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EXANIMATIO - Die Angst

Der letzte Schritt: Teil I
von

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Das letzte Bild

Freitag.

21:30

an der Absperrung.

auf Wachen aufpassen!

Fragen überlegen!

Sid zerknüllte den Zettel und entfaltete ihn erneut. Sie lag rücklings auf dem Boden im Wohnzimmer, hatte die Waden auf einen Sessel gelegt und stierte an die Decke. Shannon war bereits weg, bei der Mutter ihres Vaters. Luc und seine Freundin standen draußen am Wagen und machten sich für die Fahrt nach England bereit – ihr erster gemeinsamer Urlaub… Ihr Vater hetzte nun auch seit Minuten durch sein Schlafzimmer und suchte seine sieben Sachen zusammen; bald würde er aufbrechen zur Fortbildung.

Sid schielte zur Wanduhr. Richies Eltern mussten bereits außer Haus sein, um Charles’ Beerdigung in die Wege zu leiten. Richie hatten sie mit Sicherheit bei Benny abgesetzt, ohne das Wissen, dass auch seine Familie an diesem Wochenende abwesend sein würde. Seine Mutter hatte seinen kleinen Bruder mitgenommen zu Christinas speziellem Kurs für den Rollstuhl.

An Zufall hatten sie von Anfang an nicht gedacht. Es war ihnen nun mehr als klar, Tamias wollte, dass sie zu ihm kamen. »Aber das ist uns jetzt scheißegal«, hatte Benny verkündet. »Der denkt er kriegt uns damit und kann uns verarschen. Aber wir werden besser sein als er glaubt, wir kriegen das hin.«

Sid schloss die Augen. Noch einmal ging sie ihre Fragen im Kopf durch. Sie hatten die Stadt verlassen, weil sie die Anspielungen auf Josephines grausamen Tod nicht mehr ausgehalten hatten – war das Tamias’ Absicht gewesen? Hatte er ihre Mutter getötet, um sie zum Umzug zu bringen? Ab wann waren seine Handlungen geplant gewesen? War es Absicht gewesen, dass Christina überlebt hatte? Warum vergriff er sich größtenteils an jugendlichen? Und mit welchem Recht wollte er eigentlichen Menschen bestrafen für an sich oft so natürliche Handlungen? Was war er überhaupt, lagen sie mit der Bezeichnung Dämon richtig?

»Kann ich dich denn wirklich allein lassen?«

Sid öffnete erst ein Auge, musterte ihren Vater, öffnete dann auch das andere. »Ich bin doch nicht allein. Ich geh gleich los zu Benny, mach dir keine Sorgen. Klein Sid ist doch schon groß… geistig. Und meine Windeln wird man mir schon noch rechtzeitig wechseln können.« Sie schwang die Beine vom Sessel und setzte sich auf. »Außerdem – die Wissenschaft braucht dich. Also hau ab.«

James grinste. »Schon gut, ich geh ja schon. Schönen Gruß an Benny und Richie. Wir sehen uns dann.«

Hoffentlich, dachte Sid, als die Tür ins Schloss fiel. Hoffentlich sehen wir uns.

Sie seufzte. Ihr Kopf dröhnte buchstäblich, irgendwo oberhalb ihres Nackens hatte ein tiefes, penetrantes Brummen eingesetzt. Sie hievte sich aufs Sofa und verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf. Draußen hörte sie noch kurze Gesprächsfetzen, ihr Bruder rief vom Gartentor aus »Wir fahren jetzt!«, Sid rief »Viel Vergnügen!« zurück; sie hörte zwei Motoren anspringen, Räder auf Kies, sich entfernende Geräusche – sie war allein.

Mit einem Kopfschütteln schloss sie die Augen. Kaum zu glauben, doch sie war müde, furchtbar müde. Hat eh keinen Sinn, wieder und wieder alles durchzugehen, sagte sie sich. Damit machst du dich bloß kaputt.

Als sie wieder aufwachte, zeigte die Uhr ihr gegenüber bereits 21:13. Sid fluchte leise, sprang auf die Beine, wankte kurz; sie sah sich um. »Kommt raus, Schuhe, ich find euch sowieso«, murmelte sie, tapste durch die Diele, nahm nebenbei ihre Jacke vom Haken… Nachdem sie ihre Schuhe gefunden und angezogen hatte, brachte ein weiterer Blick auf die Uhr sie zu wüsterem Fluchen.

