachtet zu fühlen.

Nach Verrichten seiner Notdurft hatte er es eilig wieder zu Sid zu kommen, doch zu seiner tatsächlich nur milden Überraschung wurde er aufgehalten.

Er wusch sich die Hände, blickte auf in den Spiegel – und stockte. Hinter sich in der Spiegelung war die Wanne. Pechschwarzes Wasser ruhte still in ihr, spiegelte die Zimmerdecke, starrte ihn nahezu an. Mit einem schwerfälligen Schlucken sah Benny über die Schulter. Die Wanne hinter ihm war leer. Kopfschüttelnd wandte er seinen Blick wieder dem Spiegel zu, doch da war es, da war das Wasser, es stand direkt hinter ihm ruhig in der Wanne – warum konnte er es ohne die Spiegelung nicht sehen?

Er holte gerade Luft, um nach Sid zu rufen, als er beobachten konnte, wie etwas an die Oberfläche dümpelte. Benny lehnte sich unwillkürlich etwas weiter vor, verengte die Augen, stierte gegen das Glas – es waren zwei Beine.

Nun stieg der Schrei unweigerlich in Bennys Kehle hoch, er riss den Mund weit auf, konnte die Augen nicht abwenden von Christinas Beinen, die ihr so brutal genommen worden waren, wollte nur noch schreien, rufen nach Sid, nach der letzten, die ihm jetzt noch blieb – doch es wurde ein Schrei, den nie jemand hören würde. Bevor sich seine Stimmbänder bewegten, zog eine ungreifbare Kraft Bennys Füße vom Badezimmerboden, er hätte sich das Gesicht am Waschbecken aufschlagen müssen, doch er landete an einem völlig anderen Ort.

Unmittelbar nach dem Aufprall spürte Benny pochenden Schmerz in seinem Kiefer, er musste einige Zähne verloren haben, doch er schmeckte kein Blut. Ächzend richtete er sich auf, tastete mit den Fingerspitzen über seine Zahnreihen, doch vollkommen wider seinem Gefühl war dort alles intakt.

Scheu hob er den Blick.

Vor ihm erstreckte sich ein Gang, jedenfalls glaubte Benny, dass es einer war. Er erkannte weder Wände noch Decke, alles um ihn herum war undurchsichtig, fast zweidimensional, tiefschwarz – alles, außer dem Boden. Auch er musste irgendwo den Grundton Schwarz haben, doch er war vollgekritzelt, scheinbar von Hand, mit grell leuchtend roter Farbe. ANGST stand dort immer wieder, in Großbuchstaben, verwischt und verwackelt, in Handschrift, die die wahre Bedeutung dieses Wortes kannte. Doch da waren noch andere, »Angst« war das größte, doch es war umgeben von Worten, die Benny nicht entziffern konnte.

Mitte einem zweifelnden Zittern drehte er sich um hundertachtzig Grad. Es bot sich ihm das gleiche Bild, keine Veränderung, noch immer ein unendlicher Gang mit diesem irrsinnigen Gekritzel. Und vielleicht war es das, dachte Benny plötzlich, vielleicht war es die Schreibe eines Verrückten, der hier gelandet war, vor Angst seinen Verstand verloren hatte und in Folge dessen seine letzten und einzigen Gedankengänge in wahnsinniger Verzweiflung niedergeschrieben hatte.

Benny schüttelte den Kopf. »Muss ein Traum sein«, murmelte er. Seine Stimme klang leise und gedämpft, hatte nicht einmal den Ansatz eines Echos. In Träumen nimmt man nie an, dass man träumt, antwortete eine schneidende Stimme in seinem Kopf.

Er beschloss, darüber nicht weiter nachzudenken. Sich Gedanken über Rationalität zu machen, schien in letzter Zeit sowieso immer sinnloser.

Benny drehte sich wieder zurück – keinerlei Veränderung seiner Sicht – und streckte unwillkürlich die Arme aus.

Er zuckte zusammen, seine Handflächen berührten Wände, doch sie fühlten sich an wie in eiskaltes Wasser getaucht, drohten nach wenigen Momenten taub zu werden. Mechanisch zog er sie wieder zurück.