Vorsichtig öffnete sie die Haustür, lugte auf die Straße. Der Himmel hatte sich bereits in dunkles Rosa verfärbt, niemand war noch draußen. Die Luft war noch warm, es herrschte erdrückende Stille. Mit aller Mühe zur Lautlosigkeit zog Sid die Tür wieder zu. Links von ihr patrouillierte ein Aufseher der Ausgangssperre mit dem Rücken zu ihr. Die perfekte Gelegenheit.

Sid drehte sich nach rechts, huschte rasch und so leise sie konnte die Straße hinab, hielt sich im Schatten von Büschen und Bäumen. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals, sie fühlte sich nicht wie auf dem Weg zu einem geplanten Mord, sondern bereits wie auf der Flucht vor der Verurteilung. Erneut schielte sie auf ihre Uhr; sie musste sich beeilen, wenn sie Benny und Richie nicht allzu lang alleine vorm Waldrand stehen lassen wollte.

Sie schlich auf den Feldweg, durchquerte den Park, schlug gezielt die Route ein, die sie und die Jungen bereits Tags zuvor festgelegt hatten, sprang gehetzt und aufgeregt hinter Bäume um gähnende Polizisten und Aufpasser an sich vorbeiziehen zu lassen.

Schließlich erblickte sie Richies roten Haarschopf, sah sich noch einmal um und war dann mit einem letzten Satz bei ihren Freunden im Schatten des Waldrandes. Unruhig blickte sie über die Schulter, bevor sie sich ihnen zuwandte. »Schönen guten Abend«, murmelte sie gedämpft. »Bin ich zu spät?«

»Ein paar Minuten.« Benny musterte sie prüfend. »Was hat dich aufgehalten?«

»Schlaf«, sagte Sid bloß.

»Hätte ich auch mal gebrauchen können…«, nuschelte Richie. Erst jetzt bemerkte Sid das Paddel, auf das er sich lehnte. Sie registrierte es mit einem Nicken, hielt wieder Ausschau nach möglichen Aufsichten.

»Scheiße, ich war noch nie in meinem Leben so nervös«, murmelte sie.

»Geht mir genauso«, sagte Benny dumpf. »Ich piss mir gleich in die Hosen.«

Richies Mundwinkel zuckten zu einem Ausdruck gequälter Belustigung. »Dann sollten wir losgehen… Im Wald sind genügend Bäume, an die du urinieren kannst.«

Benny nickte bloß, wandte sich ab. In seiner rechten Hand ruhte die Axt seines Vaters, dunkel und groß, ihr letzter Ausweg. Als er seufzte, hoben sich seine Schultern sichtlich. »Dann auf…«, flüsterte er.

Sie betraten nebeneinander den Wald, fanden schon nach kurzer Zeit einen Pfad, von dem sie wussten, dass er sie zumindest in die Richtung des Sperrgebietes leiten würde. Je mehr sie sich vom Waldrand entfernten, desto sicherer waren sie vor möglichen Blicken, desto beklemmender wurde aber auch das Gefühl, sich an den Ort zu schleichen, an dem so viele ihrer Altersgenossen umgekommen waren.

Sid warf einen Blick gen Himmel. Er hatte sich verdunkelt, etwas zu schnell, für ihren Geschmack. Ein tiefes Donnergrollen ließ sie zusammenfahren, erst mit dem Blitz konnte sie sehen, dass riesige, schwarze Gewitterwolken über ihnen hingen.

Alarmiert hob Richie den Kopf. »Was war das?«

»Bloß ’n Gewitter«, antwortete Sid leiser als beabsichtigt.

»Wie ekelhaft klassisch«, nuschelte Benny. »Drei Kleinkinder sind abends unterwegs, in einem Wald, es gewittert und irgendwo hockt ein Dämon rum…«

»Jungs, wir sollten uns trennen«, verkündete Sid sarkastisch.

»Klar.« In Bennys Gesicht fand etwas statt, was unter anderen Umständen sehr interessant hätte sein können. Seine Miene schwankte binnen Sekunden zwischen unfreiwilliger Belustigung und Ernst, seine Mundwinkel zuckten hilflos. »Du als das Mädchen der Gruppe müsstest dann aber eigentlich ständig ganz laut kreischen.«

»Mach ich dann später…«

»Tut mir echt leid, Kinder, aber ich find das nicht sonderlich witzig.« Richies Gesicht hatte einen grünlichen Farbton angenommen, entsprechend klang seine Stimme; er kämpfte mit sich.