»Los, geh voran«, flüsterte er zu sich selbst. »Mehr als Sterben kannst du ja nicht…«

Und so gehorchte er seiner so seltsam verfremdeten Stimme, tat langsame, vorsichtige Schritte vorwärts. Sie wiederum hallten. Laut wie Paukenschläge echoten sie um ihn herum, erfüllten den Raum allmählich mit einem penetranten Dröhnen.

Benny hielt den Blick zunächst gerade nach vorn, doch nachdem er dort nichts weiter als massive Schwärze erkannte, senkte er ihn gen Boden.

Dunkles, pulsierendes Grauen wuchs in seiner Magengegend, als er mit jedem Schritt ein weiteres Wort erkannte.

fear stand leuchtend unter seinen Füßen, zierte in kleineren Buchstaben dieses riesige Anfangswort, mit φοβος las er griechische Lettern, fragte sich erst gar nicht nach deren Bedeutung, auch ansiedad konnte er erahnen. Mit jeder Berührung seiner Sohlen mit dem Boden flammte ein neues Wort auf, der Gang war nun voll von Sprachen, Schriftzeichen, fluoreszierendem Rot.

Er hatte grade peur zwischen seinen Füßen gelesen, als sich an seiner linken Seite sichtlich etwas bewegte. Benny hob den Kopf, in den Bruchteilen der Sekunde dieser Bewegung schossen ihm die erschreckendsten Bilder durch den Verstand, er erwartete das Schlimmste.

Umso mehr überraschte ihn, was er tatsächlich sah: Er schien durch eine Tür zu blicken, hinter ihr lag ein Hof; er wirkte alt, sein Boden war sandig und verdreckt, von Stein oder gar Asphalt war nirgends etwas zu sehen. Einige Meter weiter hinten lag ein großer Haufen Pferdeäpfel. In Bennys Fokus jedoch saß ein kleiner Junge auf diesem schmutzigen Boden, er konnte nicht älter als fünf oder sechs Jahre sein, dickes braunes Haar fiel ihm in die Augen, fettig und ungepflegt, ein mildes Lächeln spielte um seine blassen Lippen – es erinnerte Benny dunkel an das eines bestimmten Erwachsenen, doch der Gedanke drang kaum in sein Bewusstsein vor. Der Blick des Jungen war auf das Tier, das vor ihm hockte, gerichtet – ein Schäferhundwelpe…

Die beiden schienen allein durch ihre Augen zu kommunizieren, es herrschte ein fast greifbares Verständnis zwischen ihnen. Der Hund musste nur den Kopf schief legen, um den Jungen zum Lachen zu bringen, jener strubbelte ihm mit seinen kleinen, gebräunten Händen durchs Fell, die Szene war so harmonisch, dass sie für Benny in diesem dunklen, von einem bedeutungsschweren Wort gezeichneten Gang mehr als unreal wirkte. Was war das nur, welchem Geschehen wurde er da Zeuge? Was hatte all die Furcht zu seinen Füßen mit diesem Frieden zu tun –?

»Tamias!«, bellte eine schrille Stimme quer über den Hof, sie triefte so sehr vor Wut und Verachtung, dass Benny zusammenzuckte.

Der kleine Junge am Boden tat es ihm gleich, er hob erschrocken den Kopf, die noch so warmen, haselnussbraunen Augen weit aufgerissen, ein Zittern ging durch seinen Körper; er stieß ein Fluchwort aus, das Benny gänzlich unbekannt war.

»Du sollst den verdammten Köter waschen!«

Der junge Tamias runzelte die Stirn, schob die Unterlippe ein Stück vor, wandte sich wieder dem Welpen zu. »Du bist gar kein Köter«, sagte er leise. »Du bist Inferno, mein eigener Höllenhund.«

Inferno fiepte zur Antwort, wiegte den Kopf auf die andere Seite. Tamias schmunzelte. »Aber waschen könnte man dich wirklich mal.«

Erneut fiepte der Hund, langgezogener, bettelnd, und Tamias lachte. Er schlang die Arme um seinen Hals und schloss grinsend die Augen. »Ist schon gut, dann nicht jetzt. Wir müssen sowieso nicht auf meine blöde Schwester hören.«

Irgendwo außerhalb von Bennys Blickfeld öffnete sich eine Tür, er hörte Scharniere quietschen und wenige Schritte.