Sid musterte ihn, verzog besorgt die Brauen. »Richie, wenn du… Wenn du kotzen musst«, sagte sie leise, »ist kein Problem, ja? Kann dich gut verstehen, hab nur zu wenig gegessen um mich zu dir gesellen zu können…«

»Nee, ist schon okay«, sagte er leise. »Hab jetzt Besseres zu tun…«

Sid und Benny nickten stumm, setzten ihren Weg fort. Immer tiefer drangen sie ins Sperrgebiet vor und immer quälender wurde für sie die Gewissheit, absolut nicht zu wissen, was sie taten. Was war das nur für ein törichtes Unternehmen? Wie um alles in der Welt nahmen sie sich die Frechheit heraus mitten in der Nacht bloß mit Paddel und Axt bewaffnet auf Tamias losgehen zu wollen? Nicht nur hatten sie keine Garantie, dass es klappen würde, nein, sie hatten sogar viel eher eine Garantie, dass es eben nicht klappen würde. Christina und diese Therapeutin hatten ihn einmal überlebt, aber wahrscheinlich hatte er das doch sogar beabsichtigt. Tamias beabsichtigte alles, er beabsichtigte auch sie jetzt zu sich zu holen, er beabsichtigte sie anzulocken, um sie endlich qualvoll und brutal einer nach dem anderen in den Untergang zu –

Sid wurde aus ihren Gedankengängen gerissen, als ein scharfer Luftzug sie alle zusammenzucken ließ, etwas hatte Richie am Bein gestreift und wetzte nun mit unglaublicher Geschwindigkeit vor ihnen her, der Schock dezimierte sich bereits binnen Sekundenbruchteilen wieder, doch der Moment schien unnatürlich lang. Erst mit mehreren Metern Abstand realisierten sie, dass es ein Tier war, das so schnell rannte, ein Hund… Ein Schäferhund. »Inferno«, murmelte Benny.

Richie und Sid erkannten den Namen aus seinen Erzählungen, sahen verblüfft dem Tier nach, das noch immer über den Weg galoppierte, sich nur langsam im Dunkel verlor. »Inferno?«, wiederholte Richie; er klang noch immer kränklich. »Dieser… Dieser Hund? Tamias’ Hund? Von früher?«

Benny nickte überzeugt. »Das ist das Vieh. Der Welpe, den ich gesehen hab. Kein Zweifel, das ist er.«

»Dann geht er ihn jetzt wahrscheinlich warnen«, meinte Sid stirnrunzelnd. »Er warnt ihn vor… Verdammt schnell, das Tier. Und groß.«

»Und alt…«, fügte Benny leise hinzu. »Aber egal – dann warnt er ihn eben vor. Wir machen trotzdem weiter. Ähm, Richie, bist du wirklich in Ordnung?«

Richie nickte noch, doch bereits im nächsten Augenblick stolperte er seitlich vom Weg, stützte sich gerade noch rechtzeitig an einem Baum ab, ließ das Paddel fallen, beugte sich vor und übergab sich geräuschvoll auf den Waldboden.

Benny und Sid blickten einander an, und wieder stieg stilles Lachen in ihnen hoch, das in dieser Situation furchtbar gemein schien. Nach einem kurzen Austausch von Glucksen kletterten sie über einen Busch zu ihrem Freund.

»Geht’s wieder, Junge?«, fragte Benny den auf der Erde knienden Richie, legte vorsichtig eine Hand auf seine Schulter. »Brauchst du ’n Taschentuch?«

Richie wischte sich zittrig mit dem Handrücken über die Lippen, schniefte und nickte. »Wär ganz nett«, sagte er leise. »Sorry, Leute.«

»Hab doch gesagt, es ist kein Problem«, murmelte Sid und fischte eine Packung Taschentücher aus der Gesäßtasche ihrer Jeans.

Richie griff das Paddel wieder, stemmte es in den Boden und drückte sich daran auf die Beine. Gerade streckte er die freie Hand nach einem Taschentuch aus, als seine Knie wieder nachgaben. Er klappte zusammen, schlug mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden auf, offenbar bewusstlos –

»Richie!«, schrien Benny und Sid gleichzeitig, sie ließ die Packung fallen, er die Axt, sie gingen auf die Knie, streckten die Hände nach ihm aus, doch Richies lebloser Körper machte einen grotesken Satz von ihnen weg, eine seiner Hände hatte sich noch krampfhaft um das Paddel geklammert, sodass die Knöchel hervortraten, die restlichen Gliedmaßen waren völlig schlaff, der Kopf auf die Brust gesunken.

Ohne einen einzigen Gedanken zu verschwenden strampelten sich Sid und Benny auf die Füße, setzten Richie erneut nach, doch diesmal rutschte er schneller von ihnen weg, zurück auf den Weg – und stoppte nicht.

Sid warf Benny einen gehetzten Blick zu. »Nimm die Axt mit«, befahl sie unpassend ruhig.

Er nickte, war mit zwei Sätzen zurück an der gelblichen Pfütze, die Richie hinterlassen hatte, hob die Axt vom trockenen Boden auf und sprintete zurück zu Sid, deutete bloß an zu verlangsamen, rannte schließlich ohne Pause neben ihr weiter.

Sie konnten Richie noch sehen, er wurde wie eine Puppe an unsichtbaren Fäden, die man offenbar an seine Schultern geheftet hatte, über den Boden geschleift, ohne aufzuwachen, ohne sich zu rühren, als sei er –

Benny und Sid schüttelten synchron die Köpfe. Wieder einmal hatten sie den gleichen Gedanken gehabt und wieder einmal hatten sie ihn verworfen. »Der Bastard würde ihn langsamer umbringen.« Bennys Stimme war rau und bitter, doch sie bestätigte auch Sids trockenen Trost: Richie konnte jetzt noch nicht tot sein, weil das nicht Tamias’ Kaliber war, so einfach war das.

Seitenstechen machte sich bei Sid bemerkbar, doch sie störte sich nicht daran. Das hier ging weit über einen misslungenen Schulsprint hinaus, das hier war nicht das, was sie im Sportunterricht immer verpatzt hatte, das hier war nicht die Fünf auf ihrem Zeugnis, weil sie zu langsam gelaufen war – sie gestand sich selbst ein, dass sie eigentlich nicht wusste, was das hier war; sie wusste nur, dass es nun aufs Laufen ankam und dass es irrelevant war, ob sie je gut darin gewesen war, dass sie jetzt schnell sein musste.

Mit diesem Gedanken beschleunigte sie, merkte wie auch Benny wieder aufholte, doch es hatte nur zur Folge, dass Richie ebenfalls schneller über den Boden flog.

Die Blockhütte kam in Sicht, wie ein weit aufgerissener Schlund tauchte sie am Ende des Pfades auf – und plötzlich sah es aus, als käme nicht Richie ihr näher, sondern umgekehrt, als schliche sich diese Hütte immer näher an ihren Freund heran, um ihn endgültig zu verschlingen; Benny und Sid begannen wieder zu rufen, sie schrien seinen Namen, streckten die Arme nach ihm aus, stolperten und strauchelten, brüllten um sein Leben; doch nichts hielt ihn auf seinem bewusstlosen Flug auf die hölzerne Tür zu auf.

Sie schwang zur Seite, im Inneren war bloß undurchdringliche Schwärze zu erkennen, Richie wurde hineingesogen, die Tür fiel mit einem ohrenbetäubenden Knall zu –

Stille.

Die einzigen Geräusche waren das sanfte Rascheln der Blätter im seichten Wind, in der Ferne der Gesang weniger Vögel, und das Keuchen der beiden Kinder. Stumm und mit weit aufgerissenen Mündern standen sie vor der Hütte, die schweigend und breit vor ihnen saß, starrten die verschlossene Tür an.

Die Zeit schien nicht zu vergehen. Zwei weit geöffnete Augenpaare hingen unbeweglich am erbarmungslosen Holz, vier Wangen verloren immer mehr Farbe, zwei Münder zogen flach die Luft ein, automatisch, ohne zu denken, zwei Paar Lippen und zwei Kehlen trockneten mit jeder Sekunde, in der nichts geschah, mehr aus, zwei Paar Hände zitterten, zwei Mägen hatten sich in schmerzhafte Knäuel zusammengekrampft, zwei Paar Füße ruhten auf dem sandigen Boden des Weges, hielten zwei Körper völlig unbewusst aufrecht, spielten die Standbeine für zwei Menschen, die geistig längst nicht mehr stehen konnten.

Durch Benny ging ein Ruck. Er nahm die Axt in beide Hände, hob sie hoch über seinen Kopf, nahm ein winziges Stück Anlauf und rammte sie mit einem wutentbrannten Schrei in das Holz. Sie hinterließ nicht die kleinste Kerbe. Benny entfuhr ein tiergleiches Knurren, er holte wieder aus und schlug wieder zu, drosch auf die Tür ein, stieß immer wieder unvollständige Wörter und Sätze aus, rief nach Richie, rief nach Tamias, fluchte und senkte die Klinge immer wieder tief ein, ohne einen einzigen Kratzer zu hinterlassen.

Sid hatte es sich derweil zur Aufgabe gemacht, die Wände nach anderen Eingängen zu durchsuchen, bereits an der ersten Ecke hatte sie Inferno entdeckt, wie er hechelnd auf dem Boden gesessen und Benny beobachtet hatte; sie hatte dem Verlangen widerstanden ihm einen kräftigen Tritt zu verpassen und war stattdessen auf die Knie gesunken, rutschte nun auf dem Boden umher und wühlte in der Erde nach Lücken oder gar Gängen im Holz.