Erneut hob Tamias den Kopf, erneut weiteten sich seine Augen. Jemand kam mit schnellen Schritten auf ihn zu, vor der Frau selbst erschien ein Knüppel im Bild, gehalten von kräftigen, doch weiblichen Armen.

Mit einem Satz war Tamias auf den Beinen. »Lauf weg, Inferno«, flüsterte er hastig, »und versteck dich bei den Bäumen, wir treffen uns da wieder, versprochen!« Offenbar hatte der Hund einwandfrei verstanden, mit wenigen Sätzen war er aus Bennys Sicht verschwunden, Tamias begann einen Sprint in die andere Richtung.

Benny konnte von hinten beobachten, wie die Frau ihm nachsetzte, brüllend und mit dem Knüppel wedelnd, sie schrie ihm weitere Anweisungen nach, eine Menge Tätigkeiten, die Benny kaum möglich für einen Sechsjährigen hielt, doch Tamias legte eine gepflegte Geschwindigkeit an den Tag, er war seiner scheinbaren Schwester weit voraus.

In diesem Moment blieb jene stehen. Sie zog eine verwittert aussehende Buchse aus ihrem Gürtel, spannte sie und zielte sorgfältig. Benny zog langsam die Augenbrauen zusammen – wenn er richtig verstanden hatte, war Tamias ihr Bruder… Wollte sie wirklich auf ihn schießen (würdest du das nicht auch tun)? Er schüttelte den Kopf, beugte sich etwas weiter vor um besser zu sehen, was passieren würde.

Tatsächlich drückte sie ab. Meter weiter vorne stolperte Tamias, schrie erstickt auf, fiel zu Boden und überschlug sich. Das Wimmern und Schluchzen seiner kindlichen Stimme drang deutlich bis an Bennys Ohren, »Mein Bein!«, schrie er noch, bevor das Bild begann zu flackern, »Mein Bein, Sinistra, mein Bein!«

Mit einem kurzweiligen Summen wie das eines ausgeschalteten Fernsehers wurde die Wand vor Bennys Nase wieder schwarz. Stirnrunzelnd wandte er sich ab. Unverändert erstreckte sich vor ihm der Gang… Was war das eben gewesen? Wer hatte ihm weshalb einen Einblick in Tamias’ Kindheit geschenkt?

»Das macht dich nicht sympathischer, Mann«, murmelte er und beschloss, die Überlegung zurückzustellen, bis er zurück in Sids Zimmer war – die Frage, ob es je wieder dazu kommen würde, verdrängte er komplett.

Er setzte seinen Weg fort, und mit jedem Schritt machte die eben gesehene Vorstellung mehr und mehr dem altbekannten Horror Platz. Es war die simple Tatsache, dort zu sein. Er wusste nicht, wo dort überhaupt war, er wusste nicht, wo dort ihn hinführen würde, er wusste nicht, weshalb er dort war, und – vor allem: Er wusste nicht, ob er dort alleine war.

Es schien ihm, als sei er bereits seit Stunden dort unterwegs, er begann zu frösteln, spürte sogar einen Anflug von Platzangst. Was würde mit ihm passieren, wenn er keinen Ausgang finden würde? Er wusste ja nicht, wie er hier gelandet war, wie sollte er je wieder zurückfinden?

Während seine Schritte immer ohrenbetäubender an den Wänden dicht neben ihm widerhallten, beschlich ihn das quälende Gefühl der Verlorenheit, er war sich mittlerweile sicher beobachtet zu werden, ständig sah er über die Schulter, blickte in gähnende Schwärze, die so dick schien, dass er der starken Annahme war, selbst direkt hinter sich niemanden erkennen zu können.

Benny erschauderte. In ihm stieg das starke Verlangen hoch, zu schreien, nicht einmal unbedingt um Hilfe, seine Kehle schien ihm bloß zu befehlen, seiner wachsenden Angst Ausdruck zu verleihen – doch er hielt sich zurück. Wer auch immer ihn an diesen irrsinnigen Ort gebracht hatte, er würde ihm diese Freude nicht gönnen. Er würde hier nicht den Verstand verlieren.