Ohne es zu bemerken, hatte sie zu weinen angefangen, als sie zum dritten Mal wieder neben Benny angekommen war, ohne Erfolg. Sie bückte sich kurz zu Boden und hob einen Stein auf. Einige Sekunden lang musterte sie ihn, ohne wirklich aufzunehmen, was sie überhaupt tat, ohne zu denken, nur um zu handeln, und warf ihn dann mit aller ihr möglichen Kraft gegen das Fenster neben der Tür.

Der Stein prallte ohne das leiseste Geräusch von der unversehrten Scheibe ab.
 

Richie versuchte verzweifelt die Augen zu öffnen. Es ging nicht. Irgendetwas hinderte seine Lider daran, sich zu bewegen, doch er zog weiterhin fast krampfhaft an ihnen. Lange konnte und wollte er diese Situation nicht mehr aushalten. Er saß auf einem Stuhl, seine Handgelenke waren so fest zusammengebunden, dass er deutlich spürte, wie die Seile in sein Fleisch schnitten, wie ihm die Kanten der Rückenlehne das Blut an den Armbeugen abdrückte und wie sich in seinen Oberarmmuskeln ein immer schmerzhafteres Ziehen breit machte.

Wir haben es nicht geschafft, dachte er erschrocken. Wir haben es nicht geschafft, ich bin (blind) geschnappt worden, ich bin (blind) gefangen, ich sitz in (völliger Dunkelheit für immer) der Falle… Verdammt, warum hat es nicht funktioniert? Warum… Woran (ER hat dich) sind wir gescheitert (ER hat dich ER hat dich du bist blind ER hat dich gefangen)? ER hat mich…

Mit einem Schaudern öffnete Richie den Mund und schrie.

»Richard«, raunte eine Stimme direkt neben seinem Ohr. »Ich fürchte, Benjamin und Sidney platzen so schon vor Sorge. Tu ihnen doch nicht noch mehr Verzweiflung an und dämpfe deine Schreie.«

Richie verstummte. Er spürte, wie sich etwas von seinem Hinterkopf löste, und im nächsten Moment fiel das Tuch, das seine Augen verbunden hatte, zu Boden. Er blinzelte dankbar, bis seine Sicht sich wieder klärte, blickte sich um – und schluckte schwer. Er war offenbar im Innern der Blockhütte, saß auf einem einfachen Holzstuhl; zu seiner Linken an einer Wand lehnten eine Axt, zwei Beile und mehrere lange Fleischmesser, einige davon waren noch benetzt von Blut. Neben ihm am Boden lag sein Paddel, zwischen seinen Füßen stand ein Glasbehälter mit einer klaren Flüssigkeit. Und rechts vor ihm am Fenster neben der Tür stand der Mann, den er zuletzt vor fünf Jahren gesehen hatte, mit hinter dem Rücken verschränkten Armen und blickte hinaus auf den dunklen Weg…

»Du hast sehr treue Freunde«, sagte er leise, ohne den Blick abzuwenden. »Sie haben erst nach einer halben Stunde aufgehört zu randalieren. Wirklich schade, dass du das nicht miterleben konntest.« Mit einem Grinsen drehte er sich zu ihm. »Die beiden weinen sogar um dich. Sie sitzen noch immer da draußen und warten…«

Angsterfüllt starrte Richie ihn an, er versuchte erst gar nicht klar oder rational zu denken, suchte bloß in diesen eiskalten Augen nach irgendeinem leisen Funken Gnade.

»Nur schade, dass du sie nie wiedersehen wirst«, fuhr Tamias trocken fort. »Wirklich bedauerlich.«

»Du wirst mich umbringen«, hauchte Richie. Es war weder Frage noch Feststellung, es war lediglich die Bestätigung seiner Gedanken, der Versuch sich selbst damit vertraut zu machen.

Tamias lachte. »Oh, na, na, nicht ganz so pessimistisch, Richard. Ich habe lediglich angekündigt, dass du sie nie wieder siehst… Das führt nicht automatisch zu deinem Tod.« Er ging vor dem Stuhl in die Hocke und blickte zu ihm hoch; Richie verspürte das dringende Bedürfnis, ihn zu treten. »Was ist so schlimm für dich an der Vorstellung, zu erblinden… nichts mehr sehen zu können? Woraus besteht diese Angst?«

In Richies Kopf überschlugen sich die Gedankengänge. Unfähig sie zu ordnen, suchte er nach Tamias’ Vorhaben und dem Sinn seiner Befragung, wog gleichzeitig seine Chancen zur Flucht ab, überdachte fieberhaft den gescheiterten Plan – doch er kam nirgends zu einem Ergebnis. Seine Chancen zur Flucht? So eine lächerliche Überlegung. Sie waren gleich null, das wusste er doch. Er sollte sich nicht einmal wehren, immerhin wusste er ja, was mit all den anderen geschehen war. Auf der anderen Seite hatten sie ihm Krieg geschworen…

»Richard«, wiederholte Tamias unerträglich ruhig und sachlich, verlockend friedlich und damit so gefährlich. »Ich mag es nicht, wenn man meine Fragen unbeantwortet lässt. Noch einmal: Was macht diese Angst aus?«

Richie versuchte ihm ins Gesicht zu sehen, doch der Blick gelang ihm nur wenige Sekunden lang, schließlich hielt er das Stechen dieser Augen nicht mehr aus, das milde Lächeln dieser Lippen, die gesamte auf bizarr ruhige Weise brutale Ausstrahlung dieses Gesichtes. Er wandte den Kopf ab, zur Seite, musterte das lange Paddel, das entkräftigt neben ihm lag. »Ich weiß es nicht«, antwortete er schließlich wahrheitsgemäß. Die Frage war nichts Neues für ihn, er hatte sie sich viele Male selbst gestellt, wenn er abends im Bett gelegen und an die Decke gestarrt hatte, zu verschreckt von Erinnerungen um die Augen zu schließen. Er war irgendwann zu einer Antwort gekommen, die er nicht in Worte fassen konnte. Er hatte das Gefühl, zu wissen, worin seine Furcht bestand, doch er hätte es niemandem erklären können.

»Du weißt es also nicht«, wiederholte Tamias etwas leiser; und Richie überkam plötzlich wie ein Schlag in den Magen das schreckliche Gefühl, etwas gravierend Falsches gesagt zu haben. »Dann will ich dir etwas auf die Sprünge helfen.« Tamias richtete sich wieder auf, hob das Paddel vom Boden und begann es langsam in den Händen zu drehen, während er in dem kleinen Raum auf und ab ging. »Es ist eigentlich ganz simpel, fast logisch… Du hattest diesen Autounfall mit deinem Vater, soweit wissen wir beide noch bescheid, nicht wahr? Was sich daraus jedoch entwickelt hat, Richard, ist viel mehr als nur die Angst vor der großen Dunkelheit, viel mehr als nur die Angst vor dem Erblinden oder dem Verlust deiner Augen. Es ist etwas viel Subtileres, etwas viel Tieferes… Rufe dir noch einmal die Situation ins Gedächtnis, mein Junge. Rufe dir noch einmal diese Zeitlupe ins Gedächtnis, diese wenigen Sekunden vor der einschneidenden Schwärze… Der Moment, in dem ihr beide verstanden habt, dass ihr dem Lastwagen nicht mehr entkommen werdet… Und was hast du gesehen, Richard, was hast du in diesem allerletzten, entscheidenden Augenblick gesehen?« Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr er fort, sein Grinsen verbreiterte sich. »Richtig: Das Gesicht deines Vaters, das entsetzte Gesicht deines Vaters, der geöffnete Mund, die weit aufgerissenen Augen mit diesem verheerenden Ausdruck – Todesangst. Das hast du gesehen, das hast du als letztes gesehen –« Wieder blieb er vor Richie stehen, er beugte sich ein wenig hinab; sowohl in seinen Augen als auch in seiner Stimme lag pure Faszination, pure Begeisterung für sein eigenes Fach. »Und das ist es, Richard! Das ist deine Angst, das ist der wahre Hintergrund dieser Phobie. Zwar hast du Angst dein Augenlicht zu verlieren, kein Zweifel, jedoch nicht wegen der darauf folgenden Dunkelheit, nein. Viel mehr fürchtest du dich vor einem erneuten letzten Bild. Du warst erblindet und alles was du in den folgenden drei Tagen hattest sehen können, war dieses durch und durch schockierte Gesicht deines Vaters. Davor hast du Angst: Für den Rest deines Lebens hinter geschlossenen Lidern immer nur ein einziges, schreckliches Bild erblicken zu müssen.« Sein Grinsen war nun so breit, dass es fast unnatürlich bestialisch schien. »Hab ich Recht?«

Richie schwieg. Fassungslos starrte er in Tamias’ freudiges Gesicht, versuchte zu begreifen. Gerade eben war all das, was er nie verstanden hatte an sich selbst, das, was ihm immer wieder schlaflose Nächte beschert hatte, das, was die Frage war, die er nie zu beantworten vermocht hatte – das war soeben in ein paar dahergegrinsten Sätzen zusammengefasst worden.