(Benjamin) Als er jedoch die Stimmen hörte, bröckelte dieser Entschluss. (Benjamin) Er nahm sie mit einem Mal lauter als das Pochen seiner Fußsohlen wahr, (Ben) sie schienen überall (Benjamin) um ihn herum, Benny kniff kurz die Augen zu, versuchte nicht die Orientierung zu verlieren, doch der Gang schien sich (BENJAMIN) immer mehr um ihn zu drehen, während die Stimmen lauter wurden (Benjamin ver). Er kannte sie nicht (verdräng uns nicht Benjamin verdräng), jeglicher Versuch sie einzuordnen (uns nicht) schlug fehl. Bennys Sicht (Hör uns zu!) verschwamm, er gab das immer mehr wankende (bitte) Laufen auf (bitte Benjamin) und sank auf die Knie. Er hob zitternde Hände zu seinem schmerzenden Kopf (hör uns zu verdräng uns nicht) und erhob stöhnend seine eigene Stimme: »Was wollt ihr? Was wollt ihr denn?«

Und aus dem Lautgewirr wurde ein Chor, ein Chor, der ihm nun endlich deutlich und unisono antwortete: Wir wollen, dass du uns zuhörst, denn wir sind dein einziger Weg aus dieser Welt. Du darfst nicht verdrängen, Benjamin. Wir haben diesen Fehler gemacht und wir wollen nicht, dass du ihn wiederholst. Wir sind hier gefangen, das darf dir nicht passieren. Benjamin – hast du Angst?

Benny schniefte leise, zog die Stirn kraus zwischen seinen Händen. »Ja, klar, hab ich Angst«, flüsterte er.

Das ist es. Du darfst nicht verdrängen. Das hier ist ein Test. Wir alle wollten ihm keine Angst zeigen und so hat er uns gefangen. Du hast die Chance, hier zu entkommen. Du musst ihr Ausdruck verleihen, lass sie raus, dann lässt er dich raus. Bitte, vertrau uns. Es dürfen nicht noch mehr Opfer gebracht werden. Zeig ihm, dass du Angst hast. Dann lässt er dich gehen.

Als Benny nichts erwiderte, verstummten sie. Er hatte den Kopf gehoben, starrte den dunklen Gang entlang. Was sollte er tun? Wie verlieh man seiner Angst Ausdruck – auf Kommando?

Einige Augenblicke lang saß er ratlos dort auf dem Boden, stierte ins Schwarz. Dann war der Moment gekommen. All dies kam wieder, all diese ängstigenden Gedanken – jemand war hinter ihm, vielleicht sogar vor ihm, um ihn herum, jemand beobachtete hin, jemand hatte ihn hierher gebracht und gefangen, Stimmen aus dem Nichts hatten mit ihm gesprochen, bei einem Fehler konnte er hier sterben – was war überhaupt mit Sid, war sie nicht auch in Gefahr, gerade an diesem Tag, an dem so viele schon in Gefahr gewesen waren, wenn sie jetzt allein in diesem Zimmer war? Wenn er nicht schleunigst etwas tat, würde ihm alles genommen… Und zu allererst sein eigenes Leben.

Sie beschlich Benny nur langsam, sie kroch durch all seine Gliedmaßen bis zu seinem Bauch, wo sie sich in einem schmerzhaften Knäuel bemerkbar machte, sein Inneres zog sich zusammen, sie ließ ihn mehrfach erschaudern und leise fiepen, schien ihm ihre Allgegenwärtigkeit nun endgültig zu beweisen, als sie schließ bis in seinen Kopf stieg – Benny verkrampfte sich vollends und stieß einen langgezogenen Angstschrei aus.

Er kauerte sich am so grausam beschrieben Boden zusammen zu einer zitternden Kugel, schrie und fiepte, grub Fingernägel tief in sein Fleisch, befreite sich nun endlich von diesem Wulst an Gefühlen, der seit Tamias’ erneutem Erscheinen in ihm geschmort hatte. Er wusste nicht, wie lange er so verharrt war, doch als er den Kopf schließlich heiser und keuchend wieder hob, fühlte er sich wie nach einem tagelangem Fußmarsch. Seine Kehle war wie ausgedörrt und er fühlte sich trotz dieses Gefühlsausstoß alles andere als erleichtert. Er hatte Angst, und die hatte er Tamias nun auf dem Silbertablett präsentiert… Und er saß noch immer in diesem verfluchten Gang.