»Ich deute dein Schweigen als Zustimmung«, sagte Tamias leise. »Erfreulich.« Er lehnte das Paddel an die Tür und hob den Behälter zu Richies Füßen auf. Mit einem Mal war sein Blick bedächtig und ernst, er schwenkte das Glas etwas hin und her, sodass die Flüssigkeit gegen die Wände schwappte, bis Richie es schließlich schaffte den kleinen weißen Aufkleber an der Seite zu lesen:

ACETON

Erneut fuhren Richies Gedanken Achterbahn, seit Tamias’ Ansprache hatte sich immer weiter diese eine quälende Gewissheit eingeschlichen: Er würde erblinden. Gleichzeitig aber durchwühlte er sein Gedächtnis nach Aceton, denn er kannte diesen Begriff, er musste doch wissen was das ist – er musste wissen was das ist? Er musste fliehen! Er musste hier raus, er musste entkommen, nur wie? Wie?

Ein scharfer, beißender Geruch stieg ihm in die Nase, ließ seine Augen tränen, als Tamias ihm den Behälter näher ans Gesicht hielt. Richies Kopf raste, der Geruch war ihm bekannt, so bekannt – Aceton (Säure) was ist das (Säure)? Was ist Aceton (Säure)? Ich weiß es doch, Aceton (Säure), Aceton (Säure), Aceton (Säure), das ist das Zeug, was im Nagellackentferner so (ätzt) stinkt, Aceton (Säure), das ist –

»Säure.« Tamias’ Stimme, langsam, geistesabwesend, ruhig, schnitt brutal in Richies Gedanken ein. Sie bewirkte ein Echo, Säure, wiederholte sein Verstand, Silbe für Silbe, Buchstabe für Buchstabe… Säure…

Er fischte mit der freien Hand ein Stofftuch aus seiner Hosentasche und wieder hoben sich seine Mundwinkel ein wenig. »Wir wollen deine Freunde nicht allzu sehr erschrecken. Es ist besser, wenn sie dich nicht schreien hören.«

Richie sah ihm bloß hilflos zu. Ihm war längst klar geworden, was mit ihm geschehen würde, und er wollte sich nicht wehren. Welchen Sinn hätte noch ein einziger Gedanke an Flucht gemacht? Er würde vermutlich bloß enden wie all die anderen… Wie sein Onkel. Widerstandslos ließ er sich knebeln.

»Das könnte sich als etwas schmerzhaft erweisen«, sagte Tamias langsam. »Aber… Keine Angst… Ich bin sicher, du hältst das aus…«

Richie drehte den Kopf weg, kniff die Augen zusammen, doch beides wurde direkt darauf wieder rückgängig gemacht, eine Hand zog ihn grob am Kinn wieder zurück und gleich darauf seine Augenlider hoch. Und das letzte, was Richie sah, war das blasse, gnadenlos grinsende Gesicht Tamias’ über einem großen klaren Tropfen, der unaufhörlich auf ihn zukam.

Als seine Schreie abgeklungen waren, hatte Tamias eins der Fleischmesser von der Wand genommen. Er blickte davon zu Richie auf, musterte ihn abschätzend. »In letzter Zeit ist viel nicht so gelaufen, wie ich es gern gehabt hätte«, sagte er leise. »Sehr ärgerlich, unschön…«

Hätte Richie sein Augenlicht noch besessen, hätte er deutlich Wut und Frustration in Tamias aufsteigen sehen, sein Griff um das Messer verfestigte sich, seine gesamte Haltung wurde plötzlich verkrampft, sein Blick ruhte starr auf Richies Hals. Er trat hinter den Stuhl, zog seinen Kopf barsch an den Haaren nach hinten, setzte die Klinge an seiner Kehle an. Richies verätzte Augen zuckten unruhig hin und her, sein Atem ging flach und röchelnd, er wagte nicht sich zu bewegen, sein schwindender Verstand gab ihm in letztem Kämpfen noch zu verstehen, bloß vorsichtig zu sein. Tamias drückte das kalte Metall fester in Richies Haut, er würgte. »Ich sollte –«

Doch er hielt inne. Wie ein Hund reckte er den Kopf leicht in die Höhe, verengte die Augen und zog die Brauen zusammen. Er horchte auf etwas, was Richie nicht wahrnehmen konnte, gab schließlich ein missgelauntes Schnauben von sich und ließ murrend von seinen Haaren hab. Er senkte das Messer und schnitt damit die Fesseln durch. »Schätze dich glücklich«, brummte er und zerrte sein Opfer auf die Beine, zur Tür.

Richie und das Paddel schlugen gleichzeitig auf dem Boden auf.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von: abgemeldet
2010-01-09T00:24:51+00:00 09.01.2010 01:24
Ih. (Wenigstens keine Gehirnflüssigkeit. /D)
Was du dir nur immer wieder ausdenkst, ehrlich... Dem armen Richie die Augen wegätzen. Und das Gesicht von Tamias wird er nie wieder aus dem Kopf bekommen!
Ich find's einfach klasse, dass du sogar die Protagonisten leiden und sterben lässt. Also halt wirklich leiden. Nicht das typische Leiden, wo am Ende doch wieder alles gut und vergeben und vergessen ist. Nee, nee, ist schön böse und jeder kann das nächste Opfer sein, dass ist immer unvorhersehbar. :D
Nyo.
Dass es nicht einfach geklappt hat, Tamias den Kopf abzuschlagen und pfeifend nach Hause zu schlendern, wundert mich jetzt aber. XD
Es ist ermunternd (ja, ich muss es schon wieder betonen), wie locker Sid, Benny und Richie miteinander reden. Von wegen, geh doch kotzen, stört uns nicht. XD Find ich nice.
Oh, auf der ersten Seite hast du irgendwo 'jugendlichen' klein geschrieben, wo es groß gehörte... Fällt mir grad ein.
Ja und als dann Richie so weggezogen wurde, zur Hütte... Das war lustig. XD Also eigentlich war es das nicht, aber die Stelle, wo Benny schneller läuft und das aber bewirkt, dass Richie sich nur auch umso schneller von ihnen entfernt, hat mich echt zum Lachen gebracht. Das ist wie der Esel, der 'ne Karotte vor der Nase hängen hat und immer schneller läuft, um sie zu erreichen. XDDD Ich wär mir an deren Stelle voll verarscht vorgekommen...
Übrigens sieht Inferno in meinem Kopf immer aus wie ein Bernhardiner. Frag mich nicht, warum...
Oh und ich musste, als Richie so davongeschleift wurde, außerdem an LOST denken... Richie wird vom Rauchmonster in die Höhle gezogen. >DD
Muss ganz schön frustriered für Sid und Benny sein, zu wissen, dass Richie da drinnen ist und ihm sonstwas angetan wird und nichts tun zu können.
Irgendwie hast du es so hingekriegt, dass ich ganz genau vor Augen hatte, wie sie immer noch da hocken und warten, obwohl Tamias es nur gesagt hat.
Zu der Augensache mit Richie hab ich nicht viel zu sagen. War schmerzhaft wie immer, gut geschrieben ja sowieso. ^^
Von:  Rynshen
2007-11-23T19:37:54+00:00 23.11.2007 20:37
Das letzte Bild:
2.Seite:
Kritik fängt an ;p
"Die Zeit schien nicht zu vergehen. Zwei weit geöffnete Augen hingen unbeweglich am erbarmungslosen Holz,..."

Muss das nich "Augenpaare" heißen? oder hab ich nur ein auge??? oO *kopfkratz*

"Einige Sekunden lang musterte ihn, ..." da fehl ein "sie" vor dem "ihn,..." !

Und zu guter letzt noch:
GEILES KAPITEL!!! *.*
augen ausätzen ... böse böse *-*°
Von:  Salatherz
2007-11-07T09:35:07+00:00 07.11.2007 10:35
Oh, er lebt noch... wusste ich ja. xD
Aber was ist da draußen nur passiert? Bestimmt was mit Inferno. *hrrhrrhrr* Oder auch nicht. ^^
Nicht ganz so fesselnd wie die anderen Kapis (frag mich nicht, warum, vllt liegt es daran, dass ich das hier während meiner Informatikstunde gelesen habe.).
Von: abgemeldet
2007-09-29T19:38:54+00:00 29.09.2007 21:38
ach gottchen, muss des scheisse sein, nichts mehr zu sehn, denn das würd bedeuten, dass s äussertst kompliziert sein könnte, dies hier zu lesen °° wunderbar...
Von: abgemeldet
2007-09-28T18:27:01+00:00 28.09.2007 20:27
So... Gelesen und für gut befunden. °°
Wieder einmal beweise ich, wie gut ich konstruktive Kritik in ein Kommentar stecken kann bwahahahaha °°
Gut... Öhm, ja... So ist das Leben, Richie, muss man sich mit abfinden... °-°
*räusper* Wunderbar, kann ich mich ja jetzt auf Lena freuen muahahah xD


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