Doch etwas hatte sich verändert. Benny verengte die Augen und stand langsam auf. Da war eine Tür. Nicht weit von ihm war eine Tür und sie bedeutete das Ende dieses Flurs! Hastig stolperte er vorwärts, stellte aufatmend fest, dass die Tür tatsächlich näher kam, er legte eine Hand auf die Klinke und senkte unwillkürlich den Blick. Unter seinen Füßen stand erneut ein Wort, doch es war eines, was er auf all den Metern Boden zuvor nicht gesehen hatte. Es leuchtete heller als alle anderen und war als einziges in fester und sauberer Schrift zu lesen:

Exanimatio

Benny überkam ein Schaudern, dieses Wort hob sich ab von alldem, es musste etwas ganz Anderes sein… Er schüttelte den Kopf. Das konnte er alles noch mit Richie und Sid besprechen, er musste jetzt endlich zurück.

Leise gluckste er. »Eigentlich wollt ich doch nur kacken gehen…«

Er nahm einen tiefen Atemzug dieser anormal neutralen Luft und drückte die Klinke runter.

Die Tür ließ sich mit Leichtigkeit öffnen, Benny war überrascht keine Schwierigkeiten damit zu haben… Er stand auf der Schwelle eines Raumes, der in unwirklichem Kontrast komplett in Weiß gehalten war – und in dessen Mitte stand Luc, Sids älterer Bruder.

Benny starrte ihn an, wollte etwas sagen, doch da begann jener buchstäblich im Boden zu versinken. Mit wachsender Verwirrung sah Benny zu, hilflos, folgte ihm bloß wie angewurzelt mit den Augen. Luc versank reglos in einer schulterbreiten Pfütze schwarzen Wassers, den leeren Blick stumm geradeaus gerichtet, emotionslos – sein Haarschopf verschwand…

Benny scheiterte am Versuch klar zu denken, er tat bloß einen großen Schritt nach vorn, hinein in den Raum, in diesen weichen, weißen Raum, der ihn gleichzeitig an eine Wolke und an eine Gummizelle denken ließ; scheu beugte er sich vor, warf einen vorsichtigen Blick in die unscheinbare dunkle Pfütze.

Und in diesem Moment öffnete Benjamin im Badezimmer der Wilcoxes die Augen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von: abgemeldet
2010-01-08T23:02:57+00:00 09.01.2010 00:02
So wie's aussieht, hat Sid daheim ihr ganz persönliches Badezimmer des Bösen.
XDDD
Nein okay, fangen wir von vorne an... Die Beine aufgeschlitzt zu kriegen, muss echt mal scheiße sein. Christina tur mir leid, vor allem, weil sie überhaupt nichts damit zu tun hatte. Ich blick da nicht mehr durch, was für Zwecke Tamias verfolgt... Freak. XD
Bennys Mutter ist ja mal voll scheiße, ey. Ist da ihre Nichte am verbluten und ihr Sohn am Verzweifeln und die muss sich erst mal um den Kleinen kümmern... Boah. Die hätte anstatt von Sids Mutter sterben sollen! D<
Wenn bei uns zu Hause sowas passieren würde, wären wir voll gearscht, ich glaub, wir haben gar keinen Erste-Hilfe-Kasten... Uuuh. Muss mal einen besorgen. XD
Immerhin ist Christina nicht gestorben. Besser ein Leben ohne Beine als gar kein Leben. ... LOL, jetzt kommt es richtig dumm, wenn man in ihrer Gegenwart den Spruch 'Lieber A/arm dran als Bein ab.' benutzt. XDD
Die Szene danach im Park konnte ich mir richtig gut verstellen, auch mit dem heiteren Hintergrund mit den Kindern und so im Kontrast dazu.
Ah und dann Richie... Bei 'Onkel Charly' musste ich sofort an Two and a Half Men denken XDDDDD
Die Stelle
> »Ich will mit ihm reden«, sagte Richie, mehr zu sich selbst, dumpf,
> niedergeschlagen, nostalgisch.
> »Dazu fehlen ihm die nötigen Organe, fürchte ich.«
hat mich sehr zum Lachen gebracht. XD (Bei weitem nicht so sehr wie das MSTing natürlich... XDDD) Die Antwort war einfach zu geil. Obwohl es natürlich an sich grausam ist. Egal, pff...
Ah und dann tauchte auf einmal Harry Potter wieder auf. XD Und ich nur so: "WooT! Der schon wieder, wo wir das Thema doch grad erst hatten!" XD
Haha, wenn jemand nur das Kommi lesen würde, würd er denken, Harry wäre persönlich durch's Bild gehumpelt... So im Hintergrund. Wäre lustig. XD
Wuiiih. Nyo.
Und ich mag James irgendwie total. Mein persönlicher Lieblingschara. XDD
Ach, hab ich schon was zu dem Spiegel gesagt? Ich glaub nicht. Jedenfalls bin ich ein großer Fan von Spiegeln. XDDD Also ich meine in Horror-Geschichten etc.. Hast du Mirrors gesehen? °___° Der war krass. /D Vor allem das Ende, voll die Verarsche. <DDD
Öhm... Jah. Also halt da die gefüllte Badewanne, aber eben nur im Spiegel, das fand ich toll^^
Und dann die Beine... Wuäh.
Der dunkle Gang mit der Schrift hat mir übrigens ein (für mich) ungewöhnliches Déjà-Vu beschert. Wenn man was liest, dann sieht man das ja oft vor dem geistigen Auge und so... Und als ich dann vorhin beim Lesen halt den Gang gesehen hab, war ich mir sicher, das schon mal gesehen zu haben. Ich meine - Wtf? Ich hatte noch nie ein Déjà-Vu von einer bloßen Vorstellung! Lol? Vielleicht bin ich auch in Wirklichkeit selber schon mal dort gewesen und hab es verdrängt. XDDDD
Der Gang war jedefalls toll, also die Szenen darin. Besonders, wie sich dann alles dreht, als die Stimmen auf ihn einreden, das hab ich mir richtig gut vorstellen können. x3
Der Tamias-Flashback war irritierend. XD Das, was Benny meinte, dass ihn das auch nicht sympathisch macht, das dachte ich mir auch. XD Ich meine - wenn Tamias ihn in diesen Gang geschickt hat, warum führt er dann seine Kindheitsszenen vor? Will er angeben? 'Haha, ich hatte eine Schwester, die war so hardcore, dass sie mir ins Bein geschossen hat.' (Ach und bezüglich dessen - WAS ZUR HÖLLE-? XDDDDD)
Na ja, irgendeinen Sinn wird es schon haben und ich bin gespannt darauf, ihn herauszufinden. :D
Wird das eigtl eine Trilogie? o.o
Nyo.
Gut, dass sich Benny dann einmal ordentlich gehen lassen und dann zusammengerissen hat. Danke an die Stimmen! :D XDD
Aber was hat Sids Bruder denn nun plötzlich da zu suchen gehabt? Ich hoffe, ihm passiert nichts... Wer seine Mutter verloren hat, sollte nicht noch mehr Familienmitglieder verlieren müssen. ... Ach, und der Bruder würde mir natürlich auch leid tun. So am Rande. XDDDDDDDDDD

wooT!
Wenn ich nicht müde bin, werden die Kommis ja richtig lang! <DDD
Von:  Salatherz
2007-10-20T12:33:03+00:00 20.10.2007 14:33
OMG!
Der Anfang war echt überraschend (erst alles so ruhig und plötzlich wieder Panik und... *angst*)
Den schwarzen Gang mit den roten Wörtern konnte ich mir (wie eigentlich den ganzen Rest) perfekt vorstellen. Aus der Story könnte man einen genialen Film machen...
Ich will weiterleseeeen!!! T-T (aber ich kann nicht, weil ich jetzt aufräumen muss... *sterb*)

Von: abgemeldet
2007-09-14T13:57:19+00:00 14.09.2007 15:57
uiuiui... des is eins dieser kapitel, bei denen s mir ganz mulmig wird un ich, wenn ick dann da ganz allein in der ruhigen wohnung sitze, mit dem rücken zu meiner zimertür, ick ein schrecklich komisches gfühl bekomm. echt mal. n janz tolles kapitel °°
Von: abgemeldet
2007-09-14T10:38:04+00:00 14.09.2007 12:38
*poke* Das Kapitel is da~ *flöt* °°
Und da Bob heute wieder rumgestänkert hat, ich aufgrund dessen früher vom Praktikum zurück bin, hab ich jetzt reichlich Zeit ein ausführliches Kommentar zu verfassen...°°
Hmmm... Ja... Ganz ausführlich, lang, vor konstruktiver Kritik strotzend...


Ich finds toll °-°


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